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    Re: Spiegel TV

    administrator - 12.07.2008, 23:20

    Spiegel TV

    Autor: Manfred Dworschak

    PSYCHOLOGIE

    "Plaudern ist Extremsport"

    Können autistische Kinder, die sich ängstlich von ihrer Umwelt abkapseln, je ein Leben in Gesellschaft lernen? Ein britischer Regierungsberater, selbst Autist, hat ein Buch über erstaunliche Lernerfolge geschrieben.
    Stets sind für den Notfall die Handpuppen dabei, wenn André in sein Computerlabor geht oder zum Einkaufen. Sollten den Ingenieur mal wieder mitten im Gespräch die Worte verlassen, holt er rasch Boo, Sylvie oder Ben-Gurion hervor. Dann spricht er mit verstellter Stimme, und es geht wieder. Den Puppen fällt immer was ein.

    Randall ist Fahrradkurier und auch ein bisschen wunderlich. Frühmorgens radelt er gern mit geschlossenen Augen durch seine stillen Vorstadtstraßen; er kennt jede Ecke auswendig. Aber wehe, die Bremsgriffe haben einen halben Millimeter zu viel Spiel. Dann steigt der Mann auf der Stelle ab und breitet erst einmal langwierig sein Werkzeug aus. Auf Liefertermine kann er dann keinerlei Rücksicht mehr nehmen.

    Am weitesten hat es Craig gebracht. Er schreibt für hohe US-Politiker Reden, die als mitreißend gelobt werden, vermag aber keinem Menschen in die Augen zu sehen. Zurzeit hat der Anhänger der Demokraten wenig Arbeit. Ein Einstellungsgespräch verpatzte er, weil er plötzlich zu zappeln begann und nicht mehr aufhören konnte.

    Und dann ist da noch Kamran. Der erzählt von André, Randall und Craig in einem Buch, das soeben erschienen ist**. Alle vier waren sie mal in einer Förderklasse für autistische Kinder in New York; 20 Jahre ist das her. Kamran Nazeer, inzwischen Politikberater im britischen Justizministerium, wollte mal nachsehen, was aus seinen alten Mitschülern geworden ist. Für das Buch hat er sie der Reihe nach besucht.

    Kaum jemand hätte den sonderbaren Knirpsen damals eine Zukunft, geschweige denn eine Karriere zugetraut. Sie schienen bestimmt für ein Leben im Heim oder bei den geplagten Eltern. Als Kamran vier Jahre alt war, sprach er in der Klasse kein Wort; aber wenn sich jemand an seine penibel aufgereihten Spielzeugautos wagte, drehte er durch. Die autistischen Kinder spielten nicht miteinander, hockten in sich gekehrt, wie erloschen, auf ihren Stühlchen, dann wieder brachen sie in Wut-

    anfälle aus. Und Craig rief monatelang immer wieder den gleichen Satz in die Runde: "Schickt die Idioten rein!"

    Autisten leiden an einer Entwicklungsstörung des Gehirns, die sich meist im Alter von ein, zwei Jahren bemerkbar macht. Wer davon betroffen ist, erlebt die Umwelt als peinigende Überfülle von Reizen. Schon das Gesicht der Mutter ist für Autisten ein verstörendes Rätsel. Sie sehen nicht das ermunternde Lächeln, das sich ihnen zuwendet. Sie sehen gekrümmte Lippen, an denen ein Krümel klebt, dazwischen einen Spalt, aus dem 16 Stifte hervorblinken, einer davon mit dem bräunlichen Fleck einer alten Füllung, und oberhalb zwei Augen, die wild zwinkern und in ihren Höhlen rollen.

    Was sich anderen Menschen wie automatisch zu einem lieblichen Ganzen fügt,


    bleibt für Autisten ein Gepurzel von Details, überscharf, unordentlich und kaum zu verstehen. Wörter sind Lärm für sie, Berührungen oft schmerzhaft. So verschließen sich die Betroffenen schon als Kleinkinder entsetzt vor der Welt, lernen kaum sprechen und bleiben in fast allen Fertigkeiten zurück. Heilbar ist der Autismus bislang nicht. Die Frage ist, wie weit er sich lindern lässt.

