Verfügbare Informationen zu "Diagnose: Kapitalismus"
Qualität des Beitrags: Beteiligte Poster: macho iberico Forum: Breakout Forum Forenbeschreibung: Alternativer Veranstaltungskalender für Wels, Oberösterreich etc. aus dem Unterforum: Politik Antworten: 1 Forum gestartet am: Donnerstag 17.08.2006 Sprache: deutsch Link zum Originaltopic: Diagnose: Kapitalismus Letzte Antwort: vor 15 Jahren, 4 Monaten, 13 Tagen, 5 Stunden, 54 Minuten
Alle Beiträge und Antworten zu "Diagnose: Kapitalismus"
Re: Diagnose: Kapitalismus
macho iberico - 07.01.2009, 14:41Diagnose: Kapitalismus
Hier ein toller Text von Horst Stowasser, der sich mit dem Thema "Krise" aus anarchistischer Sicht beschäftigt:
Diagnose: „Kapitalismus“
Vom Krankheitsbild eines absurden Wirtschaftssystems und der Aktualität einer anarchistischen Alternative -
Von HORST STOWASSER, 17.Dezember 2008:
Krise? Was für ‘ne Krise, bitteschön? „Entscheidungssituation, Wende-,
Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung“ bietet der Duden als erste
Definition dieses Wortes an. Von alldem sehe ich weit und breit nichts.
Leider.
Hätten wir doch eine Entscheidungssituation! Aber wirklich
entschieden wird nichts, alles geht im Grunde weiter wie gehabt – business as usual.
Und Wendepunkt gar? Pustekuchen!
---Wohin denn auch? Hat irgendjemand eine wirklich andere Richtung, zu der sich alles wenden könnte?
---Zum Besseren – zum Guten gar?
Ratlosigkeit laboriert
Die desavouierten Wirtschaftsliberalen hocken rechthaberisch schmollend
im Trotzwinkel, Banken und Unternehmer halten ungeniert die Hand auf,
die Staatsführungen füllen diese generös mit Billionen, die etablierte
Politik zieht ein klein wenig die Staatszügel an – und ansonsten wird laboriert.
Kurzatmig, ja geradezu in asthmatischer Panik, auf den Moment bedacht:
Alles schön zudecken, nur nichts aufdecken, es war doch nur ein kleiner
Ausrutscher, s’wird halt schon weitergehen wie bisher.
Heile, heile
Segen…
---Und die Linke? Die
frohlockt schon mal vorschnell, der Kapitalismus sei am Ende.
Von
wegen. In Wirklichkeit auch hier null Neues.
Woher denn auch! Wollen
doch die verbliebenen Linken im Grunde nichts anderes, als die
Positionen besetzen, auf denen früher einmal die Sozialdemokratie
hockte.
Und so rattert die rhetorische Gebetsmühle und sondert
altbekannte Statements ab: Der Kapitalismus funktioniert nicht so recht
– wir können es besser! Bonzen und Manager sind schamlos reich – her
mit ihrem Geld für die Hartz-IV-Empfänger! Die profitgeile Wirtschaft
vernichtet Arbeitsplätze – wir fordern Arbeit für alle! Restriktive
Steuerpolitik begünstigt bloß die Reichen – linke Konsumpolitik wird
endlich wieder Wachstum bringen!
---Besser machen – umverteilen – Vollbeschäftigung – Wachstum… Ist da irgendwo irgendetwas Neues in
Sicht? Ein Umdenken, ein Paradigmenwechsel, Visionen gar? I wo.
Besser
machen! Umverteilen! Vollbeschäftigung! Wachstum! Wenn einen da nicht
der Brechreiz übermannt. Oder die Verzweiflung.
Weil doch recht
eigentlich folgendes klar ist: Dass die menschenverachtende
kapitalistische Weltunordnung nicht verbessert gehört, sondern durch etwas Besseres ersetzt.
Dass asoziales Eigentum eine Obszönität ist, die nicht umverteilt werden, sondern einem System des sozialen Besitzes weichen sollte.
Dass nicht volle Lohnarbeit eine dem Menschen angemessene Daseinsform ist, sondern gar keine.
Dass die Chance des Überlebens auf diesem Planeten nicht auf mehr Wachstum gründet, sondern auf weniger.
