Vegetarismus und das jüdische Gesetz

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    Re: Vegetarismus und das jüdische Gesetz

    Xantos - 06.01.2008, 16:13

    Vegetarismus und das jüdische Gesetz
    Vegetarismus und das jüdische Gesetz

    Die Grundpfeiler, auf denen die jüdische Lehre und ihre Gesetze aufgebaut sind, werden zuweilen in zwei Kategorien aufgeteilt: dem geschriebenen Gesetz (der jüdischen Bibel) und dem mündlichen Gesetz.

    Gemeint ist mit dem geschriebenen Gesetz die hebräische Bibel, die Tora (das Alte Testament). Zum mündlichen Gesetz werden Schriften wie der Talmud gezählt. Im Talmud sind Schriften aus über siebenhundert Jahren (etwa 200 v. Chr. bis 500 nach Chr.) gesammelt. Die Texte wurden ursprünglich mündlich weitergegeben, woraus sich die obige Unterscheidung ableitet. Zur zweiten Kategorie gehören verschiedene weitere Kommentare und rabbinische Schriften, die als heilig gelten.

    Die jüdische Bibel (Tora) bleibt die unveränderliche Grundlage, während die in der Tradition befindlichen Werke, die sich andauernd verändernden Bedingungen berücksichtigt. Dieses System hat das Judentum bis in die heutige Zeit lebendig und lebensnah erhalten, und weist in dieser Hinsicht Parallelen zu der vedischen Tradition auf (vergleiche auch Kap. 1.5. und 2.5. hiernach).

    Das heutige orthodoxe Judentum lehrt die vegetarische Ernährung generell nicht als biblischen Grundsatz. Unbestritten ist jedoch, dass in Tora und Talmud sowohl die ursprüngliche Ernährung in der jungen und unversehrten Schöpfung, als auch die Ernährung im zukünftigen messianischen Zeitalter als vegetarisch beschrieben wird.

    Als erste Speiseregel für den Menschen gilt Genesis 1.29:

    Und Gott sprach: ”Siehe, ich gebe euch alles Kraut, das Samen trägt, auf der ganzen Erde, und alle Bäume, an denen samenhaltige Früchte sind; das soll eure Speise sein.“

    Viele jüdische Gelehrte sind aufgrund dieser Unterweisung der Auffassung, dass Gott den Menschen ursprünglich zu einer vegetarischen Ernährung auffordert. Im frühen 20. Jahrhundert hält beispielsweise Moses Cassuto in seinem Kommentar Von Adam zu Noah (Seite 58) fest: ”Es ist gestattet, Tiere zu nutzen, sie für die Arbeit zu gebrauchen, und sie soweit zu beherrschen, als wir ihren Dienst in die Erhaltung unseres Daseins stellen. Aber wir dürfen ihr Leben nicht als gering erachten oder sie abschlachten, um sie zu verzehren. Unsere natürliche Ernährung besteht im Vegetarismus.“

    Der Talmud pflichtet dieser ursprünglichen Ernährungsform zu (Sanhedrin 59b): ”Adam war es nicht gestattet, sich von Fleisch zu ernähren“.

    In der Harmonie dieser noch jungen Schöpfung scheint der Vegetarismus die ideale Ernährungsform darzustellen, denn im nächsten Vers wird auch die Ernährung der Tiere als vegetarisch beschrieben (Genesis 1.30):

    ”Aber allen Tieren der Erde und allen Vögeln des Himmels und allem, was sich regt auf der Erde, was Lebensodem in sich hat, gebe ich alles Gras und Kraut zur Nahrung. Und es geschah also.“

    Als das Schöpfungswerk nun fast vollbracht ist, folgt die Feststellung (Genesis 1.31):

    ”Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. Und es ward Abend und ward Morgen: der sechste Tag.“

