"Betroffene erinnern sich" von Lothar Tautz

Protest und Anpassung. Das Jahr 1968 im Osten und Westen Deutschlands.
Verfügbare Informationen zu ""Betroffene erinnern sich" von Lothar Tautz"

  • Qualität des Beitrags: 0 Sterne
  • Beteiligte Poster: Juliane EAT
  • Forum: Protest und Anpassung. Das Jahr 1968 im Osten und Westen Deutschlands.
  • Forenbeschreibung: Ein Geschichtsprojekt von vier Schulklassen aus Hessen und Thüringen
  • aus dem Unterforum: Materialkiste
  • Antworten: 3
  • Forum gestartet am: Donnerstag 30.11.2006
  • Sprache: deutsch
  • Link zum Originaltopic: "Betroffene erinnern sich" von Lothar Tautz
  • Letzte Antwort: vor 17 Jahren, 3 Monaten, 18 Tagen, 8 Stunden, 8 Minuten
  • Alle Beiträge und Antworten zu ""Betroffene erinnern sich" von Lothar Tautz"

    Re: "Betroffene erinnern sich" von Lothar Tautz

    Juliane EAT - 09.01.2007, 16:52

    "Betroffene erinnern sich" von Lothar Tautz
    Prager Frühling in Erfurt

    Warum war der „Prager Frühling“ für einen 17jährigen Erfurter Jungkommunisten so faszinierend? Weil zur papiernen Wahrheit des Marxismus-Leninismus die Kategorie Menschlichkeit hinzukam, die auch noch ein Gesicht (und einen Namen) hatte: Alexander Dubcek. Da war die Formulierung „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ leicht mitzuvollziehen.

    Als Arbeiterkind eines eher kleinbürgerlich gesinnten Elternhauses nahm ich – zwar kurz nach der Geburt 1950 den damaligen Konventionen gehorchend noch getauft – die übliche gesellschaftliche Entwicklung: Jungpionier – Thälmannpionier – Jugendweihe – FDJ. Noch 1977 attestiert mir die Erfurter Kreisdienststelle der Stasi für die Berufsschulzeit, „dass T. gesellschaftlichen Problemen sehr aufgeschlossen gegenüberstand und er zur Förderung politischer Diskussionen wesentlich beitrug. Für die Verbesserung der Jugendarbeit setzte er sich vor allem als FDJ-Leitungsmitglied ein“ (A I.1 Blatt 3). Gleich nach meinem 18. Geburtstag am 15. April 1968 wollte ich meinen Antrag auf Aufnahme in die Partei der Arbeiterklasse stellen. Um so mehr, als ich seit Jahresbeginn glaubte, so am besten dazu beitragen zu können, dem Prager Sozialismus auch in der DDR ´zum Sieg zu verhelfen´.

    Vorerst noch die Schulbank drückend, malte ich inzwischen (neben „The Beatles“ und „The Rolling Stones“) die Worte „Dubcek-Svoboda“ auf meinen Schreibblock (A I.2). Das mag naiv aussehen, wurde aber in den folgenden Sommermonaten zur wichtigsten Losung der freien Demonstrationen in der CSSR und aller heimlichen Sympathiesanten im Ostblock. (Womit ich mir natürlich nicht die Urheberrechte anmaßen will.) Was die „Verbesserung der Jugendarbeit“ anbetraf, so schrieb ich schon mal einen Artikel für die Erfurter Wochenzeitung im Rahmen der „perspektivischen Diskussion unserer Blumenstadt“, der am 3. Januar 1968 veröffentlicht (A I.3) und in den Folgewochen immer wieder hochgelobt wurde. Die logische Konsequenz: Am ´Vorabend´ des Volksentscheides für „unsere neue Verfassung“ bekam ich vom „Ersten Stellvertreter des Oberbürgermeisters“, dem Oberstalinisten Ißleib, in Anwesenheit von zwei Arbeiterveteranen und eines weiteren Funktionärs den 1. Preis für meine klassenbewusste Stellungnahme überreicht (A I.4) – eine Reise nach Prag in der ersten Augustwoche!