---Aber wer redet in
einer Gesellschaft, deren Fortschrittsreligion seit Generationen
„Wachstum!“ heißt, schon gerne vom Schrumpfen… Und vor allem: wer hätte
dazu die passenden Modelle?
---Nur ganz wenige.
---Dabei sind soziale
Modelle des wirtschaftlichen Schrumpfens heute wichtiger denn je – ihr
Fehlen wird in den kommenden Jahrzehnten zu dramatischen Problemketten
führen, die niemand mehr mit Reformen, Umverteilen, Arbeitspolitik und
Wachstum in den Griff bekommen wird.
---Also noch mal: Wo ist die Krise? Und was soll das überhaupt sein?
---Das Wort ergibt doch nur als Ausnahmeerscheinung einen
Sinn und zwar insofern, als es vor und nach der Krise eine krisenfreie
Normalität gäbe.
Hier greift die Duden-Definition Nummer zwei:
„gefährliche Situation“.
---Okay, die haben wir zweifellos.
---Aber worin besteht sie?
---Darin, dass irgendwelche irrationalen Spekulationsblasen platzen oder darin, dass wir ein hochgradig irrationales Wirtschaftssystem haben? Darin, dass sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt oder darin, dass dieses Wachstum Schritt für Schritt die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten zerstört? Darin, dass die Wirtschaft nicht für jeden Menschen einen Arbeitsplatz hat oder darin, dass die kapitalistische Lohnarbeit an
sich ein brutaler Anachronismus ist, der angesichts der Entwicklung von
Ressourcen und Produktivkräften zunehmend sinnlos wird?
Das System ist die Krise
Krise als „gefährliche Situation“ – wenn wir diese Definition
akzeptieren wollen, dann kommen wir zwangsläufig zu einer trivialen
Feststellung:
---Die „gefährliche
Situation“ besteht nicht in einer sogenannten „Währungskrise“, nicht in
periodischen De- und Inflationen, nicht in Absatzkrisen von Automobilen
oder steigenden Ölpreisen, sondern im System an sich: In seiner
unersättlichen und inhaltsleeren Gier nach Profitmaximierung.
In seiner
verschwenderischen Vergeudung von Menschen, Umwelt und Ressourcen.
In
seiner geistlosen Unterwerfung alles Humanen, Schöpferischen und
Lebenswertem unter das tumbe Diktat des Geldes.
---Das heißt: Die „gefährliche Situation“ besteht ständig, oder anders ausgedrückt: Das System ist die Krise und diese Krise ist ein permanenter Zustand.
Wir sprächen demnach nicht – hoppla! – von einem Ausrutscher, sondern von einer chronischen und lebensbedrohenden Krankheit.
hunger---Wenn
dies aber so ist – was wäre dann das, worüber sich die Welt in den
letzten Monaten so furchtbar aufgeregt hat? Börsenkrach, Währungskrise,
Rezession – sind das Ursachen für negative Auswirkungen, um die sich die Politik kümmern muss oder Auswirkungen, deren Ursachen die Menschheit ein für alle Mal beseitigen sollte?
---Hier hilft der Duden
schlussendlich mit seiner dritten Definition von „Krise“, und die ist
pikanterweise eine medizinische: „Schneller Fieberanfall als Wendepunkt
einer Infektionskrankheit“.
---Ich finde, das passt.
---Unser gesamtes
wirtschaftliches System ist die lückenlose Kette einer einzigen
Krankengeschichte und das, was wir als „Krise“ bezeichnen, nichts
weiter, als ein neuerlicher Fieberschub.
Die Anamnese dieser Krankheit
heißt Herrschaft, die Diagnose Kapitalismus und die Prognose Wendepunkt
oder Tod.
Krankheit ohne Therapie
Und wie sieht es mit der Therapie aus? Es gibt keine.
Zumindest nicht
dort, wo heutzutage Meinungen produziert und Entscheidungen gefällt
werden: in den Zentren der Macht.
Was dort ausgebrütet wird, ist
Hektik, Kosmetik, Hilflosigkeit und kurzsichtiger Aktionismus.
Etwa so,
wie wenn man eine grassierende Gürtelrose mit Nivea-Creme oder eine
Amöbenruhr mit Aspirin therapieren wollte.
