Hindemiths musikalischer Werdegang

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    Re: Hindemiths musikalischer Werdegang

    *tannerkov - 14.10.2006, 01:59

    Hindemiths musikalischer Werdegang
    Experimentierfreudigkeit

    Der Leitgedanke und die Dogmen lagen in dessen jungen Jahren zwar noch in weiter Zukunft, aber seine Lehrzeit war bei Ende des 1.Weltkrieges vorüber. Im Laufe der nächsten Jahre experimentierte er mit einer verblüffenden Vielzahl von Stilen und Techniken, wobei er die verschiedensten Elemente- vom Jazz bis zur Barockmusik- mit fast unverschämter Leichtigkeit absorbierte oder verwarf. Er bracht seine Ungeduld mit den anerkannten Traditionen des Lehrens und Spielens zum Ausdruck und rebellierte einerseits gegen das ständige „espressivo“ und andererseits gegen das Beharren auf den etablierten Regeln des formalen Vorgehens.
    Hindemith machte im Vergleich zu den meisten anderen Komponisten seiner Zeit Bekanntschaft mit einem ziemlich breiten Musikspektrum, indem er bspw. ständig entweder an der Oper oder zusammen mit Freunden Kammermusik im neu gegründeten Verein für Theater- und Musikkultur, einem frühen Versuch kommunaler Kunstförderung, spielte. Hindemiths Verwandtschaft mit Reger wird in der beständigen Verschiebung harmonischer Implikationen deutlich, die aus der verschlungenen Chromatik der einzelnen Stimmen hervorgeht. Trotz aller umfangreichen Einflüsse zeigte Hindemiths Musik schon früh eine außerordentliche, individuelle Beherrschung der Struktur.
    Nach dieser Zeit der Admission(Aufnahme) von Einflüssen stürzte sich Hindemith in den „Expressionismus“, der damals in Deutschland stark modern war. Der Expressionismus umfasste eine Vielzahl von künstlerische Bestrebungen und Tendenzen, aber alle beinhalten einen gewissen Grad der Verzerrung der ästhetischen Normen, indem sie das Ich oder die Psyche des Künstlers bloßlegten- eine Auffassung, die Hindemiths späterer Anschauung fast umgekehrt entgegenstand- die aber gut zu seiner vorherrschenden Stimmung von Zorn über die verfestigten Einstellungen der älteren Komponisten passte.

    Radikalismus

    Mit weit größerer Sicherheit brachte Hindemith seinen wachsenden musikalischen Radikalismus in der Kammermusik No.1, op.24 Nr.1, zum Ausdruck. Schon der Titel des 1922 entstandenen Werkes ist provokativer Ausdruck seines Ärgers über die gefühlvolle Erfurcht, die in Rebners Quartett, in dem er musizierte, vorherrschte (1921 schied er aus und wurde Gründungsmitglied des Amar- Quartetts, das sich auf moderne Musik spezialisierte). Kammermusik No.1, ein spöttischer musikalischer Krawall, ist für eine konglomeratische (zusammengewürfelte, chaotische) Theaterkapelle von zwölf Spielern geschrieben, die mit dem Rücken zum Publikum sitzen müssen; die extravagante Instrumentierung, die schrille Mischung verschiedener Tonarten(Polytonalität), die grellen Geräuscheffekten und die Verwendung von Jazz und Kabarettmusik dienten ganz bewusst dazu, die Konservativen vor den Kopf zu stoßen- die Hindemith auch prompt als dekadenten „Emporkömmling“ brandmarkten.
    Viele, besonders der Schott- Verlag, der Hindemith unter Vertrag genommen hatte, waren etwas verwirrt über Hindemiths musikalische Entwicklung und Richtungswechsel um 1920. Doch Hindemith erwiderte, seine Musik sei echt und natürlich und nicht im geringsten gekünstelt. Ein Beispiel seiner Experimentierfreudigkeit ist seine Sonate für Solobratsche, op.25 Nr.1 (1922), die auch den Titel: „Viertelnote = 600- 640, rasendes Tempo, wild, Tonqualität st irrelevant“ trägt.
    Das Werk welches das Ende dieser Periode des Experimentierens markiert, ist Das Marienleben (op.27, 1922/23), ein Zyklus von fünfzehn Liedern für Sopran und Klavier nach Gedichten von Rainer Maria Rilke, die Begebenheiten im Leben der Jungfrau Maria zum Inhalt haben. Hindemith verzichtete darin auf alle anderen Quellen und Einflüsse und versuchte, die klassischen- oder noch häufiger- die barocken Tugenden wiederzugewinnen, die später zur Grundlage seiner endgültigen persönlichen musikalischen Sprache wurden. Auch wenn man noch stellenweise Spuren seines expressionistischen Stils findet und die Harmonik Möglichkeiten zulässt, die sich frühere Epochen nicht hätten vorstellen können, so haben sich die schockierenden Gesten und die virtuose Selbstgefälligkeit hier zu kühlen Linien eines kontrapunktischen Ganzen gewandelt, in dem sogar die Solostimme nur eine gleichberechtigte Rolle beanspruchte. Die Textur erzeugt die Form der einzelnen Lieder, die in vielen Fällen Neuschöpfungen von Vorbildern des 18.Jhrh. sind. Hindemith selbst nannte diesen Liederzyklus „die besten Sachen“ die er jemals geschrieben habe.