    Ich war hochbeglückt, konnte man doch in der Prawda vom 19. April in der Rede von Josef Smrkovsky, dem Präsidenten der Nationalversammlung der CSSR, lesen: „ Die Nationalversammlung steht vor der Aufgabe, durch ihre gesamte gesetzgeberische Praxis einen sozialistischen Parlamentarismus zu begründen. Dabei gilt es, auch aus den jahrzehntelangen Erfahrungen des Parlamentarismus der Vorkriegsrepublik und aus den positiven Erfahrungen andere Länder zu lernen. ... Das Parlament muß Sicherungen schaffen, damit die CSSR zu einem Rechtsstaat im besten Sinne wird – das Recht muß sich als unantastbare Grundlage des gesamten staatlichen und gesellschaftlichen Lebens erweisen.“ Da wollte ich als künftiger Genosse mittun.

    Am 30. Juli brachte mich ein Bus des Reisebüros der DDR (A I.5) in die glückliche Zukunft des entwickelten Sozialismus, die es nie geben sollte. Ich erlebte vier Tage Freiheit von einer Sorte, die wohl immer in den wenigen Wochen ihrer Jugend rauschhafte Züge des Glücks annimmt. Freie Menschen, freie Presse und meine erste freiwillige Demonstration auf dem Altstädter Ring mit dem krönenden Abschluss einer Rede des mutigen Parteiführers der KPC. Hoffnungsfroh zurückgekehrt, konnte ich am 14. August im ND lesen, dass sich Walter Ulbricht zum Abschluss der Verhandlungen der Bruderparteien in Karlovy Vary „für eine gute Zusammenarbeit im Geiste des Marxismus-Leninismus“ auch in Zukunft ausgesprochen hatte. Wir Dubcek-Fans glaubten, das wäre der Freibrief für Prag, denn ohne den Segen der Sowjetunion hätte der Staatsratsvorsitzende solche deutlichen Worte nicht gesagt.

    So fuhr ich beruhigt mit Freunden zur Insel Usedom in den Urlaub. Aber manches Erlebnis lässt sich noch überbieten: Auf dem Zeltplatz lernte ich ein junge Tschechin aus Plzen kennen, die mit ihrer Familie Ostseeurlaub machte und – wie sollte es bei einem 18jährigen Flegel anders sein – verknallte mich bis über beide Ohren in sie. Die Verständigung war gut, in englisch und russisch und mit ihrem Vater (KPC-Mitglied) auf deutsch. Die Zukunft war rosig und wir schwärmten genauso von der guten Beatmusik auf der Bansiner Nahkampfdiele wie vom Aufbau des Sozialismus und dem nächsten Urlaub in Paris.

    Am 25. August schrieb ich nach Plzen einen 25-Postkartenseiten langen Brief. Die letzen Sätze lauten: „Du kannst mir glauben, mir ging es ähnlich nahe wie Euch. Nicht irgendwie nur solidarisch, sondern weil ich in der CSSR war. Ich habe Freunde dort. Ich weiß, wie gut es war, doch ich weiß nicht, wie es sein wird.“ (A I.6)


    Quelle: Lothar Tautz "Opposition und Widerstand in der mitteldeutschen Provinz" aus der Reihe "Betroffene erinnern sich", Teil 19, Herausgeber: Die Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt, Magdeburg 2004.