    Deutlich wird hier eine Harmonie spürbar, welche den Schöpfer, die Schöpfung und alle Geschöpfe mit einbezieht. Doch im Laufe der Zeit, wandelt sich das Gesicht der Erde. Die Zügellosigkeit der Menschen und damit auch die Gewalt untereinander und gegenüber den Tieren nimmt zu. Die Erzählung Noahs weist unmissverständlich auf diesen Zerfall hin (Genesis 6.12):

    ”Da sah Gott auf die Erde, und siehe, sie war verderbt; denn alles Fleisch hatte seinen Wandel verderbt auf Erden.“

    Die in der Folge stattfindende Sintflut lässt ein Bild der Verwüstung hinter sich. Und selbst als Gott nun einen Bund mit Noah und seinen Nachkommen errichtet, fehlt darin ganz und gar die Harmonie, die in den jungen Tagen der Schöpfung die Beziehung trägt. Vielmehr ergeht die Unterweisung nun an eine Menschheit, die schwach und von Gott abgefallen ist (Genesis 9.2):

    ”Furcht und Schrecken vor euch komme über alle Tiere der Erde, über alle Vögel des Himmels, über alles, was auf Erden kriecht, und über alle Fische im Meer: in eure Hand sind sie gegeben.“

    Zu diesem Vers bemerkt Rabbi Samson Raphael Hirsch, ein bekannter Thora Gelehrter des 19. Jahrhunderts, dass nunmehr die frühere Zuwendung zwischen Mensch und Tier gebrochen ist. Dieser Bruch läutet gleichzeitig einen Wechsel der Beziehungen unter den Menschen ein.

    In diesem Umfeld nach der Sintflut verkündet Gott nun ein neues Speisegesetz (Genesis 9.3.):

    ”Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise; wie das Kraut, das grüne, gebe ich euch alles.“

    Zahlreiche jüdische Gelehrte betrachten dieses Gotteswort als ein Zugeständnis an eine Menschheit ”wie sie ist“ und nicht ”wie sie sein sollte“. Isaac Kook (erster Oberrabbiner des neuen Staates Israel) kommentiert diese Erlaubnis zum Fleischverzehr in seiner A Vision of Vegetarianism and Peace (editiert von Rabbi David Cohen, The Nazir) lediglich als zeitweilig. Seiner Meinung nach sollte diese Erlaubnis es verhindern, dass eine Menschheit, der es unmöglich geworden war, ihre Lust auf Fleisch zu kontrollieren, noch weiter degenerierte, indem sie womöglich gar zu Menschenfressern würde. Dadurch dass Gott die Menschheit deutlich vom Tier unterschied, sollten die Menschen dazu angespornt werden, zumindest sich untereinander nicht mehr zu töten.

    Ein ähnliche Ansicht vertritt der jüdische Mystiker Joseph Albo (15. Jahrhundert). Da die Lust der Menschen nach Fleisch zu groß geworden war, würde ein bedingtes Zugeständnis, diese Lust kontrollieren helfen. Im Hinblick auf den ”Ist-Zustand“ der Menschheit könnten diese Erlaubnis und die damit verbundenen Einschränkungen verhindern, dass die Menschen sich vollkommen einer Lust zuwandten, die bereits vorher (vor der Sintflut) zu Unheil geführt hatte.

    Und bereits Nachmanides lehrte im 12. Jahrhundert, die Heiligkeit durch den Verzicht auf das, was erlaubt war: denn wer ständig Wein trinke und Fleisch esse, werde als Schurke der Thora-Erlaubnisse angesehen.

    Diese Auslegungen werden dadurch gestützt, dass der Fleischverzehr starken Einschränkung unterzogen ist (Genesis 9.4):

    ”Nur Fleisch, das seine Seele - sein Blut - noch in sich hat, dürft ihr nicht essen.“

    Die jüdische Lehre setzt den Begriff Blut mit dem Begriff Leben gleich. So darf diese Einschränkung als Aufforderung zur Ehrfurcht vor dem Leben verstanden werden. Wer die Kashrut-Gesetze einhält, wird sehr direkt mit der blutigen Realität des Fleischverzehrs konfrontiert. Es gibt viele rabbinische Kommentare zu den jüdischen Speiseregeln, welche darauf hinweisen, diese Erlaubnis zum Fleischverzehr unter ganz bestimmten Umständen, solle das Bewusstsein der Menschen für das göttliche Prinzip des Lebens erwecken, - das natürlich auch den Tieren eigen ist -, und sie ihre Lust und das damit verbundene Töten überwinden lassen.

