und noch eine kleine geschichte für alle interessierten

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    Re: und noch eine kleine geschichte für alle interessierten

    [BdN]xXOdin28Xx - 14.06.2007, 11:26

    und noch eine kleine geschichte für alle interessierten
    Wotan / Odin (Einführung)

    Von der beschriebenen Dreiheit kennen wir am besten Odin. Neben den bedeutendsten Göttern: Donar/Thor, Tiwaz /Tyr, Freyja /Frigg, Loki, Heimdall, Balder, verfügt die Forschung auch bei Odin, der mit dem südgermanischen Wotan bedeutungsgleich ist, über ein reichhaltiges Material, wodurch man versuchen kann den philosophischen Gehalt des Gottes zu eruieren.

    In unserem Zusammenhang ist (aufgrund der reichhaltigeren Quellen der skandinavische) Odin von Bedeutung, weil er mit dem Anfang der Welt, dem Verlauf und auch mit dem Ende der Weltdirekt verknüpft ist. Vom Weltanfang haben wir oben gehört, den Verlauf der Welt beeinflußt Odin wohl stärker als irgendein anderer der alten Götter. Doch obgleich die anderen Götter ebenfalls eine kosmologische Bedeutung in der Ragnarök dem Weltende besitzen, kommt Odin auch hier eine Schlüsselstellung zu. Der Fenriswolf ist der gewaltigste Dämon, den die Welt kennt; er wird zum Ende der Welt den mächtigsten aller Götter verschlingen, womit der Anfang vom Ende beginnt. Schon bei den Riesen haben wir gesehen, das die Riesen keine übergroßen Menschen sind, sondern die wilde und gewaltige, unbezwingbare Seite der Natur darstellen. Die Dichtung veranschaulicht sie als menschenähnliche Wesen um sie personifiziert in poetische Handlungen einflechten zu können. Ebenso sind die alten Götter keine Personen, obwohl sie zu dem gleichen Zweck fast menschenähnliche Handlungen vollziehen. Wenn wir die Taten, die ein Gott in den Mythen vollzieht oder nicht vollzieht richtig verstehen, werden wir wissen, welche Bedeutung der Gott hat. Jeder Gott hat einen bestimmten Wirkungsbereich. Wenn Odin Magie treibt, dann kann das nicht Heimdall oder Thor ebenso. Es sind auch keine Geschichten bekannt, die von solchen Versuchen zeugen. Die Magie ist eine Sphäre, die nur Odin zukommt, aus bestimmten Gründen.

    Wohl kann es Überschneidungen geben: Odin erschlägt mit seinen Brüdern den Urriesen Ymir, und der eben nicht mit großer Klugheit begabte Thor gewinnt durch List in einem Wissenswettkampf gegen den allwissenden Zwerg mit dem sinnigen Namen Alviss. Aber dies sind Ausnahmen, die nur die Regel bestätigen. Die Götter, die einen relativ genau begrenzten Wirkungsbereich besitzen - der erstaunlich weit gefaßt sein kann - beinhalten (theoretisch) zusammengenommen die gesamte heidnische Philosophie (der Germanen); im einzelnen sind die Götter die beschriebenen „Beutungsbündel“ als Naturdynamiken (womit nicht allein Natur im naturwissenschaftlichen Sinn verstanden werden kann).

    Die Götter und Geister des Polytheismus beinhalten die Materie ebenso wie Energie beispielsweise, das Wilde, wie das Zivilisierte, die Boshaftigkeiten, wie auch die Güte oder Toleranz. Das Prinzip des Polytheismus ist gerade diese Arbeit der Vervollständigung der Erkenntnisse des vorhandenen Seins. Wenn wir also vom Gott Odin sprechen, haben wir wohl einen bedeutenden Aspekt des Ganzen vor uns, aber schließlich auch „nur“ einen Aspekt. Die alten Götter sind deshalb in früheren Zeiten immer als Ganzes, als Einheit verstanden worden, sie wurden (im religiösen Sinn - etwa im Kult -) zumeist als Einheit genannt. Ich möchte auf den nächsten Seiten versuchen die Bedeutung Odins zu klären. Man mag von Seiten der Philologen meinen, daß Odin soweit gut bekannt sei (was im Prinzip richtig ist), aber ich glaube doch einige interessante Details dem noch hinzufügen zu können.


    Quellenmaterial

    Die Philologie beginnt immer mit einer Sichtung der Quellen: Woher kommt der Name (z.B. Ortsnamenmaterial), welche archäologischen Zeugnisse gibt es, wo und in welcher Form ist in Volkskunde und Dichtung der Gott beschrieben worden - nur um einiges zu nennen. Ich möchte die Darstellung der Forschungsergebnisse abkürzen und den interessierten Leser auf die einschlägige Literatur verweisen. Hier ist es hier nicht unbedingt notwendig sämtliche archäologischen Weihesteine aufzulisten die von Verehren zu verschiedensten Anlässen gestiftet wurden und diese einzeln zu besprechen, da dies im Ergebnis nicht allzuviel erbringen würde. Ich möchte versuchen mich auf das Wesentliche zu beschränken, welches auf die grundsätzliche Qualität Odins hinweißt.

    "Tacitus sagt in der Germania: von den Göttern verehren sie am meisten Mercurius. Welcher Gott interpretatione Romana Mercurius genannt wurde, kann nicht zweifelhaft sein. die Übersetzung des Namens Mercurii dies als althochdeutsch Wuotanestac, ae. Wodnesdaez (ne.: Wednesday), nd. Wodenesdag (auch Godendag, Gaunsdag, u.ä.) nnl. Woensdag, an. Odinsdagr, beweist schon das Tacitus mit diesem Namen Wodan gemeint hat. Diese Gleichsetzung wird übrigens auch noch durch spätere Zeugnisse, wie die Vita Columbani und Paulus Diaconus bestätigt (deVries 14, 296 ff). Auch in den Jahrhunderten, die auf die römische Zeit gefolgt sind, begegnen wir mehreren Zeugnissen für eine Wodansverehrung. Wir fangen an mit den Schwaben, weil sie wie die Semnonen zu der Gruppe der Erminonen gehörten." [1]"
    Dort findet Columbanus die Heiden bei einem Trankopfer für Wodan (Vodano qued Mercuriam).
    Sogar noch die spätere Volksüberlieferung hält die Erinnerung daran fest, das Wodan in Süddeutschland als Gott des wilden Heeres verehrt wurde; das beweist uns der christliche Bannspruch des Münchner Nachtsegens, in dem sowohl Wutan wie Wutanes her [Wotans Heer = Geisterheer in den Herbststürmen[2]] und alle sine man [sic] angesagt wird, das sie ‘von hinnen gehen’ sollen."[3] "Für die Wodansverehrung bei den Sachsen haben wir schon die bekannte Formel der Abrenuntiatio erwähnt (s. deVries § 353); hier steht Uuôden [= Wodan] neben Thuner [= Donar / Thor] und Saxnôt [= Tiwaz / Tyr] an zweiter Stelle. Auch einige Kapitelüberschriften des Indiculus superstionum et paganiarum beweisen uns, das die christliche Kirche gegen einen tief im Volke verwurzelten Wodanskult anzukämpfen hatte."[4]

    "Über die Wodanverehrung bei den Franken haben wir nur wenige, aber darunter unzweideutige Zeugnisse. Ich erinnere an erster Linie an den zweiten Merseburger Zauberspruch[5], (...). Wodan ist hier der mächtige Zauberer, dem es gelingt, durch eine magische Formel das Bein von einem Pferd zu heilen. Wenn wir noch anfügen das auch hier das Pferd ganz besonders Wodans Tier ist, so ergibt sich daraus (wie auch aus andern Quellen), daß die Grundlagen des Wodanglaubens in Skandinavien wie im Süden dieselben waren."[6] "Zudem ist Odins Persönlichkeit so vielfältig, daß sie nicht das Resultat einer erst in der Spätzeit des Heidentums einsetzenden Entwicklung sein kann, sondern nur als das Endergebnis eines sehr verwickelten geschichtlichen Verlaufs erklärt werden kann.

    Mit andern Göttern, wie Thor oder Freyr, verglichen hat der Kult von Odin in den Ortsnamen verhältnismäßig wenige Spuren hinterlassen. In Dänemark und Südschweden finden sie sich noch am häufigsten, aber hier überwiegen die Zusammensetzungen mit Naturnamen. Darunter stehen an erster Stelle die Namen, welche eine Beziehung zum Wasser ausdrücken. In Schweden finden wir nicht weniger als zehn oder elf Beispiele für den Namen Odensjö oder Onsjö, die meistens einen See bezeichnen, in zwei Fällen aber ein Dorf (und zwar in Halland, Söndrum s. und Smaland, Barnarp s.). Auch Bäche scheinen nach Odin benannt worden zu sein, und zwar zweimal auf Jütland und noch je einmal auf Bornholm und in Finnland. Auch Quellen sind offenbar Odin geweiht worden; hören wir ja schon von dem Odinsbrunn beim berühmten Tempel von Uppsala." Unzweifelbare Heiligtümer deuten die Namen mit vé, hof oder salr an. Bekannt ist der fünische Name Odense (im Jahre 1109 heißt sie noch Othenswi [= Odinsweihe])."[7]

    Weiter gibt es entsprechende Zusammensetzungen mit (Odins-) - acker, - land, etc. "Mit Odin zusammengesetzte Personennamen fehlen in Norwegen ganz und sind in Ostskandinavien äußerst selten. Die Seltenheit der Odinsnamen läßt sich verschiedentlich erklären: Sie kann davon herrühren, daß dieser Gott kaum verehrt wurde, aber auch darauf beruhen, daß man diesen Namen aus Scheu vor seiner [ambivalenten] Macht vermieden hat. Die zahlreichen mit Rabe oder Wolf zusammengesetzten Personennamen sind vielleicht ein Ersatz für das Fehlen des tabuierten Götternamens."[8] Rabe und Wolf wurden als die Attribute wie auch die ständigen Begleiter des Gottes betrachtet. (Ebenso wurden auch zu allen anderen Götter Tierattribute gestellt: z.B. Thor: Ziegenbock, Heimdall: den Widder, Freyja ursprünglich sicher die Kuh (= Nerthus, vermutlich jüngerer Zeit entstammend das Attribut: Katze). Obschon man dies nicht überbewerten sollte, geben die Tierattribute einigen Aufschluß über den jeweiligen Gott, nämlich derart, das man die Bewertung dieser Tiere im Volksglauben untersucht.

    "Die Hilfe, die [Wodan] den Helden erteilt, ist verschiedener Art; er gibt ihnen Unverletzlichkeit, wie er sie z.b. Frögerus gegeben hat, der als sein Sohn betrachtet wurde (Saxo IV, 101, vgl. Hermann, Saxon II,312) oder er lehrt ihnen die berühmte Schlachtordnung, der svinfylking, wie dem Sigurd (Rm. 23, Harald Kampfzahn (Saxo VII, 207) oder Hadingus (Saxon I, 31). Auch sonst gibt er nützlichen Rat, z.B. wie man einen Drachen bekämpft (Rm 19-25, Vols 28, Saxon II, 36), ein Pferd wählt (Vols 13).Die Hilfe, die Odin gewährt, ist also eigentümlicher Art; der Gott stürzt sich nicht an der Seite seiner auserwählten Helden in den Kampf, sondern wirkt aus einer geheimnisvollen Ferne und führt seine Günstlinge mehr durch List und Schlauheit als durch Mut zum Sieg. Diesen Charakter Odins betont auch die Ynglingasaga (Hkr. I, 17) nachdrüklich. Er macht die Feinde blind und taub und schreckerfüllt; ihre Waffen beißen nicht schärfer als Stöcke, während seine Männer als richtige Berserker im feindlichen Heer wüten. Durch diese Verbindung mit den Helden gerät Odin in ein widerspruchsvolles Verhältnis. Denn der Held, den er im Kampf geschützt hat, wird schließlich vom Gotte selbst dem Tode geweiht. Die Frage drängt sich auf: hat jetzt der Gott ihn verlassen und was ist der Grund dieser Änderung seiner Gesinnung? Wir können es verstehen, daß Odin zuweilen des Verrats beschuldigt wird; Egill klagt nach dem Tode seines Sohnes, daß Odin ihn verlassen habe (Sonatorrek, Skj I, 37Str. 22); ... Loki macht ihm den Vorwurf, daß er im Kampf den Sieg nicht redlich verteilt. König Harald Kampfzahn, der von dem als seinen Diener Bruno auftretenden Odin vom Kampfwagen geschleudert und mit einer Keule getötet wird (Saxo VIII, 220), ist wohl das berühmteste Beispiel der Tücke des Gottes. Sogar Sigmund fällt, wie Odin das von ihm selbst früher geschenkte Schwert [= Waffe] an seinem Speer zerschellen läßt (Vols 11). Der heidnische Krieger, der das wechselnde Glück des Kampfes in jeder Schlacht erfahren konnte, hat über Odins Untreue wohl kaum gegrübelt (ebensowenig wie die Christen über die Absichten Gottes in den Schicksalsschlägen, die sie treffen) aber die Poesie der späteren Zeit hat sich darüber empört, daß ein Gott so treulos handeln konnte, und den tückischen Charakter des Gottes schärfer betont. Dagr beklagt sich darüber, daß Odin allein alles Unheil gestiftet hat (HH 11, 34) deshalb heißt er ja auch Bolverkr (Grm. 47) - und dieses Unheil besteht darin, daß er Verwandte gegeneinander aufgehetzt hat. Gerade der Verwandtenmord, für die Germanen eine unbegreifliche Verblendung der einander Bekämpfenden, ist ein für Menschen unfaßbares, aber von Odin verhängtes Schicksal; deshalb ist es eben ein beliebtes Motiv der Heldensage: Gestiblindus [= Odin] entzweit die Brüder Ericus und Alricus (Saxon V, 134); Gizurr [= Odin] stiftet Feindschaft zwischen den Brüdern Hlodr und Angantyrr (Herv, S. 151 ff); Bolvisus der Blinde [= Odin] hetzt die Söhne der Brüder Sigarus und Hamundus gegeneinander auf (Saxo VII, 194), und Othinus [= Odin] entfacht den Streit zwischen Harald Kampfzahn und seinem Neffen Ringo (Saxo VII, 213).Ls 22: ‘Oft hast Du den schlechteren Kriegern den Sieg geschenkt, was Du nicht hättest tun sollen.’ In der späteren Poesie wird das begreiflicherweise zur Schablone."[9]

    "In der Dichtung des 10. Jahrh. wird der Gedanke, daß der in der Schlacht gefallene Krieger zu Odin fährt, oft ausgesprochen. Der Sieger im Kampfe weiht Odin die von ihm Erschlagenen. Hakon Jarl hat neun tapfere Männer zu Odin gesandt, sagt Thorleifr jarlaskald in seiner Hakonardrapa (Skj I, 132). Wie stark tritt der Odinsglaube in der folgenden Szene der Njala (C.79) hervor: Gunnar Hamundarson ist getötet worden. Sein Sohn Hogni nimmt einmal in nächtlicher Stunden den Speer seines Vaters vom Nagel; das Eisen gibt einen lauten Klang und auf die zornige Frage von Gunnars Mutter, wer es wage, die Waffe anzurühren, antwortet der Knabe: ‘Ich habe die Absicht, ihn meinem Vater zu bringen, damit er ihn nach Walhalla mitnehme und dort auf dem Waffending trage.’Die toten Krieger ziehen in Walhalla ein, um dort das heldenhafte Leben der Einherjar zu führen, die tagsüber miteinander kämpfen, um am Abend an der Metbank zu zechen. Dorthin ziehen die Sagenhelden, wie Helgi Hundingsbani (HH II pr.n. 38) und Hjalmarr (Herv S. 97), aber auch Könige wie Eirfkr und Hakon Jarl. Gerade in den diesen letzten gewidmeten Gedichten (Eirfksmál und Hákonarmál), die um die Mitte des 10. Jahrh.s gedichtet sind, wird mit hellen Farben geschildert, wie sie nach Walhalla ziehen und dort von Odin ehrenvoll empfangen werden. Auch hier klingt ein dumpfer Unterton des Schmerzes: wie konnte Odin so tapfere Helden aus dem Leben fortrücken und in [...den] Tod schicken?
    Der unbekannte Dichter der Eiriksmál hat darauf die erschütternde Antwort gegeben, daß der Gott die Helden deshalb zu sich versammelte, weil er ihrer bedürfe für die drohenden Katastrophen der Ragnarok. Die düstere Stimmung des sinkenden Heidentums hat hier eine Antwort auf die beängstigende Frage nach dem Warum des Heldenschicksals gefunden; Odin ist jetzt nicht mehr der hehre Schirmherr der Krieger, der sie am Ende ihres Lebens zu den Freuden des Heldenparadieses einlädt, wie in der eben angeführten Szene der Njala, sondern der sorgerfüllte Gott, der mit trübem Blick dem drohenden Unheil entgegensieht. [Diese Dichtung, bzw. Färbung der Dichtung entsteht vor dem Hintergrund der chrtistlichen Bekehrung, die von den Heiden im Angesicht der geschichtlichen Vorgänge als ein Ende der Welt betrachtet wurde. Ein Ende, von dem man sich anscheinend nicht sicher war, ob es ein Ende der bekannten Welt war, oder das faktische Ende aller Zeiten. Eine Unsicherheit, die sich im Baldermythos und insbesondere in der Wiedererstehung der Götter und Dämonen äußert]. Das Bild von Walhalla hat aber einmal auch in glänzenden Farben gestrahlt. Die Walküren holen den zum Tode verwundeten Krieger vom Schlachtfelde und führen ihn zu dem Palast mit den vielen Toren, wo die Einherjar aus - und einziehen. [Die Einherier sind die besten Krieger, die sich als die menschliche Unterstützung des Gottes im besonderen Totenreich der Walhalla versammeln]. Es ist gewiß richtig, daß diese Vorstellung, wie Grönbech (I, IV, 66) treffend bemerkt, zu einer 'silbernen Zeit' gehört und das Produkt einer überspannten Ideaisierung ist, aber sie ist dennoch auf dem Boden einer religiösen Anschauung gewachsen. Die auserwählten Krieger haben ihren Platz in uralten, sich auf Odin beziehenden Kulthandlungen; auch nach dem Tode bleiben sie Odins Krieger. Sie sind die Einherja und ihr Anführer[10] ist der Gott, der nach ihnen den Namen Herjann[11] führt."[12]

    Odin wird verschiedener Vergehen beschuldigt, wie etwa der Untreue, des Verrats etc. Aber auch den anderen Göttern haftet zuweilen aus vordergründiger Sicht Negatives an. Dazu bemerkt Derolez:"Damit kommen wir zum Kern des Problems, nämlich zur Frage: erhob die germanische Religion rein moralische Anforderungen? Unsere Antwort muß lauten: in dem Sinne, wie wir das gewöhnliche verstehen, gewiß nicht. Der Begriff des ethisch Guten und Bösen hätte sich ja, wie der Begriff von Schuld und Sühne, nach einem höheren Vorbild richten müssen, und eine solches Vorbild bot die Götterwelt nicht. Insofern man sich die Götter als Personen vorstellte, war ihnen ja nichts Menschliches fremd; sie hatten die gleichen Unzulänglichkeiten wie die Menschen und verübten das Böse, wie es sich der Germane vorstellte. Sie verstießen gegen die von ihnen selbst gewollte Rechtsordnung. Diese Ordnung aber hatten sie einmal in der Urzeit festgelegt, und individuelle Zuwiderhandlungen änderten daran nichts. Mord und Ehebruch blieben Verbrechen, auch wenn Odin und Freyja sich ihrer schuldig machten."[13]
    Ein Blick auf die Lebenswelt der germanischen Gesellschaft findet die Menschen in gewisser Übereinstimmung mit der Welt der Götter. "Die Tugend ist nicht etwas abstraktes, allgemeingültiges, das jedem Menschen zum Ideal gesetzt ist. Das germanische Wort, mit ‘taugen’ verwandt, bedeutet nur ‘tüchtig sein’. Aber die Art der Tüchtigkeit wird von den Zwecken bestimmt, zu denen die Kräfte verwendet werden müssen; jeder Mensch hat daher seine eigenen Tugenden. Dem einen ist erlaubt, was dem anderen unmöglich ist. Deshalb gibt es viel weniger Gelegenheit zu einem Konflikt von Pflichten in der Menschenseele; denn es gab keinen Gegensatz zwischen einem absoluten Tugendkodex und den Erfordernissen der individuellen Veranlagung. [...]denn die Tugend war (neben den eigenen Fähigkeiten) nur eine andere Form der Sippenehre, und diese war der kategorische Imperativ für jedes Verhalten. Es ist bezeichnend, daß die germanischen Sprachen das Wort ‘Gewissen’ (ahd. gewizzenî, got. mithwissei, an. samvizka) durch Übersetzung des lat. conscientia gebildet und den Begriff erst durch die Auseinandersetzung mit der christlichen Gedankenwelt kennengelernt haben. Die Stimme im inneren, die ein abfälliges Urteil über unsere Taten ausspricht, haben die Germanen natürlich ebenfalls vernommen, aber es gab für sie noch keine ethische Problematik, da nur das als Tugend anerkannt wurde, was die 'Sippenmoral' vorschrieb und jeder durchaus bestrebt war, in Übereinstimmung mit ihr zu leben."[14] Dabei haben wir es natürlich ebensowenig mit Maßregelungen zu tun, denn das, was man als Sippenmoral definierte, kam schließlich aus der Sippe / dem Clan, bzw. dem Stamm selbst; damit war jeder, der sich daran halten sollte, auch bei deren Definition beteiligt. .....................................................

    Wotan / Odin: Der Toten - und Kriegsgott

    Das eigentliche Totenreich ist nicht Walhall, sondern Hel. Wenn Odin / Wodan mit dem Namen Herjann bezeichnet wird, dürfte das eine Erinnerung an die ursprünglichste Bedeutung des Gottes als dem wilden Jäger sein; die Verstorbenen ziehen nämlich unter Führung des wilden Jägers als das wilde Heer im Sturm durch die Nacht.[1] Besonders in der Julzeit - deren Beginn sich durch die Herbststürme ankündigt, besuchen die Ahnen durch die wilde Sturmjagt die lebenden Verwandten. Eine Jahreszeit, in der allgemeine Totenfeste abgehalten wurden. Zum Ende der Julzeit, Ende Februar wurden mit dem Winter auch die Ahnen wieder zum gehen aufgefordert: in lärmenden Umzügen, den geschichtlichen Vorläufern der Fastnacht. Wir können eine Entwicklung Wodans aus dem ursprünglichen wilden Jäger bis zu seiner späteren kosmologischen Bedeutung ausmachen.
    Wenn er später in Walhall die Einherjar sammelt, da er im Endschicksal der Götter (der Ragnarök) die Hilfe der besten Krieger braucht, entspricht das einer gewissen Idealisierung. Sie erklärt sich vor dem Hintergund der christlichen Bekehrung die für die Heiden als das Ende ihrer Welt empfunden wurde.[2] Die spätere Beziehung Wodans insbesondere zu den Kriegern (denn als zu den Ahnen allgemein) erklärt ihn zum Kriegsgott, ein Charakterzug, der verständicherweise in jener Zeit stärker betont wurde. An anderer Stelle ist Wodan aber der Gott der Poesie. Wie geht das zusammen? Wir werden noch weitere Aspekte des Gottes ausmachen können, bevor wir die Adjektive auf einen substantiellen Nenner bringen können.

    Die Walküren erscheinen im späteren, idealisierten Walhalla als die Dienerinnen Odins. Auch dies dürfte in Hinblick auf die religiösen Auseinandersetzungen zu erklären sein. Einige Zeit zuvor, finden wir die Walküren nämlich wesentlich weniger anziehend als dämonische Wesen verstanden, welche die "Wal" küren, - den Lebenden zum Tode bestimmen. (Mit dem Bild der blondgezopften Wagnerischen Mann-Weiber haben die Walküren nicht das geringste zu tun. Dies entspringt einer späten Romantisierung.) „In allen germ. Dialekten bedeutet ahd. wal, ags. wael, an. valr, den Haufen der Erschlagenen oder die Stelle, wo sie liegen; im nd. vom 13. Jahrh. an bis heute bezeichnet Wall einen Haufen, ... (...scharenweise, in Menge)."[3]Ein "küren der Wal" bedeutet demnach ein Auswählen der Krieger, die fallen sollen. Die Walküren sind also ursprünglich die Wesen, die den Krieger vom Leben zum Tode beförderten.[4] Es handelt sich bei den Walküren nicht um mehr oder weniger konkrete Personen, sondern um Geister, die das Schicksal des Kriegers in Erfüllung gehen lassen. Eine ausführliche Erörterung kann hier aber nicht vorgenommen werden. Um aber wenigstens einen kurzen Erklärungsansatz zu liefern sei gesagt, das jenes was die Wal kürte (Numen!), immer etwas war, was sich im Schlachtgetümmel befand und darin wirkte. Eine genaue Untersuchung der Namen der Walküren kann hier Aufschlüsse geben. Wenn z.B. Rista und Mista Walküren sind, und ihre Namen eigentlich Wolke und Nebel bedeuten (Hermann), dann kann man sich denken in welcher Weise Wolken und Nebel über das Schicksal eines Kriegers in der Schlacht entscheiden können.