    "Unsere Lehrer haben zum Glück keine Ruhe gegeben", sagt Kamran Nazeer. Mit geradezu dämonischem Eifer ermunterten sie die Kinder zu einem Minimum an Miteinander: Augenkontakt, Händchen geben. Karten mit schematischen Gesichtern halfen beim Deuten fremder Befindlichkeiten: Was machen die Lippen? Die Augenbrauen? Lacht dieser Mensch, ist er überrascht, zornig? Alles buchstabierten die Kleinen sich aus Einzelmerkmalen zusammen. So lernten sie, Gesichter zu lesen wie andere Leute kyrillische Lettern.

    Mit beharrlichem Üben kam die Klasse voran über die Jahre. Ein Kind nach dem anderen konnte auf eine reguläre Schule wechseln. Aber beileibe nicht alle Autisten wurden alltagstüchtig. Kamrans Mitschülerin Elizabeth bedurfte auch fortan steter Aufsicht; vor wenigen Jahren hat sie sich umgebracht. Der Autor besuchte ihre Eltern, auch Elizabeths Geschichte steht im Buch.

    Craig, Randall und André dagegen kommen zurecht. Craig, der Redenschreiber, fand eine Frau, die sich in ihn verliebte; es hielt neun Monate. André, der Puppenspieler, lebt mit seiner Schwester, die nach einer gescheiterten Liebschaft bei ihm einzog und froh ist, dass sie ihn hat. Randall, der Fahrradkurier, verblüffte seine Eltern, indem er sie eines Tages frohgemut verließ und zu seinem Freund Mike zog.

    Für Autisten sind das nahezu sensationelle Wendungen. Die Umgänglichkeit hat aber Grenzen. André sperrte seinen ehemaligen Mitschüler, als der für sein Buch zu Besuch da war, einmal blitzschnell im Bad ein, floh hinter das Sofa und kam lange nicht mehr hervor. Hinterher erfuhr Nazeer von der Schwester den Grund: Der Puppenspieler erträgt es nicht, unterbrochen zu werden, wenn er gerade in Gestalt einer seiner Puppen spricht.

    Nazeers Buch ist voller Beispiele für das heikle Hin und Her von Fortschritt und Rückschlag. Dass seine Mitschüler überhaupt so weit gediehen sind, mag auch wohlhabenden Elternhäusern und bester Förderung zu danken sein - Nazeer selbst entstammt einer pakistanischen Bankiersfamilie. Ihn würde heute kaum noch jemand als Autisten bezeichnen. Nur ein paar Relikte sind erkennbar: Wer dem Autor die Hand gibt, greift in ein schlaffes Bündel langer Finger; beim Gespräch knäult der junge Mann sich in seinem Sessel zusammen, und seine Stimme ist sehr leise. Aber er spricht in druckreifen Sätzen und quittiert jeden Scherz mit einem höflichen Lächeln.

    Das Bemühen mancher Autisten um guten Umgang widerspricht der Lehrmeinung, nach der Autismus als eine Art angeborener Seelenblindheit erklärt wird. Der britische Psychologe Simon Baron-Cohen hat dafür den Begriff "mind blindness" aufgebracht. Autisten seien unfähig, sich in andere Menschen zu versetzen. Sie könnten deren Verhalten weder nachempfinden noch vorausahnen. Selbst eine Konversation über das Wetter, so Baron-Cohen, gehe darum meist schon über ihre Kräfte.

    Umso besessener sind Autisten oft, wie nach dem Kinofilm "Rain Man" allgemein bekannt ist, von Zahlenreihen, Regeln und Mustern aller Art. Baron-Cohen sieht darin das typisch männliche Systemdenken, allerdings in krass übersteigerter Form. Nicht von ungefähr, sagt er, sind vier von fünf Autisten Männer. Jegliche Einfühlung, als ein eher weibliches Vermögen, sei ihnen versagt.

    Kamran Nazeer hält diese Theorie "entschieden für falsch - und nicht nur, weil sie unsereinen in die Isolation verdammt". Für ihn ist Autismus kein Verhängnis, sondern eine Entwicklungsstörung, die sich - in Grenzen - durch Übung beheben lässt. "Was anderen Menschen als Intuition wie von selbst zufällt", sagt er, "müssen Autisten eben Schritt für Schritt einpauken."