    Neoklassizismus

    Jene Auflösung der hektischen Experimente der vorangehenden Jahre in einer endgültigen Festlegung auf den Neoklassizismus deutet darauf hin, dass deren Motivation nicht anarchistisch oder dadaistisch, sondern einfach antiromantisch gewesen war. Hindemiths größte Begabung hatte in der klaren geordneten Darlegung von spannenden Ideen bestanden (was auch in der Zukunft so blieb), nicht in der übertriebenen Leidenschaftlichkeit der Romantiker oder in der gequälten Selbstenthüllung der Expressionisten.
    In Hindemiths nachfolgenden Jahren der Festigung seines Stils komponierte Hindemith sechs weitere Werke mit dem Namen Kammermusik: Es handelt sich dabei ausschließlich um Konzerte für ein Soloinstrument mit Kammerorchester, Ausgangspunkt ist jedoch das Concerto grosso des 18.Jhrh. (insbesondere Bachs „Brandenburgische Konzerte“); der Solist hat dabei in erster Linie eine konzertante Rolle innerhalb des Ensembles, ganz anders als der heroische Protagonist des Konzerts im 19.Jahrhunderts. Der altertümliche Charakter dieser Stücke basiert auf dem unbarmherzig geschäftigen Kontrapunkt und auf der Vermeidung spezieller emotionaler Andeutungen oder kontrastierende Themen innerhalb eines Satzes, ihre Modernität hingegen auf dem Reiz und der Anzüglichkeit der Harmonien und der Instrumentierung.
    In jener Zeit war die traditionelle Grundlage der Harmonie- und Kompositionslehre unzulänglich geworden und die Kluft zwischen den modernen Komponisten und dem breiten Publikum größer. Hindemith erkannte, dass es notwendig war, neue Kriterien aufzustellen und versuchte dies in seinem Unterricht. Seine Erfahrungen und Schlussfolgerungen wurden später in zwei wichtigen Büchern veröffentlicht, deren Inhalt hauptsächlich aus seinen Vorträgen und Unterrichten entstammt: Unterweisung im Tonsatz (1937) und A Composer´s world (1950, dt. 1959). Er war der Auffassung, eine Annäherung zwischen Komponist und Publikum lasse sich erreichen, falls die Komponisten Musik mit einem speziellen Zweck vor Augen schrieben und dadurch die Unterstützung enthusiastischer Amateure gewännen, die verständlicherweise von der esoterischen Kompliziertheit der modernen Musik eingeschüchtert seien. Diese Art von Musik wurde von Kritikern als „Gebrauchsmusik“ bezeichnet. Dies war von Hindemith kein Politisch motivierter und kommunistisch geprägter Vorstoß (er brach ja seine Zusammenarbeit mit B. Brecht ab), sondern eine wirklich menschenfreundliche soziale und künstlerische Bestrebung. Hindemith glaubte, dass ein gegenseitiges Verständnis zwischen Komponisten und „Benutzer“ dringend notwendig ist, da die Nachfrage nach Musik so groß sei und dass die Zeiten rum seien, in denen nur um des Komponierens willen komponiert würde.
    Hindemith setzte seine Worte auch schnell in die Praxis um und komponierte Musik für Filme, automatische Instrumente sowie für Amateurchöre und Laienorchester. Durchaus den Fähigkeiten eines gut ausgebildeten Schulorchesters entsprechend, vermeidet die Musik in ihrem ernsten Ton jegliche Leutseligkeit, bezieht alle Gruppen des Orchesters in einer verantwortlichen Rolle ein und macht ihre harmonische Sprache durch die Verwendung von rhythmischen Mustern und einer periodischen Struktur leicht verständlich, die aus der vorausgesetzten Kenntnis der Vorbilder aus dem 18.Jhrh. vertraut sind.
    Opposition gegen den Nationalsozialismus