    Wodan - hier als Kriegsgott - "lehrt eine Schlachtenordnung", und führt seine Auserwählten "mehr durch List und Schlauheit, als durch Mut zum Sieg". Aber einzelnen Geschichten zufolge verblendet er auch den Gegner, hetzt Verwandte gegeneinander auf, sät Streit und stiftet Feindschaft. Wie auch im wechselnden Schlachtenglück nicht unbedingt der beste Krieger bevorzugt wird, ist auch in anderer Hinsicht das Wirken des Gottes ambivalent. "..als Siegesgott lehrte er die Germanen selbst die Schlachtordnung des Fußvolkes, den 'Eberrüssel'. Die äußerste Spitze des Keiles bildeten nur wenige oder ein einzelner Mann, der König oder die Edlen mit ihrem Gefolge, sofern sie nicht zu Roß kämpften; fochten mehrere Völkerschaften[5] zusammen, so bildete jede für sich einen Keil. Ein solcher Angriffsstoß war von furchtbarer Kraft, unwiderstehlich schob er sich in die feindlichen Reihen ein. Bei den Germanen des Ariovist tritt, soviel wir wissen, uns zum ersten Male die keilförmige Schlachtordnung entgegen (Caes. b. g. 1).Tacitus hebt ausdrücklich hervor, daß die Schlacht aus Keilen zusammengesetzt wurde (Germ. 6; Hist 4, 4, 5). Die Alemannen schlossen sich bei Straßburg gegen Julian in einen Keil zusammen. Bei den Franken war noch im 9.Jhd. die keilförmige Aufstellung in ihrer ganzen ursprünglichen Eigentümlichkeit erhalten, auch bei den Angelsachsen war in der verhängnisvollen Schlacht bei Hastings [1066 nZ.] der dicht geschlossene, tief gegliederte Keil allgemein."[6] Das Lehren einer Schlachtordnung sollten wir festhalten: Odin kämpft nicht selbst, er lehrt zu kämpfen.

    "Es hatte häufig den Anschein, als ließe er einen Helden böswillig im Stich; viele Krieger fielen ehe sie nach menschlicher Schätzung die volle Entfaltung ihrer Kräfte und den Höhepunkt ihres Ruhmes erreicht hatten. Es lag auf der Hand, daß man Odin die Schuld an der Unfaßlichkeit des Kriegsgeschickes zuschrieb. Deshalb warf ihm Loki vor:Schweig doch, Odin! Gar schlecht verteiltest duzwischen Kriegern das Kampfeslos:gabst du doch oft, dem du nicht geben solltest,dem Feigeren Erfolg. (Lokis Zankreden, Ls. 22) Früher oder später entzog er den Auserwählten seinen Schutz. Sie 'verloren ihr Glück', und dann konnte ihnen kein Mut mehr nützen. Als der alte König Sigmund während seiner letzten Feldschlacht tapfer in den vordersten Reihen kämpfte, so berichtet die Wölsungensaga, erschien plötzlich vor ihm ein Mann mit einem tief in die Stirne gedrückten Hut und einem blauen Mantel; er hatte nur ein Auge und trug einen Speer in der Hand - die typische Erscheinungsgestalt Odins. Sigmund wollte den Speer abwehren, aber dabei zerbrach sein Schwert; von da an wandte sich das Kriegsglück gegen ihn. Er wurde verwundet, und als man ihn fragte, ob er seine Verletzung überstehen zu können glaube, antwortete er: ‘Mancher lebt, obwohl nur geringe Hoffnung war; von mir aber hat sich das Glück abgewandt; so daß ich mich nicht mehr heilen lassen will. Odin wollte nicht, da ich fürder das Schwert schwinge, da es zerbrach. Ich habe Schlachten geschlagen, solange es ihm gefiel.’ Oft und nicht ohne Bitterkeit werden Odins Beschlüsse gerügt:Übel haben wir Odin zu lohnen, daß er solchen König des Siegs beraubte,so dichtete der Skalde[7] Innstein nach dem Tode König Halfs."[8]

    "Der rätselhaft waltende Kriegsgott heißt deshalb Yggr, der Schreckliche. Ein Eddaspruch sagt: ...- Yggr wird die Toten haben, die im Kampf gefallen sind - (Grm 53). Dem Kriegsgott sind Wolf und Rabe geweiht. Bei vielen Völkern ist der Wolf ein chthonisches Tier und das besondere Verhältnis zu Odin wird schon dadurch ausgesprochen, das die ihm geweihten Krieger ulfhednir oder Wolfspelze heißen.[9] Bei Griechen und Römern war der Wolf auch das Tier der Flüchtigen und Verbannten; das gilt ebenfalls für die Germanen: Der Rabe ist Odins Vogel; deshalb nennen die Skalden ihn Yggjar mar: 'kämpfen' umschreibt [der Dichter] Havaror halti als: ferita Yggjar mo, also 'den Raben füttern' (SkjI, 179 Str. 3), während Arnorr jarlaskald in seiner Magnusdrapa (Skj I, 307 Str.6) den 'Krieger' umschreibt als Yggjar mos, dh., 'Der die Fittiche des Rabens rot macht'. Im Ljösmannaflokkr heißt dieser Vogel Odins Adler (Skj I, 391 Str.2).Diese Vorstellung hängt wohl hauptsächlich damit zusammen, daß der Rabe ein Leichenvogel ist (von Unwerth 2, 92); ein Eddadichter spricht von [den] '....nach Atzung gierigen Odins Falken, wenn sie Wal wittern' (Hh II, 43): Auch in der ae. Poesie heißt dieser Vogel waelcaesig (Exod. 164). Ein Wort, das lebhaft an das nordische valkyrja [10] erinnert (Neckel I, 78-79):Als Hakonjarl nach der ihm aufgezwungenen Taufe aus Dänemark zurückkehrte, opferte er an der gautländischen Küste, und als er sieht, daß zwei Raben krächzend herangeflogen kommen, glaubt er, daß Odin sein Opfer angenommen habe (Hkr I, 303).[11]
    Sleipnir heißt Odins Pferd, aller Rosse bestes, wie Grm.44 es preist. Die Snorra Edda erzählt, daß es acht Beine hatte und diese Mitteilung wird vollauf durch die Darstellung auf dem gotländischen Tjängvidestein bestätigt. Damit wird wohl die Schnelligkeit, womit es sowohl über der Erde wie durch die Luft dahinbraust, zum Ausdruck gebracht; als Hadingus auf Odins Pferd fortgeführt wurde, sah er unter des Rosses Hufen das Meer weit ausgebreitet (Saxo I, 24). Natürlich wird Sleipnir in den Mythen immer erwähnt, wo ein merkwürdiger Ritt gemacht werden soll. Odin reitet darauf nach Niflhel [der Totenwelt], um eine tote Völva zu besuchen (Bdr. 2) und [...Hermodur] besteigt es, als er Balder aus der Totenwelt befreien soll (SnE 65). Jüngere Erfindung ist wohl die Geschichte seiner Geburt: Loki soll das Pferd mit dem Hengste Svadilfari erzeugt haben, wie das der Mythus vom Riesenbaumeister erzählt. Überraschend groß ist die Zahl von Odins Beinamen, die ihn als ein Tier kennzeichnen. Man hat darin oft eine Erinnerung an eine frühere Tiergestalt des Gottes erblicken wollen, aber andere Erklärungen sind ebenfalls möglich. Jedenfalls besteht ein Zusammenhang mit Kulthandlungen, die in heutigen Volksbräuchen bewahrt geblieben sind und bei denen die Teilnehmer in Tiergestalt auftreten.................................................................................

    Wotan / Odin: Der Gott der Poesie

    "Odin ist der Gott der Dichter. Er soll sogar nach Yngl. 6 selber nur in poetischer Form gesprochen haben; er hat den Skaldenmet [den Met der Dichter] erworben und ihn den Menschen gespendet. Der Mythus, der davon handelt, erzählt, wie er durch List den Met dessen Besitzern entwendet;...
    Der Mythus von der Erwerbung des Metes ist uns zweimal überliefert,.. in einigen Strophen der Havamal (104-110) und in einer mit großer Sorgfalt komponierten Erzählung von Snorri (SnE 83-85), Odin hat nach beiden Quellen den Met von einem Riesen Suttung geraubt, indem er dessen Tochter Gunnlöd durch Liebe dazu betört hat, ihn aus den Gefäßen trinken zu lassen, in denen der Trank enthalten war. Das Odin die Hauptfigur des Mythus gewesen ist, beweisen auch die zahlreichen Kenningar, in denen sein Name vorkommt...[1] Aber in der Snorra Edda hat dieser Raub eine lange Vorgeschichte bekommen, in der wahrscheinlich parallele Mythen zusammen gearbeitet sind."[2]

    Der Kwasirmythos ist in mehrerer Hinsicht bedeutsam: einerseits erzählt er vom Charakter Wodans, andererseits transportiert er einige interessante kulturelle Besonderheiten. Da mir der Text nicht im Orginal oder einer kompletten Übersetzung vorliegt, werde ich die Geschichte aus der Sekundärliteratur zusammenstellen. Zunächst Dumezil:

    "In der Snorra Edda wird erzählt, daß die beiden Göttersippen der Asen und Vanen nach einem harten unentschiedenen Krieg, Frieden schlossen. Zur Besiegelung ihres Einvernehmens spuckten sie alle von zwei Seiten in dasselbe Gefäß. Die Asen wollten dieses Friedensunterpfand nicht verloren gehen lassen und machten daraus einen Mann, den sie Kvasir nannten. Kvasir ist so klug, daß es auf der Welt keine Frage gibt, auf die er keine Antwort hat. Er begann die Welt zu durchwandern, um die Menschen Weisheit zu lehren. Eines Tages luden ihn die beiden Zwerge Fjalarr und Galarr zu einer Unterhaltung ein und töteten ihn. Sie verteilten sein Blut in zwei Gefäße und einen Kochkessel..., der Kessel heißt Odroerir, die beiden Gefäße Són und Bodn. Sie mischten Honig unter das Blut und es entstand ein Met, der jeden, der davon trinkt, zum Dichter und Weisen macht. Die Zwerge sagten zu den Asen, daß Kvasir an seiner Gescheitheit erstickt sei ..., weil niemand so weise da war, daß er sein Wissen durch Fragen erschöpfen konnte ...."[3] "Nachdem die Zwerge auch den Riesen Gilling getötet hatten, zwang sie dessen Sohn Suttung, ihm den kostbaren Met als Wergeld abzutreten. [Wergeld nannte man die Kompensationsmöglichkeit bei einem Totschlag, so das die geschädigte Partei von einer Rachetat absah. Der Riese] ..versteckte den Trank an einem Ort, der Hnitbjörg genannt wurde, und beauftragte seine Tochter Gunnlöd, darüber zu wachen."[4] "[Odin] verbrachte drei Nächte bei ihr, wonach sie ihm gestattete, dreimal einen Mundvoll Met zu trinken. Er aber leerte mit jedem Zug eines der drei Fässer, verwandelte sich dann in einen Adler und flog mit seiner Beute fort. So gelangten die Götter in den Besitz dieses wunderbaren Trankes."[5]

    Zunächst zur Erklärung: ".. zu diesem Text hat Mogk sehr wertvolle Anmerkungen gemacht. Unter Benützung eines Gedankens von K. Simrock (1860) und R. Heinzel (1889) zeigte er zunächst, das Kvasir nur die Personifizierung eines berauschenden Getränkes ist, dessen Name mit dem "Kvas" der slawischen Völker zusammenhängt. Tatsächlich steht Kvasir in derselben Beziehung zu einem Substantiv wie eldir , (der Name eines von den Dienern Aegirs), [zum Substantiv:] eldr, "Feuer". [Desgleichen: ornir - zu orn "Adler" oder byggvir zu bygg, "Gerste"]. Und wenn auch die alten Texte [gegenüber dem Adjektiv kvasir] das Substantiv Kvas nicht bewahren, ist es doch in mehreren Dialekten bezeugt. So bezeichnet im Dänischen der Insel Jütland Kvas die zerquetschten Früchte und im Norwegischen den Saft der zerquetschten Früchte."[6]
    Damit können wir Kvasirs Blut also als den Traubensaft identifizieren. Die bösen Zwerge, die Kvasir töteten, mischten das Blut mit Honig - dem alten Gärmittel, bzw. einem Mittel, das den Alkoholgehalt erhöht - worauf aus dem Saft Wein entstand, - "ein Met, der jeden zum Dichter und Weisen macht". Eine direkte Anspielung auf die Trunkenheit. Ein kleines Problem liegt allerdings darin, daß ursprünglich das Bier das Kultgetränk war und als der eigentliche Met galt, doch dazu später.

    Dumezil vergleicht den Kwasirmythos mit dem indischen Mythos vom Riesen "Mada". Der Vergleich ist insoweit sehr bedeutsam, da wir es hier mit den gleichen indogermanischen Sprachwurzeln zu tun haben, also eine "innerkulturelle" Entsprechung vermuten dürfen[7]
    "Wie Indra und die anderen Götter den beiden Nasatya den Zutritt zu der Gemeinschaft der Götter hartnäckig verweigern, stellt ein Asket, ein Freund der Nasatya, ein riesenhaftes Wesen her, das die Welt zu verschlingen droht, das Monstrum Mada, "Rausch". Und sogleich gibt Indra nach, es wird Friede gestiftet, und die Nasatya werden definitiv unter die Götter aufgenommen. Nun bleibt nur noch das gefährliche Wesen zu liquidieren, das dieses Ergebnis herbeigeführt hat: Der Asket zerstückelt es und teilt es in vier Teile, und deshalb ist heute der Rausch auf das Trinken, die Frauen, das Spiel und die Jagd verteilt. [Bzw. auf Drogen, Sex, Spiel und Jagt].
    Gewiß zeigen sich deutlich die Unterschiede zwischen dem germanischen und dem indischen Mythus, doch ebenso auch die Analogie der Grundsituationen und Ergebnisse. Die Unterschiede: Bei den Germanen wird 'Kvas' erst nach dem Friedensschluß als Symbol dieses Friedens hergestellt und zwar nach einer ganz genauen, wirklich geübten Technik der Gärung durch Speichel, während die Person 'Rausch' eben zu diesem Zweck hergestellt wird, nämlich die Götter zum Frieden zu zwingen, und zwar auf mystische Weise (wir sind in Indien!) durch die Kraft der Askese und ohne Hinweis auf eine Gärungstechnik. Weiter wird 'Kvas' nicht von den Göttern, seinen Erzeugern, getötet und sein Blut in drei Teile geteilt, sondern von zwei Zwergen, während in Indien sein Urheber den 'Rausch' in vier Teile teilt. Außerdem ist die Teilung des 'Kvas' rein quantitativ, in homogene Teile (drei gleichwertige Gefäße voll Blut), während die Teilung des 'Rausches' in verschiedene Teile geschieht (vier Arten von Rausch)." [9]

    Während in der indischen Sage die Übermacht des Rausches unerträglich ist und mit dem Leben der Gemeinschaft unvereinbar, ist Kvasir - als der Wein - ein Übermaß der bislang bekannten Trunkenheit - welches das bislang deutlich geringer alkoholhaltige Bier, als das alte Kultgetränk (als einziges Rauschmittel!) in der Wirkung wesentlich übersteigt. Man kann es als geflügeltes Wort verstehen, wenn durch das Rauschmittel Bier jemand "zu einem Dichter und Weisen wird" und darüberhinaus durch den stärkeren Wein schlißlich einer "an seiner Weisheit erstickt". Der Kvasrirmythos ist vermutlich weniger eine Einführung des Metes im allgemeinen - den man als Honigbier schon wesentlich länger kannte[8], als eine Enführung des Weines in die Kultur als eine weitere "Rauschdroge".

    "Und endlich stellt die germanische Sage den 'Kvas' von Anfang an als Wohltäter und den Menschen gut gesonnen, als eine Art Märtyrer dar, und sein Blut, wenn es richtig behandelt wird, bringt das Kostbarste von allem, den Met der Dichtung und der Weisheit hervor, während in Indien 'Rausch' von Anfang an ein Übeltäter ist und in seine vier Teilen noch heute die Geißel der Menschheit. Dieses Schema ist einmalig: es begegnet auf der ganzen Welt nur in diesen beiden Fällen."[9]

    Die Snorra Edda, der wir diese Geschichte zu verdanken haben stammt aus dem 10. Jahrhundert, wobei man annehmen muß, das der Kwasirmythos wesentlich älter ist. Eine Datierung ist mir aber nicht bekannt.[10] Wenn Bier (in Maßen) also schon anregend war, wodurch man auf andere Gedanken kommen konnte - im positiven Sinne - auf Neues und Kluges, dann war der Genuß des stärkeren Weines aus damaliger Sicht sicher die größere Anregung, durch die man fast schon "unerträglich klug" werden konnte. Das Bild eines unbelehrbar Betrunkenen ist hinlänglich bekannt. Ich glaube wir haben es hier zwischen den Zeilen mit einer subtilen Behandlung des Alkohols zu tun: der Wein mit Honig gemischt - also zu einem weiteren kulturell akzeptierten Getränk gemacht.[11]Bezeichnenderweise raubt gerade Odin den so gewonnenen Met aus dem Besitz der Riesen. Wie Dumezil schon bemerkt hat, bedeutet Kwasir ein unerträgliches Übermaß an intelektueller Kraft. Odin, der die Krieger lehrt wie sie ihre Feinde besiegen können, ist hier der Gott, welcher durch List und Klugheit an den Stoff kommt, der "jeden, der davon trinkt zu einem Dichter oder Weisen macht". Der Rauschtrank entfesselte den Geist; mythologisch gesagt: Odin, der Erwerber des Metes, war damit auch der Gott der geistigen Erregung, kein anderer Gott hatte mit dem Met zu tun.

    "Hier stoßen wir wiederum auf alte Vorstellungen. auch der indische Somatrank heißt madhu; - ein mit dem Wort Met verwandter Begriff - eine Erinnerung an die Zeit vor der Siedelung im Panjáb, wo die Honigbiene nicht vorkommt und deshalb der alte Kulttrank aufgegeben werden mußte (Günthert 3, 256). Die Griechen nannten im Kultus den Wein bisweilen mit dem altertümlichen Worte , woraus wir schließen dürfen, das er als Ersatz für einen älteren Honigtrank eingetreten ist. Zwar verwenden sie für jeden berauschenden Trank, also auch für den Wein, das Wort , aber gerade dieses mit an. mjodr und ai. madhu verwandte Wort legt den Gedanken nahe, daß auch sie ursprünglich nur den Mettrank gekannt haben. Der Met war also schon in der Urzeit [also in fernster Vorzeit der indogermanischen Kultur] der gewöhnliche Opfertrank; der für das Opferritual wichtige Kwasirmythos hält daran die Erinnerung noch fest, das der Honig das alte Gärungsmittel war.Auch im Kult war der Honig, seit den ältesten Zeiten, hoch bedeutsam. Das beweisen sehr bezeichnende Parallelen. Aus der Vita S. Liudgeri wissen wir, das das Kind, nachdem es Honig gekostet hatte, als menschliches Wesen angesprochen werden mußte (Clemen 3, 58); aber das war auch in Griechenland und Indien der Fall (Usener, kleine Schriften IV, 415). Bei zahlreichen indogermanischen wie nicht indogermanischen Völkern Asiens begegnen wir gleichartigen Vorstellungen;..."[12]
    Wieder steht Odin besonders in Verbindung mit intelektueller Kraft und seelischer Erregung. Daneben erfahren wir von seinen Gestaltwandlungen, die vielfach als literarisches Motiv verwendet, die Flexibilität des Gottes verdeutlichen.

    "Eine ganz spezielle Form der Begnadigung von seiten Odins ist die Gabe der Dichtkunst. Ekstase und dichterische Inspiration liegen nicht so weit auseinander, und Odin war ja eben der Gott de Ekstase. Die Skalden verwenden viele Kenningen für 'Dichtergabe', 'Dichtkunst' und 'Gedicht', die auf die Weise anspielen, in der Odin den Göttertrank (der ja zugleich die dichterische Inspiration versinnbildlichte) in seinen Besitz brachte.An Hand dieses Mythenzyklus erklärt Snorri eine Reihe von Kenningen, die er bei Skalden angetroffen hat: 'Kwasirs Blut', 'Met der Zwerge', 'Wergeld für den Vater der Riesen', 'Odins Met', 'Odins Beute' usw., die sich alle auf die dichterische Inspiration und ihre Wirkung beziehen."[13]

    "Uralte Mythen vom Lebenswasser, das aus dem Berge oder hinter zwei zusammen schlagenden Felsen geholt werden muß können den Ausgangspunkt gebildet haben, und für die ursprüngliche Bedeutung von Odin kann es ein wichtiger Hinweis sein, daß er für die Menschen das Wasser des Lebens erworben hat (s. § 404). Dieses 'Wasser' ist aber mit der Flüssigkeit gleichzusetzen, die in kosmologischen Spekulationen als Quelle des Lebens erscheint und die wir im Norden als 'Met' kennen (s. § 589).[14]Daß aber der Kern dieses Mythus vom Raub des Skaldenmetes in indogermanische Zeit zurück reicht, hat man nur in der unfruchtbarsten Periode der Mythenforschung bezweifeln können. Es kann ja kein Zufall sein, daß Indra in Adler- oder Falkengestalt den Somatrank aus dem Himmel raubt und daß Zeus ebenfalls als Adler den Mundschenk der Götter Ganymedes zum Olymp entführt. Wie sehr auch durch spätere Überlieferung in Einzelzügen abgewandelt, hier blickt unverkennbar ein ‘Urmythologem’ durch, das die Germanen als Erbe der fernsten Vergangenheit bis zum Untergang ihres heidnischen Glaubens liebevoll bewahrt haben.[DeVries folgert aus dem Vergleich zum indischen Mythos in Hinsicht auf die genannten Begriffe der drei Behälter, in denen der Met enthalten war, das:]...Odroerir jedenfalls nicht, wie Snorri glaubte, das Gefäß, sondern der Trank selber [ist]. Auch das Wort beweist, daß wir hier an einen Trank zu denken haben; denn es bedeutet ‘der den Geist in Bewegung bringt’, also ein Name für einen Rauschtrank, der die Menschen in einen ekstatischen Zustand versetzt. Der Mythus von Odroerir [und damit ursprünglich die Kultivierung eines Rauschtrankes, noch vor dem Kvasirmythos], ist zweifellos fest im Kulte verwurzelt, wo ja der Met als Opfertrank eine so wichtige Rolle spielt; er reicht auch gewiß in die älteste Zeit zurück."[15]

    Nach dem "Kriesgott Odin", der lehrt, haben wir es hier also mit dem Odin der Poesie zu tun. Neben dem besprochenen Kvasirmythos zeigen viele Stellen die Beziehung Odins zur Poesie. Wenn wir hier exemplarisch die Erwerbung des Dichtermetes herausgehoben haben, so um darauf aufmerksam zu machen, daß damit Odin als die Voraussetzung für das dichterische Wirken der Menschen galt. Die Poesie würde es ohne den Gott nicht geben und kein anderer Gott hat mit der Dichtung zu tun - wenn man einmal vom recht spät entstandenen Gott Bragi absehen mag -. Die Trunkenheit darf man hier nicht überbetonen, ist sie ja eigentlich ein Nebenprodukt des Rausches, wenn er im Übermaß stattfindet. Im Wesentlichen gilt es die damit verbundene seelische Erregung festzuhalten. ...........................................................................

