Eistränen

Magic Nights
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    Re: Eistränen

    Lillith - 28.06.2007, 14:00

    Eistränen
    Ich hab die Geschichte endlich überarbeitet *flöt* Nun sollte sie rechtschreib-, grammatik- und sinnfehlerlos sein ^^
    Danke für's lesen...
    Übrigens: Die Geschichte war mein Weihnachtsgeschenk für die Rai... Is nun 'n halbes Jahr her, aber die Geschichte hat endlich die letzten fehler ausgemerzt bekommen *sau stolz ist*

    Und hier *tadaaa* ist sie!

    Widmung: Rai! *knuddel* hab dich gaaanz doll lieb!


    Eistränen

    "Es begann alles damit, dass... ja, es begann damit, dass ein junges Mädchen von etwas erwählt wurde, dass alle Macht der Welt besaß. Es würde gefährlich werden, und obwohl sie es wusste, ließ sie sich auf ein Abenteuer ein..."
    In dem Moment schwieg der alte Mann einen Augenblick, ehe er mir direkt in die Augen sah. "Es wird ihnen unmöglich und unglaublich erscheinen, doch sie sollten wissen, dass die Geschichte der Wahrheit entspricht."
    Durch die Redeweise des Alten spürte ich ein merkwürdiges Gefühl in mir. Zum einen, natürlich, Neugierde, dann aber auch etwas, was gänzlich falsch schien - es war Ehrfurcht vor der alten Person vor mir, in deren Blick etwas wie Macht und Wissen lag. Der Mann schien seltsames erlebt zu haben, obwohl ich nicht in der Lage war zu sagen, was es war. Vermutlich etwas, was kein Lebender zu begreifen vermochte.
    Ich weiß nicht, wie ich gerade auf diesen Gedanken kam, doch konnte ich ihm nicht weiter folgen, als der Alte weitersprach...

    Ein junges Mädchen, vielleicht sechzehn Winter zählend, streifte durch den lichten Wald, dessen mit Raureif überzogener Boden unter ihren Schuhen knirschte. Es war kalt. Kälter, als sämtliche Winter bisher, doch von Schnee gab es keine Spur. Regen und Schnee blieben seit Wochen aus, nur der nächtliche Raureif zeugte von Feuchtigkeit, die des Nachts in der Luft hing.
    Die Gewässer waren unter einer dicken Schicht aus Eis begraben, doch keine Schneeflocke berührte jenen Spiegel gemacht aus Kälte. So etwas hatte das Mädchen noch nie erlebt, denn in ihrer Heimat kam der Winter früh, und meist mit starken Schneestürmen, die schon manch einen Wanderer das Leben genommen hatten.
    Doch dieses Jahr blieb all dies aus. Bloß Kälte herrschte, des Tags und des Nachts. Eine bedrohliche Kälte, die die Weisen des Dorfes als Vorzeichen ansahen.
    Nur das Mädchen, Ilia, das einsam durch den Wald streifte, sorgte sich deshalb nicht. Sie genoss die Stille, während sie, in einen dicken, wärmenden Umhang gehüllt, über den knirschenden Untergrund wanderte.
    Nach einer Weile stummen Gehens blieb sie unvermittelt stehen, als ob ihr etwas aufgefallen wäre, mit dem sie nicht gerechnet hätte. Tatsächlich hörte man entfernte Schritte, die über die gefrorenen Blätter gingen und deren Geräusch von weit her durch den Wald hallten. Ilia verharrte in ihrer Position und blickte gespannt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis in der ferne eine Gestalt zu erkennen war, die in einen Schneeweißen Umhang gehüllt war. Das Weiß strahlte durch das triste Grau, dass im ganzen Wald vorherrschte, und weckte sofort Ilias Neugierde. Kaum ein Wanderer trug solch eine Farbe, und wenn, so war der Umhang mindestens an seinem Saum etwas schmutzig – doch war sich Ilia nicht ganz sicher, ob es bei dieser Gestalt genauso war. Sie hatte durchaus scharfe Augen, wie es ihrer Art gegeben war, und es irritierte sie, diese Gestalt in diesen Wäldern zu sehen. Nur sehr wenige von ihnen streiften durch die Länder, noch nie zuvor hatte Ilia einen im hohen Norden angetroffen. Doch bestand kein Zweifel; es musste einer der mächtigen Zwölf sein. Ein Magier, wie sie nur noch in Acena anzutreffen waren.
    Was vermochte einen Magier dazu zu bringen, sich bis hierher zu begeben?
    Doch Ilia wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ihr auffiel, dass die Gestalt auf sie zu kam. Verwundert sog sie zischend Luft ein. Der Magier bewegte sich, obwohl er einen Stab bei sich trug, mit der Geschmeidigkeit und Schnelligkeit eines Wolfes, seine Ausstrahlung war schon auf diese Entfernung Ehrfurcht gebietend.
    Ungewöhnlich schnell erreichte er das Mädchen, dass noch immer auf derselben Stelle verharrte und ihm entgegen blickte. Als er dann etwa zwei Meter von ihr entfernt stehen blieb kam wieder Leben in ihre Glieder und sie fiel auf die Knie, wie es ihr als erstes in den Sinn kam. Sie neigte den Kopf vor der Allmächtigkeit der Person. Dieser jedoch lachte nur leise.
    „Ich grüße dich, Ilia, Tochter der Elben.“
    Ilia blinzelte verwundert. Er kannte ihren Namen! Woher das bloß? Er hatte sie noch nie getroffen, soweit sie sich erinnern konnte. Sie strich sich eine verirrte schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und erhob sich - mit etwas zittrigen Knien.
    „Herr, verzeiht die Frage, aber wer seid ihr? Woher kennt ihr meinen Namen?“
    „Ich beobachte euer Volk seit einigen Wintern, junge Elbin, auch, wenn euer Volk die fernen Augen nicht zu spüren vermag. Ich kenne dich, genauso wie jeden von euch.“ Seine Stimme war warm und freundlich, nicht so schneidend und streng, wie Ilia es eigentlich erwartet hatte.
    „Was lenkt euer Augenmerk auf unser abgeschiedenes Leben, Herr? Alles, was hier passiert, ist unbedeutend, unwichtig für euch Magier, die die Geschicke unserer Welt lenken.“
    Wieder lachte der Magier leise. „Nichts ist unbedeutend hier, meine Liebe. Es dauert lange zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden. Wäre mir euer Schicksal hier im Norden schon früher aufgefallen, so hätte ich mich schon vor langer Zeit hierher begeben, denn euer Volk ist wichtig geworden, seit einigen Jahren. Merkwürdiges geht in euren friedvollen Wäldern vor sich, sehr merkwürdiges. Ich war der erste der zwölf, dem dies in den Sinn kam, weshalb ich mich vor einem Mondzyklus auf den Weg hier her machte. Doch mehr werde ich dir nun nicht erzählen, junge Tochter des Waldes, es gibt Zeiten zum Erzählen, wie es Zeiten zum Schweigen gibt. Nun sei es die Zeit zum Heimgehen, denn ich muss mit den Weisen deines Dorfes reden.“
    Ilia nickte sofort, was den Magier lächeln ließ.
    Schweigend gingen die beiden durch den Wald in Richtung Dorf, hin und wieder musterte Ilia den Magier verstohlen. Er war wirklich ganz in Weiß gekleidet, wie es seiner Bruderschaft bestimmt war. Sein Bart und Haar waren von einer hellen Farbe, die Ilia zwischen Weiß und Silbern einstufte, doch sicher war sie sich nicht. Der Magier hatte etwas Ungewöhnliches an sich, etwas, was Ilia unmöglich einsortieren konnte. Vielleicht war es die Tatsache, dass er eine, ihr unbekannte, Macht ausstrahlte, oder eher die Weisheit, die in diesen uralten Augen glitzerte.
    Die Augen sind der Spiegel der Seele, so heißt es. Die Augen des Magiers strahlten Macht und Wissen aus. Wissen, um die Geschicke der Welt, um die Wahrheit hinter den Dingen. Aber auch Wissen über Sachen, die man nicht sehen wollte, Wissen um das Sterben von Hunderten, das Sterben von Wesen, die lebten, als das vierte Zeitalter noch fern war, und die niemals wieder auf der Erde wandeln sollten.
    Eine halbe Ewigkeit verlor sich die Elbin in den Augen des Weisen, bis er sie plötzlich wissend anlächelte. „Du bist klug, Tochter des Waldes.“
    „Ha- habt ihr... Seid ihr meinen Gedanken gefolgt, Herr?“
    „Ja, so könnte man es nennen.“, lächelte er und blickte sie warm an. „Durchaus habe ich das Sterben der schönsten Wesen aller Zeitalter beobachten müssen, und ich und meine Brüder konnten nichts dagegen unternehmen. Es war schmerzhaft, aber wir durften nicht eingreifen.“
    „Erzählt mir bitte mehr, Herr! Was waren das für Wesen, und weshalb gingen sie von uns?“
    „Es hätte mir bewusst sein müssen, dass du, als tierliebende Elbin, mehr erfahren willst, Ilia, und deshalb werde ich die tun. Aber später erst. Das Dorf ist nah, und das Gespräch mit den Ältesten des Dorfes dringend.“
    Ilia lächelte glücklich und ging, nun wieder schweigend, neben dem Magier her.
    Als die ersten Häuser des Dorfes in Sicht kamen blieb Ilia zurück. „Geht ihr ohne mich hin, Herr. Ich wandere lieber noch in dem kalten Wald, das Dorf ist mir zu verlassen, da sich keiner draußen aufhält.“
    Nun lachte der Magier erneut. „Und der Wald ist nicht verlassen, Ilia? Die Vögel verstecken sich vor der Kälte, der Wald ist durchaus verlassen, und dennoch ziehst du ihn dem Dorf vor?“
    „Ich bin eine Elbin, Herr. Mir ist der Wald lieb.“
    „Das war mir doch bewusst, meine Liebe. Geh nur, aber pass auf dich auf. Merkwürdiges geht vor sich.“
    „Ja Herr, danke“
    Damit verneigte sie sich und wandte sich um. Auch der Magier drehte sich lächelnd herum und betrat allein das Dorf, dessen Straßen tatsächlich verwaist waren. Nur am Ende der größten Straße waren Kinder beim Spielen zu sehen; sie rutschten auf einem kleinem vereistem See herum und lachten und tollten. Bei dem Anblick huschte dem Magier ein flüchtiges Lächeln über das Gesicht. Ohne jemanden nach dem Weg zu fragen machte sich der Alte auf den Weg zum Haupthaus, in dem er die Ältesten der Elben anzutreffen vermochte.