    Im Talmud wird direkt darauf hingewiesen, dass der Verzehr von fleischlicher Nahrung von einer negativen Bedeutung begleitet ist:

    ”Die Tora erteilt uns eine Lektion in moralischem Verhalten -, der Mensch soll kein Fleisch essen, ohne dass er ein besonderes Verlangen danach hat ... und er soll es nur gelegentlich und selten essen.“ (Chulin 84a)

    ”Je mehr Fleisch, desto mehr Würmer.“ (Pirke Avoth II,7)

    Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Wortverwandtschaft, auf die Steven Rosen in seinem Buch Die Erde bewirtet euch festlich (Adyar 1992, ISBN 3-927837-41-5) hinweist:

    ”Bemerkenswert ist, dass in der ostindischen Überlieferung der Sanskritausdruck m’leecha unsere westliche Kultur bezeichnet. Es ist dies ein Hinweis auf den im Westen weit verbreiteten Verzehr von Fleisch und andere ungute Eigenschaften. Und ebenso bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das hebräische m’leecha, das, ähnlich ausgesprochen wie m’leecha, das Reinheitsphänomen (Kaschrut) insgesamt bezeichnet. Für die alten Hebräer war die Verwandtschaft dieser beiden Wörter kaum überraschend, denn ihr eigenes Wort für ”Fleisch“ (basar) wurde von den Talmud-Gelehrten als Zusammensetzung der Buchstaben bet (Schande), sin (Verderbnis) und resh (Würmer) dargestellt.“ (S. 72/73).

    Ähnlich wie die Erlaubnis in Gen. 9.3. keine Rechtfertigung des Fleischkonsums, sondern im Hinblick auf die Kaschrut-Gesetze wie oben ausführlich gezeigt eine Hinführung zum ethischen Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben darstellt, verhält es sich auch mit den Regulierungen zur rituellen Schlachtung von Tieren, den Schechitah Gesetzen. In der Erlaubnis zum Fleischverzehr und der Schlachtopferung darf sicherlich eine starke Neigung zur Anthropozentrik gesehen werden. Dennoch, immer im Lichte einer Realität gesehen, in der die Menschen mit Tieren nach Lust und Laune verfahren, wird im Judentum Schechita und Kaschrut als Ansatz für ein Tiertötungsethos gesehen. Die rituelle Schlachtmethode stellt die Forderung, alles zu vermeiden, was einer rohen Behandlung gleichkäme oder das Tier verletzen könnte. Würde diese Forderung konsequent durchgeführt, dürfte es keine Schlachtung geben. Die vielen Auflagen im jüdischen Speisegesetz sind lediglich ein erster Schritt in diese Richtung.

    Von Rabbi Yishmael ist hierzu im Talmud (Baba Bathra 60b) folgende Feststellung überliefert: ”Von dem Tage an, als der Heilige Tempel zerstört wurde, wäre es rechtens gewesen, wenn wir uns ein Gesetz zum Verbot des Fleischverzehrs auferlegt hätten. Doch die Rabbis haben weise entschieden und erkannt, dass die Bestimmenden keine Gesetze erlassen dürfen, die von der Mehrheit der Gesellschaft nicht eingehalten werden kann. Sonst würden sowohl Gesetz als auch Verwalter lediglich in Verruf graten.“

    Ein jüdischer Gelehrter neuerer Zeit, Rabbi Samuel H. Dresner, hält denn auch fest, der Kaschrut drücke vorrangig eine Art Kompromiss aus. Der Mensch solle idealerweise überhaupt kein Fleisch essen, denn um Fleisch zu essen, müsse Leben zerstört, Tiere getötet werden. Er interpretiert die Erlaubnis zum Fleischverzehr als göttliche Gewährung, als extreme Massnahme gegen die Zügellosigkeit und Dummheit der Menschen.