    Der Gott der Magie

    "Unter den Göttern ist Odin der große Magiker. In den Havamal rühmt er sich, Zaubersprache zu kennen um Wunden zu heilen, Feindeswaffen stumpf zu machen, Fesseln zu sprengen u.a. In dem Mythus von der Geburt von Baldrs Rächer versucht er, Rinda mit Liebeszauber zu betören (Saxo III,70-72). In Baldrs draumar [Den Träumen Balders] übt er Totenbeschwörung. Hierher gehört auch seine Fähigkeit, sich in anderen Gestalten zu verwandeln. Das alles gibt uns freilich nicht das Recht, ihn als einen vergöttlichten Zauberer zu betrachten (v. d. Leyen 2, 151-166), aber da wir hier eine wichtige Seite seiner Persönlichkeit, und zwar Beziehungen zum Schamanismus, zu sehen haben, ist zweifellos."[1]"Als Hroptr [= wird bei deVries in der Übersetzung mit 'Beschwörer' angegeben] findet Odin die Runen ..., (Sd 13). Daneben wird der Name Hroptr besonders für den Kriegsgott verwendet: jeden Tag wählt Hroptr die im Kampfe gefallene Krieger (Gr. 8).Daß die skaldischen Stellen, wo der Name vorkommt alle in die 50 Jahre zwischen 960 und 1010 fallen (de Boor 2, 85-86), weist darauf hin, daß gerade in der Spätzeit des Heidentums, als die Ragnarökgedanken und also auch der Baldrmythus eine erhöhte Bedeutung bekamen, auch der Name Hroptr in den Vordergrund trat; wohl weil er als oberster Kriegsgott in der Mitte der religiösen Krisis stand [der bereits oben angesprochenen Zeit der Bekehrungsauseinandersetzungen]. Odin [ist] der hroptr rogna (Hav 142), das heißt nach Vogts ansprechender Deutung (I, 41 ff. und 4, 55) 'Beschwörer der Mächte'. Wir sehen, wie sich alles organisch zusammenschließt: der Gott des Zaubers ist auch der Gott des Krieges, nicht, weil er sich zu diesem 'entwickelt' hat, sondern weil Krieg nicht einfach Gemetzel ist, vielmehr eine Handlung, die auch von magischen Kräften abhängig ist.Ein typisches Beispiel des magischen Verhaltens Odins dürfte auch die Geschichte vom herkulischen König Rodulf sein, der im Kampfe mit den Langobarden den Zorn der Götter erfuhr; seine Krieger wurden in die Flucht geschlagen und waren so verblendet, daß sie sich in einen blühenden Flachsacker, den sie für das Meer hielten, stürtzten. Das wird man den Verblendungskünste Wodans zuschreiben müssen."[2]


    Die Runen

    Sie spielen eine wichtige Rolle in der Bedeutung Odins, sind aber auch ansonsten ein hochinteressantes Feld der Betrachtung. Um uns der grundsätzlichen Persönlichkeit Odins zu nähern, werden wir kurz dem Gegenstand seiner Tätigkeit als "magischer Gott" widmen. Runen

    "Runen wurden ursprünglich nicht 'gemalt' (malen setzt schon Tinte und Pergament voraus) oder geschrieben (lat. scribere), sondern 'eingeritzt'. Das lehrt der altgermanische Ausdruck für 'Schreiben', dessen erste Anwendung die auf die Runenschrift ist, as. ags. writan, engl, to write, ahd. rizzan, got, vreitan, an. rita, ritzen, reißen (Reißbrett, Reißzeug, Grundriß, ...). Auch der Ursprung der Wortes 'Buchstabe' geht in die älteste Zeit zurück: ahd. Buostab, ags. Bokstäf, an. Bokstafr. Buchstabe behört zu Buche, und wenn Tacitus (Germ. 10) von einem fruchttragenden Baume überhaubt spricht, so mag aus irgendeinem Grunde die Buche den Vorzug gehabt haben. Auch sie trägt ja Früchte, die Bucheckern waren in alter Zeit sehr geschätzt. Vom Brauch der Losrunen [Orakel] gehen auch die drei germanischen Bezeichnungen für 'Lesen' aus: ahd. as. afries. lesan, an. lesa; ags. raedan, engl. to read ; got siggvan. Die deutsche [und ] nordische Bezeichnung hält sich an das Auslesen und Aufnehmen der Runenstäbe, die englische an das Raten und Deuten."[3]

    Ursprünglich sind die Runen Symbole, die eine bestimmte Sache bezeichneten, sei es ein Ding oder ein Naturvorgang. So hatte beispielsweise jeder Gott ein bestimmtes Zeichen, der Gott Tyr (Tiwaz, Tius) hatte beispielsweise einen aufrecht stehenden Pfeil als Rune. Aber auch alle Dinge der Welt haben eigentlich eine Grundbedeutung, die man (soweit bekannt) durch ein entsprechendes Symbol ausdrückte. Das bedeutete, daß man die wesentliche Kenntnis von dem Ding, der Sache hatte wenn man deren Rune erkannt hatte. Aus diesem Grund wurde die Runenkenntnis hoch angesehen, die Meinungen dazu waren im allgemeinen aber zwiespältig aufgrund der ambivalenten Möglichkeiten der Runenkunst.In erster Linie soll den Quellen zufolge die Runenkenntnis heilvoll gewesen sein, wenn man sie richtig anzuwenden wußte. Es sind Beispiele von schamanistischen Heilungsritualen bekannt, in den die Runen zum Einsatz kamen, wie auch von Beispielen falsch verwendeter Runen durch Unkundige. Für heutige Zeitgenossen wie für wissenschaftlich gebildete Ohren mag sich das wie esoterischer Mumpitz anhören. Fakt ist allerdings, daß die Runenmagie einen recht großen Raum in der altgermanischen Gesellschaft innehatte und insbesondere gebildete Leute Runenmeister waren, in der Regel Dichter und heidnische Priester (Goden). Der bemerkenswerte Aufsatz R. M. Meyers: "über den Begriff des Wunders in der Edda"[4], gibt uns unter anderem Aufschluß über die Eigenart der Runen. Daneben wird uns auch viel von der Charakteristik Odins klar werden, der den Mythen zufolge die Runen entdeckte und sie anwendet.

    "Zu den wenigen Dingen, über die wir heutzutage ausreichende und sichere Definitionen besitzen, gehört das Wunder. Erklären wir es als eine Unterbrechung oder Aufhebung der Naturgesetze, so ist das Wunder damit unzweideutig gekennzeichnet. In welcher Sphäre es sich vollzieht, ist dabei völlig gleichgültig; ein Wunder liegt vor, wenn ein Toter erweckt wird, aber auch wenn ein Stein sich von selbst bewegt. Nun ist es klar, daß diese allgemein angenommene und einleuchtende Definition des Wunders für frühere Epochen und insbesondere für mythologische Perioden keinerlei Geltung haben kann; aus dem einfachen Grunde, weil für diese Zeiten die Vorstellung unverbrüchlicher Naturgesetze noch nicht existiert.Nicht einmal in Märchen ist alles möglich; so viel Wunder man auch stillschweigend hinnimmt, es gibt auch hier Grenzen, zu deren Überschreitung die höchsten göttlichen Kräfte bemüht werden müssen.

    Georg Brandes hat einmal in der Kritik Andersens sehr hübsch ausgeführt, daß auch im Märchen eine Dryade ihren Baum nicht verlassen kann. Jedes Wesen hat immanente Grenzen seines Vermögens; die Baumnymphe kann ihre Existenz nicht von dem Baum lösen, weil es eben ihr Wesen selbst ist, im Baum zu wohnen. Nur ein Eingriff der obersten, unbeschränktesten Mächte könnte daran etwas ändern; und das wäre dann eben ein Wunder im Sinne des Märchens. Nicht anders steht es principiell [sic] in der Mythologie. Daß Helios [der griechische Sonnengott] seinen Wagen plötzlich umwendet, ist kein Wunder; daß Josua im Thal Ajalon [sic] die Sonne still stehen heißt, ist eins. Denn er ist eben kein Gott und hat keine Verfügung über die Himmelskörper; er greift über die Sphäre seines Könnens hinaus - und damit tut er ein Wunder.
    Es wären manche Mißverständnisse in der Beurteilung mythologischer Verhältnisse unterblieben, wenn man sich diesen Unterschied des alten und neuen Wunderbegriffs immer gegenwärtig gehalten hätte. Unser Wunderbegriff ist an die Vorstellung allgemeiner Gesetze gebunden - der mythologische an die Vorstellung je nach den Klassen der Wesen verschieden gearteter Gesetze. Wie im Rechtswesen so entscheiden auch hier nicht allgemeine Normen, sondern specielle [sic] für den Stand der Person geltende. Was ein Wunder ist, wenn ein Mensch es vollbringt, ist darum noch keins, wenn ein Halbgott es ausführt; was bei dem Halbgott so heißen mag, fällt als etwas selbstverständliches in den Kraftbereich der Götter. Aber endlich gibt es Dinge, deren Leistung selbst bei Göttern wunderbar erscheint.

    [Zur Etymologie des Begriffes "Wunder", die vom Wortstamm des Begriffes ausgehende Deutung des Wortes]: lat. mirus aus: smirus zu wurzel smi 'erstaunt lächeln' (vgl. ebd. 1 s. 254), erm. wundra - zu wurzel wendh - 'anstaunen' (Kluge, Etymol. wb. s. 411).
    Anstaunen kann man natürlich schon eine wol [sic] ungewöhnliche, aber keineswegs übernatürliche Leistung; [wie z.B.] die Schnelligkeit eines Läufers. In diesem leichten Sinne nennt die Edda es (Lok. 33, 4) 'ein Wunder', daß Loki sich unter den Asen sehen läßt: das ist seltsam, erstaunlich, aber kein Mirakel. [Es war eine ungewöhnliche Dreistigkeit, das Loki sich nach seinem schweren Verbrechen in der Runde der Götter sehen ließ]. Der Mensch als solcher kann Wunder eben nicht vollbringen. Auch das Außerordentliche, was er zu leisten vermag, Tapferkeitswunder etwa wie die, welche (in Akv. und Atlm.) dem Hogni nacherzählt werden, können ihn wol [sic] als Helden charakterisieren, aber nicht eigentlich als ‘Übermenschen’.‘Doch gibt’s ein Mittel.’ Der Mensch kann die übernatürliche Kraft anderer Wesen sich aneignen, so daß er zum Thaumaturgen [zum Wundertäter] wird. Diese Delegation übermenschlichen Vermögens in den Menschen hat zwei stufen. a) Der Besitz der Rune gibt eine ganz begrenzte, auf einen bestimmten Zweck eingeschränkte Wunderkraft. Sigmund (Sinf.einl.) ist gegen Gift gefeit, zweifellos durch den Besitz von Bierrunen (sgdr. 7); aber er ist nur ein Mensch und kann dem eigenen Sohn keinen Anteil an der Zauberkraft geben, denn jede Rune hat nur für ihren Besitzer Kraft. Durch rechtzeitige Mitteilung der Rune hätte er auch Sinfjotli fest machen mögen; nun ist es zu spät. Im übrigen ist er ein Mensch, ein Held wie andere und sein Sohn ist ihm sogar 'an Kraft und Wuchs und Mut und jeglicher Tüchtigkeit überlegen'.

    b) Wer eine Rune besitzt, hat also ein wundertätiges Mittel, und genau genommen wird durch dieses, nicht durch ihn, das Wunder vollbracht. Hierin liegt der große Unterschied zwischen Runenbesitz und Zauberkunst. Wer die Rune hat, ist gegen bestimmte Gefahren ein für allemal gefeit oder zu bestimmten Leistungen ein für allemal befähigt; die Zauberei beruht dagegen jedesmal auf einem besonderen Willensakt. Sigmund kann kein Gift schaden, und wollte er selbst, er würde sich nicht vergiften können; die Hexe dagegen schadet mit ihrem giftigen Anhauch nur wem sie schaden will (W. Hertz, die Sage vom Giftmädchen. s. 25). Die Zauberkraft liegt also hier bei der Rune, in einem Ding, bei der Zauberei dagegen in der Person.Die Rune ist die Seele [!], das Geheimnis eines Begriffs, eines Gegenstandes, einer Handlung; wer das Geheimnis der Unverwundbarkeit oder der Vogelsprache kennt, der ist unverwundbar oder ‘Vogelsprache kund’. Darum eben handelt es sich hier weniger um ein Können, als um ein Wissen (ebd.s. 48); der Runenbesitz ist jedem zugänglich, weil er erlernbar ist. Die Anwendung der Rune macht den Menschen zu Dingen fähig, die sonst nur der Gott vollbringen kann.
    Als ein Gott erweist sich der Unbekannte, der (Reg. 18) das Unwetter stillt, wie Christus auf dem Meere; aber wer den neunten Spruch des Runensängers (hav. 153) oder die Brandungsrunen (Sgdr. 10) kennt, vermag das gleiche. Die Rune läßt sich verschenken und rauben (Altgerm. poesie s.48): sie haftet also nicht unbedingt an dem Menschen. Nicht einmal jeder Gott besitzt alle Runen: Von allen Göttern versteht nach einem altdeutschen Heilspruch nur Wodan das Roß zu heilen (ebd.). [Der schon erwähnte zweite Merseburger Zauberspruch erzählt von der Heilung des verrenkten Pferdebeines] Denn er, besitzt allein allezeit das Geheimnis aller Dinge.

    2) Riesen und Zwerge. Der Riese ist im allgemeinen außer durch seine Größe durch Eigenschaften charakterisiert, die damit eng zusammenhängen: wundersame, unförmliche Gestalt (Hym. 8. 35. Sk. 31. Vaf. 37), steinharter Kopf (Hym. 30 fg. Harb. 15) oder gar neunhundert Häupter auf einmal (hym. 8), und natürlich ungeheure Kraft: [Der Riese] Hymir bricht durch die Kraft seines Blickes einen Pfeiler entzwei (hym. 12), was im Grund als realistische Hyperbel nicht merkwürdiger ist als ein Blick in die Zukunft. Der Riesenkraft hat aber doch Grenzen: fährt der starke Gott [Thor] in seine ganze Asenkraft (hym. 31), so überbietet er den Riesen; ja schon ohne dies sind die flammende Kraft des Auges (Prymskv. 27) und der herkulische Appetit des Kraftgottes (ebd. 24) so ungeheuer, daß sie den [verkleideten] Gott unter [den] Riesen verraten.[5] Ein Riese würde also ein Wunder tun, wenn er sich (wie die griechischen Giganten) [mit Thor] dauernd siegreich messen könnte.Das interessanteste ist natürlich die Frage, wie die Götter Wunder tun.Möglich ist es ihnen, weil ihnen nicht alles möglich ist. Der allmächtige Gott der modernen [Meyer meint christlichen -] Weltanschauung tut Wunder, indem er nach Belieben die Naturgesetze durchbricht; der keineswegs allmächtige Einzelgott der heidnischen Urzeit kann nur die Gesetze seiner eigenen Göttlichkeit durchbrechen.Wir müssen hier besonders sorgfältig [das mythologische Niveau[6]] und die Wundertaten unterscheiden - das Erstaunliche, durch das aber eben die Götter sich lediglich als solche bekunden, und das was darüber hinausgeht. Gibt es ein gemeinsames [Niveau[7]] aller eddischen Götter? Ich möchte es nicht behaupten. Zwar übermenschliche Kraft, Weisheit, Lebensdauer wird man ihnen zutrauen dürfen; aber es kommt doch vor, daß Götter wie in der geschichte Andvaris (Regl. einl.) - den kürzeren ziehen vor niederen Wesen; daß sie überlistet werden, wie Odin von der tochter Billings (Hdv. 95 fg.); daß sie jung sterben, wie Baldr. Der Zukunft sind nur die Vanen, Heimdall und vielleicht Odin und Gefjon (Lok.21) kundig; aber der Riese Vafprudir kommt dem höchsten Gott [Odin] in der Kenntnis der Weltgeschichte nahezu gleich.Es gibt also wol [sic] kein Vermögen, das allen Göttern oder auch nur allen Gliedern der wichtigsten Götterklasse, der Asen, gemeinsam ist - als unbedingter Besitz. Aber zweierlei scheinen die Asen wenigstens potentiell alle zu besitzen:a) Sie können die ganze Welt übersehen, sobald sie sich auf Hlidskjalf niedersetzen. Odin, dessen gewöhnlicher Platz es ist, und Frigg [Freyja] (Einl. zu Grim), aber auch Freyr (Einl. zu Skirn.) übersehen von dem himmlichen Ausblick[8] die ganze Welt. Aber diese Weitsicht ist an den Platz gebunden; ohne diesen ist kein Gott allsichtig, so dass z.B. keiner von ihnen den gestohlenen Hammer Thors, oder eh der verborgen wurde, den Diebstahl sieht (Prymskv.). Ebenso bedürfen sie (Hym. 1) wie die Menschen der Runen (...), um zu sehen, wo Überfluss ist[9], nämlich [beim Meeresriesen] Aegir. Hiermit steht es also für die Götter etwa, wie für die Menschen beim Runenbesitz. Die Persönlichkeit und das geweihte Ding, beziehungsweise der heilige Ort müssen beieinander sein; einzeln ist keins zauberkräftig."[10]

    Es bleibt zu bemerken, das die Runen ihre Kraft nicht durch Wodan erhalten haben, da er sie selbst erst entdeckt (und übrigens nicht erfindet). Damit steht der oben (vgl. Riesen, Weltanfang) schon behandelte Begriff megin[11] in enger Berührung. "die Runen waren (...) wichtige Energieträger, die man deshalb besonders als meginrunar oder sogar ginnrunar (d.h. Zauberrunen, [bzw. 'Kraftrunen']) bezeichnete."[12]
    Das läßt an den Urraum Ginnungagap denken, den man sich ja als einen Raum ohne Sein und voller Kraft vorstellte. "Hroptr [= Odin] hat die hugrunar[13] gefunden, die den Menschen mit klugem Verstand begaben. Daß Odin mit der Runenkunst aus engste verbunden war, scheint auch für die Südgermanen gegolten zu haben; denn wenn auch im altenglischen Runenlied das Zeichen [...] os, als ordruma alcre sprace (d.h. 'der Mund ist die Quelle aller Sprache') umschrieben und also gleichbedeutend mit lat. os 'Mund' aufgefaßt wird, die ursprüngliche Bedeutung [der Rune os] war zweifellos 'der Ase', womit kaum ein anderer als Wodan gemeint sein kann (so auch Krause 6, 99). Wie wichtig für diesen Gott die Runenkenntnis ist, beweist die Episode in den Hávamál Str. 138-141, die erzählt, wie des Gottes Selbstopfer dazu führt, daß er die Runen findet und schreiend aufhebt, um erst dadurch zu gedeihen und weise zu werden. [Die Entdeckung der Runen geschieht, als sich Odin an den Weltbaum (Yggdrasill) hängt.] Man hat ganz richtig Odins Hängen im Weltbaum mit schamanistischen Riten bei sibirischen Stämmen verglichen, wo der Zauberer auch in eine Birke klettert, um dort zu den übernatürlichen Mächten in Verbindung zu treten.Mancher Dichter hat in den beglückendsten Augenblicken seiner schaffenden Arbeit erfahren, daß nur eine 'Wiedergeburt' ihn zu seiner Poesie befähigt hat; in Odins Selbstopfer ist das Urerlebnis der dichterischen Tat vorbildlich dargestellt.Das dichterische Wort steht ja dem magischen Wort besonders nah. Gerade in der Magie zeigt sich so überzeugend die schöpferische Kraft des Wortes, wie die Zauberformel in der richtigen Weise ausgesprochen den natürlichen Lauf der Dinge aufzuheben vermag. Wir denken hier mit Hauer an das Kraftdenken bei primitiven Stämmen, das nicht einfach eine bestimmte Art der Vorstellung ist, sondern vielmehr ein starkes, an die ekstatische Erregung grenzendes Vorstellen, Wollen und Fühlen."[14]

    "Odin war nicht von allem Anfang an mit geheimnisvoller Macht begabt gewesen, er hatte sie sich vielmehr mit großer Mühe erworben. In einem aufschlußreichen Abschnitt von 'Odins Runengedicht' beschreibt er selber [d.h. in einer Ich - Erzählung des Dichters] die Entdeckung der Runen:Ich weiß, daß ich hing am windigen Baumneun Nächte lang,mit dem Ger verwundet, geweiht dem Odin,ich selbst mir selber,an jenem Baum, da jedem fremd,aus welcher Wurzel er wächst.Sie spendeten mir nicht Speise noch Trank;nieder neigte ich mich,nahm auf die Stäbe (= Runen), nahm sie stöhnend [schreiend] auf, dann stürzte ich herab.Neun Hauptlieder lernt´ ich vom hehren Bruderder Bestla, dem Bölthornssohn;aus Odroerir vom edelsten Methtat ich einen Trunk,Zu wachsen begann ich und wohl zu gedeihn,weise ward ich da; Wort mich von Wort zu Wort führte, Werk mich von Werk zu Werk führte. (Odins Runengedicht 2-5)."[15]

    Aufs Neue konnten wir den Charakter Odins besonders in intellektueller Hinsicht betrachten. Die Runenkenntnis bedeutete ein Herausheben aus der beschränkten Sphäre des einzelnen, in der sich auch die Götter befinden. Wir haben schon darauf hingewisen, daß ein Gott nicht den Wirkungskreis eines anderen Gottes ausfüllen kann, wie auch (Meyer:) eine Baumnympfe nicht einen anderen Platz einehmen kann als diesen, weil es eben ihr Wesen ist mit dem Baum verbunden zu sein. Durch die Runen, die bezeichnender Weise Odin findet und keiner der anderen Götter, wird etwas weiteres von diesem Charakter klar: Odin durchbricht die Schranken seiner eigenen Wirkungsmöglichkeiten. .......................



    Wotan / Odin: Der Fruchtbarkeitsgott

    "Odin hat auch mit dem Wind zu schaffen. Beinamen wie Svidrir, Vidrir, Vafudr. Geigudr, Hrjotr könnten darauf hindeuten; wenn er Ari und Arnhofdi heißt, läßt sich das wohl als eine Andeutung für einen adlergestaltigen Sturmgott erklären (Helm 2, 129). Auch sendet Odin günstigen Fahrwind (Hdl 3); sobald er als Hnikarr auf Sigurds Schiff steigt, legt sich der Sturm (Rm pr. n. 18). Seine Beziehung zur Wilden Jagd (s. § 401) und besonders in Nordwestdeutschland, Dänemark und Südschweden zur Ernte s. § 326), werden von mehreren Forschern dafür angeführt (s. Wolfram, I, 277-278).Das Opfer eines Grasbüschels für Odins Pferd[1], wie das in der schwedischen Landschaft Während Sitte war, hatte sogar noch im 19.Jahrh. seinen Sinn nicht verloren: wer das verabsäumte, wurde ja mit einer schlechten Heuernte (bestraft) (Hylten-Cavallius, Wärend och Wirdarne I, 159)."[2]

    "...der Wind führt den männlichen Blütenstaub befruchtend den weiblichen Blüten zu. Darum gilt der Landstrich im kommenden Sommer als ganz besonders fruchtbar, über den die wilde Jagd gezogen ist. Wenn das Guetis Heer schön singt, gibt es im Aargau ein fruchtbares Jahr. Der schwäbische Bauer, der nur um Sonnenschein, nicht auch um Wind bittet, bekommt kein Korn. ‘Ohne Wind verscheinet das Korn’ sagt ein Sprichwort, und eine alte Bauernregel lautet ‘Viel Wind, viel Obst.’ Fast in ganz Deutschland ließen die Schnittter bei der Ernte auf dem Acker einen Busch Ähren für Wodan stehen, damit er ihn als Futter für sein Pferd gebrauchte. Erntewod hieß diese letzte Garbe, die Ernte in Bayern bis zum 18.Jahrhundert die Waudlsmähe (Waude - Woude -Wuote); das Opfer für seine Hunde hieß von Passau bis [Breslau[3]] Waudfutter. Dann traten die Schnitter mit entblößtem Haupte um die blumengeschmückte Wode in einen Kreis und riefen unter dem Schwingen der Hüte und dem weithin schallenden Streichen der Sicheln zu dreien Malen mit überlauter Stimme den Gott im Gebet an. Man bat Wodan, die geringe Gabe gnädig anzunehmen und sie als Futter für sein Roß zu holen; an ihrer Kleinheit und Wertlosigkeit sie nur die heurige schlechte Ernte schuld; würde sie im nächsten Jahre besser ausfallen, so solle er auch reichlicher von ihnen bedacht werden: Wode, hole deinem Roß nun Futter ..."[4]
    Eine Beziehung zur Fruchtbarkeit besitzt Odin besonders durch seine Verbindung mit der Erdgöttin Freyja. In dem jährlich wiederkehrenden Frühlingsfest begingen die Heiden einen Umzug, der schon von Tacitus im 40. Kapitel seiner Germania beschrieben wurde. Den Nerthusumzug beschreibt er als das Fest der sich im Frühling wieder belebenden Erde. Tacitus Aufzeichnungen des Nerthusbrauches stehen in direkter Nähe zur "heiligen Hochzeit" Odins und Freyjas. Aufgrund der Quellenlage muß man an dieser Stelle zunächst die ältesten signifikanten Überlieferungen wiedergeben, denn die heilige Hochzeit stellt sich in späterer Zeit geradezu als ein Abbild des Nerthusumzuges dar. (Zwischen den Aufzeichnungen Tacitus und der mythologischen Erwähnung der heiligen Hochzeit liegen mehrere Jahrhunderte.) Wenn wir den Nertusumzug besprechen, so haben wir durchaus den gleichen grundsätzlichen Sinn des Umzuges vor Augen, der sich in späterer Umbildung der religiösen Anschauung als die Verbindung Odins und Freyjas darstellte.