    Mit leisen Schritten ging Ilia wieder durch den Wald, diesmal in eine andere Richtung als die, in der sie den Magier der Bruderschaft der Zwölf getroffen hatte. Ein leises rascheln in ihrer Nähe ließ sie aufblicken. Ein kleines Tier mit großen Ohren und hellem Fell, doch ansonsten einem Eichhörnchen nicht unähnlich, wühlte einige Meter von ihr entfernt in dem gefrorenem Boden.
    Der Anblick des Tierchens veranlasste die Elbin zum Lächeln. Ausgerechnet heute, in dieser Zeit, in der so viel Unheimliches, und Ilia vollkommen Unverständliches, geschah, ausgerechnet heute musste sie auf ein solches, inzwischen sehr seltenes, Tier treffen.
    Die Regung in seiner Nähe bemerkte auch das Wesen. Mit einem leisem Piepen betrachtete es das Mädchen aus großen, dunklen Augen, ehe es erneut piepte, sich umwandte und in den lichten Wald davonsprang.
    Ilia lächelte, das Treffen mit dem Tier hatte ihre tristen Gedanken verscheucht.
    Mit einem leisem Lied auf den Lippen ging sie weiter, hin und wieder mal ein leises Fiepen vernehmend. Anscheinend war das Tierchen noch in der Nähe, womöglich lief es mit Absicht vor ihr her.
    Ilia war kurz davor, sich auf die Stirn zu schlagen. Nein, das war jetzt zu verrückt. Als ob sie, als eine von vielen, in irgendetwas verwickelt werden würde, in irgendetwas, was man nicht so schnell begreifen kann. Und trotzdem war da die Hoffnung aus dem doch recht langweiligem Leben in dem Dorf zu entkommen. Die Hoffnung, die kleine Kinder irgendwann mal haben, wenn sie sich wünschen, ein unglaubliches Abenteuer zu erleben.
    Nun schlug sich Ilia tatsächlich mit der Hand auf die Stirn. Sie sollte wohl endlich aufhören zu träumen. Es war verrückt so etwas auch nur zu denken!
    Und doch, und doch...

    Ich blickte verwundert auf, als der alte Mann mir gegenüber stoppte. Er schien einen Moment lang merkwürdig abwesend, und ich nutzte den Moment, um das, was ich mit geschrieben hatte, noch einmal zu überfliegen. Wenn alles, was er mir erzählte, tatsächlich einmal geschehen war, tauchte er dann am Ende selbst noch auf?
    Ich rang einen Moment mit mir, denn ich wollte ihn nicht stören, doch dann sprach ich ihn aus irgendeinem Grunde fast flüsternd an.
    „Was habt ihr mit der Geschichte zu tun, wenn ich fragen darf? Welche Rolle spielt ihr selbst darin?“
    Der Alte blickte mich verwundert an, ehe er lächelte. „Das ist eine Frage, die ich mir selbst immer wieder stelle, zusammen mit Fragen wie: Was, wenn ich anders gehandelt hätte?“ Er wurde wieder ernster und blickte mir direkt in die Augen – doch hatte ich das Gefühl, dass er tiefer blickte, bis in meine Seele hinein. Doch deswegen fühlte ich mich nicht unwohl; es war ein angenehmes Gefühl, auch, wenn es schon nach wenigen Momenten abflaute und verschwand.
    „Die Frage werde ich euch später beantworten, wenn ihr erlaubt. Nun ist es erst einmal Zeit, weiterzuerzählen, ehe der Zauber der Geschichte verfliegt.“
    Ich wunderte mich nur kurz über seine bildliche Sprache, ehe ich mich wieder über mein Pergament beugte, um das gehörte aufzuschreiben.
    „Also, wo war ich...


    Der alte Magier hatte inzwischen das Haupthaus des Elbendorfes erreicht. Noch immer hatte er keinen Elben getroffen, abgesehen von Ilia, und konnte verstehen, warum es der Elbin im Dorf zu verlassen war.
    Nur selten drangen die Stimmen der Elben durch die Wände der Häuser, denn die Elben waren ein ruhiges und stilles Volk, das ungern Aufmerksamkeit durch solche Art von Unruhe erhielt.
    Das Haupthaus unterschied sich nur in Kleinigkeiten von den anderen Häusern – zumindest, wenn man das sah, was gewöhnliche Menschen sahen. Einige Stufen führten zu der großen Tür herauf, die nicht weiter verziert zu sein schien. Die Wände waren ordentlich und aus einem Material, die man nicht auf anhieb benennen konnte. Es schien etwas zwischen Holz und Stein zu sein – vermutlich Holz, dass mittels Elbenmagie zu etwas besonderem gemacht worden war.
    Als der Magier die wenigen Stufen hinauftrat und an die Tür pochte, huschte ein lächeln über seine Züge. Das normale Auge eines sterblichen hätte die wundervollen, magischen Muster und Runen, die sich über die Tür zogen, nicht erkannt, nicht gesehen, doch seine uralten Augen vermochten noch zu sehen, was vor Jahrhunderten gefertigt wurde.
    Noch ehe der Magier seine Gedanken zuende gebracht hatte öffnete jemand das Tor. Es war ein Elbenjunge, der ihn aus großen Augen musterte.
    „Sei gegrüßt, junger Elb.“
    „Will-willkommen, Herr! Was wünscht Ihr?“, fragte der Junge unsicher.
    „Ich muss mit den Ältesten reden. Wirst du mich zu ihnen führen?“
    „Ja, natürlich, Herr. Verzeiht bitte, aber sagt ihr mir wer ihr seid? Damit ich euch ankündigen kann!“
    „Natürlich. Benenne mich mit Midnadear. Der Rat wird wissen, wer ich bin.“, sprach Midnadear, und der Junge nickte.
    Er huschte durch die Gänge, gefolgt von einem, um einiges gemächlicher gehenden, Magier. Anscheinend brauchte der Alte den Jungen gar nicht, um sich zurecht zu finden, denn er blickte sich die meiste Zeit über um und betrachtete die bestaunenswerten Wandgemälde. Erst nach einiger Zeit blickte er zu dem Jungen hinab, der vor einer großen Tür aus dunklem Holz stehen geblieben war.
    „Ich werde euch ankündigen, Herr. Bitte wartet einen Moment.“
    Der Magier nickte nur lächelnd und wandte sich den Gemälden zu.

