Das Leben des Jimmy No

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    Re: Das Leben des Jimmy No

    Ninchen - 19.12.2005, 15:26

    Das Leben des Jimmy No
    :1:
    Der Morgen war wie jeder andere. Jeder andere im Jahr. Elin zupfte auf ihrer Gitarre die ewigen drei Töne. Die ewig gleichen, die ersten drei Töne zu meinem Lied. Sie spielte es gerne, wenn sie an den Tag dachte, der eigentlich genauso gewesen war wie jeder andere. Wir hockten in unserem Lager in der Ecke der Bücke, in die sich das Geäst des Stadtwaldes drückte. Eine Ecke, in die sich niemand traute, der nicht in der unsrigen Welt unterwegs war. Die Äste, die so nah an der Brücke endeten, dass sie beinahe ein Dach bildeten hatten wir mit Tüten, Laken und Karton ausgekleidet. Es war unser Zuhause, unsere Zuflucht. Hier fand uns niemand. Und wenn uns doch jemand fand, dann wollte er uns eigentlich nicht finden. Wir, das waren Elin, unsere zarte Gitarristin, Lila-Lola, ein kleines Mädchen aus der Vorstadt, Pinkas, mein bester Freund auf der ganzen Welt und ich, Jimmy No. Ab und zu stießen andere Kids zu uns, aber sie verschwanden ebenso schnell wie sie gekommen waren. Vielleicht gingen sie zurück nach Hause, oder sie waren so blöd, sich aus unserer Stadt herauszutrauen. Denn ich wette, unsere Stadt war die einzigste in diesem ganzen, verfluchten Land, in der sich verlorene Seelen wie wir ohne Angst vor der Polizei und Sozialbeauftragten bewegen konnten. Ich weiß nicht wieso, aber anscheinend schien sich keiner für uns zu interessieren. Es war mir doch eigentlich aber auch egal, vielleicht sogar ganz recht, so wie es war.
    Ewig diese Töne, der Akkord. Elin sah mich nicht an während sie spielte, obwohl ich ihr angestrengt entgegen sah. Irgendwann gab ich es auf und zupfte gelangweilt an einem Grashalm herum. Lila-Lola hob den Kopf aus ihrem Lager, das sie sich aus Stroh und Stoff aufgeschüttet hatte, und stellte sich die Augen reibend eine Frage: „Kommt Pinkas heute nicht nach Hause?“ In ihren veilchenblauen Augen stand der Schlaf noch geschrieben und sie gähnte kurz. „Klar, wieso nicht?“, murmelte ich. Aber so klar war das keineswegs. Ihr Bruder verschwand oft nächtelang, was Elin und ich ihm oft zum Vorwurf machten, weil seine kleine Schwester vor Kummer und Sorge beinahe verrückt wurde. Kein Wunder. In ihrem jungen Leben war genug Stoff für schreckliche Alpträume entstanden. Ihre Mutter war kurz nach ihrem dritten Geburtstag nach langer, schwerer Krankheit gestorben, ihr Vater daran fast zugrunde gegangen. Er hatte angefangen zu trinken und vor allem den damals zehn Jahre alten Pinkas geschlagen bis dieser von Schmerzen gebeugt kaum noch aufrecht gehen konnte. Alles vor Lila-Lola. Schließlich hatte der Vater beschlossen, die Kinder rauszuschmeißen und Pinkas war mit seiner kleinen Schwester an der Hand weggelaufen. Sie trafen mich, der ich mich auskannte in der Welt der heimatlosen Kinder wie kein anderer. Sie schlossen sich mir an und ich war für die beiden seit den zweit Jahren, die wir nun schon zusammen waren, mehr als ein Anführer geworden. Ich war Vater, Mutter und Bruder in einem. Keine leichte Rolle für einen Fünfzehnjährigen. Vor kurzem stieß dann Elin zu ihnen. Pinkas fragte immer wieder, was denn vorgefallen sei, dass Jimmy sie bei ihnen aufnahm, doch weder Elin selbst noch Jimmy wollten darüber reden. Es war das totgeschwiegene Geheimnis. Überhaupt trug Jimmy viele Geheimnisse mit sich herum, wie seine Vergangenheit. Kein Wunder, dass der jüngere Freund ihn bewunderte und ihm nacheiferte. Wenn er nur wüsste. Unbewusst seufzte Jimmy und Lila-Lola sah ihn mit aufgerissenem Mund an. „Er kommt doch wieder, oder? Er darf mich doch nicht alleine lassen. Bitte, Jimmy, sag dass er wieder kommt!“ Ein leichter Tränenschleier bildete sich in ihren Augen. Elin legte die Gitarre weg und legte einen Arm um Lolas Schultern. Ich konnte ihre Angst nicht weiter ertragen und sprang auf. „Ich geh ihn suchen.“
    Ich streifte mit suchendem Blick durch die Straßen. Nach einiger Zeit fand ich Pinkas. Er hockte mit dem Rücken zu mir auf dem Asphalt im Hinterhof einer verlassenen Fabrik. „Pinkas!“, zischte ich und sein Kopf flog herum. „Mein Gott, musst du mich so erschrecken?“, fauchte er zurück. Doch sogleich wurde sein Gesicht wieder freundlich und als ich näher kam streckte er mir ein zappelndes Etwas entgegen. „Was ist das denn? Ein Hund?“ Doch Pinkas schüttelte den Kopf und bedeutete mir das Bündel anzufassen. Ich schob den weißen Fetzen, der es umgab etwas zurück. „Mein Gott, Pinkas, was sollen wir denn mit einer Katze?“ „Du nimmst doch jeden der in Not ist auf, so wie Elin.“ Ich schüttelte den Kopf und warf das Katzenjunge zurück in seiner Arme. „Elin ist ein Mensch, du Blödmann, das da ist ein Tier. Wir haben kaum genug für uns zu Essen, was soll er denn bitteschön fressen?“ „Er bekommt von meinem Teil. Ich hab klasse Sachen gefunden, hei, bitte, Jimmy. Und wenn es nicht klappt, setzte ich sie wieder aus.“ Ich seufzte und drehte mich zum gingen. Pinkas sprang auf und folgte mir eilig. „Heißt das Ja?“, fragte er atemlos und ich zuckte mit den Schultern. „Lila-Lola wird sich freuen.“, murmelte ich.
    So war es dann auch. Lolas Augen strahlten als ihr Bruder das hellgraue Kätzchen mit den wasserblauen Augen in ihren Schoß legte. „Elin, guck mal, ich Kätzchen! Pinkas hat mir ein Kätchen mitgebracht!“, quietschte sie und streichelte dem kleinen Tier verzückt über den Kopf. Es maunzte verloren und zappelte umher. Elin beugte sich zu ihr und nahm es aus dem Tuch heraus. „Ein kleines Mädchen.“, sagte sie. „Wie willst du es nennen?“ Lila-Lola dachte einen Augenblick nach. „Mom.“, antwortete sie strahlend. Pinkas zuckte kaum merklich zusammen, ich sah es aus dem Augenwinkel. Ich denke, auch Elin hatte es bemerkt, denn hastig meinte sie: „Ich glaube nicht, dass das ein richtiger Name für ein Kätzchen ist. Denk dir was besseres aus.“ „Dann nenne ich es Janet.“ „Das ist schon besser, glaube ich.“, nickte Elin und sah mich fragend an. Ratlos sah ich zurück, denn Pinkas schloss die Augen und presste ein „Ich muss mal kurz raus.“ heraus. Hastig folgte ich ihm und legte eine Hand auf seine rechte Schulter. „Was ist mit dir?“ Pinkas schlug meine Hand weg und sah mich nicht an. „Es war falsch wegzulaufen. Sie vermisst ihre Mutter. Und ihre Freundinnen.“ „Eure Mutter ist euch hier vielleicht näher als bei euch zuhause. Was glaubst du, was sie denken würde, wenn sie von da oben sehen würde, wie euer Vater euch halb tot prügelt?“ „Ach, verdammt Jimmy. Er hat ihr nie ein Haar gekrümmt. Ich war der Prügelknabe....“ Wir wanderten nebeneinander am Flussufer unter der Brücke entlang. „Du weißt nicht, wie schlimm es geworden wäre, wenn du sie nicht daraus geholt hättest.“ Er sah verloren aus, wie er so auf seine dreckigen Schuhspitzen sah. „Janet. Das war ihre beste Freundin. Die Tochter von Moms bester Freundin.“ Ich schwieg und sah ihn sein ernstes Gesicht. Er versuchte stark zu sein. Aber das war er nicht. Das hatte er nie gelernt. Er kämpfte mit den Tränen.