    "Die Reudigner alsdann, die Awionen, Angelh, Wariner, Eudosen, Swardonen und Nuitonen sind durch Flüsse und Wälder geschützt. Im Einzelnen ist bei ihnen nichts bemerkenswertes, außer, das sie gemeinsam die Nerthus, d.h. die Mutter Erde verehren und glauben, sie kümmere sich um die Angelegenheiten der Menschen und komme zu den Völkern gefahren. Auf einer Insel des Ozeans ist ein heiliger Hain, in ihm ein geweihter Wagen, der mit einem Tuch überdeckt ist. Nur dem Priester ist es erlaubt ihn zu berühren. Er merkt es, wenn die Göttin im Heiligtum anwesend ist, spannt dann Kühe an den Wagen und geleitet die Göttin mit großer Ehrfurcht. Freudig sind jetzt die Tage, festlich geschmückt all die Orte, welche die Göttin ihrer Ankunft und ihres Besuches würdigt. Man zieht nicht in den Krieg, greift nicht zu den Waffen; weggeschlossen ist alles Eisen. Ruhe und Friede ist jetzt nur bekannt, jetzt nur geliebt, bis derselbe Priester die Göttin die des Verkehrs mit den Menschen müde ist in das Heiligtum zurückbringt. Dann werden Fahrzeug und Decken und wenn man es glauben will, die Gottheit selbst in einem verborgenen See abgewaschen. Dabei dienen Sklaven, die sofort derselbe See verschlingt. Daher (ist) ein geheimes Grauen, ein heiliges Dunkel, was das für ein Wesen sei, das nur Todgeweihte sehen."[5]
    Die Freudigkeit und der Frieden stehen in dieser Erzählung im krassen Gegensatz zum Schluß, dem Tod der Skla



    Re: und noch eine kleine geschichte für alle interessierten

    [BdN]xXOdin28Xx - 14.06.2007, 11:31


    Schluß, dem Tod der Sklaven. Dazu bemerkt Hermann, der eine Übereinstimmung mit dem Frühlingsfest der Cybele in Rom sieht, folgendes: "Schwierigkeiten macht nur, das ein einziger Priester sie geopfert haben soll."[6]

    In der Tat kann dies nicht gewaltsam vor sich gegangen sein, da die Sklaven - zudem im Frühling - gute Chancen gehabt haben dürften, dem Priester zu entkommen. Dazu muß man wissen, das bei den Germanen Sklaverei nicht das gleiche war wie in Rom, hier handelte es sich eher um in Kleinkriegen gefangene Gegner benachbarter Stämme. Wenn man dazu die damals als allgemein geltende Ansicht kennt, nach der die alten Germanen nichts für schändlicher hielten als an Altersschwäche - also den "Strohtod" zu sterben, dann erscheint der Tod der Sklaven in einem ganz anderem Licht. Es dürften altgewordene Krieger gewesen sein, deren Mithilfe beim Nerthusumzug als ein Zuteilwerden einer besonderen Ehre angesehen wurde.Erwähnenswert ist auch:
    "Wir müssen zugeben, das Tacitus kein Bild der Göttin [Nerthus] erwähnt, sondern bloß den unbestimmten Ausdruck Numen, 'Gottheit, göttliches Wesen', verwendet, noch dazu mit einem gewissen Vorbehalt. Dem Beobachter fehlte also eine deutlich antropomorphe Form ..."[7]Wenn die Göttin vor allem Numen war, wie sollte man dann auch eine Form finden?! Die Bildhaftigkeit des Numens kann nur eine Art technische Konzession gewesen sein um einen Umzug überhaupt zu ermöglichen, Die Bildlosigkeit der heidnischen Religion war, wie auch von anderen Stellen verlautet, durchaus gewollt. Die Quellen zeugen von zahlreichen Umzügen, die zuweilen tagelang dauerten und wobei die Menschen erhebliche Strecken absolvieren. Ausgangspunkt ist meist ein Wald. Ein Nachhall dieser Umzüge sind die Frühjahrsprozessionen, und die Maiwanderungen. Im Grundsatz stellt sich das Fest der heiligen Hochzeit ebenso dar wie das Fest der Nerthus, da in beiden Fällen das Wesentliche das Erwachen der Natur ist, der erste grüne Zweig, die ersten Blumen, die das Frühjahr ankündigen.
    Während Nerthus als numen ungeschlechtlich gedacht wurde, ist die heilige Hochzeit eine Verbindung des weiblichen (gedachten) Prinzips der Erde und des männlichen des Himmels. Die heilige Hochzeit findet (im skandinaviven Mythos) statt zwischen Odin und Freyja. Aus der weiteren Untersuchung der Bedeutung Odins werden wir erst zum Schluß dieses Verhältnis richtig beurteilen können (wie im Übrigen auch den genealogischen Bezug zum ursprünglichen Nerthusfest).Die Geschlechtlichkeit der Götter, wie auch einige andere Systematisierungen in der Mythologie entstehen vermutlich erst mit der Beinflussung durch das Christentum.[8] Während zunächst alle Götter als Numen verstanden wurden und die wenigen erhaltenen Bilder allenfalls rudimentär menschliche Züge zeigen, finden wir in den jüngsten Artefakten mehr oder weniger konkrete Darstellungen. Hinweisen läßt sich in diesem Zusammenhang vielleicht auf die Verbildlichung der Götter im antiken Griechenland. (Vgl. die antike Bildhauerei, deren Kunstfertigkeit noch heute zu Recht gerühmt wird). Je deutlicher die Göttergestalt menschliche Wesenszüge aufwies, umso mehr ging aber die allgemeine Vorstellung der Göttlichkeit ihrer transzendenten Bedeutung verlustig. Einen ähnlichen Auflösungsprozeß (die Verbildlichung der Götter als Menschen, bei gleichzeitigem Verlust der transzendenten Vorstellung) können wir auch in Nord - Westeuropa vernehmen, wenn auch erst wesentlich später geschieht und auch nicht in der gleichen Ausdrucksform wie im antiken Griechenland. Tacitus erzählt dazu, daß die Germanen es "nicht der Größe der Himmlischen für angemessen hielten, die Götter innerhalb der Wände zu bannen oder dem menschlichen Antlitz ähnlich zu bilden". (Germ. 9) Die Beziehung zur Fruchtbarkeit in Verbindung mit der Erde (Freyja, - die Jahrhunderte zuvor als Nerthus die Fruchtbarkeit allein symbolisierte-) schließt Odin mit ein, wenn auch lediglich als Teil des Wiedererwachens der Natur im Frühling. Die Verbindungen zum Wind (wilder Jäger), der Brauch der letzten Garbe lassen ihn als Vegetationsgottheit erscheinen. aber dennoch:

    "Wer sich Odins Bedeutung klar zu machen versucht, soll besonders auf die intellektuelle Seite seiner Persönlichkeit achten. Er ist ein Meister der Runenkunst, er verwendet magische Formeln. Die [Lieder] die Odin nach Havamal 146-163 gesungen haben soll, beziehen sich bezeichnenderweise auf seine Kampfmagie, auf das Anreizen zum Kampf, das Beschwichtigen des Sturms, Hexenglauben, Totenbeschwörung und Liebesmagie. Weiter erwirbt er den Dichtermet und ist Gott der Inspiration. Auch als Kriegsgott zeigt er diesen Charakter; er lehrt die Heiden eine neue Schlachtordnung oder zeigt, wie man einen gefährlichen Drachen überlisten soll. Mit eindringender Kraft hat der Dichter der Vaftrunirsmál beschrieben, wie er im Weisheitskampf mit dem klugen Riesen diesen besiegt, weil er ihn durch Fragen über sein Wissen hinaus führt.Odin ist ja auch der Gott der Dichter, und der Mythus des Skaldenmetes zeigt uns schon, wie hier die Steigerung der seelisch-geistigen Kräfte als Voraussetzung einer dichterischen Betätigung empfunden wurde. Wenn wir vorher Odin als einen intellektuellen Gott bezeichnet haben, so verstehen wir jetzt, daß das nicht im Sinne eines kühlen Rationalismus verstanden werden darf, sondern hier die wunderbar tiefen Quellen des Gefühls und des Unterbewußtseins die schöpferische Arbeit befruchten. Der Mensch fühlt sich aber in den Augenblicken ekstatischer Erregung in der Gewalt einer Macht, die nicht aus ihm selbst hervorzugehen scheint. [Sie] erfüllt seine Seele und lenkt sein Denken und Handeln je nachdem er diesen Zustand als Befreiung oder Überwältigung empfindet, scheint ihm diese Macht göttlicher oder dämonischer Art. Man würde deshalb sehr irren, wenn man den dämonischen Charakter Odins als etwas Ursprüngliches betrachtete; denn er ist nur die eine Seite seines Wesens, man möchte bildlich sagen: nur seine Nachtseite. Aber weil immer das Horrendum den Menschen mit stärkerer Ergriffenheit erfüllt, als das einfach Verehrenswürdige, so hat auch die dämonische Seite von Odins Wesen stärkere Spuren hinterlassen als die göttliche.In mancher Hinsicht kann man Odin mit dem indischen Gotte Rudra vergleichen. Dessen Name bedeutet 'der Furchtbare, der Schreckliche', wie wir das auch für den Odinsnamen Yggr festgestellt haben, ja vielleicht bedeutete Rudra eigentlich 'der Brüller', womit sich dann der Odinsname Hroptr vergleichen läßt. Beider dämonische Art zeigt schon ihre äußere Gestalt; wie Odin hat auch Radra nur ein Auge ..., beide lieben es, ihre Gestalt zu wechseln., Odin bedeckt sein Antlitz mit seinem tief herabhängenden Schlapphut, wie Rudra die tief in die Stirn herabreichende Binde ... trägt. Odin und Rudra werden beide als Jäger bezeichnet; wie Odin der unermüdete Wanderer ist, zieht auch Rudra nach allen Himmelsrichtungen durch die Welt. Odin heißt der Lärmer ... ganz wie Rudra ...; er führt den Speer, wie der indische Gott den dreispitzigen Spieß. Während Rudra kavi genannt wird, also der das geheime Zauberwissen hat, so besitzt auch Odin die Runenweisheit und andere magische Kenntnisse."[9]
    "Wenn wir jetzt unseren Blick auf die germanische Welt zurück lenken, so wird es uns ohne Mühe deutlich, auf welche Seite wir Odin stellen müssen. Er ist ja der Gott der schöpferischen Kräfte, die sich in einem Zustand ekstatischer Begeisterung am herrlichsten offenbaren; er ist der Gott der alle Hemmungen sprengenden Erregung (Wodan id est furor!); er ist der Herr des im Wintersturm dahinbrausenden Wilden Heeres, der Herr der Einherjar und der fürstlichen Gefolgschaft; er ist geradezu die Verneinung der gesitteten und gesetzmäßigen gesellschaftliche Ordnung.Wenn wir jetzt zu einem abschließenden Urteil über Wodan-Odin gelangen wollen, so gilt es dem Vorurteil, daß er nur ein in relativ später Zeit auftretender und aus dem Kulte fremder Völker übernommener Gott gewesen sei, mit Entschiedenheit entgegenzutreten.Man kann nur sagen, daß in dem indogermanischen Gleichgewichtssystem der himmlischen Mächte bei den verschiedenen Stämmen mancherlei Verschiebungen stattgefunden haben."[10]

    Wir haben nun die wichtigsten Aspekte des Gottes Wodan / Odin kennengelernt, so wie sie sich aus den Quellen den Forschern darstellen. Fassen wir noch einmal kurz zusammen: Wodan ist:

    -> als wilder Jäger der Anführer der Seelen der Verstorbenen, die wilde Jagt braust im Herbst im Sturmwind umher. Daher stammt auch seine Beziehung zu Wind und Sturm. Später ist der Gott der Anführer der Einherjar (der verstorbenen Krieger), die er - bzw. die Walküren auswählen.
    -> Durch den Wind und seine Verbindung mit der Erde - Freyja - ist er auch Fruchtbarkeitsgott, allerdings nur durch die heilige Hochzeit (Nerthus).
    -> Er ist der Gott der Dichter. Er lehrt Kriegstaktiken und er ist der Gott, der sich mit Magie befaßt, sie erkennt, gebraucht und lehrt. Nicht zuletzt wird er auch als der Vater (vieler) der Götter betrachtet.

    Alles in allem zieht sich hier ein ziemlich großer Bogen der Einzelaspekte Wodans. Es stellt sich nun die Frage, wie sich diese sehr verschiedenen Aspekte in einer Gestalt vereinigen können. Es reicht ja nicht aus, die Einzelaspekte aufzuzählen und dann zu sagen: das ist Wodan; wir dürfen annehmen, das der Gott mehr ist als die Summe der Teile. Versuchen wir die Einzelheiten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, oder besser: ein organisches Ganzes zu finden in dem sich die verschiedenen Aspekte zwanglos vereinen. Dazu müssen wir umgekehrt denken: Alle diese Aspekte müssen aus einer Grundbedeutung entstanden, bzw. darin zusammengefaßt sein. So wie ein Wald mehr ist als eine Ansammlung von Bäumen, ist auch Wodan mehr als seine "Tätigkeiten" und Wirkungskreise. Wir kennen auch von den anderen Göttern mehrere zusammengefaßte Eigenarten und Fähigkeiten, die schon angesprochenen "Bedeutungsbündel". Bis auf einen der alten Götter sind sie alle vielfältig zu nennen also verschiedene Aspekte vereinend.

    Nehmen wir daher einen anderen, schon gut bekannten germanischen Gott zuhilfe, um die Eigenart dieser Vielfältigkeit zu beleuchten. Der von der Forschung am besten verstandene (Asen -) Gott - auf den wir später noch zu sprechen kommen, ist wohl Tiwaz, (auch Tyr, Tius, Saxnot genannt). Er ist der Gott des Rechtes, Schützer der Volksversammlungen, die im Frieden Recht sprechen. In diesem Gott sehen wir die zwei Aspekte Krieg und Frieden vereint; beide Aspekte lassen sich vereinen in dem Begriff des Rechtes. Denn wie die alte Dingversammlung in Friedenszeiten die Rechte des Einzelnen und der Gemeinschaft wahrte, so konnte die Entscheidung für den Krieg ebenfalls aufgrund der Wahrung dieser Rechte geschehen - wenn z.B. die Freiheit des Stammes in Gefahr war oder der Frieden verletzt wurde. Deshalb war Tiwaz zu Friedens und zu Kriegszeiten in gleicher Weise der Gott des Rechtes. Bei Wodan / Odin haben wir es allerdings mit mehr als zwei Aspekten zu tun, wofür ein philosophischer Zusammenhang gefunden werden soll. Um besser assozieren zu können fragen wir deshalb nicht mehr: wer ist Wodan, was man aus der Kenntnis seiner Tätigkeiten und Wirkungen ersehen kann, sondern was ist Wodan, welches dies vereinen kann? Vom Standpunkt des Menschen, der diesen Gott verehrte ist zunächst die Frage von Belang, was er sich von diesem Gott erhoffte, bzw. erhoffen konnte: Was verband also denjenigen, der eine neue Kriegstaktik erfand, mit dem der eine Dichtung ersann und warum haben beide das Ergebnis rückwirkend auf Wodan als den eigentlichen Verursacher bezogen? Das verbindende Element ist hier das Neue im allgemeinen. Die Idee ist das Wesentliche bei einer Erfindung, sei es eine Dichtung oder eine Kriegstaktik. Wenn Wodan "Wut, Ekstase und Unberechenbarkeit" kennzeichnet, dann kann man sagen, daß gerade dies das Mittel ist, wie man zu einer Idee gelangt. Errechnet wurde ein neuer Gedanke noch nie und er entsprang auch noch nie der Harmonie des Denkens. Wenn man die Wut (Furor) nicht als Zorn, sondern als seelische Erregung auffaßt, dann sind das die Begleiterscheinungen, wodurch kreative Schaffensprozesse gekennzeichnet sind. So wert einem auch die harmonische Ruhe sein mag, aus ihr entsteht in der Regel nichts Neues, da das Neue die Harmonie sogleich in Frage stellt und in Unordnung bringt.

    Die Idee bildet sich geradezu aus dem Chaos der Gedanken. Wenn deVries aussagen kann, das Wodan "geradezu die Verneinung der gesitteten und gesetzmäßigen Ordnung" ist, dann ergibt sich dies aus dem Umstand, das die neue Idee die alte Ordnung durchbricht und ihre Statik ins Wanken bringt. Es läßt sich also zunächst die Idee, die Innovation als einen grundsätzlichen Wesenszug des Gottes kennzeichnen. Sehen wir, ob sich diese Vermutung zwanglos auch auf die anderen bekannten Aspekte des Gottes anwenden läßt. Die schon behandelte Eigenart der Runenmagie als die Änderung des gefügten Ablaufes der Dinge paßt hierzu aufs Beste. Denn der Begriff des Wunders ist im alten Sinn immer ein Beinflussen der Normalität, wodurch der Lauf der Dinge in gewisser Weise durchbrochen, geändert und damit neu arrangiert wird. Ein weiterer Aspekt des Runenkunde liegt darin, daß man zu Erkenntnissen schließlich gerade dadurch gelangt, das man das wesentliche einer Sache erfaßt und begriffen hat ("die Rune ist die Seele des Dinges" = Meyer). So gesehen sind innovative Menschen, - sofern sie etwas selbständig - oder durch Vermittlung im Grundsatz erkannt haben, im alten Sinne "runenkundig" (freilich ohne eine magische Symbolik zu benötigen). Der Unterschied zur alten Sichtweise der Dinge liegt allerdings in der grundsätzlichen Einstellung und Beziehung zur Welt: der Unterschied, den ich bereits im Prolog als quantitative und qualitative Sichtweise erwähnt habe: Während innerhalb einer quantitativen Betrachtungsweise das deterministische Experiment herangezogen wird, findet in einer qualitatiten Betrachtung Erkenntnisfortschritt eher durch emphatisches Einfühlungsvermögen statt. Versuchen wir nun die Eigenart Wodans als die "Idee an sich" dynamisch zu betrachten. Die "Verneinung der gesitteten Ordnung" ist auf lange Sicht nicht eine Verneinung, sondern ihr eigentlicher Motor. Denn weder die Natur noch die Gesellschaft war jemals statisch oder kann es sinnvollerweise sein. Eine gesellschaftliche Ordnung die sich konstituiert, hat immer nur eine bestimmte Dauer, bis zu einer neuerlichen Unordnung und anschließenden Neukonstituierung in einem neuen Zeitgeist. In der Geschichte wird dies anschaulich anhand der Epochen, die durch bahnbrechende Gedanken eingeleitet wurden. Eine alte Epoche wurde eben dadurch abgelöst, daß der neue Gedanke eine neue Epoche einleitet, wobei die Gegebenheiten der alten Zeit unweigerlich zerstört werden.[11] In der Natur zeigt sich dieser Prozeß anschaulich mit der Evolution.

    Der Durchbruch des Neuen in der Natur zeigt uns, das wir es mit der "Idee" nicht nur als einer Sache zu tun haben, die auf menschlicher Charakteristik beruht, sondern eine natürliche Dynamik darstellt, die der Mensch kulturell mit den Begriffen Idee oder Innovation identifiziert. Als die ständige Durchbrechung des Alten durch das Neue, ist diese Dynamik nichts anderes als der Entstehungsprozeß - natürlicher - wie auch gesellschaftlicher Zusammenhänge. Erinnern wir uns an den Ymirmythos[12], der von der Entstehung der Welt aus einem chaotischen Urwesen erzählt. Die anschließende kosmologische Genealogie erwähnt Wodan als - mit seinen Brüdern Vili und Vé - ersten Nachkommen der chaotischen Urriesen. Ensprechend dem Grundcharakter Wodans als Innovation und Durchbruch der alten Ordnungen ist es anschaulich, das auch die alten chaotischen Verhältnisse der Urwelt durch die Schaffung einer neuen Ordnung zerstört werden. Somit schafft der evolutionäre Entstehungsprozeß die Voraussetzung zur Konstituierung eines Werdens, in dem Leben möglich ist.
    Da Wodan somit die Dynamik der Entstehung ist, ist er natürlich auch der "Vater vieler Götter", nämlich derer, die erst nach dem Beginn der Entstehung entstanden sein konnten.

    Daneben gibt es aber auch Götter, die nicht von Wodan abstammen, wie zB. Heimdall, Loki und die Gruppe der Vanengötter, wozu unter anderem auch Freyja (die Erde) zählt. Die Kosmologie der heidnischen Germanen spricht von einen Beginn der Entstehung in der Nachfolge der Urzeitriesen. Wenn wir mit der Entstehungsdynamik also Wodan - Odin identifizieren dürfen, sollten sich auch die weiteren kosmologischen Zusammenhänge klären lassen. Der eschatologische Bogen von Entstehung und Weltende, wie wir ihn in den Mythologien ersehen können, hat im Beginn direkt etwas mit Wodan zu tun. Auch das voraussichtliche Weltende wird durch ein Ereignis eingeleitet, an dem die bedeutendste Kraft der Göttergemeinschaft maßgeblichen Anteil hat. In der Ragnarök, zu deutsch: "Endschicksal der Götter" begegnen sich die guten Götter und mit ihnen die Einherjar (die menschlichen Helden) und die feindlich gesinnten, dämonischen Riesen. Den Beginn der Ragnarök kennzeichnet das Aufeinandertreffen Odins[13] mit dem riesigen Fenriswolf. Der Kampf Odin mit dem Wolf steht am Anfang des gesamten, apokalyptischen Götterkampfes. Fenrir ist der Erzfeind Odins, wie die Midgardschlange der mächtige, permanente Feind Thors ist. Dieser letzte Kampf der Götter gegen die Dämonen besiegelt ihren Untergang, ist ein letztes Aufbäumen der göttlichen Ordnung und des Lebens, bezeichnet aber schließlich das faktische Ende der Welt.


    Wotan - Odin und der Fenriswolf, das Weltende.

    Dem Fenriswolf - und die Beziehung des Wolfes zu Odin - wird auf den nächsten Seiten unser besonderes Interesse gelten: Was ist der Fenriswolf, daß er die Entstehungsdynamik zerstören kann? Die Gegnerschaft von Odin und Fenrir muß eine adäquat dimensionierte sein, daher darf man sich nicht von der Bezeichnung Wolf irreführen lassen. Der Wolf war ein beliebtes Bild wenn es darum ging Unberechenbarkeit, Wildheit und Gefahr auszudrücken, ein Motiv, mit dem man dies noch heute identifiziert (ebenso ist auch die Midgardschlange ein Bild, das zur besseren Erklärung des Dämons angewendet wurde und nicht etwa eine echte, eventuell monströse Schlange[1]).

    Lesen wir zunächst die übersetzten und bearbeiteten Texte, die von der Ragnarök erzählen. Anschließend werden wir versuchen die Charakteristik des Fenriswolfes zu klären und die Beziehung zu Odin ergründen. In der Erzählung der Voluspá kündet die von Odin befragte Völva von den kommenden Ereignissen.