    Im Ratssaal herrschte ein unruhiges Murmeln, als der Junge den Raum betrat.
    An die zwanzig Elben, Männer wie Frauen, saßen, in teure und edle Gewänder in hellen Farben gehüllt, an dem erhöhtem Tisch am Ende des Saals. Sofort wurde der Junge von dem Sprecher des Rates angefahren:
    „Elijas! Was tust du hier? Es ist dir untersagt, während der Besprechungen den Saal zu betreten!“
    „Verzeiht, Weiser. Ich bin hier, um einen Besucher anzukündigen. Er wollte euch sehen. Ich wagte nicht, ihn vor der Tür stehen zu lassen. Herr, ich denke, es ist ein Magier.“
    „Die Magier waren schon all zu lange nicht mehr bei uns. Mit welchem Namen stellte sich der Besucher vor?“
    „Ich sollte ihn mit dem Namen Midnadear ankündigen...“
    Seine Stimme ging in einem Raunen unter. Den Weisen schien der Name durchaus bekannt zu sein, denn sie flüsterten einander zu.
    „Der Mächtige war seit langer, langer Zeit nicht mehr hier. Was mag ihn hier her geführt haben?“, hörte Elijas Kirano, eine Elbin des Rates, sagen. Der Sprecher des Rates nickte langsam, ehe er sich an den Jungen wandte. „Lass ihn ein. Einen Magier sollte man niemals warten lassen.“
    Elijas nickte, verbeugte sich kurz und hastete zurück zur Tür. Der Magier wartete, wie erwartet, und musterte die Gemälde an den Wänden genauso wie zuvor. Der Alte lächelte, als der junge Elb vor ihm stand und ihm bedeutete, einzutreten.
    Ein erneutes Raunen ging durch den Rat, als tatsächlich der bekannte Magier eintrat.
    „Midnadear“, grüßte der Sprecher den Magier und neigte den Kopf leicht. „Was führt euch zu uns?“
    „Ich grüße euch, Rat der Elben. Was mich zu euch führt, ist der Weg eines alten Mannes. Es schien seit Jahrhunderten so, als würde euer Dorf hier, hoch im Norden, in Ruhe und Frieden leben, ohne merkwürdige Geschehnisse. Aber es ist Zeit, euch aus eurem ruhigem Leben herauszuholen, Elben. Ein alter Schatten verdeckt die Täler der Vorfahren. Der Uralte ist erwacht. Er braucht etwas, an dem er seine Macht binden kann und sollte es erst soweit sein, wird er mächtiger als damals sein.“
    „Damals, sagt ihr, Ehrwürdiger. Ihr meint das erste Zeitalter, in dem der Uralte die-“
    „Schweige, Kirano. Sprich nicht den Namen der Wesen aus. In diesen Hallen bleiben Erinnerungen nicht Erinnerungen, und seien sie auch noch so schmerzhaft.“
    „Natürlich, Uralter. Verzeiht.“ Betroffen senkte die Elbin den Kopf. Schon immer hatte sie es vollbracht, von dem Ehrwürdigen gerügt zu werden; selbst, als sie noch jünger war.
    Nadrim, der neben ihr saß, musterte den Magier kritisch. „Wir halten uns aus den Kriegen heraus, Ehrwürdiger. Unsere Zahl ist all zu gering geworden, seitdem der Uralte das letzte mal den Krieg hervorrief. Wieso also sucht ihr uns auf?“
    Kirano blickte ihren Bruder erschrocken an. Hinter der höflichen Fassade spürte sie seinen Zorn. Seinen Zorn auf den Magier. Er würde niemals zustimmen, die anderen Völker im Kampf gegen den Schatten zu unterstützen. Und dies nur, da seine geliebte Frau, Kaleen, damals verschwand. Welch tragisches Schicksal mochte Kaleen ergriffen haben, wie tragisch war doch das Schicksal ihres Geliebten? Schon ein Zeitalter lang wartete der Elb schwermütig hoffend auf die Rückkehr der hübschen Elbin. Man hörte, dass selbst die Menschen Verse und Lieder über dieses Leid besangen.
    „Ich erbitte nicht eure Unterstützung, Nadrim. Ich bin bloß hier, um euch zu warnen! Der Schatten des Uralten bewegt sich auf euer Dorf zu. In den Ruinen, nicht fern von hier, wartet das Schicksal auf einen von euch! Entscheidet selbst, ob es zu eurem Gunsten oder eurem Schaden ausfällt; findet den letzten der Verlorenen.“
    „Cairesh!", flüsterte Kirano, und auch die anderen im Ratsaal flüsterten benommen den Namen des letzten. Der letzte jener, die vergangen waren. Der Eisphönix, um den sich die Legenden der Elben rankten.
    Niemals wieder sah man ihn, als die Letzten gegangen waren. Doch gestorben, oder gegangen war er nicht, denn er hinterließ keine letzte Feder, das Zeichen seines Abschiedes.
    „Cairesh, der Vergangene!“
    In eben diesem Moment erfasste ein leichter Schwindel den Magier. Etwas war geschehen, eine Entscheidung gefallen, die das Schicksal des gesamten wie auch das eines einzelnen bewegte. Einer Einzelnen. Einer einzelnen Elbin...

    Ilia hatte die Ruinen unweit vom Dorfrand erreicht. Das kleine Wesen, dass sie noch so lange gehört hatte, war wieder entschwunden. Nun saß sie, leise singend, auf einem der Felsblöcke und blickte zum Himmel. Es war ein so wundervoller Tag! Seit dem Treffen mit dem Magier schien alles ganz anders auszusehen. Vorher war es merkwürdig grau, eintönig gewesen, zumindest eintöniger als nun. Denn in jenem Moment spielten überall um sie herum magische Farben. Blaue und violette Farbtöne, rote und orangene, die durch dir Aura der Umgebung bedingt waren. Ihr Gesang endete mit einem langen, traurigem Ton. Ilia seufzte, schloss die Augen und genoss die nun aufkommende Stille um sie herum. Stille.
    So fern, so unantastbar. Und doch so nah und greifbar wie die Magie, die diesen Ort umwob.
    Alles, fern und nah, war in Schweigen, vollkommenes Schweigen gehüllt.
    Sie schlug die Augen verwirrt auf, als sie plötzlich ein merkwürdiges Säuseln vernahm. Es war nicht der Wind, denn es wehte keiner. Es waren... Stimmen?
    Die Worte waren undeutlich, nicht zu verstehen, aber sie wurden lauter. Mit einem mal erfasste ein plötzliches Schwindelgefühl die Elbin, und die Worte erklangen laut und donnernd in ihrem Kopf, dröhnten von überall her auf sie ein...
    Cairesh, der Vergangene!
    Der Schatten des Uralten...!
    Das Schicksal wartet auf einen von euch...!
    Cairesh!
    Immer wieder erklang dieser Name, den Ilia nicht sofort zuordnen konnte, die Stimmen verhinderten einen jeden Gedanken. Plötzlich flauten die Stimmen ab, der Schwindel legte sich größtenteils. Ein letztes mal erklang eine Stimme, laut, fassbar, und mit einer Macht gesegnet, die sie noch niemals verspürt hatte:

    Du bist erwählt!

    Schwer atmend richtete sich Ilia auf. Was war geschehen?
    Sie spürte, dass sie am ganzen Körper bebte, doch konnte sie sich nicht beruhigen. „Du bist erwählt“. Was bedeutete das? Sie versuchte sich zu erheben, doch ihre zitternden Knie gaben nach und sie fiel unsanft zu Boden. Die Ruinen erschienen ihr nicht weiter mysteriös und geheimnisvoll. Nun ging eine verheißungsvolle Bedrohlichkeit davon aus, die die Elbin in ihrem Tiefstem erschaudern ließ. Erneut versuchte sie aufzustehen, was nur schwankend gelang. Von weit her spürte sie eine Welle von Schwäche auf sie zurollen und ihre Umgebung begann zu verschwimmen.
    Das Letzte was sie sah, bevor sie schließlich zusammenbrach, war eine Gestalt, die auf sie zueilte...

    Midnadear hatte den Ratssaal mit raschen Schritten verlassen. Hatte er vielleicht einen Fehler gemacht?
    Den Elbenrat hatte er mit seinen Fragen zurückgelassen. Nur Kirano war aufgesprungen, um ihm zu folgen. Ein Jeder im Rat hatte gespürt, dass der Würfel des Schicksals gefallen war. Jemand war also erwählt worden. Doch wer? Und wozu?
    Anscheinend wusste der Ehrwürdige sowohl wer, als auch wozu einer ihres Volkes auserwählt war.
    Der Magier war schneller, als das Mitglied des Rates vermutet hätte. Schon bald musste sie sich beeilen, um den alten Mann nicht aus den Augen zu verlieren. Er ging eilig und gezielt durch den Wald, als würde das Auge des Magiers dort eine Spur sehen, dessen Ziel nur er kannte. Nach einiger Zeit drehte er sich um und blickte Kirano direkt in die Augen. Der Ausdruck in den seinen Augen war unbekannt hart.
    „Was wollt ihr noch, Kirano? Ich kann mich nicht erinnern, euch aufgefordert zu haben, mir zu folgen.“
    Kirano schluckte, wich seinem unbarmherzigen Blick jedoch nicht aus. „Ich bin euch aus freien Stücken gefolgt, Ehrwürdiger. Ich möchte wissen, wen das Schicksal erwählte. Ist das als Ratsmitglied nicht mein Recht?“
    Midnadear blickte sie noch einen weiteren Moment lang hart an, dann wandte er sich um. „Dann folgt mir halt, Elbenfrau. Aber beschwert euch nicht, wenn ich einen zu schnellen Schritt einschlage. Sie ist womöglich bereits jetzt in Schwierigkeiten.“
    Kirano Atmete zischend ein. Sie? Der Erwählte war eine Elbin? Sie kam nicht dazu, den Magier zu fragen, denn dieser war ihr bereits wieder einige Meter voraus.

    Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis Kirano hinter Midnadear die alten Ruinen außerhalb des Dorfes erreichte. Schon vom weitem konnten sie eine Gestalt sehen, die sich am Boden kniete. Midnadear hatte seine Schritte noch weiter beschleunigt, sodass er weit vor der Elbin die Ruinen erreichte. Dort sprach er auf eine Gestalt ein.
    Es war ein junger Mann, anscheinend ein Mensch, der auf dem Boden hockte und eine allem Anschein nach bewusstlose Elbin festhielt. „Ilia!“, entfuhr es dem Ratsmitglied. Die Tochter ihres Bruders lag mit blassem Gesicht in den Armen des Menschen. „Was ist geschehen?“
    „Schweig nun, Kirano. Wenn du mich nicht unterbrochen hättest, wüsste ich das nun schon.“
    Damit wandte sich der Magier wieder dem Menschen zu. „Sagt mir, wer seid ihr? Und warum haltet ihr eine Elbin in den Armen?“
    „Ich... Mein Name ist Eldras, Herr. Ich war unterwegs im Wald und kam zu den Ruinen. Als ich mich dem Ort hier näherte, sah ich die Elbin. Doch als ich zu ihr gehen wollte, brach sie plötzlich zusammen. Ohne, dass ich etwas getan hatte! Glaubt mir, Herr, ich kann nichts dafür! Ich konnte sie nur noch auffangen, ehe sie auf den Boden aufschlug. Das war erst vor wenigen Minuten.“
    „Ich glaube euch, Eldras. Obwohl ich sagen muss, dass es wahrhaft unglückliche Umstände sind. Kirano, du kannst dir gewiss denken, weshalb deine Nichte zusammengebrochen ist?“
    „Ihr... Ihr meint das nicht ernst, Herr! Ilia ist noch jung, unerfahren! Sie kann doch nicht-“
    „Doch, ich meine es ernst. Das Schicksal hat Ilia auserwählt. Dass ich sie heute morgen auf dem Weg zu euch im Wald traf, war kein Zufall. Wir sollten sie ins Dorf bringen. Nach der Offenbarung des Schicksals wird sie noch schwach sein, doch die große Aufgabe, die ihr bevorsteht, lässt keine Schwäche zu. Eldras, seid so gut und begleitet uns ins Elbendorf. Ich habe noch fragen an euch. Ich weiß noch nicht, wie, oder warum, aber das Schicksal hat auch euch eine Rolle in diesem Spiel zugedacht.“
    Eldras runzelte die Stirn, nickte aber. Dann erhob er sich, die bewusstlose Ilia noch immer auf den Armen, und folgte Midnadear, der bereits wieder davon geeilt war. Kirano folgte dem Menschen, ein misstrauischer Ausdruck lag in ihren Augen.

    Der gesammelte Rat, mit Ausnahme von Kirano, erwartete die kleine Gruppe vor dem Dorf. Als Nadrim seine Tochter erkannte, erbleichte er. Doch sofort als er erkannte, von wem die Elbin getragen wurde, begann er praktisch vor Zorn zu rauchen – Kein Mensch durfte Hand an seine Tochter legen!
    „Midnadear, die Umstände, unter denen ihr mir meine Tochter bringt sind wahrhaft denkwürdig. Sprecht, was hat der Mensch hier zu suchen? Und was hat seinesgleichen mit meiner Tochter zu tun?“
    Eldras sagte nichts dazu. Er wusste, dass die Elben im Norden die Menschen nicht mehr mochten. Dass er nun anscheinend die Tochter eines Mitgliedes des Rates unter solchen Umständen getroffen hatte, schien eine äußerst unangenehme Fügung des Schicksals.
    „Nadrim, hütet euch! Dieser Mensch mag wie eure Tochter eine große Rolle für die Zukunft eures Volkes spielen! Ilia wurde erwählt. Dieser Mensch, Eldras, ist dafür verantwortlich, dass ihr nichts wiederfahren ist, nachdem die Magie ihr ihr Schicksal offenbarte. Die Erwählten sind nach der Offenbarung angreifbar und antastbar von den Mächten des Uralten. Wäre niemand bei Ilia gewesen, hätte sie nun tot oder auf der Seite des Uralten sein können.“
    Nadrim zuckte zusammen. Seine Tochter, das einzige Kind, dass er mit seiner Geliebten Kaleen gehabt hatte, war erwählt worden, um für das Schicksal seines und ihres Volkes einzutreten. Anscheinend wollte das Schicksal seine gesamte Familie zerreißen!
    Er wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch seine Schwester Kirano kam ihm zuvor. „Es ist wahr, Nadrim. Dies erzählte uns Eldras, nachdem wir die beiden gefunden hatten. Ich konnte keine Lüge in seinen Augen erkennen.“
    „Das werde ich nicht zulassen. Welcher Zauber, Midnadear, ist es, mit dem ihr meine Familie belegt habt?!“, sagte er kalt, und blickte den Magier mit zu Schlitzen verengten Augen an. Zorn bewegte ihn zu dieser Reaktion, Unglaube. Er wollte nicht wahrhaben, dass wieder ein Teil seiner Familie für das Schicksal für dieses Schicksal nur zu wahrscheinlich sein Leben gab.
    Midnadear sah dies mit Gelassenheit. „Es ist kein Zauber, den ich bewerkstelligen könnte, Nadrim. Das Schicksal hat die Macht über jeden von uns, und wir müssen uns fügen. Auf ihr, Fürst der Elben. Euer Schicksal ist es, zu vertrauen. Eines Tages wird Kaleen zurückkehren, genauso wie Ilia zurückkehren wird.“
    „Ich glaube euch nicht länger, Magier der Menschen.“ Damit wandte sich der Elb um und stapfte wütend davon.
    Einen Moment entglitten dem Magier die Züge, man sah Trauer und Sorge auf seinem alten Antlitz, doch dann straffte er sich wieder. Leise, sodass nur Eldras und Kirano es vernehmen konnten, flüsterte er: „Ich hoffe sehr, dass dein Volk nicht für dieses Misstrauen büßen muss, Elbenfürst.“
    Kirano runzelte die Stirn. Was war bloß in ihren Bruder gefahren? Für gewöhnlich stand er stets hinter der Sache der Magier, aber nun? Gut, er wollte Ilia nicht an das Schicksal verlieren, wie er Kaleen verlieren musste. Aber das war doch nicht der Grund, weshalb er sich wahrhaft von der Bruderschaft der Zwölf abwandte?
    „Midnadear, ich sorge mich. Das ist nicht normal, mein Bruder verhielt sich noch nie zuvor derartig.“
    „Ich weiß, Kirano. Doch ich vermag nichts an dieser Fügung zu ändern. Das Schlimmste, was zu geschehen vermag, ist wohl, dass er sich selbst verliert.“
    „Wie meint ihr das, Herr?“
    „Ganz einfach; er verliert sich, seinen Glauben und seine Hoffnung. Er ergibt sich dem Schatten des Uralten.“
    Kirano schluckte und blinzelte eine Träne fort. Gleichzeitig versuchte sie, ein stolzes Gesicht zu wahren. „Mein Bruder wird stark sein, das weiß ich... Das hoffe ich...“