---Da wird zum Beispiel
versucht, die todgeweihte Automobilindustrie zu retten, indem man den
Absatz von Automobilen kurzfristig ankurbelt – mit Bürgschaften,
Steuergeschenken und Lockerung von Umweltstandards.
Das ist etwa so
originell, wie wenn Kaiser Wilhelm im Jahre 1910 versucht hätte, das
Kutschenbaugewerbe mit Geld aus seiner Privatschatulle vor dem
Niedergang zu bewahren.
Auch das Auto, wie wir es kennen, ist ein
Auslaufmodell, das es in zehn, zwanzig Jahren nicht mehr geben wird,
und das Verbrennen fossiler Energien zum Zwecke der Fortbewegung eine
völlig obsolete Steinzeittechnologie.
Ob wir uns anders fortbewegen, ob
wir den Transport von Gütern reduzieren und vernünftiger organisieren
könnten, all das ist im politischen Mainstream kein Thema.
---Da werden mittels
geostrategischer Kriegsszenarien und immer sophistischerer
Prospektionstechniken alle Anstrengungen unternommen, sich den Zugriff
auf die allerletzten Öl- und Gasvorkommen zu sichern.
Dabei ist klar,
dass im gegenwärtigen Wirtschaftssystem die Menschheit nicht eher ruhen
wird, als bis auch das letzte Quentchen fossiler Energie verbrannt sein
wird.
Ob dies noch 50 Jahre dauern wird oder, wenn wir ganz, ganz
tüchtig Energie „einsparen“ 100 oder 150 Jahre, ist für die Natur
völlig unerheblich und spielt bei den Auswirkungen auf das Weltklima
nicht die geringste Rolle.
Denn hier rechnen wir in Jahrtausenden und
was zählt, ist einzig die absolute Menge, egal, wie lange sie
„gestreckt“ wird.
Über die Absurdität unseres Energieverbrauchs an
sich, über unsere Lebens-, Produktions- und Distributionsweisen jedoch,
macht sich in den Zentren der Macht niemand ernsthaft Gedanken.
---Da wird mit allen
möglichen Stimulanzen, Subventionen und Drohszenarien die Schaffung von
Arbeitsplätzen angeregt und die Illusion am Leben erhalten, der
Normalzustand einer Volkswirtschaft sei die Vollbeschäftigung und alles
andere eine bedauerliche Ausnahme.
Dabei ist es völlig offensichtlich,
dass angesichts der weltweiten demografischen Entwicklung und des
heutigen Produktivpotenzials ein „Arbeitsplatz an sich“ längst zu einem
inhaltsleeren Unsinn geworden ist.
Die merkwürdige Idee, das Recht auf
eine menschenwürdige Existenz heute noch an die Ausübung von
produktiver Arbeit zu koppeln, entspricht einem Weltbild, das irgendwo
zwischen alttestamentarischem Dräuen und calvinistischem Puritanismus
stehengeblieben ist.
Die Alternativen zu diesem Anachronismus liegen
auf der Hand und könnten der Menschheit ohne weiteres eine
Wirtschaftsordnung ermöglichen, in der man nur noch drei, vier Stunden
am Tag arbeiten müsste, und in der Kreativität, Muße und humane Werte
wieder einen dem Menschen angemessenen Stellenwert einnähmen.
Aber
hierüber auch nur nachzudenken ist in der Welt unserer Eliten und
Entscheidungsträger als „utopisch“ verpönt.
---Da wird mit
Sparmaßnahmen, Haushaltsplänen und Finanzspritzen in Billiardenhöhe
versucht, den Irrsinn exponentieller Wachstumsmodelle in den Griff zu
kriegen, wie sie etwa für unsere Zinswirtschaft charakteristisch sind
oder für die Generierung von spekulativen Luftwerten im globalen Stock-Exchange-Business.
Wo doch längst evident ist, dass die in atemberaubend schnellem Tempo
sich drehende Schuldenspirale von Zins und Zinseszins von niemandem
jemals mehr zurückgezahlt werden kann und es an den Börsen schon seit
langem kaum noch um einen „Stock Exchange“ mit realen Waren und
Dienstleistungen geht, sondern um ein schnödes Hasardspiel mit
sogenannten „Werten“, hinter denen keinerlei reale Dinglichkeiten mehr
stehen.
Was übrigens keine Metapher ist – der Handel mit Swaps,
Derivaten und Optionen war in Deutschland noch vor wenigen Jahren – mit
Recht – als illegales Glücksspiel verboten.