    Richard H. Schwartz, dem wir in der modernen Zeit wohl die ausführlichsten Kommentare und Sammlungen an jüdischen Gedanken zur vegetarischen Tradition zu verdanken haben, weist sogar darauf hin, dass manche Rabbis das Verbot in Genesis 9.4. in Verbindung mit dem nachfolgenden Vers 9.5. als Warnung Gottes verstehen, der darin den Fleischverzehr als eine langsame Form des Suizids erklärt.

    ”Euer eignes Blut aber will ich einfordern; von allen Tieren will ich es einfordern, und von den Menschen untereinander will ich das Leben des Menschen einfordern.“ (Gen. 9.5.)

    So herrscht ein ständiges Spannungsfeld zwischen der Forderung zur Ehrfurcht vor dem Leben, dem Mitleid und Schutz der Schwächeren auf der einen Seite, und der Schächtung und dem Verzehr von Tieren auf der anderen Seite. Dies tritt an vielen Stellen der jüdischen heiligen Texte zu Tage. In der Mischna wird beispielsweise folgende Geschichte erzählt:

    Einst flüchtete ein Kälbchen vor dem Schächter, als dieser es mit dem Schlachtmesser zu Tode bringen wollte. Es lief zum Rabbi Juda und suchte unter dessen Mantel Schutz. Doch der Rabbi wies es zurück: "Lass mich. Es ist deine Bestimmung geschlachtet zu werden!" Aufgrund der hier gelebten Härte ließ Gott ihn an einer langwierigen Krankheit erkranken, von welcher der Rabbi erst Heilung erfuhr, als er Schonung und Mitgefühl mit Tieren gezeigt hatte.

    Das Zugeständnis zum Fleischverzehr erweist sich bei näherem Hinsehen als eine Vorkehrung, eine Menschheit, die nicht in der Lage ist, das ursprüngliche Gesetz einzuhalten, soweit zu regulieren, dass sie sich Schritt für Schritt einem rechtschaffenen Verhalten annähern kann. Dies vor allem auch im Hinblick auf das kommende messianische Zeitalter des Friedens, der Barmherzigkeit und der Gnade, auf das sich das Judentum freut.

    Schonung und Mitgefühl mit den Tieren, sie zu beschützen und ihnen kein Leid zuzufügen sind Absichten, die sicherlich erst dann erfolgreich verwirklicht werden können, wenn ihr Leben als wertvoller erkannt wird, als die Freude eines kurzen Gaumenkitzels.

    Rabbi Kook lehrt denn auch, die Wirkung der Erkenntnis werde sich zur Zeit des Messias selbst auf die Tiere ausbreiten und die Harmonie in Gott würde wie in den ersten Tagen sein, als die Geschöpfe einander noch nicht nach dem Leben trachteten. Er glaubt genau wie Rabbi Albo daran, dass die Menschen sich in den Tagen so sehr weiter entwickeln würden, dass sie kein blutiges Unrecht mehr begehen und zur vegetarischen Ernährung zurückkehren würden. Diese Überzeugung wird ähnlich wie im Christentum (vgl. Kapitel 6.7 hiernach) durch die Verheißung in Jes. 11.5.-9. gestützt:

    "Gerechtigkeit wird der Gürtel seiner Lenden und Treue der Gurt seiner Hüften sein. Da wird der Wolf zu Gast sein bei dem Lamme und der Panther bei den Böcken lagern. Kalb und junger Löwe weiden beieinander, und ein kleiner Knabe leitet sie. Kuh und Bärin werden sich befreunden, und ihre Jungen werden zusammen lagern; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Der Säugling wird spielen am Loch der Otter, und nach der Höhle der Natter streckt das kleine Kind die Hand aus. Nichts Böses und nichts Verderbliches wird man tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn voll ist das Land von Erkenntnis des Herrn, wie von Wassern, die das Meer bedecken".



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