    Ilia erwachte nur langsam. Sie hielt die Augen noch weiter geschlossen und versuchte sich in Erinnerung zu rufen, was geschehen war. Nur langsam sickerte das Geschehene in ihr Bewusstsein durch.
    Die Stimmen... Cairesh, hatten sie gesagt... der Name des Eisphönix... Und dann? Sie war wohl zusammen gebrochen...
    Doch in ihrer Erinnerung war mehr. Bilder wie eine Vision. Hatte sie geträumt? Nein, es war anders. Es waren Erinnerungen.
    „Du bist erwählt“.
    Drei Worte, die das Schicksal ihr offenbart hatte.
    Erst nach einem Moment wurde ihr bewusst, was das bedeutete, und sie fuhr erschrocken in die aufrechte Position hoch. Sie war erwählt! Sie hatte eine Aufgabe! Diese Aufgabe wurde ihr durch die unbekannten Erinnerungen gezeigt. Entschlossen schloss sie die Augen. Womöglich würde sie verstehen, was sie tun musste, wenn sie ordentlich darüber nachdachte.
    Farben setzten sich zu Bildern zusammen. Sie sah die Ruinen, einen Eingang in die Höhlengänge, die unter der vergangenen Stadt verborgen waren. Die Höhlen waren hell erleuchtet, Eis glitzerte an den Wänden, dem Boden, der Decke.
    Die Höhlen des Eisphönix.
    Doch dann legte sich ein Schatten über alles. Die Farben wichen, wurden zu grau. Eine eisige Kälte zog sich durch Ilias Körper, und sie erzitterte, ohne es wahrzunehmen. Sie hörte nicht, wie die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet wurde, wie rasche Schritte auf sie zukamen. Sie hörte nicht, wie eine unbekannte Stimme den Namen des Magiers rief, wie weitere Schritte ihrem Bett näher kamen.
    Erst, als Midnadear der Elbin eine Hand auf die Stirn legte, veränderte sich alles. Die Grautöne wichen, die Bilder lösten sich auf. Die Kälte schwand.
    Verwirrt und schwer atmend schlug Ilia die Augen auf. Die Hand des Zauberers ruhte auf ihrer Stirn. Von dort breitete sich eine angenehme Wärme in ihrem gesamten Körper aus, die alle Gedanken an die Kälte vertrieben.
    „Was...?“
    „Still, Ilia. Rede noch nicht.“
    Ilia nickte leicht und schloss wieder die Augen. Noch immer flutete die Wärme durch ihren Körper, als wolle sie auch die Angst, die ihr durch die Glieder gefahren war, verjagen.
    Einige Minuten noch herrschte Schweigen, ehe der Zauberer die Hand von der Stirn der Elbin nahm, die daraufhin wieder die Augen öffnete und ihn fragend anblickte.
    „Versuch so etwas nie wieder. Der Uralte wird es schaffen, dich zu vernichten, ohne, dass du ihm gegenüberstehst. Es ist schön, wenn du herausfinden willst, was deine Aufgabe ist, aber nicht so, nicht, wenn du alleine bist, junge Elbin. Es ist gefährlich, sich auf die Visionen des Schicksals zu verlassen. Wenn Eldras nicht da gewesen wäre, hätte es zu spät sein können.“
    Bei dem unbekannten Namen fuhr Ilias Kopf herum und sie erblickte den unbekannten Menschen. Dieser musterte sie aus unergründlichen, dunkelblauen Augen. Als er ihren Blick bemerkte, lächelte er ihr vorsichtig zu.
    Nach einigen Momenten der Verblüffung errötete die Elbin leicht und lächelte schüchtern zurück.
    „Ilia, hör mir zu. Riskiere es nicht wieder.“
    „Aber ich-“, wandte sich die Elbin wieder dem Magier zu.
    „Ich weiß, dass du das nicht wusstest. Ich bin auch nicht böse auf dich. Ich war bloß in Sorge.“
    Ilia war verblüfft. Der Magier schien sich nun anders ihr gegenüber zu verhalten. Die Förmlichkeit, die sie im Wald streng zwischen sich stehen hatten, war von ihm abgefallen.
    „Wo ist mein Vater?“ Die Frage erschien ihr plötzlich wichtig. Für gewöhnlich war Ilia für Nadrim das wichtigste auf der Welt, und sie hatte damit gerechnet, dass er bei ihr sein würde.
    „Es gab etwas Streit zwischen deinem Vater und mir. Er hat sich von der Bruderschaft abgewandt.“
    „Warum, Herr?! Warum tut er das? Er weiß doch, dass Mutter stets hinter euch und eurer Gemeinschaft stand, weshalb er ihr schwor, es ihr gleichzutun!“
    „Bleibe ruhig, Ilia. Das Schicksal hat ihn so entscheiden lassen. Wir werden sehen, welcher Weg ihm bestimmt ist.“
    „Ja, Herr.“, murmelte die Elbin. Sie blinzelte eine Träne fort. Warum ihr Tränen in den Augen standen, wusste sie selbst nicht. Es mochte an dem Weg liegen, der vor ihnen allen lag. Der Weg, der im Unbestimmten enden würde.
    „Herr, darf ich euch etwas fragen?“
    „Gewiss. Aber ob ich dir ehrlich antworten darf, vermag ich erst zu sagen, wenn du gefragt hast.“
    „Also... Bei der Offenbarung hörte ich den Namen des Vergangenen. Ist es meine Aufgabe, ihn zu holen?“
    „Erwecken wäre das bessere Wort, Tochter des Waldes. Er schläft, verborgen im tiefstem Eis. Deine Aufgabe ist es, ihn zu wecken, ihm zu zeigen, dass es Zeit ist, gegen die Schatten des Uralten anzukämpfen.“
    „Ich alleine? Wie soll ich das schaffen? Herr, das kann ich nicht!“
    „Du wirst nicht alleine sein, Ilia. Eldras ist nicht zufällig hierher gekommen. Sein Weg wird neben dem deinen sein. Mach dir keine Sorgen. Das Schicksal hätte dich nicht erwählt, sollte deine Aufgabe unlösbar sein.“
    Damit strich er ihr mit seiner alten Hand kurz über den Kopf, als wollte er sie beruhigen, dann lächelte er ihr kurz zu, und verließ den Raum. Eldras stand an der Wand und musterte Ilia. Einen Moment huschte Unsicherheit über das Gesicht der Elbin, ehe sie sich fasste. Sie wandte sich an den Menschen.
    „Ihr seid Eldras, richtig? Was führte euch in die Wälder des Nordens?“
    „Nichts. Mein Füße suchten mir den Weg, den ich gehen sollte.“
    Ilia blickte ihn verdutzt an, ehe sie schmunzeln musste. „So führte euch tatsächlich das Schicksal zu uns.“
    Eldras lächelte ebenfalls. „Erlaubt mir eine Frage. Was ist das, was ihr Schicksal nennt? Ihr sprecht davon, als sei es..“
    „Kennt ihr Menschen den das Schicksal nicht?“
    „Doch, aber nicht auf die eure Weise. Bei uns ist das Schicksal etwas unbestimmtes, an das nur wenige Glauben. Wir glauben an die alten Götter, deren Macht uneingeschränkt ist.“
    „Götter...? Nun, Bei uns ist das Schicksal allmächtig. Es ist so etwas wie eine Gottheit, denke ich. Wir folgen seinen Offenbarungen, es bestimmt unser Handeln.“
    „Dann übt es mehr Einfluss auf euch aus als unsere Götter.“
    „Das Schicksal handelt zum Wohle der Welt. Gleichzeitig ist es nicht“, sie zögerte einen Moment, als suche sie nach dem richtigem Wort, „nun ja, parteiisch. Es ist sowohl in jedem von uns Elben als auch in den Kreaturen der Schatten. Es ist auch in den Menschen, in allem. Doch nur die Elben und Magier verspüren seine Anwesenheit. Es gibt nur noch ein Wesen, dass unberührt von seinem Einfluss ist.“
    „Welches?“
    „Früher gab es mehr von ihnen, im erstem Zeitalter. Ich lebte damals noch nicht. Es waren die schönsten Geschöpfe aller Kontinente. Doch dann gingen sie, nur einer blieb zurück. Zumindest wurde mir das erzählt, als ich noch klein war.“
    „Sie gingen? Sind sie gestorben?“
    „Nein. Sie hinterließen eine Feder und verschwanden. Die einen gingen in goldenen Flammen auf, die anderen verschwanden in einem Wirbel aus Farben.“ Während sie erzählte glitzerte eine merkwürdige Freude in ihren Augen. Sie blickte Eldras direkt ins Gesicht, als sie leise sagte: „Der letzte ist Cairesh, der Vergangene. Der Eisphönix. Der letzte Phönix. Bei euch Menschen gibt es Sagen von ihm, von der Eisträne der Götter. Und es ist meine Aufgabe, ihn zu erwecken.“
    „Die Eisträne also. Ich hörte viele Geschichten, es soll die Schönheit in Eis sein. Nichts übertraf ihren Glanz, erzählen die Geschichtenerzähler und singen die Barden. Niemand vermochte sie zu betrachten, ohne zu staunen, niemand vermochte diesen wundervollen Gesang zu hören, ohne zu Tränen gerührt zu sein.“
    „Ja. Ich habe Cairesh nie gesehen. Kaum einer meines Volkes kennt sein Aussehen noch. Meine Mutter und mein Vater wussten, wie er aussieht. Sie sahen ihn einmal, im Zweiten Zeitalter, als er das Klagelied um seine verloren geglaubten Brüder und Schwestern sang.“
    „Seitdem ist die Eisträne fort.“, beendete Eldras ihren Gedanken. „Welch eine Schönheit mag mit ihm gegangen sein?“
    „Er ist nicht fort. Nun spüre ich seine Präsenz, als ob er mich rufe. Er erwartet mich.
    Eldras, werdet ihr mich in die Gänge des Eises begleiten?“
    „Ja, Herrin Ilia, das werde ich!“