Ob und wie man solcherlei
Monstrositäten abschaffen könnte, ist dort, wo die Mächtigen agieren,
nirgends ein Thema – stattdessen wird „Zinspolitik mit Augenmaß“
propagiert und über „effektive Kontrollmechanismen“ des
Börsengeschehens nachgedacht.
Exponentieller Nonsens
Das, was in den letzten Monaten in den Medien recht gedankenlos als
„Krise“ bezeichnet wurde, ist also im Grunde nichts weiter, als das
Aufplatzen der einen oder anderen Blase am Körper eines kranken
Wirtschaftssystems, das statt einem Pflästerchen einer radikalen
Therapie bedürfte, weil sich nämlich unter jeder Blase ein
ausgewachsenes Geschwür verbirgt.
---Jedes Mal, wenn eine
solche Blase platzt, ist das Gejammer groß, weil es manch einen juckt
und vielen anderen auch richtig wehtut.
Denen nämlich, die darauf
spekuliert haben, ein arbeitsloses Einkommen zu erzielen und daran
geglaubt haben, ihr Geld würde sich auf wundersame Weise
vervielfältigen.
---Die alberne Idee,
Geld könne „arbeiten“ und sich von selbst „vermehren“, wurde natürlich
von jenen cleveren Akteuren lanciert, die das Spiel vollständig
durchschauen – jenen Profi-Zockern, die am Ende immer absahnen.
Millionen einfacher Menschen haben dieses Märchen nur allzu gerne
glauben wollen und dabei das Naheliegende ausgeblendet: dass für jeden
Euro ihres Spekulationsgewinns am Ende irgendjemand irgendwo auf dieser
Welt wird bezahlen müssen – mit Arbeit, mit Schweiß oder auch mit Blut.
Kein Wunder, dass diejenigen Spekulationsdilettanten, die ihr Kleingeld
beim Börsengang der Telekom oder mit Lehman-Brothers-Zertifikaten
verbrannt haben, jedesmal von einer „Krise“ reden, wenn wieder mal eine
jener Blase platzt.
Und dass sie tüchtig heulen, wenn sie, statt von
der Ausbeutung anderer zu profitieren, selbst die Zeche bezahlen
müssen.
---Dabei ist es gar
nicht so schwer zu verstehen, warum weder Zinseszinsen noch
galoppierende Renditeperformances auf Dauer jemals werden funktionieren
können.
Man braucht dazu nur ein bisschen Common Sense –
gesunden Menschenverstand.
Denn beide beruhen auf der törichten
Fiktion, ein exponentielles Wachstum sei möglich und normal.
Dies geht,
wie die berühmte Geschichte mit den jeweils zu verdoppelnden
Weizenkörnern auf dem Schachbrett zeigt, weder in der Wirtschaft, noch
geht es in der Natur.
Unsere Umwelt lehrt uns, dass Wachstum stets in
wechselwirkenden Prozessen stattfindet, die sich gegenseitig begrenzen.
In der Tat kennt die Natur nur einen Fall von ungebremstem
exponentiellen Wachstum: den Krebs.
Der führt in der Regel zum Tod und gilt mit Recht als Krankheit.
Womit
wir wieder im Bilde wären – und bei jener Definition von Krise, die
sich selbst als eine pathologische Situation beschreibt.
Utopisch, frech und naiv
Es kann also nicht um Wachstum gehen, sondern um Schrumpfen.
Modelle
sind gefragt, die weniger brauchen und mehr bieten: Weniger
Verschwendung, Arbeit, Energie, Schmerz und Unterdrückung.
Mehr
Effektivität, Muße, Ökologie, Lebensfreude und Freiheit.
---Ich sagte eingangs,
dass nur ganz wenige hierzu passende Modelle anzubieten hätten.
Das
liegt ganz einfach daran, dass sich nur ganz wenige mit diesen Themen
beschäftigen und diese wenigen weder zu den Mächtigen zählen noch zum
Mainstream.
Im Gegenteil: sie gelten als Spinner und Utopisten,
bestenfalls als naiv.
Was ich – etwa aus dem Munde eines studierten
Ökonomen – ganz entschieden als eine große Auszeichnung verbuchen
würde.