    Und wenn seinesgleichen oft wie zwanghaft Gehwegplatten zählt oder mit den Fingern an Tischkanten entlangtrippelt, dann nicht aus Begeisterung für kalte Systeme, sondern aus Not. Autisten brauchen quasi Inseln der Ordnung, auf die sie sich retten, wenn die Reizflut zu übermächtig wird. Nazeer selbst hat immer eine Kabelklemme in der Tasche, falls er zur Beruhigung ein bisschen fummeln muss. Und Craig, der Redenschreiber, fühlt sich als Gast in fremden Wohnungen erst halbwegs sicher, wenn er ein paar Bücher alphabetisch sortieren durfte.

    Mit solchen Schrullen erholen sich Autisten von der Bedrängnis des Ausgesetztseins: Sie konzentrierten sich auf das Einfache, sagt Nazeer, "alles andere tritt dann in den Hintergrund".

    Besonders häufig kommen diese Mittel in Gesprächen zum Einsatz. "Konversation ist für Autisten ein Extremsport", sagt Nazeer. "Wir müssen hart arbeiten, allein schon um mitzukriegen, was sich im Gesicht des Gesprächspartners abspielt. Aber man lernt viel, wenn man plaudern kann, es ist eine gute Herausforderung. Und die Menschen schätzen es, wenn man sich Mühe gibt. Autisten sind es ja eher gewohnt, für andere eine Zumutung zu sein."

    Ein Problem für die Mitwelt war der Autismus schon lange, bevor es den Begriff gab. Eine frühere Lehrerin des Autors weist im Buch auf die vielen Geschichten von unheimlichen, ungebärdigen Kindern


    hin, vor denen sich vergangene Jahrhunderte gruselten - von den Wechselbälgern, die böse Geister anstelle der rechtmäßigen Säuglinge in die Wiegen legten, bis hin zu den wilden Wolfskindern, die hie und da in den Wäldern auftauchten: Der kleine Victor von Aveyron etwa, der 1797 in Südfrankreich gefunden wurde, konnte nicht sprechen, erkannte sein Spiegelbild nicht und hatte häufig Wutanfälle. In Wahrheit, vermutet die Lehrerin, kommen in solchen Geschichten frühe, noch unverstandene Autisten zum Vorschein.

    Steckt vielleicht auch in der Annahme, Autisten seien seelenblind und darum kaum gesellschaftsfähig, noch etwas von dem alten Abwehrreflex? "Man unterstellt uns ja gern, dass wir Unterhaltungen, Gefühle, Anteilnahme bestenfalls zu simulieren lernen", sagt Nazeer. Die Theorie der "mind blindness" sieht Autisten eher wie schlecht programmierte Roboter. Nazeer dagegen ist überzeugt, dass auch sie im Prinzip die Fähigkeit besitzen, intuitiv etwa die Gefühle in den Gesichtern der Mitmenschen zu lesen - wären sie nur imstande, die Überfülle der Informationen zu bewältigen.

    In der Tat ist auffällig, dass Autisten immer dann besonders schlecht abschneiden, wenn ihnen Filme von Gesichtern in Bewegung gezeigt werden. Mit Fotos geht es schon besser. Und bei Strichgesichtern sind Autisten sogar in der Lage, mit anderen Menschen gleichzuziehen.

    Das zeigte eine Studie, die im vergangenen Jahr an der Yale-Universität vorgenommen wurde. Die Forscher zeichneten dafür die Hirnaktivitäten eines autistischen Jungen auf, der sich für Comic-Figuren interessierte. Wenn sie ihm realistische Fotos von Gesichtern vorlegten, war die Reaktion erwartungsgemäß bescheiden - noch ein wenig schwächer als bei Möbelstücken. In der Region des Gehirns, die auf die Gesichtserkennung spezialisiert ist, tat sich gar nichts. Zeigten die Forscher dem Jungen jedoch vereinfachte Piktogramme von Gesichtern, klar und deutlich wie in einem Comic, regten sich im Denkorgan des Autisten die gleichen Areale wie bei einem normalen Kind.