    Kirano erwartete den Magier vor der Tür von Ilias Zimmer. Ihr Gesichtsausdruck war besorgt. „Was ist geschehen? Ich hörte den Menschen rufen, dass etwas passiert sei, aber ich wagte es nicht, euch zu folgen.“
    „Ilia geht es gut, sorgt euch nicht. Doch beantwortet mir eine Frage, Kirano. Warum misstraut ihr Eldras? Die Menschen sind stets ehrlich gegenüber dem Volke der Elben gewesen.“
    „Gewiss, Midnadear. Aber ich fürchte mich davor, welchen Weg das Schicksal meiner Nichte und dem Menschen zugedacht hat. Ich traue ihm nicht, und dennoch muss ich zulassen, dass er mit Ilia den Weg des Schicksals geht.“
    „Sollte Ilia denn allein gehen? Sollte sie wahrlich solche Einsamkeit auf sich nehmen? Die Höhlen unter den Ruinen sind weit und verzweigt. Es sollte ihr kein Problem sein, hindurch zu gelangen, doch erdrückt Einsamkeit das Herz und die Seele, wenn man die Furcht mit sich trägt.“
    „Wahrlich ist dem so, Herr. Doch ich fürchte den Verrat.“
    „Eldras ist ein ehrlicher Mann. Fürchtet euch nicht. Zwischen diesen beiden entsteht ein besonderes Band, dass nichts durchbrechen wird. Schon jetzt spüre ich das Band des Vertrauens, dass die beiden verbindet.“
    „Was ihr dort aussprecht, ist meine nächste Sorge, Ehrwürdiger! Was würde Nadrim sagen, wenn sich Ilia, seine einzige, geliebte Tochter, in den Menschen verliebt?“
    „So würde ich ihm sagen, dass die Liebe der beiden vom Schicksal gesegnet ist.“
    „Mit euch ist nicht zu diskutieren, Ehrwürdiger.“, sprach die Elbin lächelnd. Womöglich würde tatsächlich noch Unvorhergesehenes auf dem Weg liegen, doch Midnadear fürchtete dies nicht. Es war, als würde er den weiteren Weg einfach auf sich zukommen lassen. „Fürchtet ihr das Ende nicht?“
    „Das Ende? Das Ende ist bloß der Beginn von etwas Neuem. In unserer Lage bin ich noch außerstande zu sagen, wann das Ende eintritt. Wenn Ilia nicht zurückkehrt? Nein, dann ist noch nicht das Ende erreicht. Wenn die Hoffnungen schwinden? Die Hoffnung mag wahrlich das letzte sein, so sagen die Menschen. Doch eigentlich stirbt sie niemals. Auch nicht am Ende.“
    „Vielleicht ist das Ende der Moment, in dem einer aufgibt.“
    „Doch könnt ihr mir sagen, Kirano, Weise der Elben, wann man aufgibt?“
    Kirano zog überrascht eine Augenbraue nach oben, ehe sie zu lächeln begann. Wahrlich, es war ein Spiel! Ein Spiel, dass sie und der alte Mann spielten. Ein Spiel von Fragen und Antworten, vom erkennen und nutzen der Ironie.
    Was war nur los mit ihr? Warum ließ sie sich auf nichtige Spielchen ein, die sie verlieren musste?

    Ilia stand vor dem Haus ihres Vaters, am Dorfsrand. Der Mond schien auf den düsteren Wald vor ihr. Es war spät in der Nacht, sie hatte einen halben Tag lang geschlafen. Nun stand sie, leise singend, in der kühlen Luft und sang ein Lied. Die Sprache kannte sie nicht, aber die Melodie erfüllte sie immer, wenn sie diese hörte, mit einer nicht unangenehmen Trauer. Mit einem leisem, langem Ton endete der Gesang des Liedes, dass sie schon so oft zum Leben erweckt hatte. Ihre Mutter hatte es ihr bereits vorgesungen, als sie noch ganz klein war. Sie hatte ihr auch einst erklärt, dass das Lied in einer Sprache war, die die Menschen, wenn sie weit fern von ihrer Heimat waren, sangen. Es ging um eine Legende, die ihnen in Erinnerung brachte, was sie daheim zurückgelassen hatten.
    Es mochte Zufall sein, doch die Melodie des Liedes war eben jene, die Cairesh vor seinem Verschwinden sang.
    „Ilia, da seid ihr ja! Ich suchte euch. Ihr seid einfach hinausgegangen, ohne Midnadear Bescheid zu geben. Er mochte dies gar nicht.“ Eldras war aus dem Haus gekommen, und lächelte sie nun warm an.
    „Oh, verzeiht mir, Eldras. Ich wollte euch nicht beunruhigen.“ Sie lächelte ihm ebenfalls schüchtern zu, wobei sie spürte, dass sie leicht errötete.
    „Ich habe euch singen gehört, Herrin. Welches Lied war es? Es klang wundervoll.“
    „Eldras, nennt mich doch nicht immer „Herrin“. Das bin ich doch gar nicht.“
    „Aber irgendwie muss ich euch doch zeigen, dass euch Ehre gebührt. Immerhin seid ihr eine besondere Elbin.“
    Erneut errötete Ilia und war dankbar für die Dunkelheit, die nur dürftig von dem hellem Mondlicht vertrieben wurde.
    „Das Lied... Es ist ein Lied der Menschen. Ich glaube, vor allem im fernen Süden wird es gesungen. Es hat dieselbe Melodie wie der Abschied des Cairesh.“
    „Und die Sprache, in der ihr gesungen habt, beherrscht ihr sie?“
    „Nein, ich kenne nur das Lied. Meine Mutter sang es früher gern.“
    Eldras wollte etwas erwidern, doch dazu kam er nicht. Hinter ihnen hörten die Elbin und der Mensch ein Geräusch, dass sie herum fahren ließ.
    Aus dem Wald kam eine Gestalt auf sie zu, die weder Ilia noch Eldras sofort erkannten. Erst als die Person ins Licht des Mondes trat, erkannten die beiden ihn.
    „Vater! Wo seid Ihr gewesen?“
    Doch Nadrim antwortete nicht sofort. Er kam weiter auf die beiden zu, ehe er, einige Meter entfernt, stehen blieb. „Ich muss mit dir reden, Ilia.“ Seine Stimme klang merkwürdig, und ließ die Elbin leicht erschaudern. Das unbestimmte Gefühl von Gefahr ging von ihm aus, doch sie kämpfte es nieder. Es war immerhin ihr Vater.
    Eldras blickte den Elb recht misstrauisch an, anscheinend spürte auch er die Gefahr. Nadrim wandte sich ihm zu und blickte ihn kalt an. Der Mensch zuckte nicht zurück und zeigte auch sonst keine Anzeichen von Furcht. Erst nach einigen Momenten nickte er langsam, ehe er sagte: „Dann werde ich euch alleine lassen, Herr.“ Damit wandte er sich um und ging ins Haus zurück. Ilia blickte ihm nach, ehe ihr Vater sie ansprach.
    „Du bringst Schande über deine Familie, Tochter. Du bist auf dem besten Wege, dich in einen Menschen zu verlieben. Schämst du dich nicht?“
    Ilia zuckte zurück. Die Stimme ihres Vaters war rau, kalt und seine Worte verletzten sie. Brachte sie wirklich Schande über die Familie, nur, weil sie sich gut mit Eldras verstand?
    „Warum sagst du das?“, fragte sie leise, mit tränenerstickter Stimme.
    Ihr Vater trat einige Schritte auf sie zu. Aus unbestimmten Grund wich Ilia zurück, Furcht stand in ihren Augen. Etwas stimmte nicht. Ihr Vater war nicht länger der gebildete, freundliche Elb, den sie so liebte. Er war kalt und bedrohlich, wie er es noch nie gewesen war. Sie spürte die Wand des Hauses in ihrem Rücken und hielt erschrocken die Luft an. Was passierte bloß mit ihr? Was passierte mit ihrem Vater?
    Selbst, als seine Tochter nicht weiter zurückweichen konnte, kam Nadrim näher, bis er nur noch einige Zentimeter von ihr entfernt war.
    „Warum ich das sage? Das fragst du ernsthaft? Du bist nicht irgendein Mädchen, dass sich in jeden Menschen verlieben kann! Vergiss das nicht! Du bist die Tochter eines Adeligen!“
    Trotzig verengte Ilia die Augen und blickte in die ihres Vaters. „Und wenn? Was wäre, wenn ich mich in Eldras verliebte? Würdest du mich verstoßen? Deine eigene Tochter?“
    In diesem Moment wuchs die von Nadrim ausgehende Bedrohlichkeit, und Ilia ahnte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Ehe sie etwas sagen konnte, hob ihr Vater die Hand und schlug sie ins Gesicht. Ilia zuckte zusammen, sagte oder tat jedoch nichts. Doch innerlich spürte sie Panik. Ihr Vater hatte sie nie geschlagen, war nie so kalt zu ihr gewesen. Was war nur los?
    Noch bevor sie sich wieder gesammelt hatte, schloss sich eine kalte Hand um ihre Kehle und Ilia spürte, wie ihr die Luft abgedrückt wurde.
    „War das eine ernste Frage? Ich bestimme darüber, wen du heiraten wirst, und der Mensch wird es nicht sein! Wage es nicht, solche Bemerkungen in meiner Gegenwart zu machen!“, zischte eine Stimme ihr zu, während sie versuchte, ihren Vater von sich zu stoßen. Doch als sie seine Worte hörte spürte sie Tränen in ihren Augen brennen. Das war nicht ihr Vater! Bestimmt nicht.
    Musste sie nun sterben?
    Langsam spürte sie, wie ihre Versuche, sich zu wehren, schwächer wurden. Tränen verließen ihre Augen und rannen über ihre Wangen. Plötzlich hörte sie, wie die Haustür schwungvoll geöffnet wurde, sodass sie gegen die Wand prallte. Hoffnung brandete in ihr auf, als sie schnelle Schritte hörte und drei Gestalten um die Ecke der Wand kamen. Gegen den Mond hoben sich die Gestalten von Eldras, Midnadear und Kirano ab. Sie sah, wie Midnadear die Hand bewegte, Nadrim wurde von ihr fortgerissen und Ilia sank hustend und nach Atem ringend zu Boden. Sofort war Eldras bei ihr. „Geht es dir gut?“
    Schwer atmend nickte Ilia und hob den Kopf.
    Kirano schrie Nadrim an.
    „Was tust du? Sie ist deine Tochter! Sie ist die Tochter von Kaleen!“ Die Erwähnung des Namen der Elbin schien in Nadrim etwas zu verändern. Langsam sank er zu Boden und ein schwarzer Nebenstreif, von allen außer Ilia ungesehen, wurde von ihm geweht.
    „Was habe ich getan?“, fragte die heisere Stimme von Nadrim.