Denn was stünde dem Anfang einer „radikalen“ – also
durchgreifenden – Therapie besser zu Gesicht, als eine gute Portion
jener erfrischenden, unvoreingenommenen und respektlos-direkten Form
von Naivität: geradeaus denken, respektlos hinterfragen und das
Naheliegende erwägen – wie ein Kind.
Wenn ich meiner elfjährigen
Tochter die Ökonomie dieser Welt erkläre, erfasst sie sofort das
Wesentliche: „Was für ein Schwachsinn!“ Spinner, Utopisten und Naive
standen stets am Beginn großer Ideen und nachhaltiger Umwälzungen; man
denke nur an die Demokraten, die vor zwei Jahrhunderten die naive Idee
diskutierten, ob der Mensch nicht vielleicht auch ohne einen
gottgewollten Souverän würde existieren können – vielleicht sogar
besser…?
---Wenn ich hier ganz
dezidiert eine Lanze für den naiv-direkten Denkansatz breche, so heißt
das keinesfalls, dass die wirtschaftlichen Ideen, die hierauf aufbauen,
naiv im landläufigen Sinne wären.
Ganz im Gegenteil: sie sind
strategisch fundiert, in sich schlüssig und auch im Detail wohl
begründet.
---Zu den wenigen, die
über echte Alternativen nachgedacht haben und auch heute noch
nachdenken, gehören seit jeher die Anarchisten.
Sie haben dabei nicht
nur ganz erstaunliche Modelle entwickelt, sondern der staunenden Welt
auch praktisch bewiesen, dass ihre Vorstellungen in modernen
industriellen Massengesellschaften tatsächlich funktionieren und eine
leistungsfähige, humane Alternative zum gemeinen Vulgär- und
Raubkapitalismus darstellen.
Allerdings sind hier drei Einschränkungen
angebracht:
---Erstens die Tragik,
dass ihr Experiment vom Faschismus militärisch niedergeschlagen wurde.
Zweitens die Tatsache, dass all dies über siebzig Jahre zurückliegt.
*
Und drittens die Crux, dass „der Anarchismus“ heute eine
vergleichsweise schwache Bewegung ist, die eher ein Schattendasein
führt und sich schwer tut, wieder die Rolle eines Impulsgebers zu
spielen, die sie einst partiell erfüllte.
Worin aber besteht das anarchistische Modell, was ist das Originelle an ihm?*
Die anarchistische Vision
Anarchistische Wirtschaft beruht auf einer „dezentralen Bedürfnisproduktion“.
Was heißt das?
---Zunächst einmal, dass Produzenten und Konsumenten selbst bestimmen,
was sie produzieren, wie sie produzieren und wie sie die Produkte
verteilen.
In staatlich-kapitalistischen Strukturen wäre das kaum
durchführbar – in dezentral-anarchischen Strukturen* hingegen bietet es
sich geradezu an.
Dort wäre ja die Gesellschaft ohnehin dezentral und
selbstverwaltet organisiert, dort wären Produzenten und Konsumenten
größtenteils identisch und dort bestünden günstige Voraussetzungen für
einen verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen, Arbeitsprozessen und
der Auswahl dessen, was wirklich gebraucht wird.
Da in einer
anarchischen Gesellschaft die Arbeiter gleichzeitig auch Besitzer ihrer
Produktionsmittel wären, könnte zum Beispiel die Belegschaft eines
Konzerns entscheiden, ihren Giganten zurückzubauen und „umzupolen“.
Der
einzelne Arbeiter baut heutzutage Autos oder Kampfjets ja nicht
unbedingt aus innerer Überzeugung, sondern weil er einen Arbeitsplatz
braucht, um Geld zu verdienen.
In einer Gesellschaft, die in allen
Bereichen auf freier, bewusster Entscheidung aufbaut, dürften nach
Meinung der Anarchisten gute Chancen bestehen, dass auch im
wirtschaftlichen Bereich die Produzenten andere Entscheidungen träfen
als heute die Konzerne.
Das gleiche gälte natürlich für Landwirtschaft,
Konsumgüter und Dienstleistungen.
---Genau betrachtet
wäre erst in dieser Bedürfnisproduktion das verwirklicht, was der
Liberalismus fälschlich für sich in Anspruch nimmt – dass sich nämlich
„der Markt“ frei entfaltet und gemäß den tatsächlichen Bedürfnissen der
Verbraucher produziert.