    "Die Anzeichen für das Weltende haben sich überstürzt: Sonnenfinsternis, Sturm, Sittenverderbnis, Schrei der drei Welthähne, Heulen des [Fenris-] Wolfes... Und nun erheben sich von allen Seiten dämonische Mächte:

    Hrymr kommt von Osten, er hebt den Schild;
    im Riesenzorn rast der Riesenwolf die [Mitgard] Schlange schlägt die Wellen;
    es schreit der Aar. Leichen reißt er;
    los kommt: Naglfar [das Leichenschiff]
    Ein Kiel fährt von Norden; es kommen der Hel;
    Leute auf dem Meer Loki steuert. [der Hel Leute = die Toten]
    Es ziehen die Ungeheuersöhne mit dem Gierigen alle. [Dem Gierigen = Fenrir]
    Byleipts Bruder ist bei der Fahrt
    Surt kommt von Süden mit der Reiser Verderben [der Hitzeriese mit seinem Gefolge]
    von der Götter Schwert gleißt die Sonne.[2]
    Felsen bersten, Unholde schweifen;
    den Helweg ziehen Männer, der Himmel birst. [den Helweg ziehen = sterben]

    Es folgten die Zweikämpfe, bei denen jeweils einer von den großen Göttern, Freyr, Odin und Thor, von den Untieren getötet wird.2. Gylfaginning, Kap.51:Dann kommt der Fenriswolf los. Das Meer überströmt die Lande, weil die Midgardschlange sich in Riesenzorn windet und zum Lande strebt. Da geschieht es auch, daß Naglfar flott wird; das Schiff dieses Namens, das ist gebaut aus den Nägeln von Toten; deswegen lohnt sich die Vorsicht dabei, wenn jemand mit unbeschnittenen Nägeln stirbt, denn ein solcher vermehrt bedeutend den Baustoff zu dem Schiffe Naglfar, von dem Götter und Menschen wünschen, da es so spät wie möglich fertig wird. Doch auf jener großen Flut schwimmt Naglfar.Und der Fenriswolf rennt mit klaffendem Maul, den Unterkiefer an der Erde, den oberen am Himmel. Er würde den Rachen noch weiter aufreißen, wenn mehr Raum da wäre. Feuer glüht in seinen Augen und Nüstern. Die Midgardschlange ist über die Maßen furchtbar und zieht neben dem Wolf einher.In diesem Getöse klafft der Himmel auseinander, und von da oben kommen die Muspelssöhne [die Hitzeriesen] geritten. Surt reitet voran[3], vor sich und hinter sich Feuer. Sein Schwert ist ein Wunderwerk; es strahlt heller als die Sonne.[4] Und wenn sie über die Bifröst reiten, so zerbricht sie, wie früher erzählt. [Bifröst ist der Regenbogen, die Brücke, welche die Menschenwelt Mitgard mit der Götterwelt Asgard verbindet] Die Muspellsknaben [die Riesen des Weltenbrandes] reiten bis zu dem Felde Wigrid. Gleichzeitig kommen dorthin der Fenriswolf und die Midgardschlange. Loki ist auch schon dort, ebenso Hrym und mit diesem alle Reifriesen, während dem Loki alle Helbewohner folgen; die Muspellssöhne aber bilden eine Schar für sich allein, die besonders hell funkelt. Das Feld Wigrid ist hundert Meilen groß in beide Richtungen. [In alten Zeiten fanden Kämpfe nach Verabredung an bestimmten Orten zu festgelegten Zeiten statt. Daher ist das Gegenüber von Göttern und Dämonen ähnlich einem Kampf zweier Stämme geschildert]. Nach der Schilderung von dem Aufbruch der Götter und dem tragischen Tod der großen Asen - Freyr, Tyr, Thor, Odin - sowie der heldenhaften Rachetat Vidarrs, des Sohnes Odins, heißt es noch: ...Loki liefert dem Heimdall die Schlacht, und es tötet jeder den anderen. Danach schleudert Surt Feuer über die Erde und läßt die ganze Welt in Flammen aufgehen...“[5]

    An anderer Stelle, indem er auf den Gott Tyr eingeht, erzählt uns der Forscher Dumezil weiteres vom Fenriswolf, nämlich seine Fesselung durch die Götter: "Nehmen wir das Kapitel der Gylfaginning, in dem erzählt wird, wie der Gott Tyr seine rechte Hand verlor. Der schreckliche Fenriswolf ist noch ganz jung, gleichwohl schon sehr stark; gelingt es nicht ihn zu fesseln, so wird er die Götter verschlingen, wenn er groß geworden ist. Nachdem zwei dicke Ketten auf die erste Anstrengung des Wolfes zerrissen sind, lassen die Götter von den Schwarzalben eine Zauberfessel herstellen, die wie ein erbärmlicher kleiner Faden aussieht, die aber niemand zerreißen kann. Sie machen ihm den Vorschlag, sich zum Spaß binden zu lassen, damit man sieht, ob er sich loszumachen vermag. Er ist mißtrauisch, aber die Götter packen ihn beim Stolz und schließlich schlägt er ein....doch unter der Bedingung, daß ihm während dieses Spiels ein Gott seine rechte Hand in den Rachen steckt: 'als Pfand, daß alles gerecht vor sich geht': Die Götter schauen sich an; keiner will seine Hand daran geben. Nur Tyr opfert sich. Der Wolf kann sich nicht freimachen und bleibt gebunden bis ans Ende der Welt [bis zu dem Zeitpunkt da er loskommen wird], doch er frißt Tyrs Hand, der von nun an der einhändige Gott ist.Auch zwei Strophen der Lokasenna (38 f.) berichten, daß Tyrs Hand vom Fenriswolf abgebissen worden ist, der in seinen Banden das Ende der Asen erwartet. Außerdem nennen alte norwegisch-isländische Gedichte Tyr den 'einhändigen Asen' (einhendr asa) das ist alles.

    Was ist darin Altes enthalten? Und zuerst der zentrale Punkt: woher kommt es, das der große Gott Tyr nur eine Hand hat? Was bedeutet das? [Wir werden für einen Moment bei den Ausführungen Dumezils zur Thematik des Gottes Tyr bleiben, bis wir wieder auf den Fenriswolf zu sprechen kommen]: ...es gibt auch Autoren, die an den irischen Nuadu 'mit der silbernen Hand' und den indischen Surya mit seiner goldenen Hand denken und des durchaus für möglich halten, das man es mit einer sehr alten einhändigen Gottheit zu tun hat."[6]

    Um die Ausfühungen etwas abzukürzen, die hier nicht ausführlich wiederzugeben brauchen, erklärt der Forscher: "Und doch sind wir heute in der Lage, ein objektives Urteil zu fällen. Wir wissen wer Tyr ist: ...Er ist der Rechtssouverän. Der durch seine Zauberkraft triumphierende [Wodan] hat ein Auge zuwenig, ist einäugig; der durch ein juridisches Kunststück triumphiert (Schwur, Wahrheitspfand) verliert bei einer berühmten Unternehmung die rechte Hand, wird einhändig. Nun ist der skandinavische Odin wirklich einäugig und Tyr einhändig. Und zwar wurde Tyr in Snorris Erzählung einhändig tatsächlich deshalb, weil er seinen rechten Arm bei einer juridischen Unternehmung 'betrügerischen Pfandes' eingesetzt hat, die den Feind eine Lüge glauben machen sollte, die für die Gesellschaft der Götter lebensnotwendig war. Es fällt schwer zu glauben, daß dieses Motiv (die trügerische Verpfändung der rechten Hand) das Wesentliche ist, weil nur dadurch in indogermanischer Zeit das Symbol der Verstümmelung des Gottes gerechtfertigt war (der Rechtsgott mußte einhändig, linkshändig sein wie der Sehergott einäugig)."[7]

    "Als schließlich das Tier an einen Felsen gebunden wird, stoßen die Götter ihm ein Schwert in den Mund, sodaß die beiden Kiefern auseinandergehalten werden. Aus dem Reichtum an Detailzügen, die im allgemeinen einen märchenhaften Eindruck machen, hat man vermutet, daß hier eine recht junge Überlieferung vor uns liegt. Darauf scheint auch die Fülle an Namen hinzuweisen; die drei Fesseln[8] heißen Laedingr, Dromi und Gleipnir: Fenrir liegt auf der Insel Lyngvi im Flusse Amsvartnir; aus seinem Rachen strömt der Geiferfluß Von. Aber daß trotzdem der Mythus deshalb nicht sehr jung zu sein braucht, beweist schon die Bemerkung Snorris, daß [die Namen der ersten beiden schweren Ketten:] Laedingr und Dromi in einer Redensart für eine gewaltige anstrengende Arbeit genannt werden."[9]Was wir vom Fenriswolf wissen, ist also nicht gerade viel. Um so merkwürdiger ist das, was von seiner Fesselung und seinem Loskommen in der Ragnarök erzählt wird. Die Götter sind in heller Aufregung über die Gefährlichkeit des Wolfes, (der, wie auch der andere große Dämon, die Midgardschlange als ein Kind des 'Bösewichtes' Loki’s gilt). Gelingt es nicht den Wolf zu fesseln, wird er sämtliche Götter verschlingen sobald er größer geworden ist. Einen ersten Eindruck von seiner ungeheuren Kraft bekommen wir durch die ersten beiden Fesselungsversuche. Die gewaltigen Ketten zerreißt er mühelos. Von der dritten (Zauber -) Fessel werden uns die Bestandteile überliefert, die in der Tat außergewöhnlich sind und sicher nicht ohne Grund so gewählt wurden.

    Der Text erzählt: ...das Skirnir, Freyrs Diener[10] den Schwarzalben die Bestellung der Zauberfessel überbracht hat: das sie aus sechs Bestandteilen gemacht werden mußte, dem Geräusch eines Katzentritts, dem Bart der Frauen, den Wurzeln der Berge, den Sehnen der Bären, dem Atem der Fische und dem Speichel der Vögel.

    Betrachtet man die Teile genauer, fällt auf, das es sich bis auf einen Bestandteil: 'die Sehnen der Bären', um Dinge handelt, die es nicht gibt. Das bedeutendste eine Katzentritts ist gerade seine Geräuschlosigkeit, Frauen haben (normalerweise) keinen Bart, Fische atmen nicht (wie der Mensch es als Landwesen kennt), Berge besitzen keine Wurzeln und Vögel produzieren keinen Speichel. Lediglich die Sehnen der Bären sind real und das einzige, was man überhaupt mit einer Schnur, gleichsam einer überaus kraftvollen, vergleichen könnte. Was also soll das, von einer Fessel mit solchen Bestandteilen zu erzählen. Man hätte ja auch nur im allgemeinen von einer Zauberfessel sprechen können, wozu also diese seltsame Schilderung, wenn nicht ein Sinn darin stecken sollte? Die Bestandteile der Fessel sind nach verschiedenen, jüngeren und älteren Quellen verschiedener Art, doch liegt die Hauptgewichtung immer auf der eigentlichen Unmöglichkeit ihrer Teile. Während Fenrir die stärksten Ketten wie nichts zerreißt, ist ausgerechnet dies das Mittel ihn zu halten.

    Des Rätsels Lösung ist verblüffend einfach: Er kann offenbar nur durch etwas gehalten werden was es nicht gibt, weil er alles zerreißt was es gibt. Nehmen wir den Gegner Odins als ernste Überlegung und nicht als eine märchenhafte Erzählung, so muß man fragen: Was existiert in der Natur, das sich so verhält? Wenn insbesondere Odin - als die Entstehungsdynamik - der bevorzugte Feind des Wolfes ist, so liegt im Gegenteil zur Entstehung der erste mögliche Ansatz für eine Erklärung des Dämons.
    Die einzige Dynamik (bzw. Antidynamik) die alles Sein zu einem Ende bringt, - zerstört und zersetzt, ist die Verwitterung, sei es als organische Degeneration, chemische oder mineralische. Wir kennen in der Naturwissenschaft außerdem eine 'Verwitterung' der Energie, d.h. eine Energieentwertung in thermodynamischen Prozessen, die sogenannte Entropie. [zu griech. trope; Wendung, Umkehr]. Die Entwertung von Energie, die Verwitterung und Degeneration läßt sich durchaus als einen Prozeß fassen, den man in der Natur vielfach beobachten kann. Sie stellt also eine Antidynamik dar die jener Entstehungsdynamik wie nichts anderes direkt entgegengesetzt ist. Nun kann man natürlich nicht davon ausgehen das die Germanen die Entropie kannten, wohl aber darf man vermuten das der degenerative Prozeß in der Natur als solcher wahrgenommen werden konnte. Odin die Entstehung und Fenrir die Degeneration, verarbeitet in einem Mythos vom Ende der Welt.

    Das Verhältnis von Entstehungsprozeß, in dessen Verlauf Holz wächst, Inseln entstehen, Evolution sich entwickelt und der Entropie auf der anderen Seite ist aber kein adäquates Verhältnis. Sie besteht zwar, aber in beschränktem Maße und steht in viel kleinerem Verhältnis zur Entstehung der Dinge. Sollte also die Dimensionierung von Odin und Fenrir adäquat sein, so müßte auch deren Kräfteverhältnis vergleichbar sein. Nun sprechen die Texte von einer "Fesselung des Wolfes" durch die Götter, welche die Kraft des noch jungen Tieres fürchten. Der naheliegende Gedanke, das der Wolf mit der Zeit wächst, und also an Kraft gewinnt, bis er endlich zur Ragnarök frei kommt, läßt den Schluß zu, daß sich eine Kräfteverschiebung einstellen wird. Die Entstehungsdynamik wird dementsprechend mit der Zeit schwächer und die destruktive Anti - Dynamik der Entropie stärker, so daß die Destruktion irgentwann die Entstehung überlagern muß. Mythologisch gesprochen bedeutet das: Odin wird vom Wolf verschlungen. Es braucht nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, daß der Entstehungsprozeß einmal zu einem Ende kommen wird und damit das faktische Ende der Lebenswelt beginnt. In den mythologischen Texten kommt mehrfach zum Ausdruck, daß "niemand weiter sieht, als das Odin auf den Wolf treffen wird"[11]. Als der Wolf loskommt, "rennt er mit klaffendem Maul, den Unterkiefer an der Erde, den oberen am Himmel. Er würde den Rachen noch weiter aufreißen, wenn mehr Raum da wäre."[12] - Also mehr "verschlingen", bzw. mehr zersetzen, wenn es mehr gäbe. Das zuletzt genannte Quellenmaterial über den Fenriswolf zeigt ihn gefesselt, mit einem Schwert, das ihm als Kiefersperre ins Maul gestoßen wird, so das er nicht fressen kann. Nach der Fesselung heißt es: "aus seinem Maul strömt der Geiferfluß Vón."

    Dieser Fluß sollte wohl das sein, was wir als Entropie tatsächlich erleben, während die völlige Entfesselung des Wolfes - die ungehinderte Entropie - die vollkommene Vernichtung wäre.Im Übrigen wird der Vater des Wolfes Loki von Uhland mit dem Zeitwort lukan in Verbindung gebracht, was "schließen" bedeutet[13]. Loki wäre damit (nach Uhland) aus kosmologischer Sicht der "Endiger" und "Beschließer der Welt", seine Rolle in der Ragnarök bestätigt das. Die mythische Verwandtschaft: der Riesenwolf und die Mitgardschlange passen dazu aufs Beste. Kommen wir noch einmal auf das Weltende zurück, wie es in der Mythologie geschildert wird: Das Ende der Götter ist aber auch das Ende der Menschheit, da der Fleck, auf dem die Menschen existieren in jener Zeit zugrunde gehen wird. Freyja, die Mutter Erde ist die Heimat der Menschen, sie beherbergt Midgard, die Menschenwelt. Surt, der Hitzeriese tötet nicht nur Frey (die Sonne), er setzt auch die Welt in Brand. Zum Ende aller Zeiten, wenn in der Ragnarök die Welt vergeht und Odin auf den Fenriswolf trifft, (die Entstehungsdynamik also durch die Entropie abgelöst wird) wird ein besonderer Riese den Sonnengott töten.[14] (Wir vernehmen also auch eine Ansicht, wie man sich das Ende der Sonne vorstellte).

    Wir hörten, daß die Riesen die bedrohliche Seite der Natur symbolisieren, das unerträgliche Übermaß und chaotische Sein. In der Mythe stellt sich die Geschichte so dar, daß in der Ragnarök sich der Anführer der Riesen, Surt, sich wütend auf den waffenlosen Frey stürzen wird und ihn erschlägt. Solche dramatischen Schilderungen sind typisch und wir müßten dies als blutrünstige Episode schon verwerfen, wenn da nicht einige erwähneswerte Dinge in der Erzählung auftauchten: Während das Verhältnis von Odin zum Fenriswolf ein genau entgegengesetztes ist (wie im Übrigen auch jenes von Thor und der Mitgardschlange) so finden wie bei der Gegnerschaft von Frey und Surt ein anderes Verhältnis vor: Surt steht, anders als man vielleicht vermuten würde nicht in einem ausgesprochenen Gegensatz zum Sonnengott Frey, Surt ist nicht ein Kälte- sondern ein Hitzeriese und von seinem Schwert - dem Synonym für Waffe - wird gesagt, das es "heller strahle als die Sonne“[15]. Nachdem Surt den Sonnengott getötet hat, schleudert er Feuer auf die Erde und setzt die Welt in Brand. Es verhält es sich also derart, daß ein Übermaß an Hitze (Surt) die Sonne "töten" wird.

    Betrachten wir die Aussagen der modernen Naturwissenschaft, so hören wir davon, daß "sterbende" Sonnen sich ausdehnen und dabei mehr Hitze entwickeln als zuvor und damit zur Supernova werden. Die Supernova bedeutet eine "Aufblähung" der Sonne und während dieser Phase entwickelt sie ein zig - faches ihrer sonstigen Hitzeentwicklung. In diesem Stadium, so nimmt man an, wird alles Leben durch die Hitze unmöglich und die Ozeane verdunsten. Im Fall der Mythe haben wir es mit einer gesicherten alten Quellenlage zu tun. Im Fall der naturwissenschaftlichen Hypothese besteht diese Ansicht seit mehreren Jahrzehnten. Das letztere ist vollkommen auf der Basis wissenschaftlicher Betrachtung entstanden. In dem oben geschilderten Fall besteht allerdings ein Problem der richtigen Übersetzung in Hinsicht des Schwertes des Hitzeriesen": Im ersten Fall finden wir bei Dumezil die Aussage: das Schwert Surts ist ein Wunderwerk, "es strahlt heller als die Sonne", von de Vries wird die entsprechende Stelle aber übersetzt mit: "von der Götter Schwert gleißt die Sonne".Wenn ich zu der ersten Übersetzung tendiere, dann weil sie plausibler in den Kontext der allgemeinen Schilderungen paßt. Denn was bedeutet "heller strahlen" oder "gleißen" in diesem Zusammenhang? Erstes würde die höhere Macht des Riesen zeigen, denn nichts strahlt normalerweise heller als die Sonne, das Übertrumpfen des Superlativs impliziert gleichzeitig ein Übermaß wie eine Übertrumpfung der Macht des Gottes (wir befinden uns in der Ragnarök). Das "gleißen" ist wesentlich weniger aussagekräftig, allenfalls könnte man es als Furcht des Sonnengottes deuten, ein Umstand, der so gar nicht befriedigt. Schon aufgrund dessen, daß man dem friedlichen und verehrten Sonnengott, der seine Waffe abgab - was man eher als Mut denn als Furchtsamkeit ansehen konnte - dementsprechend kein solches Ende zugedacht hätte. Denn wenn man in der Poesie dem verehrten Gott ein Ende zugedenken muß, dann wird man ihn kaum als "Angsthasen" darstellen wollen. Die eventuelle Furcht macht an dieser Stelle aber auch keinen Sinn, da sie auf keinen (bekannten) früheren eschatologischen oder religiösen Umstand hinweist. Ein weiteres, das gegen die Übersetzung de Vries’ spricht ist, das es kein allgemeines "Schwert der Götter" gibt von der "die Sonne gleißen" könnte, allenfalls Schwerter der einzelnen Götter. Daher gilt Dumezil der Vorzug, das Surts Schwert "heller als die Sonne strahle".Odin hat sich als der bedeutendste Gott der altgermanischen Anschauung gezeigt. Der Gott der Entstehung, der Innovation, der Geist der alles durchbrechenden Verhältnisse. Wir sahen, das Odin / Wodan auch ein Gott ist innerhalb einer Götterwelt, in der er zwar herausragend ist, aber kein "Alleinherrscher", dem alle anderen Götter eher nachgeordnet wären, im Gegenteil immer im Kontext zu den anderen Göttern und auch der Riesen und Elben gesehen und verstanden wird.[16] Odin ist, wie auch die anderen Götter nicht allmächtig, er, bzw. es kann (Numen) nur in der eigenen Sphäre handeln und lediglich durch die Runen auch darüber hinaus wirken...........

    Sippe / Clan und Stamm



    Woraus bildete sich ein Stamm und worin lag die Verbindung der Menschen sich als dessen Mitglied betrachten zu können? Die historische Wissenschaft wie die allgemeine Vorstellung von der Familie stand noch bis etwa 1860 „ganz unter dem Einfluß der fünf Bücher Mosis. Die darin ausführlicher als anderswo geschilderte patriarchalische Familienform wurde nicht nur ohne weiteres als die älteste angenommen, sondern ... mit der heutigen bürgerlichen Familie identifiziert, so daß eigentlich die Familie überhaupt keine geschichtliche Entwicklung durchgemacht hatte;...“[1]

    Beleuchten wir kurz die Verwandschaftsstruktur der Sippe, des Clans, so finden wir einiges über die Zusammensetzung eines Stämmes heraus. Diese Frage dürfte auch von übergeodnetem Interesse sein, denn lange bevor sich Völker zu Nationalitäten vereinigten und noch vor dem Volksstamm finden wir den einfachen, ursprünglichen Stamm als Verwandschaftsstruktur einiger hundert bis einigen zehntausend Menschen. Dazu betrachten wir die Verwandschaftsstruktur der "heidnischen Familie".

    Friedrich Engels beschreibt im „Ursprung der Familie“[2] die Wandlung des Heerführers zum Monarchen, wie wir es schon im Zusammenhang mit der Bekehrung kurz beschrieben haben. Man muß dabei wissen, das die Deutschen[3] keine Familienverfassung im heutigen - christlichen - Sinne kannten, aus der auch der Heerführer herausgewachsen ist, sondern eine heidnische „Gentilverfassung“. Gens ist ein, u.a. bei Engels verwendeter, der römischen Etymologie entnommener Begriff, den Engels als technischen Terminus verwendet, damit ist aber durchweg „Clan“ oder „Sippe“ gemeint.[4]
    Die Einrichtung der heidnischen Gesellschaft war bestimmt durch eine Verwandtschaftsstruktur, die stark von der christlichen, monogam patriarchalischen abweicht. Zur Beschreibung der heidnischen Verwandschaftsbeziehungen zieht Engels die Forschungen des Amerikaners Morgan heran, der die Verwandtschaftsbeziehungen der nordamerikanischen Indianer analysierte. Erstaunlicherweise gleichen sich die Beziehungen in frappierender Weise. Die „Gentilverfassung“ kann als die natürliche, urwüchsige Verwandtsschaftsstruktur gelten, aus der sich letztlich auch das Gebilde des Stammes ergibt.

    „Morgan, der sein Leben großenteils unter den noch jetzt [19. Jahrh.] im Staat New York lebenden Irokesen zugebracht und in einen ihrer Stämme (den Senekas) adoptiert worden, fand unter ihnen ein Verwandtschaftssystem in Geltung, das mit ihren wirklichen Familienbeziehungen im Widerspruch stand. Bei ihnen [bestand][5] jene beiderseits leicht lösliche Einzelehe, die Morgan als ‘Paarungsfamilie’ bezeichnet. Die Nachkommenschaft eines solchen Ehepaares war vor aller Welt offenkundig und anerkannt; es konnte kein Zweifel sein, auf wen die Bezeichnungen Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Bruder, Schwester anzuwenden seien. Aber der tatsächliche Gebrauch dieser Ausdrücke widerspricht dem. Der Irokese nennt nicht nur seine eigenen Kinder sondern auch die seiner Brüder Söhne und Töchter; und sie nennen ihn Vater. Die Kinder seiner Schwester dagegen nennt er seine Neffen und Nichten und sie ihn Onkel. Umgekehrt nennt die Irokesin neben ihren eigenen Kindern diejenigen ihrer Schwestern Söhne und Töchter; und diese nennen sie Mutter. Die Kinder ihrer Brüder dagegen nennt sie ihre Nichten und Neffen und sie heißt ihre Tante.
    Ebenso nennen die Kinder von Brüdern sich untereinander Brüder und Schwestern, desgleichen die Kinder von Schwestern. Die Kinder einer Frau und die ihres Bruders dagegen nennen sich gegenseitig Vettern und Kusinen. Und dies sind nicht bloß lehre Namen, sondern Ausdrücke tatsächlich geltender Anschauungen von Nähe und Entferntheit, Gleichheit und Ungleichheit der Blutsverwandtschaft.“[6]

    Dementsprechend wären also: mein Sohn und der Sohn meiner Schwester Vettern, aber mein Sohn und der meines Bruders wären Brüder. So bin ich auch der Vater der Kinder meiner Brüder, aber lediglich der Onkel der Kinder meiner Schwestern. Wen das verwirren mag sieht im Anschluß des Textes eine grafische Übersicht.

    „Da in dieser Familienform die Vaterschaft ungewiß, gilt nur die weibliche Linie, da die Brüder nicht ihre Schwestern [also auch nicht ihre Kusinen] heiraten dürfen, sondern nur Frauen anderer Abstammung, so fallen die mit diesen fremden Frauen erzeugten Kinder nach Mutterrecht außerhalb der Gens. [Mutterrecht nicht zu verwechseln mit Matriachat!] Es bleiben also nur die Nachkommen der Töchter jeder Generation innerhalb des Geschlechtsverbandes; die der Söhne gehen über in die Gentes ihrer Mütter.“[7]

    „Nach Mutterrecht, also solange Abstammung nur in weiblicher Linie gerechnet wurde, und nach dem ursprünglichen Erbgebrauch in der Gens erbten anfänglich die Gentilverwandten von ihren verstorbenen Gentilgenossen. Das Vermögen mußte in der Gens bleiben. Bei der Unbedeutendheit der Gegenstände mag es von jeher in der Praxis an die nächsten Gentilverwandten, also an die Blutsverwandten mütterlicher Seite gegangen sein. Die Kinder des verstorbenen Mannes aber gehörten nicht seiner [Herkunfts-] Gens an, sondern der ihrer Mutter [der Frau des Verstorbenen]; sie erbten anfangs mit den übrigen Blutsverwandten der Mutter, später vielleicht in erster Linie von dieser; aber von ihrem Vater konnten sie nicht erben, weil sie nicht zu seiner Gens gehörten, sein Vermögen aber in dieser bleiben mußte. Bei dem Tode des Herdenbesitzers wären also seine Herden übergegangen zunächst an seine Brüder und Schwestern oder an die Nachkommen der Schwestern seiner Mutter. Seine eigenen Kinder aber waren enterbt.