    „Wie traurig...“, murmelte ich leise, ohne von dem Pergament aufzublicken.
    „Ja, dass ist es. Nadrim bereute seine Tat damals noch sehr, sehr lange.“, wisperte der Erzähler. Ich blickte auf, nachdem ich den letzten Satz zuende geschrieben hatte. Mein Blick schweifte über die bereits beschriebenen Blätter. Mehrere Pergamentbögen waren bereits mit sauberen, verschlungen geschriebenen Buchstaben bedeckt, die schwarze Tinte hob sich kraftvoll von dem gelblichem Blatt ab. Wenn ich nicht zum einem meinen Gefallen an der Geschichte gefunden, und zum anderem dafür bezahlt würde, hätte ich das viele Pergament als Verschwendung betrachtet – doch diese Geschichte war es wert, verfasst zu werden.
    Ich blickte den alten Mann lange an, der gerade aus dem Becher mit Tee, der neben ihm auf meinem kleinem Tisch stand, trank.
    Der Alte nickte langsam und erzählte weiter...


    „Ilia, du und Eldras, ihr müsst schon bald aufbrechen. Je länger ihr verweilt, desto höher ist die Gefahr, dass dies erneut geschieht. Ich kann es nur vermuten, doch womöglich lag ein Schatten des Uralten über Nadrim.“, sagte Midnadear ernst.
    „Ich sah einen Schatten davon driften, Herr“, murmelte Ilia leise. Sie hielt die Information für unwichtig, da sie davon ausging, dass jeder von ihnen den schwarzen Nebelstreif gesehen hatte.
    „Einen Schatten? In wiefern?“
    „Saht ihr ihn nicht, Herr? Es war ein Schatten, der vom Wind wie Nebel davongetragen wurde, als mein Vater zusammenbrach.“
    „Nein, ich sah ihn nicht. Dies ist das letzte Teil, dass fehlte, Ilia. Tatsächlich fällt nun schon der Schatten des Uralten über das Dorf. Tage, vielleicht auch nur Stunden, mögen vergehen, ehe er die Elben weit und breit wie Marionetten benutzt. Er ist gescheit, aber langsam, wenn es um das Erkennen von Geschehnissen geht. So müsst ihr beiden schon bald aufbrechen.“
    Midnadear, Ilia und Eldras saßen in Ilias Zimmer. Der Mensch hatte sie dazu bringen wollen, sich nach dem Geschehnem auszuruhen, doch die Elbin war zu aufgewühlt, um ruhen zu können. Kirano war mit Nadrim in das Zimmer des Elbenfürsten gegangen. Zweifel und Kummer nagten an der Seele des Elben und seine Schwester redete eindringlich auf ihn ein, dass es nicht seine Schuld gewesen sei.
    Doch die Zweifel und Wut auf sich selbst blieben.
    „Herr Midnadear, ich bitte euch. Lasst uns noch so lange verweilen, wie es meinem Vater nicht gut geht! Ich möchte bei ihm sein“, bat Ilia eindringlich.
    „Nein, junge Elbin. Ich verstehe deine Sorge, doch es geht nicht. Kirano wird ihm beistehen. Wenn ihr beiden zurückkehrt wird es nicht nur deinem Vater, sondern allen Elben besser gehen. Deshalb brecht auf sobald, ihr euch stark genug fühlt.“
    Ilia seufzte leise, nickte jedoch. „Dann sollten wir schon bald gehen. Ich will mein Schicksal bewältigen.“
    Eldras nickte ebenfalls. Er stand wieder an der Wand und hatte das Gespräch größtenteils schweigend verfolgt. Für ihn stand fest, dass er Ilia folgen würde, egal wohin sie ihr Weg führte.
    Ilia blickte ihn dankend an, während ihr die Worte ihres Vaters in den Sinn kamen. „ ... Du bist auf dem besten Wege, dich in einen Menschen zu verlieben ... “
    Er hatte es gesagt, als der Schatten des Uralten über ihm lag. Dennoch war es möglich, dass er Recht gehabt hatte. Spürte sie nicht schon das feste Band des Vertrauens zwischen ihnen, obwohl sie ihn kaum kannte? Hatte sie nicht ein merkwürdiges Gefühl, tief in sich, dass ihr sagte, sie solle ihn niemals wieder gehen lassen?
    War das Liebe?
    Ilia spürte Midnadears Blick nicht, der ihren Gedanken folgte. Auch sah sie das Lächeln nicht, dass über sein Gesicht glitt, als er ihre unausgesprochene Frage hörte.
    Liebe ist das Mysterium des Lebens. Was die Liebe ist, weiß niemand, doch jeder spürt sie. Egal wie viele Zeitalter man durchlebt, niemals wird man die Antwort auf die Frage finden, weshalb die Liebe die stärkste und unbegreiflichste Macht von allen ist. Die Macht, die Segen und Fluch ist. Die Macht, die zu zerstören und zu erretten vermag. Die Macht des Seins.
    „Nun denn, ihr beiden, macht euch bereit. Euer Weg erwartet euch. Folgt ihm, ehe er euch entgleitet“ Die Stimme des Magiers war kaum mehr als ein Murmeln, doch jeder im Raum verstand ihn. Es wurde also Zeit.
    Ilia, die auf dem Bett gesessen hatte, stand auf. „Herr, sollte ich meinen Vater noch einmal aufsuchen?“
    „Ja, Ilia. Verlasse dieses Haus nicht, ohne von seinem Herrn Abschied zu nehmen. Doch lasse dich nicht von deinem Wunsch, zu verweilen, aufhalten. Er erhofft sich vielleicht tief in seinem Herzen, dass du bliebst, damit du nicht für immer fern bist, wie seine geliebte Kaleen. Doch dein Weg ist vorbestimmt. Lasse dich nicht aufhalten.“
    „Gewiss, Herr. Ich werde gleich zurück sein.“
    „Eldras, packe du bereits die Sachen, die ihr benötigen werdet. Ich werde dir helfen.“, sagte der Magier zu dem Menschen, als sie den Raum verließ.
    Die Gänge durch das Haus schienen düster. Womöglich drifteten auch hier bereits die Schatten des Uralten umher, ungesehen von Elb, Mensch und Magier? Dieser Gedanke erfüllte Ilia mit Angst. Wie groß mochte die Macht jenes Verfluchten sein, wenn er derartig schnell in der Lage war zu handeln? Wie fern waren doch einst die Schatten! Im fernen, fernen Süden, weit hinter Berg und Tal, hinter Wald und Fluss, an den Küsten des Silbermeers. In der Festung zu Nilden hatte sich der Uralte einst verschanzt, als er noch einen Körper hatte. Im Krieg des ersten Zeitalters wurde sein lebendiges Dasein vernichtet, doch durch seine dunklen Rituale tappte die Bruderschaft der Zwölf damals in eine Falle; sie taten genau das, was der Uralte sich erhoffte. Sie lösten ihn vom irdischen Dasein und gaben ihm Freiheiten, die nahe dem Uneingeschränktem Lagen. Doch dafür musste er bitter bezahlen: Kein Wesen, dass körperlos ist, hat eine Seele, außer womöglich das Schicksal.
    Nun ist er ein Schatten, der Uralte, gefährlich, tödlich, uneinschränkbar, aber seelenlos.
    Keine Gefühle, keine Gedanken durchfluten sein Sein.
    Keine Hoffnungen, keine Furcht. Keine Angst, keine Liebe.
    Ilia schreckte aus ihren Gedanken hoch, als sie vor der Tür zu dem Zimmer ihres Vater stand. Noch schwirrte ihr Geist nahe ihren Überlegungen, doch sie riss sich los. Würde sie noch lange über derartiges grübeln, würde sie sich nur selbst die Hoffnung nehmen.
    „Vater?“, fragte sie, als sie die Tür öffnete. Nadrim saß auf dem Bett, Kirano neben ihm. Sie hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt und schien ihn beruhigen zu wollen. Ilia schluckte. Ihr Vater war stets unnahbar gewesen, unverletzlich. Ihn nun so aufgelöst zu sehen, tat ihr im Herzen weh.
    Als Nadrim Ilias Stimme vernahm blickte er auf. Seine Augen trugen einen verzweifelten Ausdruck. „Es tut mir Leid.“, wisperte er erstickt.
    „Vater, es wird alles wieder gut.“
    Kirano blickte Ilia fest in die Augen. „Brecht ihr bald auf? Du und der Mensch Eldras?“
    „Ja, Kirano. Aber sagt mir bitte eines; warum nennt ihr Eldras nun das erste mal bei seinem Namen?“
    „Wäre er nicht gewesen, und hätte uns gesagt, dass Nadrim gekommen wäre, hätte Midnadear niemals auf den Gedanken kommen können, dass etwas nicht stimmte“, sagte sie leise. Sie schien unglücklich darüber, dass ihr Bruder litt. Doch nach außen hin blieb sie stark, wie sie es, als Mitglied des Rates, immer tat.
    „Wäre er nicht gewesen hätte ich dich wohl umgebracht.“, flüsterte Nadrim und vergrub das Gesicht in den Händen.
    „Nein, Vater. Das warst nicht du. Spürst du die Schatten nicht, die bereits beginnen, alles um uns herum zu umweben? Das ist der Grund, weshalb ich aufbrechen muss. Ein jeder Elb wird bald eine Marionette in den Fängen des Uralten sein, solange ich verweile. Ich bringe euch alle in Gefahr. Sorge dich nicht, Vater. Bald wird alles wieder gut.“
    Damit nickte und lächelte sie ihrem Vater leicht zu, der diese Geste jedoch nicht sah. Kirano nickte zum Abschied, ehe sie wieder beruhigend auf Nadrim einsprach.
    Ilia verließ den Raum. Wieder spürte sie die Kälte, die Schatten, die um das Haus lagen. Sie wurden stärker. Bald würden sie greifbar sein, und in der Lage, zu handeln. Sie musste sich eilen.
    Als sie in den Wohnraum kam, sah sie, dass Midnadear und Eldras bereits zwei Rucksäcke gerichtet hatten und nun leise redend am Tisch saßen. Als die Elbin eintrat, sprang Eldras auf. „Herrin Ilia! Wir können los. Alles ist vorbeireitet.“
    Auch der Magier erhob sich, allerdings mit mehr Würde.
    „Ich werde euch zu den Ruinen begleiten. Der Wald wird gefährlich sein. Wo durch Nacht und Nebel schon Schatten die Geheimnisse verbergen, nistet sich der Schatten des Uralten schneller ein. Tiere mögen beeinflussbarer sein als Menschen.“
    Ilia atmete tief durch. Es musste sein. Sie mussten los.
    „Gut, Herr. Lasst uns aufbrechen. Die Schatten werden stärker, und dass macht mir Sorge.“
    „Ilia, du spürst es? Du spürst die Schatten des Uralten?“ Das erste mal schien der alte Mann wirklich überrascht.
    „Ja, Ehrwürdiger, ich spüre sie. Die Kälte und die bösartige Bedrohung nimmt zu. Nicht mehr lange, und das Gespinst der Dunkelheit ist greifbar.“
    „Du bist eine besondere Elbin, Ilia, wie es auch deine Mutter war. Das Schicksal wird die richtige Wahl getroffen haben, als es dir deinen Weg offenbarte.“
    „Vielleicht, Herr. Vielleicht bin ich etwas Besonderes. Doch ich erhoffe mir, einen anderen Weg gehen zu müssen als den meiner Mutter.“
    Eldras lächelte sein unergründetes lächeln. Ilia spürte ihre Verlegenheit, als er sie warm anblickte, und wich seinem Blick aus. Statt ihn anzusehen nahm sie einen der Rucksäcke und warf ihn über die Schultern. „Lasst uns aufbrechen.“