---Durch die dezentrale
Vernetzung einer solchen Gesellschaft würden viele Waren, Produkte und
Lebensmittel in der näheren Umgebung erzeugt und verbraucht.
Das könnte
ganz beträchtliche Transport-, Lager- und Logistikkosten einsparen.
Es
reduzierte den ökologischen Wahnsinn, dass viele Produkte aus reinen
Gründen eines Handelsgewinns um die ganze Erde hin- und
hertransportiert werden.
Gleiches ließe sich für die Weiterverarbeitung
von Rohstoffen erreichen, die sich heute – ebenfalls aus Gründen des
Profits – überwiegend die reichen Industrieländer gesichert haben.
Import und Export wären dann nur noch für Produkte nötig, die etwa nur
in bestimmten Klimazonen gedeihen oder an bestimmten Plätzen
hergestellt werden können.
Daher dezentrale Bedürfnisproduktion.
---Anarchistische
Wirtschaftstheoretiker gehen davon aus, dass in einer solchen Ökonomie
am Ende nur noch das hergestellt würde, was alle Menschen der Erde zum
Leben, zum Vergnügen und zur Bequemlichkeit brauchen.
Nicht mehr und
nicht weniger.
---Einigen mag das
jetzt bedenklich nach 'DDR-Wirtschaft' klingen: grau, phantasielos,
einheitlich und immer knapp.
In den Augen der Libertären ist das
allerdings barer Unsinn: Gerade in einer anarchischen Gesellschaft
werde es viel Raum für Individualität, Vielfalt und Phantasie geben,
und auch 'Luxus' sei kein Tabu – sofern es sich dabei nicht um
Protzerei auf Kosten anderer handelt, sondern um Freude am Schönen und
am Genuss.
In den verschiedenartigsten autonomen Mikro-Gesellschaften,
aus denen die anarchische Gesellschaft besteht, könnten sich
verschiedene Menschengruppen auch nach verschiedenen Konsumbedürfnissen
und Lebensgewohnheiten zusammenschließen: von bedürfnislos-grau bis
genussvoll-schrill.
Wer mehr konsumieren wolle, habe durchaus das
Recht, sich diesen Mehrkonsum zu erarbeiten.
Was jedoch nach
anarchistischer Meinung verschwinden soll, ist die Ausbeutung anderer
Menschen, denn libertäre Wirtschaft müsse eine Solidarwirtschaft sein, die nicht auf parasitärer Lebensweise aufbauen dürfe.
Eine Ökonomie des Verzichts?
Das bedeutet aber auch, dass wir nicht nur an „uns“ denken können,
sondern auch an den „Rest der Menschheit“.
Eine solche
Solidarwirtschaft müsste weltweit wirken, oder sie hätte ethisch
versagt.
Heute lebt der kleinste Teil der Menschen im Überfluss,
während der größte Teil nicht einmal genug zu essen hat.
---Heißt das, dass wir Verzicht üben müssen und verdammt wären, zu verarmen?
---Ja und nein.
Verzicht üben müssen wir ganz sicherlich, aber nicht etwa deshalb, weil
es nicht möglich wäre, allen Menschen ein lebenswertes Leben zu bieten,
und wir darum „unseren“ Reichtum zu verschenken hätten.
Wir werden so
oder so gezwungen sein, den manischen Konsumgalopp zu bremsen, wie wir
ihn in den westlichen Industrienationen pflegen, weil uns nämlich die
Verschwendungsorgie, in der wir leben, geradewegs in katastrophale
Sackgassen führt.
Das hat wirtschaftliche, ökologische und
demografische Gründe, und mit Anarchie überhaupt nichts zu tun.
Wenn
man bedenkt, dass es allein in Nordrhein-Westfalen mehr Kraftfahrzeuge
gibt als auf dem ganzen afrikanischen Kontinent, wird klar, dass es
nicht um moralische Fragen geht, sondern um Tatsachen: um den Irrsinn
unserer verschwenderischen Lebensweise, die unmöglich ein Modell für
die Menschheit sein kann.
In all den genannten Fällen konsumieren wir
nämlich mit ungedecktem Kredit – sowohl dem Geld als auch der Natur
gegenüber.