    In dem Verhältnis also , wie die Reichtümer sich mehrten gaben sie einerseits dem Mann eine wichtigere Stellung in der Familie als der Frau und erzeugten andererseits den Antrieb diese verstärkte Stellung zu benutzen um die hergebrachte Erbfolge zugunsten der Kinder umzustoßen. Es war dies gar nicht so schwer wie es uns heute erscheint. Denn diese Revolution - eine der einschneidensten, die die Menschen erlebt haben - brauchte nicht ein einziges der lebenden Mitglieder einer Gens zu berühren. Der einfache Beschluß genügte, das in Zukunft die Nachkommen der männlichen Genossen in der Gens bleiben, die der weiblichen aber ausgeschlossen sein sollten, indem sie in die Gens ihres Vaters übergingen. Damit war die Abstammungsrechnung in weiblicher Linie und das mütterliche Erbrecht umgestoßen, männliche Abstammungslinie und väterliches Erbrecht eingesetzt.“[8]

    So friedlich wie sich dies hier anhört vollzog sich der Übergang von der mutterrechtlichen Gens zur patriarchalischen, christlichen Familienform allerdings nicht. Die Familienstruktur war bei den Germanen ebenfalls in der beschriebenen Form zu finden. Zwei Angaben dürften genügen:

    „Von ihnen [den Sueven] sagt Caesar ausdrücklich, sie hätten sich nach Gentes und Verwandtschaften (gentibus cognatiobusque) niedergelassen. Dies galt von allen Deutschen; selbst die Ansiedelung in den eroberten Römerprovinzen scheint noch nach Gentes erfolgt zu sein. Im alamannischen Volksrecht [7. u. 8. Jahrh.] wird bestätigt, daß das Volk auf dem eroberten Boden südlich der Donau nach Geschlechtern (genealogiae) sich ansiedelte;..“[9]

    Wurde ein Sippenmitglied christlich bekehrt, so galten für ihn sogleich auch die christlichen Glaubens- und kirchlichen Gesetzmäßigkeiten, die ihn fraglos in einen direkten Konflikt mit den als heidnisch identifizierbaren „Familien“- Strukturen bringen mußte. Es erscheint vor diesem Hintergrund verständlich, daß ein Bekehrter für die Verwandtschaft als „Schande“ empfunden und deutlicher noch „Verderber der Sippe“[10] genannt wurde. Im Umbruch der politischen und religiösen Verhältnisse änderte sich damit auch die gesamte Gesellschaftstruktur.

    Eine genauere Analyse der Familienstrukturen läßt sich hier in der Kürze nicht vornehmen, doch wollen wir noch einen Blick auf die weitere Entwicklung der gentilen Verwandtschaft werfen nämlich, wie sich daraus der Stamm bilden konnte, wiederum am Beispiel der Irokesen, bzw. des „Unterstammes“ der Senekas.

    „Bei sehr vielen indianischen Stämmen mit mehr als fünf oder sechs Gentes finden wir je drei, vier oder mehr Gentes zu einer besonderen Gruppe vereinigt, die Morgan in getreuer Übertragung des indianischen Namens nach ihrem griechischen Gegenbild Phratrie (Brüderschaft) nennt. So haben die Senekas zwei Phratrien; die erste umfaßt die Gentes 1-4, die zweite die Gentes 5-8. Die nähere Untersuchung zeigt, daß diese Phratrien meist die ursprünglichen Gentes darstellen, in die sich der Stamm anfänglich spaltete; denn bei dem Heiratsverbot innerhalb der Gentes mußte jeder Stamm notwendig mindestens zwei Gentes umfassen um selbständig bestehen zu können. Im Maß wie sich der Stamm vermehrte, spaltete sich jede Gens wieder in zwei oder mehrere, die nun jede als besondere Gens erscheint, während die ursprüngliche Gens, die alle Tochtergentes umfaßt, fortlebt als Phratrie.“[11]

    Umgekehrt bilden mehrere, die weitläufiger verwandten Phratrien den Stamm, der somit ebenfalls als ein genealogisches Verwandtschaftsverhältnis besteht . Engels schreibt:

    „Griechen wie Pelasger und andere stammverwandte Völker [nachweislich ebenso die deutschen Stämme, Iren, Engländer, Skandinavier, etc.] waren schon seit vorgeschichtlicher Zeit geordnet nach derselben organischen Reihe, wie die Amerikaner [= die nordamerikanischen Indianer]. In Attika gab es vier Stämme, zu je drei Phratrien von denen jede dreißig Gentes [Sippen] zählte. [Und]: Alles was wir von den ältesten athenischen Gesetzen hören, ist begründet auf die Einteilung von Gentes und Phratrien.“[12]

    Und : „... so hatte noch in den dreißiger Jahren [des 19. Jahrh.] die große Mehrzahl der Bewohner der [irischen] Grafschaft Monaghan nur vier Familiennamen, d.h. stammte aus vier Gentes oder Clans.“[13]

    Die monogame patriachale Familie des Christentums[14] stellt sich dementsprechend als sehr spät eingeführtes Gebilde dar. Durch die aus dem semitischen Raum übernommenen patriachalischen Strukturen propagierte die Kirche (aufgrund der entsprechenden Abstammungslinien in der Bibel) patriachalische Familienverhältnisse, d.h. damit einhergehend auch eine Vererbung des Besitzes wie des Namens in männlicher Linie.

    Kommen wir nun zurück auf die Bekehrung; die Verhältnisse der Völkerwanderung bringen zusätzliche Probleme für die alte Gentilverfassung mit sich:

    „Wir wissen, das Herrschaft über Unterworfene mit der Gentilverfassung [der alten Stammesverfassung] unverträglich ist. Hier sehen wir dies auf großem Maßstab. Die deutschen Völker, [nun -] Herren der Römerprovinzen, hatten diese ihre Eroberung zu organisieren. Weder aber konnte man die Römermassen in die Gentilkörper [als Verwandte durch Adoption in die Sippe] aufnehmen, noch sie vermittelst dieser beherrschen. An die Spitze der zunächst größtenteils fortbestehenden, römischen lokalen Verwaltungskörper mußte man einen Ersatz für den römischen Staat stellen, und dieser konnte nur ein anderer Staat sein. Die Organe der Gentilverfassung [wie der Heerführer, der Friedensvorsteher, der heidnische Priester - der Gode] mußten sich so in Staatsorgane verwandeln, und dies dem Drang der Umstände gemäß sehr rasch. Der nächste (zunächst erste) Repräsentant des erobernden Volkes war aber der Heerführer. Die Sicherung der eroberten Gebiete nach innen und außen forderte Stärkung seiner Macht. Der Augenblick war gekommen zur Verwandlung der Feldherrenschaft in Königtum: sie vollzog sich.“[15]

    Die anderen Organe der Gentilverfassung, wie der Gode oder der Friedensvorsteher - wurden in der Zeit der Umwälzungen der Völkerwanderung und Bekehrung freilich durchgängig von christlichen Priestern und von königstreuen Beamten besetzt. Diese ehrenamtlichen Ämter wurden ursprünglich über Wahlen innerhalb einer Dingversammlung vergeben, an dem der gesamte Stamm Anteil hatte.................................

    Wenn wir uns im folgenden dem Prozeß der Bekehrungsgeschichte zuwenden, dann aus dem Grund, daß die Tatsache der geschichtlichen Bekehrung den landläufigen Nimbus des Obsiegthabens trägt. Das Christentum spricht von der "Überwindung" des Heidentums, was mit der Überwindung von Aberglauben, Unkenntnis und Götzenanbetung gleichgesetzt wird. Es ist durchaus interessant, welche Mittel angewendet wurden das Heidentum zu überwinden und das Christentum durchzusetzen. Das es sich in der Tat nicht von selbst durchsetzte sollte zu denken geben.

    Das es sich nicht um einen inhaltlichen Sieg des Christentums handelte läßt sich schon aufgrund des Umstandes vermuten, daß es um die exklusive Einsetzung der neuen Religion einen jahrhundertelangen missionarischen Kampf gab. Die Annahme des Christentums war in der Regel gekoppelt mit militärischer Unterwerfung und: es wurde kein anderer Glaube geduldet als der christliche, wobei man den heidnischen gar nicht erst versuchte kennenzulernen. Der folgende Text setzt sich aus philologischer Fachliteratur zusammmen deren Ergebnisse als seriös betrachtet werden können.
    Diese Aufstellung ist nicht vollständig und soll nur den Gesamteindruck vermitteln den man im allgemeinen von der Bekehrung im alten Europa gewinnt. (Zur genaueren Betrachtung verweise ich auf die Quellenwerke im Autorenverzeichnis). Wir werden einige Stationen der Bekehrungsgeschichte nachvollziehen und einige Eckdaten nennen. Der Prozeß der Völkerwanderung (ca. 400 - 800 nZt.) ist für sich betrachtet hochinteressant. Durch den Zusammenbruch des römischen Imperiums sahen die germanischen Stämme die Möglichkeit zur Expansion und der Eroberung neuer Gebiete. In diese Zeit fällt auch der Beginn des Bekehrungskampfes der Kirche[1], die den Zusammenbruch des römischen Staates unbeschadet überstanden hatte; war sie ja schon zu jener Zeit durch ihre strenge hierarchische Gliederung ein Staat im Staate gewesen, den die politischen Umwälzungen nicht substantiell berührten.

    "Die Bekehrung der Germanen war ein langwieriger und mühsamer Vorgang. Zwischen den ersten Berichten christlicher Germanen und dem Verschwinden der letzten organisierten Formen des Heidentums liegen sieben Jahrhunderte. Die Umstände, unter denen die Bekehrung stattfand, die Methoden, die dabei angewendet wurden, der Verlauf des Überganges mit seinem oft langen Hin und Her, dies alles sind Aspekte, die für jedes germanische Volk einzeln untersucht werden müßten. Mehrere germanische Völker kamen mit dem Arianismus in Berührung, bevor sie zur Kirche von Rom übertraten. Die Goten lernte ihn schon im vierten Jahrhundert an den Ufern des schwarzen Meeres kennen. Mit ihnen und anderen Völkern, wie die Wandalen und Burgunder, kam diese Form des Christentums auch nach Westen; dort bekannten sich fast alle Germanen dazu, bis die Franken bei der Bekehrung Chlodwigs im Jahr 496 zum Katholizismus übergingen."[2]

    Der Unterschied zwischen dem Arianismus und dem Katholizismus erschließt sich am besten durch das Konzils von Nicäa im Jahre 325. Dort streiten der Namensgeber des Arianismus: Arius und Athanasius um die richtige Definition des christlichen Glaubens.

    "Unter den zahlreichen Glaubensstreitigkeiten, welche die christliche Welt den ersten Jahrhunderte in Bewegung hielten, war eine der wichtigsten der Kampf um die Frage nach dem Wesen Christi und seinem Verhältnis zu Gott dem Vater. Arius, ein gelehrter Presbyter von Alexandrien (gest. 336) lehrte im Anschluß an Origenes und unter Zuspitzung von dessen These, das der Gottessohn nicht weseneins mit Gottvater, sondern diesem untergeordnet sei und als Mittler zwischen Gott und den Menschen stehe. Athanasius, anfänglich bischöflicher Geheimschreiber, dann als Nachfolger des abgesetzten Arius selbst Bischof von Alexandria (gest. 373); vertrat dagegen die Auffassung, das der Gottessohn von Ewigkeit an weseneins mit dem Vater sei. Auf dem vom Kaiser Constantin im Jahre 325 einberufenen Konzil von Nicäa prallten beide Ansichten aufeinander. Athanasius siegte. Es wurde eine Formel angenommen, die die Wesenseinheit von Gottvater und Gottsohn als verbindliche Kirchenlehre festlegte. Der Sieg des Athanasius war zunächst nur ein vorläufiger. In der östlichen Kirche neigten nach wie vor viele dem Arianismus zu. Die germanischen Stämme, zuerst die Goten, dann nach ihrem Vorbild alle anderen, mit Ausnahme der Franken waren Arianer. Athanasius führte weiter einen wechselvollen Kampf, wurde selbst mehrere Male verbannt und wieder zurückgerufen. Erst nach seinem Tode wurde 381 durch die Synode von Konstantinopel die Formel von der Wesensgleichheit von Gottvater, Gottsohn und heiligem Geist als festes Kirchengesetz bestätigt und damit das Dogma von der Dreieinigkeit (Trinität) Gottes endgültig festgelegt. Die germanischen Völker [mit Ausnahme Skandinaviens und Englands] wurden erst im 6. Jahrhundert vom Arianismus zum Katholizismus bekehrt."[3]

    Die Bekehrung bei den Deutschen

    Ein besonderes Ereignis stellt die Bekehrung des Frankenkönigs Chlodwig zum Katholizismus dar:

    "Im 5. Jahrh. war die Lage für den Arianismus besonders günstig zu nennen. Die siegreich vordringenden Germanen hatten dieses Glaubensbekenntnis in dem größten Teile Europas zur Alleinherrschaft gebracht. Das katholische Italien war von allen Seiten von der ketzerischen Lehre bedrängt: die Wandalen in Afrika, die Westgoten in Spanien und Südfrankreich, die Burgunder und Alemannen im Norden schlossen einen eisernen Ring um das letzte Bollwerk der [..] Kirche, und hier waren die Ostgoten schon eingedrungen. Wenn die übrige heidnisch - germanische Welt, wie das zu erwarten war, auch durch die arianische Mission gewonnen worden wäre, wäre dadurch die Entscheidung zugunsten der arianischen Lehre gefallen und hätte die Geschichte des Abendlandes voraussichtlich einen ganz anderen Verlauf gehabt.
    Chlodwigs Bekehrung zum Katholizismus bedeutet aber den entscheidenden Wendepunkt der Entwicklung; die Franken waren dazu ausersehen, das Schicksal Europas zu bestimmen. Was war der Grund, daß hier die orthodoxe Kirche den Sieg davontrug? Als die Franken sich in Gallien ansiedelten, fanden sie dort eine schon ziemlich starke kirchliche Organisation vor. Im Sturme der Völkerwanderung ist diese nicht vernichtet worden, wenngleich hier und da ihr Einfluß zurückgedrängt worden ist. Daß aber die Kirche sich behauptete, wird schon dadurch bewiesen, daß die mittelalterlichen Diözesen als geographisch bestimmte Verwaltungsbezirke die römischen Provinzen fortsetzen.
    Die Franken waren also von Anfang an dem Einfluß der sie umgebenden katholischen Kirche ausgesetzt. Es ist selbstverständlich, daß [einige][4] Franken im Laufe der Zeit zu ihr übergetreten sind, während andere treu den altväterlichen heidnischen Glauben bewahrt hatten. Auch Chlodwig war ein Heide und mit Spannung wurde die Entscheidung erwartet, die die geschichtliche Lage von ihm forderte; von beiden Seiten versuchte man seine Wahl zu beeinflussen.
    Auf der einen Seite stand Theodorich der Große, der gewissermaßen der Führer des arianischen Germanentums war und dem es deshalb viel daran gelegen sein mußte, die emporsteigende Macht der Franken in die antikatholische Front einzuschalten. Seine Heirat mit Augofleda, der Schwester Chlodwigs, diente natürlich ebenfalls dieser Politik und gestattete Theodorich auf seinen fränkischen Schwager den erwünschten Einfluß auszuüben. Diese Versuche schienen anfangs mit Erfolg gekörnt zu werden; Chlodwig gab seinem ältesten Sohn den Namen Theuderich und zeigte damit seine gothischen Sympathien.

    Inzwischen hatte Chlodwig sich mit der katholischen burgundischen Prinzessin Chrodichilde verheiratet. Das bedeutete an sich noch gar keine Entscheidung und man darf sogar annehmen, daß Theodorich diese Verbindung gefördert hat. Man konnte aber in der katholischen Taufe seines ersten Sohnes aus dieser Ehe schon eine Andeutung für einen Wechsel in der fränkischen Politik erblicken; als aber bald darauf das Kind starb, mußte Chlodwig, aus seiner heidnischen Anschauung heraus, hierin den Zorn seiner Götter sehen. Trotzdem erhielt auch der zweite Sohn die katholische Taufe.
    Die politische Klugheit des fränkischen Königs hat ihn die richtige Wahl zwischen den beiden christlichen Bekenntnissen treffen lassen. Denn innerpolitisch würde er sich durch den Übertritt zum Arianismus in einen verhängnisvollen Gegensatz zu dem romanischen Teil seiner Untertanen gestellt und dadurch eine ruhige Entwicklung seines Reiches gefährdet haben. Aber auch außerpolitisch war die Entscheidung nicht schwer; denn eine Auseinandersetzung mit den burgundischen und westgotischen Staaten in Gallien, die unweigerlich kommen mußte, würde ihm leichter gelingen, wenn er dabei auf die Sympathie, vielleicht sogar die Hilfe, ihrer katholischen Untertanen rechnen dürfte. Die Überlieferung bringt Chlodwigs Bekehrung mit der Schlacht von Zülpich in Zusammenhang. Als die Alemannen fast den Sieg errungen hatten, weihte sich Chlodwig Christus für den Fall, daß er das Schlachtfeld behaupten sollte. Aus dieser von Gregor von Tours überlieferten Geschichte geht hervor, daß Chlodwig in seinem Herzen schon bereit war, die Macht Christi höher als die seiner heidnischen Götter zu werten. Der glückliche Ausgang der Schlacht hat ihn in dieser Meinung nur befestigt; er hat sich bald darauf (wahrscheinlich 498) in Tours taufen lassen."[5]

    Dahinter läßt sich auch mit einigem Recht christliche Propaganda vermuten. Die Geschichte vom biblischen Jefta dürfte Gregor von Tours bekannt gewesen sein. Das im alten Testament enthaltene 'Buch der Richter' erzählt die Geschichte, das der Heerführer Jefta in einer Schlacht in große Bedrängnis geriet und dem Gott Jahwe den Ersten zum Opfer bringen würde, der ihm auf seinem Siegeszug entgegenkommen würde, wenn er die Schlacht noch gewönne. Jefta gewinnt, und als erstes begrüßt ihn tragischerweise seine Tochter, sein einziges Kind, das er schweren Herzens aber seinem Schwur gemäß dem alttestamentarischen Gott 'schlachtet'. Nach dieser Tat umgibt Jefta - nun mit dem höchsten Amt 'Richter' bekleidet - ein unheimliches Grauen, das alle Gegner bereits erzittern läßt, sobald bekannt wird daß Jefta in eine Schlacht eingreift.[6]

    Aus der biblischen Geschichte, die die Missionare sicher kannten, ließe sich leicht ein angeblicher Schwur Chlodwigs derivieren und die erste Vermutung wird noch gestärkt, weil die Dramatik der Chlodwiggeschichte gegenüber der Jeftageschichte nachlassend ist. Gleichzeitig konnte zu jener Zeit dem Volk (das die Jeftageschichte nicht kennen konnte) der Übertritt zum Katholizismus durch diese Geschichte plausibel gemacht werden. Gleichgültig dessen ob es diesen Schwur gegeben hat, die missionarische Rede davon verfehlte sicher nicht die propagandistische Wirkung, war Chlodwigs Taufe doch ein entscheidender (kirchenpolitischer) Wendepunkt, gekrönt von der nachfolgenden Taufe der Untertanen:

    "Gregor von Tours behauptet, daß zugleich mit dem König 3000 Krieger die Taufe nahmen."[7]

    Eine für die damalige Zeit typische, massenhafte „Solidaritätstaufe“, doch als politisches Signal darüber hinaus von ungeheurer Tragweite.

    "Die Entscheidung zwischen Arianismus oder Katholizismus war jetzt gefallen... Die Vormachtstellung des fränkischen Königshauses wurde dadurch auch bedeutend gestärkt. Das liegt aber außerhalb unserer Behandlung des germanischen Heidentums. Nur ist noch abschließend zu bemerken, daß jetzt auch das Schicksal der noch heidnisch gebliebenen Germanen entschieden war, denn sie konnten jetzt das Christentum nur in der orthodoxen Gestalt annehmen."[8]

    "Das Christentum schlug den heidnischen Germanen gegenüber ein doppeltes Verfahren ein. Das unduldsame Wort des Bischofs Remigius von Reims bei der Taufe des Frankenkönigs Chlodovech (496): ‘Beuge dein Haupt in Demut, stolzer Sigamber, und verehre von nun an, was du bisher verbranntest, und verbrenne, was du bisher verehrtest!’, darf als vorbildlich für die spätere Zeit gelten, in der die heidnischen Götter sämtlich für teuflische Mächte erklärt wurden, und die christlichen Missionare sich beeilten, die Heiligtümer zu vernichten und den heimischen Glauben und Brauch auszurotten. Zwar leugnete die Kirche die persönliche Existenz der für Götter gehaltenen Wesen durchaus nicht, aber auf Grund biblischer Stellen (wie Psalm 96, I. Kor. 10 21-22) wurden sie als Dämonen bezeichnet. Ihre Verehrung wurde Teufelsdienst; die deutschen Götter wurden direkt als böse Geister bezeichnet. 'Entsagst du den Unholden?' fragt das ostfränkische Taufgelöbnis des 7.Jhds., und der Täufling antwortet: 'ich entsage'. Die Opfer, die er seinen Göttern gebracht hatte, mußte er aufgeben."[9]

    "Von da an nahm der Einfluß des Arianismus nach und nach ab, und wurde die Einheit des Christentums unter den Germanen, mit einer einzigen Ausnahme, vorläufig nicht mehr bedroht. Nur in England kam es zu einer gefährlichen Auseinandersetzung zwischen zwei Richtungen. Dort war die Missionsarbeit fast zu gleicher Zeit sowohl von Rom (Augustinus 597 in Kent) als von der irischen Kirche, die weit von den festländischen Ereignissen eine Sonderentwicklung durchgemacht hatte, unternommen worden. Nach einem ziemlich schnellen Wachstum (sei es auch nicht ohne Rückschläge) standen sich die beiden Richtungen 664 auf dem Konzil von Whitby gegenüber: dort fiel die Entscheidung zugunsten Roms und gegen den irischen Partikularismus."[10]

    "Ein Jahrhundert nach Chlodwigs Bekehrung wurde die Missionsarbeit in England in Angriff genommen: Papst Gregor der Große sandte 596 Bischof Augustin dorthin mit dem Auftrag, das Volk für die orthodoxe Kirche zu gewinnen. König Ethelberht war mit einer fränkischen Prinzessin verheiratet, der es gestattet war, in der Residenz Canterbury einen katholischen Hofgottesdienst einzurichten. Hier waren sogar noch christliche Kirchen aus der römischen Zeit erhalten geblieben. Augustin konnte bald große Erfolge melden; schon fünf Jahre später hat König Ethelberht den christlichen Glauben angenommen.
    Aber tiefe Wurzeln hatte die neue Religion noch nicht im Herzen des Volkes geschlagen; denn nach des Königs Tod 616 folgte eine scharfe heidnische Reaktion, die die schon errungenen Vorteile wieder rückgängig mache. Die Bischöfe von Rochester und London mußten zu den Franken fliehen, und nur mit Mühe wurden die in Kent gewonnene Stellungen behauptet, während Essex preisgegeben werden mußte.
    Ein neuer Vorstoß der christlichen Mission gelang aber bald darauf in Northumbrien. Die Landschaft hatte unter den englischen Stämmen eine Vormachtstellung erobert, die in der Macht des Königs Edwin gipfelte. Als dieser 625 Ethelberga, die Tochter Ethelberhts von Kent, heiratete, brachte sie in ihrer Begleitung den Geistlichen Paulinus mit, der zum ersten Bischof von York geweiht wurde und dem es schon 627 gelang, den König und die vornehmsten Adligen zu bekehren; bald darauf wurde auch das Volk massenhaft getauft.
    Merkwürdigerweise bedeutet auch hier der Tod des Königs wieder einen Rückfall in das Heidentum; 633 mußten die Königin und Paulinus nach Kent fliehen. Damit war die Verbreitung des Christentums vorläufig unterbrochen."[11]

    Ebenfalls merkwürdigerweise waren auch hier - wie auch bei Chlodwig - die Frauen maßgeblich an der Verbreitung des Glaubens beteiligt, indem sie die männlichen politischen Machthaber in ihrem (neuen) Sinne beeinflußten. In gleicher Weise waren auch die Frauen im alten Rom besonders anfällig für die christliche Missionierung[12]. Massentaufen dagegen waren zur damaligen Zeit nicht selten. Sie wurzelten in der heidnischen Auffassung, das der Fürst oder König nicht einem anderen Kult - und damit einer anderen Anschauung angehören durfte als das Volk - denn in dem Fall hätte es keine Gemeinschaft mehr gegeben. Die Fürstenschicht hat gerade durch solche Massen - oder Solidaritätstaufen stark zur Bekehrung beigetragen. Die christliche Mission suchte denn auch gerade als erstes die Könige zu gewinnen, den Zugang erhielten sie nicht selten durch die vorherige Beeinflussung der fürstlichen Frauen. Selbst wenn es immer wieder zu großen heidnischen Reaktionen kam und diese gab es bis in das Jahr 1120 in Schweden[13], die heidnische Kultusgemeinde wurde weiter geschwächt und der religiöse (wie politische) Einfluß ging al



    Re: und noch eine kleine geschichte für alle interessierten

    [BdN]xXOdin28Xx - 14.06.2007, 11:34


    ging allmählich zur Kirche über. Das aber die inhaltliche Annahme des Christentums durch die Massentaufen im Volk nur oberflächlich blieb, braucht wohl kaum betont zu werden.