    Das Vermögen, mit menschlicher Mimik umzugehen, ist offenbar bei Autisten nicht prinzipiell erloschen. Therapeuten machen sich das in der Praxis schon länger zunutze: Kinder trainieren zunächst mit denkbar schlichten Gesichtern, dann wird die Menge der Informationen, die auf sie einstürmen, schrittweise erhöht. So lernen sie allmählich Gefühle lesen. Die Frage ist nur: Wird das immer ein unbeholfenes Buchstabieren bleiben? Oder können Autisten lernen, auf die freundliche oder ängstliche Miene des Gegenübers mit eigenen Emotionen zu antworten?

    Nichts ist ausgeschlossen, findet Maria Kaminski, Vorsitzende des Bundesverbandes Autismus: "Es ist traurig, dass viele Betroffene immer noch viel zu nachlässig gefördert werden." Kaminski hat ihrem Sohn Daniel über viele Jahre so was wie Humor eingetrichtert: "Daniel! Das ist ein Witz! Lachen! Haha!" Der Sohn, inzwischen 30, lacht jetzt schon oft an den richtigen Stellen. Aber woher weiß die Mutter, dass Daniel die Pointen auch versteht und nicht nur ihr zu Gefallen das Gesicht verzieht? "Nun", sagt Kaminski, "er macht jetzt selbst Witze."

    Solche Lernerfolge überraschen umso mehr, als der Autismus, wie man heute weiß, das ganze Gehirn erfasst und umbildet (siehe Grafik Seite 157). Die weiße Hirnmasse beispielsweise ist bei den Betroffenen im Übermaß vorhanden. Sie besteht aus den Nervenleitern, mit denen die Hirnzellen untereinander vernetzt sind. Nach wie vor ist aber unklar, ob die Veränderungen im Gehirn die Entwicklungsstörung hervorbringen oder eine Reaktion darauf sind.

    Auffällig ist jedenfalls, dass Autisten ungewöhnlich viele Verbindungen innerhalb einzelner Hirnregionen aufweisen; auf der Langstrecke aber, von Region zu Region, sind sie dürftig ausgestattet. Das könnte erklären, warum sie überempfindlich für Details sind, aber schlecht etwa bei der intuitiven Wahrnehmung, die das Zusammenspiel vieler Hinregionen erfordert.

    Dennoch sprechen viele Autisten, das gilt mittlerweile als ausgemacht, gut auf Förderung an. Freundliche Gemütstiere wie Ponys oder Delphine erleichtern Kindern den Einstieg in den Umgang mit anderen Lebewesen. Den nachhaltigsten Erfolg aber erzielen - wie langwierig auch immer - Therapien, die gezielt soziales Verhalten einüben. Dabei zeigen sich mitunter auch überraschende Zugänge zur Welt der Intuition. "Wir erleben gerade mit Staunen, wie gut das Rollenspiel angenommen wird", sagt die Bremerhavener Therapeutin Christiane Arens-Wiebel. Kleine Kinder sollen da zum Beispiel vorführen, wie jemand, der gerade etwas Ekliges sieht, sich wohl schütteln würde. Und sie tun das geradezu mit Eifer. "Nie hätten wir gedacht", sagt Arens-Wiebel, "dass unsere Autisten so was überhaupt können."

    André, der Puppenspieler, weiß schon lange, welche Erleichterung es ist, in fremde Rollen zu schlüpfen: Seine Figuren lässt er Dinge sagen, die sonst über seine Kräfte gingen. Für Craig, den Redenschreiber, gilt vermutlich das Gleiche. Der Mann, der tonlos und automatenhaft spricht wie viele Autisten, legt seinen Auftraggebern feurige Reden in den Mund - auch eine Form des Puppenspiels. "Keiner kann mir erzählen", sagt sein Freund, der Autor Nazeer, "dass Craig diese Leidenschaft nicht auch irgendwo in sich hat."

    Noch weiß niemand, wie weit die Anverwandlung gelernter Emotionen gelingen kann. Die vier Jungen aus der New Yorker Autisten-Klasse gehören zur ersten Generation, die systematisch gefördert wurde. "Geben Sie uns noch einmal 20 Jahre", sagt Nazeer mit feinem Lächeln, "dann werden wir sehen." MANFRED DWORSCHAK

    * Szene aus "Rain Man" (1988) mit Tom Cruise und Dustin Hoffman. ** Kamran Nazeer: "Send in the idiots - Stories from the other side of autism". Bloomsbury Publishing, New York; 232 Seiten; 23,95 Dollar.



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