---Auf den
hemmungslosen Verbrauch von Energien und Ressourcen, auf Prestige-Luxus
und Konsumrausch als Ersatzbefriedigung für wirkliches Leben wird die
Menschheit also auf jeden Fall verzichten müssen, weil nämlich viele
Reserven, aus denen wir uns bedienen, schon bald erschöpft sein werden.
Ob das aber eine Verarmung bedeutet, ist zu bezweifeln.
Man
könnte auch das Gegenteil vermuten.
Die Überwindung der Sinnleere des
Alltags, des Trends zu Vereinzelung, Entfremdung und Vermassung, der
immer mehr Menschen in eine Art Ersatzbefriedigung treibt.
---Die Frage, vor der
wir heute stehen, ist also nicht, ob wir so weiterleben können wie
bisher, denn das können wir ganz eindeutig nicht.
Die Alternative
lautet, ob wir mit unserer Luxusyacht stilvoll in den Fluten eines
bescheuerten Systems untergehen, oder ob wir unser Schiff umtakeln und
einen neuen Kurs einschlagen.
Dieser neue Kurs bedeutet zwar einen
Verzicht auf einige Dinge und Gewohnheiten, aber nicht eine Verarmung
unseres Lebens.
Wir könnten stattdessen eine völlig neue Lebensqualität
gewinnen, die man nirgends für Geld kaufen kann, und vermutlich wären
bei entsprechender Organisation nicht einmal Abstriche beim
Lebensstandard hinzunehmen.
---Wie das? Durch Einsparung und Umverteilung.
Eine Ökonomie der Vernunft
Folgen wir der anarchistischen Wirtschaftsvision, so dürfen wir
annehmen, dass in einer Gesellschaft der konsequenten
Bedürfnisproduktion die Menschen solche Dinge herstellen werden, die
sie tatsächlich brauchen und haben wollen.
Diese Gesellschaft bräuchte
keine Rüstung mehr, keine Raumfahrttechnologie, keine Werbung, keine
künstlichen Modetrends, keine gewollt konstruierten Verschleißprodukte,
keine Prestigeausgaben, keine Kriege, keinen Superluxus für die
Superreichen, keinen unnützen Transport, keine Spekulationsgeschäfte,
keine staatliche Repräsentation, keine reichen Sozialparasiten, die auf
Kosten anderer ein arbeitsloses Einkommen genießen und so weiter…
Ebenso käme sie ohne Bürokratenheere aus, weil sie sich selbst
verwalten könnte, ohne Sozialhilfe und Arbeitslosengelder, weil sie ein
Solidarsystem kleiner Gruppen wäre, und vermutlich auch ohne den
eminent teuren Repressionsapparat von Justiz, Polizei, Strafvollzug.
Auch im aufgeblähten Medien- und Kommunikationsbereich würden die
Menschen vermutlich gerne auf einiges verzichten wollen.
---All das aber bindet
heute unglaubliche Mengen an Arbeitskraft, Kreativität, Ideen,
Ressourcen, Werten und Geld.
Für die Herstellung und Verteilung von
Waren, Lebensmitteln und Dienstleistungen wird schon heute der
geringere Teil menschlicher Arbeit aufgewendet – der größere Teil wird
verschwendet und verpufft in „Leistungen“, die entweder niemand
wirklich braucht, oder die auf andere Weise besser organisiert werden
könnten.
---Alle Jahre wieder
kursieren Studien amerikanischer und europäischer Universitäten, die
ausrechnen, wieviel Arbeitsstunden der Mensch bei einer konsequenten
Bedürfnisproduktion noch leisten müsste, um den Bedarf aller Menschen
der Erde zu befriedigen.
Wohlgemerkt: aller Menschen.
Und wir
sprechen hier nicht nur von der bloßen Ernährung, sondern von einem
anständigen Konsum- und Lebensstandard! Zur Zeit liegen diese Zahlen
zwischen drei und fünf Stunden täglich, manche Anarchisten kommen mit
ihren Rechenkunststücken sogar auf die phantastische Vision einer
Fünf-Stunden-Woche – und nicht mal die ist bei genauerem
Hinsehen von der Hand zu weisen… Wie dem auch sei, die
Welternährungsexperten der Vereinten Nationen sind sich darin einig,
dass allein der weltweite Wegfall der Rüstung genügend Kräfte und
Mittel freisetzen würde, um mit dem Hunger in der Welt sofort Schluss
zu machen.