    :2:
    Es war dunkel geworden. Ich saß mit angehockten Beinen am Flussufer und warf Steine in das dunkle Wasser. Ich hoffte, dass gerade ein Fisch an mir vorbeischwimmen würde, der meinen Stein auf dem Kopf bekam und sang- und klanglos verschwand. Es war nur ein Fisch. So alleine unter dem endlosen Sternenhimmel fühlte sich ich mich eigentlich genau wie der Fisch. „Wen kümmert’s, wenn du morgen einen Stein auf den Schädel bekommst, Jimmy?“, flüsterte ich traurig vor mich hin. „Mich zum Beispiel. Und Pinkas und Lola.“, sagte Elin leise hinter mir. Vorsichtig ließ sie sich neben mich fallen. Ich hatte sie nicht kommen hören. Die Sache war mir doch etwas peinlich und ich wurde rot. Schnell schaute ich weg. „Lila-Lola schläft. Und diese seltsame Katze auch. Wo hat Pinkas sie her? Hat er sie geklaut?“, fragte sie. „Ich hab die beiden bei der alten Stofffabrik gefunden. Wahrscheinlich hat sie jemand dort ausgesetzt. Was weiß ich.“ Plumps. Ein weiterer Stein. Ein weiterer toter Fisch? Wahrscheinlich nicht. „Wieso magst du mein Lied nicht?“, fragte Elin sanft nachdem wir einige Momente still nebeneinander gesessen hatten. Ich drehte den Kopf zur Seite und sah in ihre dunklen Augen. Ein Auto fuhr rasselnd über die Brücke. „Es hört sich an....als wäre ich ein Mensch, den es nicht wirklich gibt. So etwas Unwirkliches. Als wenn ich einer Geschichte entsprungen wäre.“ „Es gibt doch viele Lieder über wahre Menschen, Jimmy. Und vor allem: was ist so schlimm daran?“ Ich dachte einen Augenblick nach und sah wieder in das unergründliche Schwarz des Wassers. „Es ist mir einfach....es ist ein seltsames Gefühl, ein Lied über sich zu hören.“ Sie antwortete nicht. Pinkas kam zurück. Ich drehte mich um und sah wie er mit starrer Miene ins Lager kroch. Er hatte uns wohl nicht gesehen.
    Ich saß lange am Fluss, während die drei anderen eng beieinander schliefen.
    Als ich mich zu ihnen legte, hörte ich ihre warmen, ruhigen Atem.


    *****FF********* :schreiben:



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