    "Der indiculus superstitionum et paganarium (vgl. unten) zeigt uns, wie vieles vom alten Götter und Zauberglauben noch immer fortlebte und durch harte Strafmaßnahmen ausgerottet werden mußte."[14]

    Ein besonders trauriges Kapitel der Bekehrungsgeschichte ist das Vorgehen des katholisch - fränkischen Kaisers Karl „des Großen“ gegen die noch heidnischen Sachsen.

    "Ganz anders war die Bekehrungsgeschichte der Sachsen. Hier wurde der Sieg des Christentums durch die eiserne Faust des fränkischen Königs erzwungen, und das sächsische Volk mußte einen erbitterten Kampf gegen die neue Religion führen, um seine Freiheit zu bewahren. Fast dreißig Jahre lang (772-804) hat der Krieg gedauert, in dem manchmal blinde Zerstörungswut zutage tritt. Den Anfang bildet 772 schon die Vernichtung der Irminsul, wo durch das Heidentum in einem seiner vornehmsten Kultstätten empfindlich getroffen wurde. Wiederholt mußte Karl der Große mit seinem Heer das Land der Sachsen 'zur Ruhe bringen' und es ist ein deutliches Zeichen für den Charakter dieser Kriegszüge, daß sie in Massenbekehrungen ihren Abschluß fanden. Das war der Fall 776 an der Lippe, 777 in Paderborn, 779 - 780 an Weser und Ocker. Zu welchen Grausamkeiten der immer erneuerte Krieg schließlich führte, zeigen das Blutbad von Verden (782), wo mehr als 4500 sächische Edle an einem Tage [!] enthauptet wurden und die Zwangsdeportationen von Tausenden aus dem Gebiet jenseits der Elbe. Mit der Taufe Widukinds 785 ist die Niederlage des sächischen Volkes offenkundig, aber es dauerte noch zwei Jahrzehnte ehe man das Heidentum als endgültig überwunden betrachten konnte."[15]

    4500 führende Stammeskrieger zu enthaupten - kann man aus heutiger Sicht nur mit dem neuen Begriff Genozid beschreiben, insbesondere wenn wenn man die Zahl der Stammesmitglieder von urprünglich einigen zehntausend auf heutige Bevölkerungsverhältnisse hochrechnen würde[16]. Der Grund lag wohlgemerkt: in der Ablehnung der Annahme des christlichen Glaubens und nicht etwa in Raub, Mord, Kinderschändung oder Steuerhinterziehung. Damit ist die christliche Mission schon aufs treffendste markiert: ihre Ablehnung war ein schlimmeres Vergehen als Mord. Die Entscheidung zur Beibehaltung des alten Glaubens allein rechtfertigte einen dauerhaften Krieg über Jahrzehnte und bereits geringste Abweichungen von der christlichen Vorschrift konnte für die Besiegten nun den Tod bedeuten.

    "In der sächsischen Taufformel von ca. 790 nZ. wird allen Werken und Worten des Teufels entsagt, dem Donar, Wodan, Saxnot (= Tius / Tyr) und allen Unholden, die ihre Genossen sind. So ist die Gestalt des Teufels, wie sie im Volksglauben lebt, reich an Zügen entstellten deutschen Heidentums.[17] Namentlich in Norddeutschland ist die Kirche mit furchtbarer Rücksichtslosigkeit vorgegangen. Unerbittliche Strenge spricht aus den Verordnungen Karls d. Gr. vom Jahre 787 / 8: die capitula: quae de partibus Saxoniae constituta sunt, setzen auf:

    [1.] Mord von Priestern Todesstrafen ohne das Wergeld [= finanzielle Kompensation] zuzulassen, ebenso [2.] auf Menschenopfer [= die Hinrichtung von Verbrechern durch den Stamm, also ein Eingriff in Souveränität und Rechtsprechung], [ebenso Todesstrafe bei:] [3.] Bündnisse mit Heiden, [4.] Raub und Zerstörung von Kirchen, ja auf [5.] Verweigerung der Taufe, [6.] Verharren im Heidentum, [7.] Leichenverbrennung [heidnische Sitte] und [8. sogar die Todesstrafe bei:] Fastenbruch [der passiven Ablehnung der christlichen Sitte]. In acht Artikeln zum Schutze des Christentums kehrt der schaurige Refrain wieder: ‚der soll des Todes sterben’.

    In einem besonderen Verzeichnisse werden auf das sorgfältigste alle heidnischen Gebräuche und Opfer aufgezählt, deren völlige Unterdrückung durchgeführt werden soll. Dieser Indiculus superstionum et paganiarum [Verzeichnis heidnischer abergläubischer Gebräuche und Meinungen - wobei Aberglaube für die Christen mit Heidentum gleichgesetzt wurde]; etwa vom Jahre 800 reiht in knapper Fassung 30 Punkte nebeneinander und scheint zum Amtsgebrauche der königlichen Sendboten oder Bischöfe für ihre Visitationsreisen gegeben zu sein, vermutlich bestimmt für friesische, den sächsischen benachbarte Gaue [Bezirke]. Aber trotz Feuer und Schwert gelang es nicht die alten heiligen Gebräuche gänzlich auszurotten."[18]

    Wir finden überall die Schändung der heidnischen Kultstätten als das vornehmste Ziel der christlichen Missionare , wobei sich besonders der berüchtigte Bonifatius hervortut. Er findet 754 den 'Märtyrertod', "...eine würdige Bekrönung dieser ganz dem Dienst des Glaubens gewidmeten Lebens, zugleich aber auch ein Beweis für den sturen Widerstand der Friesen"[19], ... die sich einfach nicht bekehren lassen wollten. Welche seltsamen Blüten die Mission trieb, ersehen wir auch an dem Beispiel des englischen Königs Edwin:

    "König Edwin von Norhumberland hat einen großen Gottestempel bei York, der von einem manneshohen Zaune umgeben ist. Um ihm die Ohnmacht seiner Heidengötter zu zeigen, sprengt sein für den Christenglauben gewonnener Oberpriester, der als heidnischer Priester niemals ein Pferd bestiegen hatte, [und denen das Tragen von Waffen nicht erlaubt war] auf dem Streithengste des Königs gegen den Tempel und schleudert einen Speer hinein; dann wird das alte Heiligtum samt seinem Heckenzaune, seinen Altären und Götterbildern den Flammen übergeben (im Jahre 627, Beda, Hist. ecc. 2 ).[20]

    Dies ist nur ein Beispiel unter vielen ähnlichen, in denen nicht die vermeintliche Größe des Christentums zutage tritt, sondern lediglich der Wille zur Vernichtung des Heidentums. Selbstredend wäre eine umgekehrte Demonstration der Ohnmacht des Christengottes ebenso erfolgreich gewesen.
    Zahlreiche Verbote der Kirche kämpften gegen die Verehrung von Quellen, Steinen, einzelnen Bäumen. Bonifatius ließ bei Geismar einen Baum von riesenhafter Größe fällen, der von der Bevölkerung Donareiche genannt wurde. Es scheint einige Mühe gekostet zu haben und nur unter militärischem Schutz möglich gewesen zu sein den mächtigen Baum umzulegen. Statt der Eiche erhob sich dann - vermutlich aus dem Holz des Baumes - eine dem Petrus geweihte, christliche Kultstätte. In ähnlicher Weise wurden auf den vormals heidnischen Kultstätten zumeist Kirchen gebaut - meist dem zentralen Platz des Dorfes - der in der Regel der Gemeinde auch als Kultstätte diente.[21] Dort wurden ursprüglich Dingversammlungen (demokrati­sche Vesammlungen des Stammes) abgehalten und gemeinsame Opferfeste (Festmahle) gefeiert.[22] Die Bekehrung in zeitlicher Abfolge, wobei sie sich vom Süden immer weiter nach Norden bewegt, gibt Aufschluß über das politische, machtorientierte Vorgehen. Dabei bekehrten nun diejenigen, die zuvor bezwungen wurden in gleicher Weise die noch zu bekehrenden.

    Die Bekehrung Skandinaviens

    "Wenn wir uns jetzt der Bekehrungsgeschichte Skaninaviens zuwenden, werden wir den Anfang bei den Dänen und Schweden machen. Hier wurde die Mission von einer ganz anderen Seite in Angriff genommen als in Norwegen und dementsprechend war auch ihr Verlauf verschieden. Wenn wir von dem Bekehrungsversuch, den Willebrord um 700 in Jütland gemacht hat und der wohl ohne nennenswerten Erfolg geblieben ist, absehen, so fängt die eigentliche missionierende Tätigkeit erst 830 mit Anskars Reise nach Dänemark und Schweden an. Sie ist aber zunächst nur ein Glied der politischen Bestebungen der fränkischen Herrscher, die darauf hinausgingen, die dänische Macht, welche sich an der ostelbischen Grenze unter der Regierung Godfreds gefährlich ausdehnte und die fränkischen Küsten mit Krieg überzog, zu schwächen. Das beste Mittel dazu war, das Heidentum zu brechen und an dessen Stelle das Christentum zu verbreiten, damit die Dänen ihre feindselige Haltung aufgeben sollten.
    Als Anskar 831 zurückkehrt, nachdem er auch in Schweden mit Erfolg wirksam gewesen war, wird das Erzbistum Hamburg errichtet, damit die Mission mit wachsender Kraft fortgesetzt werden konnte.Die Reaktion blieb nicht aus. Schon 834 fand der erste Wikingerüberfall auf Dorestad statt, das in den folgenden Jahren wiederholt aufs schrecklichste heimgesucht wurde. Mit immer größerem Erfolg wagen sich die dänischen Flotten an die fränkischen Küsten und 845 wird Hamburg so gründlich geplündert und zerstört, daß der Bischofssitz nach Bremen verlegt werden mußte.
    Erst im Laufe des 10, Jahrh.s wird dem Christentum durch das energische Eingreifen deutscher Kaiser zum Sieg verholfen. Als unter dem König Gormr dem Alten, der die Teilreiche vereinigte und über ganz Dänemark herrschte, wieder ein heidnischer Rückschlag eintrat, rüstete Heinrich I. 934 zum Krieg und zwang den dänischen König, den christlichen Glauben anzuerkennen. Der Erzbischof Unni (919-936) benutzte diese Gelegenheit, seine Wirksamkeit bis nach Schweden auszudehnen, aber er starb während seiner Reise. Erst unter Gorms Sohn Harald gelangt die Bekehrung in Dänemark zu einem befriedigenden Abschluß."[23]

    Wie sich das gestaltete, ließt sich wie folgt:

    „Erst um 985 konnte der dänische König Harald Blauzahn auf die Runensteine von Jelling (Jütland) schreiben lassen; er habe ‘ganz Dänemark und Norwegen unterworfen und die Dänen zu Christen gemacht.’
    In Westskandinavien hat sich die Bekehrung ganz anders gestaltet. Nicht durch das Eingreifen einer fremden politischen Macht, sondern durch das energische Einschreiten der eigenen Fürsten wurde hier das Christentum verbreitet. Aber schon früh hat die enge Berührung der norwegischen Wikinger mit der Bevölkerung der britannischen Inseln zur Folge gehabt, daß sich der christliche Glaube unter den skandinavischen Kolonisten in England und Irland verbreitete und von dorther auch in dem alten Stammlande Einfluß gewann. Aber im großen ganzen bekommt man den Eindruck, daß die ländliche Bevölkerung Norwegens zähe den Glauben der Väter behauptete und jeden Bekehrungsversuch schroff ablehnte. Politische Motive bestimmen hier oft die Entscheidung für oder gegen das Christentum. Denn da hier die Könige gerade die Vorkämpfer des neuen Glaubens gewesen sind, haben im ständigen Kräftespiel zwischen der königlichen Gewalt und der Macht der freigeborenen Großbauern gerade diese letzteren in dem Glauben ihrer Vorfahren den Grundstein der alten gesellschaftlichen Organisation gesehen. Daher zeigt die Bekehrung in Norwegen das Bild eines politischen und kulturellen Kampfes, aus dem die moderne Königsmacht als Sieger hervorgegangen ist.
    Als Hakon von seinem Vater Haraldr inn harfagri zum englischen König Aethelstan geschickt wurde, um an dessen Hof, wo damals auch der spätere König Frankreichs Ludwig IV. verweilte, erzogen zu werden, kam er in innnige Berührung mit dem Christentum. Im Jahre 934 kehrte er nach Norwegen zurück mit dem festen Entschluß, seinem Volke auch den neue Glauben zu verkünden. Mit Freude wurde er empfangen, und als er seine Regierung damit anfing, den Bauern ihr Odal zurückzugeben, glaubten diese, daß ‘sie den Himmel in den Händen hätten’. Er hatte Priester nach Norwegen mitgenommen und ließ einige Kirchen weihen. Als er aber die Bauern in Trondheim dazu aufforderte, das Christentum anzunehmen, haben sie die Entscheidung auf dem Frostuthing[24] herbeiführen wollen und dort hat der König erfahren, daß er das Bauernvolk nicht mit guten Worten überreden konnte. Auf dem nächsten Opferfest zu Hladir konnte ihn nur die Klugheit des Jarl Sigurd vor einem Ausbruch der Volkswut bewahren; er wurde dazu gezwungen, das Opferhorn zu leeren und den Dampf aus dem Opferkessel einzuatmen. Er hat sich damit begnügen müssen, im stillen als Christ zu leben und es nicht mehr gewagt, das Volk mit Gewalt zu bekehren. In dieser schwierigen Lage hat der König sich so klug betragen, daß dieser Hakon Adelsteinsfostri im Andenken seines Volkes als Hakon der Gute weiterlebte und ein Dichter nach seinem Tode ein Lied dichten konnte, in dem er beschrieb, wie er feierlich von Odin in Walhalla empfangen wurde...."[25]

    "Aus England hatte er [der norwegische König Olaf Tryggvason] mehrere Priester mitgenommen, unter denen ein Bischof Siguro (oder Johannes) und die Priester Thangbrandr (Dankbrand) und Thormodr erwähnt werden. In einigen wenigen Jahren (996-999) gelingt es ihm, das ganze norwegische Volk zum Christentum zu bekehren, anfangend mit dem Süden und schließlich in Trondheim und Halogaland [= Helgoland] endigend. Der schnelle Erfolg erklärt sich aber durch die von ihm gewählte Methode: die sich nicht von den heidnischen Göttern lossagen wollten, wurden streng bestraft; sie wurden getötet, verstümmelt oder aus dem Lande vertrieben.

    Diese Methode zeigt eine merkwürdige Übereinstimmung Wladimirs Auftreten in Rußland. Als dieser 989 vom Bischof Cherson die Taufe empfangen hatte, zwang er seine Untertanen zum Christentum überzutreten. Die Kiewer Chronik gibt von dieser Christianisierung ein recht anschauliches Bild. Als Wladimir dorthin zurück gekehrt war, ließ er alle Götzenbilder umstürzen und vernichten. Das Bild des vornehmsten Gottes Perun ließ er an den Schweif eines Rosses und zum Dnjepr schleifen, während es von zwölf Männern unaufhörlich mit Stöcken geschlagen wurde. Dann wurden alle Einwohner in den Strom getrieben, und während sie dort bis an den Hals oder die Brust im Wasser standen, von den Priestern getauft."[26]

    Es wird sicherlich nicht ratsam gewesen sein sich der Zeremonie zu widersetzen.

    "Daß die Christianisierung aber nur sehr oberflächlich und von einem großen Teil des Volkes der neue Glaube nur mit Widerwillen angenommen war, ist selbstverständlich, und es sollte noch viele Jahre dauern, ehe eine wirkliche christliche Gesinnung sich in Norwegen verbreitet.[27] Unter Olafs Nachfolgern, den Söhnen von Jarl Hakon, die wohl schon Christen waren, aber sich aus politischen Rücksichten in Glaubenssachen sehr tolerant zeigten, hat sich das Heidentum von den ihm beigebrachten Schlägen wieder erholen können. Bald aber bemächtigte sich Olafr Haraldsson der Regierung und dieser Fürst, der von der [christl.] dankbaren Nachwelt als der Heilige verehrt wurde, hat in der kurzen Zeit seiner Herrschaft (1014-1030) das Werk seines Namensvetters vollendet. Freilich hat er auch mit schonungsloser Grausamkeit das 'compelle intare' in Anwendung gebracht und schließlich einen Teil des Volkes so sehr gegen sich eingenommen, daß es den Intrigen des dänischen Königs Knut ein williges Ohr lieh und sich gegen den eigenen König empörte. In der Schlacht von Stiklastadir (1030) wurde der König getötet und das Bauernheer trug den Sieg davon. Aber Olafs Lebenswerk hat dennoch reiche Früchte getragen; denn mochte auch am Ende seines Lebens seine Herrschaft zusammensinken, nach seinem Tode hat er als Heiliger seinem Volke auf dem Wege zur endgültigen Christianisierung siegreich vorangeleuchtet."[28]

    Die zuletzt von deVries gewählen Worte, die ich ungekürzt über nommen habe, entbehren nicht einer gewissen unfreiwilligen Satire. Der Autor läßt auch an anderer Stelle - trotz einer brillianten Forschungsarbeit - keinen Zweifel an seinem christlichen Bekenntnis. Das Zitat habe ich ohne Kürzungen übernommen. Eine Verehrung Olafs als (Kirchen-) Heiliger einerseits und die Anwendung schonungsloser Grausamkeit paßt nicht recht zusammen. Dankbar werden Olaf denn wohl besonders die Prälaten gewesen sein.

    Die Bekehrung Islands

    Wir kommen nun zur Bekehrung Islands, womit aus „offizieller“ Sicht der Kirche die Bekehrung ihren Abschluß erhält. Dabei spielt das Datum 1000 offenbar die entscheidende Rolle, denn wie wir bereits hörten, kam es in Schweden noch etwa zweihundert Jahre später zu heidnischen Reaktionen. Da wir unsere Kenntnis der heidnischen Anschauungen zu großen Teilen der isländischen Überlieferung verdanken, die mindestens bis in das 10. Jahrhundert „offiziell“ heidnisch geblieben ist, lohnt sich ein weiterer Blick auf die isländische Bekehrung. Auch hier findet sie auf politisch - militärischen Druck hin statt. Eine Wahl hatten die Isländer wie auch die meisten anderen heidnischen Stämme nicht.

    "Als Ganzes ist das isländische Volk bis in das 10.Jahrh. heidnisch geblieben. Merkwürdigerweise greift die christliche Mission erst ziemlich spät nach Island hinüber. Der erste Versuch wird von einem Isländer Thorvaldr Kodransson veranlaßt, der von einer Reise ins Ausland zurückkehrte (981). Fünf Jahre hat dieser auf Island verweilt und das Christentum im westlichen Teil der Insel verbreitet; als er aber mit seinen Gefährten den Versuch wagte, den neuen Glauben auf dem Allding zu predigen, wurde die heidnische Partei zu energischer Abwehr gereizt, und als Thorvaldr, durch eine schimpfliche Neidstrophe aufgebraucht, zwei Menschen tötete, wurde er und seine Gefährten verurteilt, das Land zu verlassen. Vergebens war aber des Priesters Arbeit keineswegs gewesen: von Thorvadr Spakbodvarsson wird berichtet, daß er auf seinem Gehöft eine Kirche bauen ließ."[29]

    Eine ‚Neidstrophe’ war eine durch die Dichtung geäußerte Meinung. Wahrscheinlich hat sich der Verfasser abschätzig über den Christengott geäußert. Für den christlichen Priester Anlaß genug zwei Menschen zu töten. Statt zur Rechenschaft gezogen zu werden, wird er lediglich verurteilt das Land zu verlassen. Wäre die heidnische Verfassung noch stark genug gewesen, wäre er wohl nicht so glimpflich davongekommen. Das zeigt aber, das das Christentum durch die politischen Ambitionen bedeutender Fürsten bereits sehr einflußreich war.

    "Vorläufig ruhte die Missionsarbeit dann wieder, bis Olafr Tryggvason die Christianisierung der Insel als Glied seiner Bekehrungsbestrebungen in Norwegen wieder aufnahm. Sobald er als König anerkannt war, sandte er einen gewissen Stefnir Thorgilsson, der kurz vorher in Dänemark getauft worden war, nach Island; aber dieser hatte gar keinen Erfolg, weil er mit Gewalt die heidnischen Heiligtümer zu zerstören versuchte und deshalb die Bevölkerung feindselig gegen sich stimmte; er [...] mußte Island verlassen; auf dem Allding war ein Gesetz angenommen worden, daß jeder, der über die Götter lästerte oder ihnen Schaden zufügte, aus dem Lande verwiesen werden sollte. Mit dem folgenden Missionar hatte Olafr eine bessere Wahl getroffen.
    Noch während Stefnirs Besuch auf Island war es dem König gelungen einige junge Isländer vornehmen Geschlechts, die in Norwegen verweilten (unter ihnen Kjartan Olafsson, Bolli Thorleiksson und Hallfroor Ottarsson) zu bekehren; dadurch wurde allmählich die Zahl derjenigen, die dem neuen Glauben gewogen waren größer. Deshalb glaubte Olaf schon 997 einen zweiten Versuch machen zu können, und er sandte [den] deutschen Priester [Dankbrand] nach Island. Dieser Mann hatte im Anfang das Glück den einflußreichen Häuptling Sidu-Hallr zu bekehren und bald folgten ihm mehrere andere, obgleich auch die Zeichen eines wachsenden Widerwillens seitens der Heiden offenkundig waren. Auf dem Allding im Jahre 999 wurde der neue Glaube mit vielem Eifer diskutiert; als aber Hjalti Skeggjason so unvorsichtig war, in einem Schimpflied die Götter zu beleidigen, wurde er auf Grund des obenerwähnten Gesetzes zur Verbannung verurteilt. [Dank­brand...] hatte kurz vorher Island schon verlassen.
    Im ersten Aufwallen des Zornes wollte der König die Isländer die in Nidaros waren, töten lassen; er wurde aber durch Hjalti Skeggjason und Gissur Hviti Teitsson beschwichtigt, indem sie auf sich nahmen, die Isländer zum Christentum zu bekehren; einige der vornehmsten Männer sollten aber als Geisel in Norwegen zurückbleiben. Als nun Gissur und Hjalti im nächsten Jahre (1000) nach Island zurückkehrten, bringen sie auf dem Allding des Königs Botschaft vor. Beide Parteien stehen einander schroff gegenüber und sind zu Gewalttaten bereit. Dann aber wird die Entscheidung in die Hände des klugen Gesetzsprechers Thorgeirr Ljosvetningagodi gelegt, der nach reiflicher Überlegung einen Vorschlag machte, der von den Dingleuten gutgeheißen wurde. Es sollte fortan, wie das früher auch immer der Fall gewesen war, auf Island nur ein Gesetz und ein Glaube gelten[30], deshalb sollte jeder die christliche Taufe empfangen. Damit aber den Heiden, die vor diese überraschende Entscheidung gestellt wurden, der Übertritt erleichtert würde, wurden einige Übergangsbestimmungen gemacht; es war nicht strafbar, wenn man den heidnischen Göttern im Geheimen weiter opferte, und das Aussetzen der Kinder [von Säuglingen] sowie das Essen von Pferdefleisch[31] wurde gestattet.
    Offenbar haben hier wieder politische Überlegungen zu der Entscheidung geführt. Um einen Bürgerkrieg zu vermeiden, war es notwendig, daß auf Island nur ein Glauben galt. Überdies würde die Aufrechterhaltung des Heidentums dem norwegischen König einen Vorwand gegeben haben, sich in die Angelegenheiten Islands einzumischen; um dem vorzubeugen, hat der Gode Thorgeirr, obgleich er selber noch Heide war, die unter diesen Umständen einzig richtige Wahl getroffen."[32]

    Bemerkenswert in dieser kurzen Darstellung der Bekehrung ist, daß sich die Entwicklung und Verbreitung des Christentums in gewissen Schüben vollzieht. Dabei sind die Bekehrer zuvor Bekehrte, die mit den gleichen militanten Mitteln agieren, wie es bei ihrer zurückliegenden Bekehrung der Fall war. Einige Zeit nach der politischen Einigung (bzw. der umfassenden Christianisierung) besiegt der deutsche Kaiser Otto der I. die heidnischen Dänen. Kaum das sich dort das Christentum gefestigt hat, brüstet sich der dänische König Harald damit, ganz Dänemark und Norwegen unterworfen und bekehrt zu haben. Schließlich der nunmehr christliche, norwegische König Olaf Tryggvason setzt alles daran nicht nur die Norweger zu bekehren; auch Island darf nicht heidnisch bleiben:

    Gerade ist der eine christlich geworden, schon muß er den Glauben dem nächsten aufzwingen. Von einer friedlichen Entwicklung durch Vorbild und Predigt (wie u.a. deVries entgegen seinen eigenen Forschungsergebnissen gerne glauben will) kann nicht die Rede sein; die geschichtlichen Tatsachen sprechen eine deutliche Sprache.