---„Warum aber tut man es dann nicht?“, fragt meine naive Tochter.
---Die Antwort ist
ebenso einfach wie absurd: Wegen der inneren Logik unseres
Wirtschaftssystems.
Im Kapitalismus zahlt es sich nicht aus, den Hunger
zu besiegen und ist deshalb ökonomisch unvernünftig.
Denn hungernde Menschen stellen keinen „Markt“ dar: sie sind zu arm, um zu bezahlen.
Rüstung hingegen ist ein vernünftiges Geschäft,
und der Supercoup, von dem jeder Rüstungsmanager träumt, ist der Krieg,
weil sich dabei nämlich die teuren Waffensysteme selbst vernichten, so
dass sie anschließend wieder neu gekauft werden müssen.
---Angesichts dieses
Irrsinnssystems zum Schluss noch einmal die Frage: Was ist eigentlich
„die Krise“, von der zur Zeit so unendlich viel schwadroniert wird?
Irgendwelche Zahlen auf den elektronischen Anzeigetafeln in der Wall
Street oder die ganz banale Tatsache, dass solche Zahlen überhaupt
existieren und ihre kryptische „Logik“ letztendlich über unser aller
Wohl und Wehe bestimmen?
---Zugegeben, diese Frage ist eine rhetorische. Es ist an der Zeit, dass aus ihrer Beantwortung eine neue Realität erwächst.
..
*Aus nachvollziehbaren Gründen kann ich an dieser Stelle weder eine
wirtschaftliche Analyse der Spanischen Revolution von 1936 leisten noch
einen Abriss anarchistischer Wirtschaftstheorien oder anarchischer
Gesellschaftsstrukturen liefern.
Alles drei versuche ich ausführlich,
auf leicht verständliche Art und mit zahlreichen Quellenangaben in:
Horst Stowasser, Anarchie! Hamburg 2007, S.
397 – 410, 86 – 115 und 68
– 78
..
Dieser Artikel erschien zuerst - leicht gekürzt - in "Hintergrund - Das Nachrichtenmagazin", Heft 1/2009
Horst Stowasser
Der Autor: Horst Stowasser, Jahrgang 1951, lebt und arbeitet in einem
libertären Großprojekt in Südwestdeutschland.
1971 gründete er das
anarchistische Dokumentationszentrum „Das AnArchiv“.
Sein Standardwerk
Anarchie! stand drei Monate nach Erscheinen auf Platz 1 der deutschen
Sachbuchbestenliste.
(Anarchie! Idee – Geschichte – Perspektiven
Hamburg 2007, Edition Nautilus, 511 S., illustriert, 24.
90 Euro)
Mit folgendem Code, können Sie den Beitrag ganz bequem auf ihrer Homepage verlinken
Weitere Beiträge aus dem Forum Breakout Forum
Wahlkampf in den USA - gepostet von Angelfire am Sonntag 21.01.2007
The Redskins - gepostet von VivaStPauli am Dienstag 06.05.2008
PUNKORAMA # 3 im Posthof - gepostet von T.H. am Donnerstag 07.09.2006
veranstaltungen der sj wels - gepostet von breakout am Mittwoch 24.10.2007
SJ Bandfestival - Ich wähl mein Leben zurück - gepostet von Klassenkämpfer am Freitag 22.09.2006
Nachwuchsländerspiele in Pasching - gepostet von T.H. am Donnerstag 24.01.2008
gratis punk/ska-konzerte im gei/mosquito timelkam - gepostet von breakout am Mittwoch 13.06.2007
Aus für die "Tschickbude" - gepostet von T.H. am Samstag 29.09.2007
Sammelthread Testspiele Sommer 2008 - gepostet von T.H. am Montag 02.06.2008
Ähnliche Beiträge wie "Diagnose: Kapitalismus"
Ich komme auf die neue HP von uns nicht rauf - gepostet von Perlenturm am Samstag 20.05.2006
Vorschlag für Auszeichnungen für die Ränge im Stamm - gepostet von Tschandra am Montag 12.06.2006
Konzertfotos Como - gepostet von Anonymous am Freitag 07.07.2006
Bewerbungen - gepostet von pillendreher am Dienstag 25.07.2006
Wertvolle Western auf VHS??? - gepostet von macReady am Sonntag 20.08.2006