    Re: "Betroffene erinnern sich" von Lothar Tautz

    Juliane EAT - 09.01.2007, 16:54


    Hinein in die Nonkonformistenuniform: Die 68er-Bewegung auf thüringisch

    Nach dem 21. August 1968 wurden die Mitglieder der Betriebsparteiorgansiation des VEB Erfurter Pressen- und Scherenbau angewiesen, ihre Augen und Ohren im Arbeitskollektiv und in der Stadt offenzuhalten und bei verdächtigen Gesprächen oder Handlungen mit Bezug auf die Situation in der CSSR an zuständiger Stelle Bericht zu erstatten. Ein Grund mehr, sofort nach der Rückkehr aus dem Urlaub meinen Antrag auf Aufnahme in die SED zurückzuziehen. Daraufhin teilte mir mein Deutschlehrer mit, ich brauchte meine Bewerbung für ein
    Journalistikstudium nicht mehr weiter zu verfolgen, dort bekäme ich nun keinen Studienplatz mehr. Im Übrigen hätte ich es nur dem positiven Votum meines Klassenlehrers zu verdanken, dass ich meine Lehrausbildung zu Ende bringen und zum Abitur zugelassen würde. Das nahm ich erstaunt und dankbar zur Kenntnis, denn mein Klassenlehrer war gleichzeitig einer von den beiden Bürgen, die ich für meine Kandidatur benötigt hatte.

    Ein Jahr hatte ich noch bis zu den Abschlussprüfungen. Zum Lernen war ich nicht mehr richtig motiviert, aber es war eine gute Zeit sich umzukleiden vom FDJ- ins Holzfällerhemd komplettiert mit Jeans und Parka (beides für teures Geld gebraucht gekauft) und die Haare wachsen zu lassen. Solche Zeitungsartikel wie über Reiner Schöne („Abstieg eines jungen Künstlers“, Junge Welt vom 5. Nov. 1968, A II.1) waren da eher eine zusätzliche Motivation, denn das „perverse Spiel“, in dem er jetzt nach seiner Flucht in den Westen singen kann, ist nichts anderes, als dass von allen Fans heißgeliebte Musical „Hair“.

    Als meine Haare im Frühjahr 1969 die Schultern erreichten, stellte ich erfreut fest, dass ich nicht mehr allein auf der Welt war. Wir erkannten uns auf der Straße: Ein paar Dutzend Bluesfreeks, Kunden und Hippies in der Bezirkshauptstadt. Wenn die Rampenlichter in Erfurt oder die Eridanos in Ilmenau spielten, waren wir schon ein paar Hundert. Wir fragten nicht mehr nach der Weltrevolution, sondern nach Liebe und Gott (A II.2) und die Polizei fragte uns nach dem Ausweis, denn die identifizierte uns natürlich genauso gut und einfach an unserer äußeren Erscheinung. Für die Stasi war das ein leichtes Spiel, zumal es nur wenige Orte gab, an denen wir uns unbehelligt treffen konnten. Da ich – wie die meisten Aussteiger meiner Generation – auch Schwierigkeiten im Elternhaus hatte, bezog ich 1970 eine „Wohnung in unmittelbarer Nähe eines Zentrums dekadenter Jugendlicher“ (A I.1 Blatt 5 Abs. 4).

    Die Berufsaufstiegsleiter weiter zu besteigen, hatte ich inzwischen aufgegeben. Mehrere Bewerbungen für ein Studium nach Wunsch waren erfolglos geblieben (A I.1 Blatt 2 Abs. 2: „Kapazitätsengpässe“ waren ein
    gebräuchlicher Vorwand, um politisch fragwürdige Personen vom Studienplatz ihres Wunsches fernzuhalten). Letztlich bekam ich einen Studienplatz für Maschinenbau an der TU Dresden, das Studium musste ich aber bereits nach einem Semester wieder abbrechen, um einer Exmatrikulation zuvorzukommen. Ein freundlicher Studienberater hatte mir das empfohlen, damit ich mir nicht völlig die Zukunft mit meiner ablehnenden Haltung dem Staat gegenüber verbaue (A II.3). Erstaunlich war nur die ungebeten Stellungnahme des FDJ-Sekretärs, der wohl anders als die Stasi (A I.1 Blatt 3 Abs. 5) noch nicht mitbekommen hatte, dass ich konsequenterweise auch aus der Jugendorganisation der führenden Partei ausgetreten war (A II.3).