    Was man politische Einigung nannte, bedeutete in der Regel Zentralisation der Fürstengewalt und Beschneidung von Rechten der nun zu Untertanen gewordenen, zuvor selbstbestimmten Stammesmitglieder. Außerdem wurde der kriegführende Fürst - der ehemalige, für die einzelne Unternehmung gewählte Heerführer - nun zum Alleinherrscher, weil er die einmal gewonnene Macht nicht mehr aus den Händen geben mußte. War er früher dem Stamm 'verpflichtet', und hätte normalerweise seine Macht aus der kriegerischen Unternehmung nach dessen Beendigung an den gesamten Stamm - und damit an den Friedensvorsteher - den eigentlichen Häuptling (den 'König'[33]) übergeben müssen, so konnte er nun, im Umbruch der politischen Machtverhältnisse souverän entscheiden. Damit wurden aus den ursprünglichen Heerführern die ersten alleinherrschenden Regenten. Selbstredend unter maßgeblichem Einfluß der erstarkenden neuen Macht, der Kirche.
    Während im Stammesverbund ein Amt wie des Friedensvorstehers durch Wahl des Stammes auf der Dingversammlung herbeigeführt werden mußte (bzw. von den Mitgliedern der jeweiligen Sippe als ihr Sprecher bestimmt wurde), so wurden nun die (Staats-) Ämter durch den neuen Regenten nach Gutdünken und Sympathie verteilt.

    "Während sonst freigelaßne Sklaven eine untergeordete Stellung einnahmen, weil sie keiner Gens [Sippe / Clan] angehören konnten, kamen solche Günstlinge bei den neuen Königen oft zu Rang, Reichtum und Ehren. Gleiches geschah nach der Eroberung des Römerreichs von den nun zu Königen großer Länder gewordnen Heerführern. Bei den Franken spielten Sklaven und Freigelaßne des Königs erst am Hof, dann im Staat eine große Rolle; zum großen Teil stammt der neue Adel von ihnen ab."[34]

    "Die Heerführer wurden ohne Rücksicht auf Abstammung, bloß nach der Tüchtigkeit gewählt. Sie hatten wenig Gewalt und mußten durchs Beispiel wirken; die eigentliche Disziplinargewalt[35] beim Heer legt Tacitus ausdrücklich den Priestern bei. Die wirkliche Macht lag bei der Volksversammlung. Der König oder Stammesvorsteher präsidiert; das Volk entscheidet - nein: durch Murren; ja: durch Akklamation und Waffenlärm."[36]

    "Die Bekehrung hat bei den germanischen Stämmen auf sehr verschiedene Weise stattgefunden. Wir haben davon gesprochen, daß die von Kleingoten in Mösien [um 300] ausgehende Missionstätigkeit sich durch die überzeugende Kraft des inbrünstigen Glaubens kennzeichnet. Politische Machtmittel hatte das bedeutungslose Völkchen natürlich gar nicht, es konnte sich nur auf das Wort der Evangelien stützten. Um so bedeutsamer ist es, daß viele Stämme von dieser Mission ergriffen wurden; bis tief nach Deutschland hinein hat sich ihr Einfluß erstreckt. Das Bild der arianischen Bekehrung ist deshalb auch im großen ganzen sehr erfreulich; wir hören nichts von Gewaltmaßnahmen weder von heidnischer noch von christlicher Seite und obgleich das der Dürftigkeit unserer Quellen zugeschrieben werden kann, die aus orthodoxer Feder geflossen für die Erfolge der arianischen Mission kein Interesse zeigten, darf man hier das Stillschweigen als beweisend annehmen.
    Das folgt schon daraus, daß der germanische Glaube, undogmatisch und formalistisch wie er war, anderen Religionen gegenüber eine sehr weitgehende Toleranz zeigte. Deshalb wurden der Mission, wofern sie nicht selbst zum Angriff schritt, keinerlei Hindernisse in den Weg gelegt. Sobald aber der Missionar heilige Bäume fällen ließ (wie Bonifatius bei Geismar) oder heilige Quellen verunreinigte (wie Willebrord auf Helgoland), erhob sich das empörte Volk zu einer gewalttätigen Abwehr."[37]

    Die Aussage de Vries, daß ‘die Mission die Gewalttat manchmal nicht gescheut hat’, ist vielleicht die Untertreibung des Jahrtausends. Denn Mord, Folter und Unterdrückung vielfältigster Art waren für die Heiden der Bekehrungszeit für Jahrzehnte und Jahrhunderte ein fester Bestandteil des Lebens geworden. Wir müssen daher - nicht nur aufgrund dieser historischen Beispiele -, die ‘christliche Gesinnung’ durchaus im ambivalenten Verhältnis sehen; es wird der Kirche nicht gerecht, ihr Wirken mit ausschließlich positiven Assoziationen zu belegen.

    "Nicht weniger schlimm trieben[38] es die beiden Olafe in Norwegen, die ihre eigene Untertanen töten oder verstümmeln ließen, wenn sie sich ihrem Bekehrungsbefehl widersetzten. Ausgesuchte Martern haben sie über die Widerspenstigen verhängt. Olafr Tryggvason soll einem gewissen Raudr den Mund aufgesperrt haben, um mit einer glühenden Stange ihm eine Schlange in den Körper zu treiben (Hkr I, 400-401). Noch schlimmer aber behandelte er Eyvindr kinnrifa, dem er ein Becken mit glühenden Kohlen auf den Bauch setzen ließ und ihn so zu Tode marterte (Hkr I. 394). Wir können diese und andere unmenschliche Grausamkeiten wenn nicht entschuldigen, doch wenigstens erklären, wenn wir beachten, wie man damals urteilte. Die Christen betrachteten ja die heidnischen Götter als teuflische Geister, die die Menschen mit ihren höllischen Lehren verstrickten, aber den Satan soll man mit Belzebub austreiben."[39]

    Satan, - Belzebub, welche Gesinnung sollte sie wohl haben, wenn nicht die christliche? Von 'Satan', oder 'Teufel' hat das Heidentum nie gesprochen, es kannte kaum sinngemäß das, was die Christen damit verbanden. Erst die Missionare haben damit den Teufel mit sich - und damit eigentlich in die vormals heidnische Welt gebracht.[40] Wenn wir also von christlicher Gesinnung sprechen, dann auch von der dunklen Seite. Nun ist es keine Entschuldigung, aber auch keine Erklärung, das die Christen sich die „heidnischen Götter als teuflische Geister vorstellten,“ denn es wurde kein ernsthafter Versuch der Mission unternommen die Götter in einem anderen Licht als diesem zu sehen. Der Hinweis auf die Legitimation der Mission, daß fremde Götter nur teuflische Dämonensein konnten, zeigt uns ja, wie befangen die Bekehrer waren. Auch der Hinweis auf den Glauben, daß sie die Bibel als Gottes eigenes Wort betrachteten und deshalb so handeln mußten, entschuldigt nichts. Genau genommen erklärt es nur den Vorwand des Mörders. Die wahre Motivation lag in der Aufoktroyierung der ausschließlichen Herrschaft. Wer sich dem widersetzte, konnte keine Gnade erwarten.

    Wie verhielten sich dazu die Heiden, die bekehrt werden sollten?

    "Die Zahl der Blutzeugen für das christliche Bekenntnis ist erstaunlich gering. Natürlich haben die kirchlichen Schriftsteller versucht, die Märtyrerkrone den von ihnen verherrlichten christlichen Predigern um die Schläfe zu winden, aber trotzdem bot sich dazu nur selten Gelegenheit. Die schlimmsten Fälle sind die Ermordung des Bonifatius mit etwa 50 Begleitern am 5.Juni 755 bei Dokkum und der Tod des hl. Sabas, der Priester Wereka und Batwin samt 24 Genossen bei den Westgoten. Aber in dem ersterwähnten Fall hatten die Friesen alle Veranlassung, die Tätigkeit des Bonifatius als einen gefährliche Vorstoß der fränkischen Politik zu argwöhnen, während die heidnische Reaktion unter Athanarich ebenfalls im Dienste einer kräftigen nationalen Politik stand.
    Demgegenüber ist es bei den Angelsachsen und Franken gar nicht zu Martyrien gekommen. Bezeichnend ist auch das Verhältnis bei den Sachsen. Vor 714 wurden dort der schwarze und weiße Ewald getötet, 282 im Gau Leri der Priester Folkhard und der Graf Emmiggo, am Jadebusen Benjamin, in Ditmarschen der Kleriker Atreban, in Bremen Gerwald und Genossen, 789 in Nordalbingien Richolf, Rorich, Goteskalk, Had, Garich (Boehmer I, 177); [in keiner Weise zu vergleichen mit dem][41] Verdener Blutbad im Jahre 872. Es ist fast unbegreiflich, daß die Sachsen, die durch die fränkische Macht mit fast vollständiger Vernichtung bedroht wurden, ihre[r] [Abwehr][42] so selten den christlichen Missionaren gegenüber die Zügel haben schießen lassen."[43]

    Doch die christliche Mission war nicht nur unduldsam und ungeduldig. Es gab offensichtlich ein Bedürfnis zu missionieren. Jemanden zum Christentum zu bewegen, bestätigte schließlich auch den Missionierenden in seiner Gesinnung. Nimmt ein Bekehrter das an woran der Missionar glaubt, bestätigt diesen das in seinem eigenen Glauben, um so mehr, wenn er vielleicht Zweifel hegt. Das der christliche Glaube vielfachen Anlaß zum Zweifel gibt - insbesondere wenn man dem mit Vernunft begegnet[44], war seit dem Konzil von Nicäa von 325 immanent. Das das brutale Vorgehen von Kirche und christlich gesinnter Königsgewalt eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre, wenn man geduldig und friedlich den christlichen Glauben verbreitet hätte, belegen zahlreiche Beispiele. Freilich hätte das Christentum ohne Gewalt zweifellos keine Chance gehabt, sich inhaltlich gegen die heidnischen Anschauungen als ausschließliche Religion durchzusetzen.

    "Fast immer haben die Germanen längere Zeit in einer christlichen Umwelt gelebt, ehe sie zu dem neuen Glauben übertraten. Die Berührungen waren gewöhnlich friedlicher Art, wie z.B. durch Handelsverbindungen oder durch das Zusammenleben mit einer christlichen Bevölkerung, wie das bei den Franken in Gallien der Fall war. Ganz besonders gilt das für Skandinavien, denn hier lebte man noch in einer durchaus heidnischen Zeit, als die benachbarten germanischen Völker schon längst das Christentum angenommen hatten.
    Es gab damals Menschen, wie jener Helgi inn magri, von dem die Landnamá (c, 184) erzählt, daß er 'gemischt im Glauben' ... war; denn er glaubte zwar an Christus, aber bei Seereisen und schwierigen Unternehmungen rief er Thor an. Ähnliche Zustände gab es auch sonst in der germanischen Welt. Der Gesandte des Westgotenkönigs Leovigild sagte zu Chilperich I.: Man sagt bei uns, daß es nicht schaden könne, wenn man zwischen einem heidnischen Altar und einer christlichen Kirche hindurch gehe, beide zu verehren. Deshalb hatte der ostanglische König Redwald (im Anfang des 7. Jahrh.s) in demselben Tempelgebäude eine Altar für das Messeopfer und einen zweiten für [die heidnischen Götter].[45] Brüderlicher kann es kaum hergeben, als in Bregenz am Bodensee, wo 610 Kolumban Christen und Heiden zusammen bei einem festlichen Bieropfer für Wodan antrifft."[46]

    "So überzeugt war man davon, das der Übertritt des Königs auch für das gesamte Volk verpflichtend war, daß Karl der Große nach Widekinds [des sächsischen Heerführers] und Abbis Taufe 785 dem Papste meldete: Das ganze sächsische Volk ist katholisch geworden. Die Regel cius regio, eius religio galt auch für die germannische Welt unbedingt, weil ja die Religion eine Funktion der Gemeinschaft war. Noch inniger, weil naturgebunden, ist das Gefüge der [Verwandtschaft][47]; hier ist der gemeinsame Glaube, der sich kundgibt in den an bestimmten Zeitpunkten zusammen vollzogenen Opfern, notwendige Grundlage für das Wohlergehen der Sippe. Diese starke soziale Geltung des heidnischen Kultes läßt den Übertritt zum Christentum als einen Verrat an dem Kreis der Verwandten erscheinen; um so mehr, als der Bekehrte durch diese Zugehörigkeit zu der christlichen Kirche aus den alten heidnischen Verbänden sich loslöst[48]. Mit scharfen Worten verurteilte man deshalb die Bekehrten; man nannte sie ...Schande für die [Verwandtschaft][49]und Verderber der Sippe. Es war eine Neidingstat [die Tat eines Ehrlosen], wenn man den geschlossenen Verwandtenkreis zerbrach und sich den gemeinsamen Kulthandlungen entzog. Schon der Umstand, daß man sich als Teil einer unverbrüchlichen Gemeinschaft empfindet, macht den Übertritt außerordentlich schwierig. Asbjorn von Medalhus sagt zu Hakon dem Guten, daß man den Glauben nicht aufgeben dürfte, den unsere Väter vor uns hatten, zuerst im Brandalter und nunmehr im Hügelalter, und sie sind doch weit trefflicher gewesen als wir. Deshalb hat auch der Friesenkönig Redbad den Fuß aus dem Taufbecken zurückgezogen, weil er lieber mit seinen Verwandten in der Hölle braten als mit ein paar elenden Fremden die himmlischen Freuden genießen will. Die Heiden schämen sich, den altväterlichen Glauben aufzugeben. Swjatoslaw sagt, er könne nicht Christ werden, denn seine Mannen würden darüber nur lachen. Das entspricht aber durchaus der Empfindung Chlodwigs, der sich durch die verrecundia lange davon hat zurückhalten lassen, den entscheidenden Schritt zu tun.
    Die Umstände, unter denen die Bekehrung der Germanen stattgefunden hat, haben dazu geführt, daß die Vorbereitung zum christlichen Glauben im allgemeinen nur sehr notdürftig war. Das gilt natürlich ganz besonders von den Massenbekehrungen, ob dies nun aus Treue zum Gefolgsherrn oder durch obrigkeitlichen Zwang erfolgte."[50]

    Wenn die Lehre nicht vom Volk getragen war und deren Anerkennung erzwungen werden mußte, dann hatte die Mission (damals wie heute) insbesondere die Funktion die Zahl der Taufen zu erhöhen. Mit der Taufe ist ja noch heute der Mensch insbesondere ein Mitglied der Kirche und ist damit dem Geltungs - und Verfügungbereich kirchlicher Einflußnahme ausgesetzt. Die Funktion der Mission ist also ganz klar die Erweiterung des Herrschaftsbereiches der christlichen Institution; um so verhältnismäßig wenig man von einer Bekehrung durch Predigt und Vorbild vernimmt. Man sollte versuchen, sich die Situation eines Bekehrten vor Augen zu führen: Der im heidnischen Stammesverband Geborene war nun absolut der Botmäßigkeit der Kirche und des christlichen Königs ausgesetzt.

    Der seltene Versuch durch inhaltliche Kritik die Heiden zu bekehren, beinhaltet den Umstand, daß die Bekehrer sich nicht wirklich mit dem Heidentum auseinandersetzten (was ihrer Lehre entsprach: "sich nicht vom Wahren ablenken zu lassen"[51]). In einem Brief des Bischofs Daniel von Winchester an Bonifatius gibt dieser dem Missionar Ratschläge, wie er die Nichtigkeit des Heidentums erweisen könnte: man soll die Kultgebräuche und die Göttermythen nicht einfach ablehnen und verpönen, man tut besser zu beweisen, daß sie ihrem Inhalt nach wertlos sind. Eine so vorgetragene Bekehrung soll den Heiden von seinem angeblichen Irrglauben überzeugen.
    Ein wichtiger Ansatzpunkt ist dabei die Theogonie. Sie berichtet von Erzeugung und Geburt der einzelnen Götter,

    "... da soll der Bekehrer einwenden, daß Wesen, die gezeugt und geboren werden, eher Menschen als Götter seien. Weshalb aber zeugen die Götter jetzt nicht mehr, wenn sie in der Vorzeit Kinder bekommen konnten? Wieviel höher ist da der christliche Gott, der allmächtig und allewig ist. Daneben gibt es aber noch andere verfängliche Fragen. Ist die Welt ewig oder einmal erschaffen? Im letzten Fall bedarf sie eines Schöpfers."[52]

    Nun geht der Bischof natürlich von falschen Voraussetzungen aus, denn es handelt sich um Fragen, die innerhalb christlicher Terminologie und Wertigkeiten argumentieren und auf heidnische Anschauungen gar nicht eingehen. Die Rede von Geburt, Zeugung, Tod etc. sind außerdem Fragen nach der eigenartigen theologischen Systematik, aber nicht inhaltlicher Natur, etwa zu den Bedeutungen der Götter. Interessanter als die Fragen selbst, ist die Fußnote deVries zu dem Thema:

    "Wie weit entfernt sind wir hier von der Inbrunst der christlichen Urgemeinde. Damals [bestand][53] eben in breiten Schichten der mediterranen Bevölkerung ein Erlösungsbedürfnis, das sich schon früher, z.B. in den eleusinischen Mysterien kundgegeben hatte, aber jetzt, in der ihrer Auflösung entgegenschreitenden antiken Gesellschaft besonders fühlbar wurde.
    [Nämlich das Erlösungsbedürfnis der Juden vom Joch der Römer in Palästina, dann der Italier und der unterworfenen Provinzen vom imperialen römischen Staat]. Das war aber bei den germanischen Völkern nicht der Fall. Hier gab es ein gesundes, in sich selbst ruhendes Volkstum, das sich überhaupt nicht in einer psychischen Notlage befand."[54]

    Wenn die Bekehrung auch ein Bild zeichnet, das von politischen Erwägungen und kriegerischen Handlungen, kalkuliertem Terror und Verboten geprägt ist, so sagt dies aber noch nichts über das innere System aus. Es zeigt lediglich die Ergebnisse und ihre amoralischen Begleiterscheinungen. Es bleibt zu fragen was dahinter steht.

    Der fromme Wunsch das alle Menschen Brüder sein sollten, die Nächstenliebe und Barmherzigkeit ist wohl nicht die Triebfeder zur Unterwerfung der Völker gewesen. Das dies lediglich bei der germanischen Mission der Fall gewesen wäre, läßt sich übrigens von vornherein ausschließen, betrachtet man die Missionstätigkeit etwa auf dem amerikanischen oder australischen Kontinent.
    Man sollte meinen: in der Bekehrungstätigkeit, der Mission selbst muß der Beweggrund dieser unnachgiebigen Stringenz liegen, die vor Gewalt nicht zurückschreckt, die Mord und Terror benutzt, unter dem der Widerstand gegen das Christentums schließlich zusammenbricht. Der Anspruch des Guten, den das Christentum vertritt, der Erlösung vom Leid steht dem in frappanter Weise gegenüber wie der Folterer, der dem Opfer einzureden versucht, die Qual geschähe zu seinem Besten. Man stelle sich vor: man solle unter Foltern die Barmherzigkeit Jesus anerkennen, und das verteufeln, was man bisher für richtig hielt. Eine hochgradig perverse Situation.

    Allgemein fällt heute auf, das das Christentum das Leid erst erschafft, von dem es dann Erlösung verspricht[55]. Wenn ich mich an dieser Stelle einmal als Psychoanalytiker versuche, dann ist es leicht, den Missionar als einen Zweifelnden zu kennzeichnen. Mit jeder ‘gewonnenen Seele’ ist auch der Missionar in seinem Bestreben bestätigt. Ein Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns ist um so geringer, je größer seine Missionserfolge sind. Die Massenbekehrungen ließen sicher so manchem Missionar das Herz überquellen.

    Die Art der germanischen Mission ist außergewöhnlich: nicht durch Vorbild und passive Überzeugung werden die Menschen bekehrt, nicht die Bibel, die angeblich und aufgrund durchsichtiger Motive als von Gott selbst - persönlich - verfaßt, bezeichnet wurde (und wird), beeindruckt die Heiden und auch nicht die angebliche Menschwerdung Gottes in der Gestalt Jesus, ja nicht einmal die dreiste Versicherung der Christen, über den Tod sicheren Bescheid zu wissen[56], konnte die Heiden zu einer Abkehr von ihren Anschauungen bewegen.
    Nicht nur am Beispiel Karls d. Gr. sieht man die Bekehrung mit Unterwerfung gleichgesetzt. Immer ging es um politische Einflußnahme. Dieser Einfluß, der den einen über den anderen stellte, machte aus freien Menschen Untertanen und gegängelte „Schäfchen“. Die Menschen, die in der Lage waren sich ihr Recht selbst zu setzen, wurden in ein Verhältnis von Unmündigkeit und Gehorsamsabforderung gesetzt. Von nun an sollte ‘der Herr’ ihr Gott sein und in Stellvertretung des Herrn die Kirche die Herrschaft ausüben.

    Im Zuge der sogenannten "politischen Einigung des Volkes", war die Einführung des Christentums der geeignete Vorwand, die Heerführerschaft auch nach der Kriegsunternehmung aufrechtzuerhalten und die Königswürde (früheres Amt des "Friedensvorstehers"[57]) an sich zu reißen. Die Missionare und die Heerführer ergänzten sich dabei offenbar aufs fruchtbarste. Die Capitularien[58] zeigen uns anschaulich, wie in dieser Zeit das neue, die Stammesverfassung ursurpierende, - monarchische Königstum und die Macht der Kirchenorganisation sich festigte. Als drittes finden wir in dieser Zeit noch das Stammesrecht als Überbleibsel der alten Gewohnheitsrechte. Es steht anfangs gleichberechtigt neben herrschendem Königtum und Kirche, wird aber mehr und mehr durch Maßregelungen beschnitten und zwischen den Ansprüchen der anderen beiden Mächte zerrieben. Von den Freiheitsrechten des heidnischen Stammes bleibt nichts übrig.

    In einer Verfügung kann Karl d. Gr. im Jahre 803 die unten folgende Verfügung aufstellen. Damit wird der Ungehorsam - ein Begriff den die freien und selbstbestimmten Stämme nicht kannten, zur Strafangelegenheit erhoben:

    "Das Capitulare vom Jahre 803 (Leges I. p 126), welches Karl der Große dem bayrischen Gesetz hat hinzufügen lassen, nennt die 'acht Verbrechen, in denen der Königsbann von 60 Solidis verhängt werden: Friedbruch gegen die Kirche, die Wittwen, Waisen und arme Leute, Raub, Gewalt mit gesammelten Haufen, Brandstiftung und Ungehorsam gegen den königlichen Heerbefehl.'" [59]

    Genau dieselben acht Bannfälle sind mit den Sachsen im Jahre 797 im Capitulare Saxonicum vereinbart worden. Wie diese "Vereinbarung" zustande kam, zeigt das oben beschriebene Vorgehen, das Karl d. Gr. gegen die Sachsen. Der Hinweis in den Capitularien auf den Schutz der Wittwen und Waisen muß man als eine Verschleierung der wesentlichen Motivation verstehen, ist dies doch von völlig anderer Qualität als: der 'Schutz der Kirche' und der 'Ungehorsam gegen den königlichen Heerbefehl'.

    "Für die Germanen galt bereits die Regel, die wir namentlich aus der Reformationszeit kennen; cuius regio, eius religio. Vollendete Treue zwischen dem Fürsten und seiner Gefolgschaft war nicht möglich, wenn sie keine Kultusgemeinschaft miteinander bilden konnten; und dazu mußten sie die gleichen Götter verehren.
    Ein ganz anderes und doch im Grunde eng verwandtes Problem bildet das Verhalten mancher bekehrten Fürsten, die ihre Untertanen mit Gewalt dem neuen Glauben zuführen wollten. Diejenigen, die sich weigerten, dem Fürsten zu folgen, wurden oft mit der gleichen Strenge behandelt wie Treulose und Verräter. Diese Gleichstellung erklärt wenigstens teilweise die Grausamkeit, mit der u.a. einige norwegische Könige widerspenstige Untertanen zur Annahme des Christentums zwingen wollten. Auch die germanische Religion hat ihre Märtyrer gehabt: wer beispielsweise während der Regierung von Olaf Tryggvason die Götter seiner Vorfahren zu verlassen sich weigerte, wurde verbannt oder gefoltert und getötet. Keine Folterung war zu grausam, um die Widerspenstigen zur Unterwerfung zu bringen. Rein religiös war dieser Kampf nicht. Das Bekehrungsverfahren der norwegischen Könige fiel mit der politischen Einigung des Landes zusammen, und der Widerstand gegen diese Politik konnte sich auf religiöse Erwägungen, namentlich auf die Treue gegenüber den Göttern der Vorfahren, berufen. Die Formen, die dieser Kampf annahm, werden nur dann verständlich, wenn man nicht aus den Augen verliert, daß die Religion für die Germanen eng verbunden war mit dem Leben der Völker. Sie war das Band, das ein Volk zusammenhielt: Kultuseinheit und politische Einheit waren gleichbedeutend."

    ODIN HAT GESPROCHEN



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