    Zeitgleich mit der Entwicklung zur vollen Reife seiner Werke, wurde Hindemith von den Nationalsozialisten an seinem freien Schaffen gehindert, indem sie bspw. seine Werke, auf Grund ihrer Neigung zum „Dekadenten“ und „Kulturbolschewistischen“, aus dem dt. Konzertprogramm strichen.
    Mit der Oper Mathis der Maler, die auf Ereignisse aus dem Leben des im 16.Jhrh. wirkenden Malers Mathis Grünewald basiert, erreichte Hindemith eine Einheitlichkeit und Natürlichkeit des Stils, die eine lebhafte Charakterisierung der Personen erlaubte und dabei die künstliche Trennung von Arie, Rezitativ und Ensemble bewahrt, ohne die anreichernde Wucht der dramatischen Handlung aufzuhalten oder zu verleugnen.
    Die Symphonie Mathis der Maler (die vor der Oper vollendet und aufgeführt wurde) behandelt den Isenheimer Altar, ist jedoch aus den Arbeiten an der Oper hervorgegangen, sowie diese die Sätze der Symphonie in ihr musikalisches Ganze fast tongetreu mit einbezieht. Jeder der drei Sätze stellt eine der Tafeln von Grünewalds berühmten Isenheimer Altarbild dar; und indem er dieses Programm offen legte zeigte Hindemith sein Verständnis für die romantische Musikideologie und nahm seinen natürlichen Platz in der österreichisch- deutschen Musiktradition ein. Damals glaubte man schon, dass die Umwälzungen in der Harmonik des 20.Jhrh. diese Form überflüssig gemacht hätten, doch Hindemith war, von barocken Formen ausgehend, in der Lage, auf einer chromatischen Erweiterung der der klassischen Sonatenprinzipien eine zusammenhängende und klar erkennbare Struktur aufzubauen.

    Theorie und Praxis

    Nach seinen bitteren Erfahrungen unter den Nazis waren Hindemiths Lebensziele schlich und einfach „gute Musik und ein reines Gewissen“, wie er es selbst ausdrückte. In seinen späteren Lebensjahren wurde er jedoch in seiner Anschauung dogmatischer und griff Schönberg und Strawinsky an, wobei er sie an den Kriterien seiner eigenen Musik maß. So entwickelte sich der experimentierfreudige Hindemith der 20er Jahre zu dem reizbaren Konservativen der Nachkriegsjahre. Doch seine Musik erstarrte nie in Konventionen. Seine fünfaktige Oper Die Harmonie der Welt (1956/57) verschafft ihm nochmals großen Ruhm und Aufsehen wie einst Mathis der Maler ; ein Vergleich zwischen den beiden Opern enthüllt eine seltener werdende, aber immer noch wirksame Erkundung von Formen und Klangfarben (die- im debussyschen Sinne- in seine frühen Musik nie ein auffälliges Charakteristikum waren). Zweifellos glaubte Hindemith, die Grundregeln für das einzig praktikable und einsichtige Harmoniesystem seiner Zeit aufgestellt zu haben, aber seine Entdeckungen wurden von den nachfolgenden Komponistengenerationen kaum akzeptiert, die sich mehr darum bemühten, ihre Gültigkeit zu widerlegen, als auf ihnen aufzubauen. Hindemiths Ausgangspunkt, wie er ihn in Unterweisung im Tonsatz erläuterte, war die wissenschaftliche Realität der harmonischen Obertonreihe, die er gemäß den Gesetzen der Akustik in abnehmenden Verhältnis zum Grundton anordnete, bis er allen 12 Tönen der chromatischen Tonleiter ihren genauen Grad an Bedeutung in Bezug auf den Grundton zugewiesen hatte. Davon ausgehend verwendete er die gleichen akustischen Prinzipien, um die relative Spannung und Stärke von Intervallen und Akkorden zu bestimmen.
    Die Fäden, de sich beständig durch Hindemiths Musik und Denken ziehen- die „Gebrauchsmusik“, die zunehmende melodische Einfachheit, die formale Klarheit, die Überlegung über den Künstler und die Gesellschaft, sogar das Theoretisieren über Harmonik und das Beharren auf solider Technik- sie alle weisen auf den zentralen Wunsch hin, mit den Zuhörern auf der elementarsten Ebene zu kommunizieren. „Der Komponist ist kein isolierter Mensch“, schrieb er in Der Komponist in seiner Welt, „sondern ein Mitglied der menschlichen Gemeinschaft; es ist deshalb seine moralisch Pflicht, seine Fähigkeit einzusetzen, um mit seinen Mitmenschen zu kommunizieren.



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