    Hingegen ließ ich mich nach einem Bibelseminar in der Dresdener Studentengemeinde am 14. 12. 1969 in der Dresdener Annenkirche konfirmieren (A II. 4) und kehrte in die oben schon genannte Wohnung in Erfurt zurück. Es folgten sechs Monate des unausgesprochenen aber faktischen Arbeitsverbots, in der ich lediglich für fünf Wochen aushilfsweise als Packer in einem der wenigen Erfurter Privatbetriebe unterschlüpfen konnte (A II.5). Möglicherweise spielte hierbei auch meine Teilnahme an der Erfurter Demonstration für Willy Brandt während seines Besuches am 19. März 1970 eine Rolle, die leider von der Stasi nicht dokumentiert worden ist (vgl. aber „Kleiner Pionier...“ S. 37-39). Da waren wir wohl zu viele.

    Ich behaupte einfach: Die beste Nonkonformistenniesche in der DDR war das Theater. Mit etwas Glück landete ich beruflich in der Requisite der Städtischen Bühnen Erfurt und brachte es nach kurzer Zeit zum Chefrequisiteur (A I.1 Blatt 3 Abs. 1 und Blatt 4 Abs. 3). Dass ich dort auch begann, mich auf künstlerische Weise staatsfeindlich zu betätigen (A II. 6), habe ich Günter Glombitza (+) zu verdanken, der meine Machwerke allerdings regelmäßig verlachte, was mich bewog, mich lieber wieder aufs Handwerk zu verlegen, da war ich erfolgreicher (A I.1 Blatt 4 Abs. 2). Die Stasi allerdings könnte die Ausstellung meiner schlichten Grafiken ernst genommen haben, jedenfalls legte sie in dieser Zeit (ich war gerade in eine Theaterwohnung in der Brühler Straße umgezogen) eine erste ZMA-Karteikarte an, deren Eintragungsfülle allerdings sehr zu wünschen übrig lässt. Immerhin ehrt mich, dass die Komplexnummer „A/68“ lautet (A II. 7).


    Quelle: Lothar Tautz "Opposition und Widerstand in der mitteldeutschen Provinz" aus der Reihe "Betroffene erinnern sich", Teil 19, Herausgeber: Die Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt, Magdeburg 2004.



    Re: "Betroffene erinnern sich" von Lothar Tautz

    Juliane EAT - 10.01.2007, 09:55




    hohe Auflösung: http://i10.tinypic.com/2wmhx1g.jpg





    hohe Auflösung: http://i14.tinypic.com/4d3qr94.jpg



    Mit folgendem Code, können Sie den Beitrag ganz bequem auf ihrer Homepage verlinken



    Weitere Beiträge aus dem Forum Protest und Anpassung. Das Jahr 1968 im Osten und Westen Deutschlands.

    Fräge - gepostet von Xardas am Dienstag 12.06.2007



    Ähnliche Beiträge wie ""Betroffene erinnern sich" von Lothar Tautz"

    Salzburg feuert Lothar Matthäus - Tom (Dienstag 12.06.2007)
    Betroffene Gesucht! - father (Samstag 17.03.2007)
    Lothar soll Spielern Siegeswillen einimpfen - Osman (Samstag 01.04.2006)
    Lothar hat Geburtstag - bernandolino (Montag 28.01.2008)
    Wie verhalten sich Betroffene? - spritegirl159 (Donnerstag 15.07.2004)
    Interviewleitfaden Lothar Tautz - Juliane EAT (Donnerstag 18.01.2007)
    Betroffene mit wegschauender Mutter - kilanadora (Montag 17.07.2006)
    Bilden sich Betroffene die Abhängigkeit von SVV nur ein? - spritegirl159 (Donnerstag 15.07.2004)
    Event auf Lothar veranstalten? - Innos (Dienstag 31.05.2005)
    Lothar Günter Buchheim ist gestorben - Josef D. (Freitag 23.02.2007)