    Seit sie das Haus verlassen hatten, hatte keiner ein Wort gesprochen. Das Licht des Mondes drang nicht mehr bis auf den Waldboden durch. In der Luft lag eine untergründige Bedrohung, die selbst Eldras spürte. Der Magier zeigte nach außen nicht, was er spürte, doch Ilia schien mit ihrer Furcht zu ringen. Wenn Eldras als Mensch schon die Bedrohung spürte, so spürte sie, als auserwählte Elbin, die Schatten, die um sie herum drifteten, sie umfingen, noch viel stärker.
    Der Magier trug auf seiner geöffneten Hand ein Licht, dass Schatten und Nebel fernhielt, doch Ilia brauchte die Schatten nicht zu berühren, um ihre Anwesenheit wahrzunehmen.
    „Spürt ihr die Schatten, Eldras?“
    „Ja, Herrin Ilia, doch gewiss nicht so wie ihr. Fürchtet ihr euch?“
    „Ja. Aber es ist keine Zeit, um seiner Furcht zu erliegen.“
    „Schweigt, ihr beiden. Eure Gespräche mögen interessant sein, doch ich versuche mich zu konzentrieren“, unterbrach Midnadear das Gespräch. Seine Augen waren geschlossen, dennoch führte er sie auf dem kürzesten Wege durch den Wald, zu den Ruinen. Sein Geist war auf Wanderschaft, suchte in der Umgebung nach Abweichungen. Doch etwas störte das Bild. Ungewöhnlich viele Veränderungen umgaben ihn und seine beiden jungen Gefährten. Zum einen mochte sein Geist die Schatten spüren, dann war da noch die Möglichkeit, dass beeinflusste Wesen in der Nähe waren, Tiere vermutlich. Außerdem spürte die geübte Seele des Magiers auch jetzt schon die Macht des Cairesh. Er wartete.
    Abgesehen von all diesen Abweichungen war noch eine ungewöhnliche, starke, ganz in seiner nähe, die er zu zuordnen versuchte – doch je mehr er sie zu fassen versuchte, desto weiter driftete sie davon, schien unerreichbar.
    Wieder verfiel die kleine Gruppe in Schweigen. Konzentriert beobachtete des Magiers Seele das sich verändernde Bild der Abweichung. Nur langsam wurde ihm bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte. Im selbem Moment wurde ihm klar, wer diese Abweichung in sich trug. Er schlug die Augen auf und wandte sich zu der Elbin um, die hinter ihm ging.


    Ich runzelte verwirrt die Stirn. Hatte ich wirklich alles richtig mitgeschrieben? Wieso verstand ich dann nicht, was mir der alte Mann gerade erzählt hatte?
    „Sagt mir, in wie fern hat Midnadear einen Fehler gemacht? Das ergibt keinen Sinn.“
    „Magier machen immer Fehler. Nur sind sie, anders als andere Wesen, dazu in der Lage, sie rechtzeitig zu erkennen. Wenn ich euch jetzt den Fehler erläutern würde, würde die Geschichte niemals beendet. Die Erklärung wäre zu lang und zu umständlich. Hört weiterhin zu, dann werdet ihr verstehen.“
    Ich blickte den Alten fragend an, erwiderte jedoch nichts. Vermutlich hatte er Recht, und ich würde noch verstehen – oder eben nicht.


    Ilia blieb, als sie sah, dass Midnadear innehielt, ebenfalls stehen. „Herr?“
    Der Magier blickte sie nachdenklich an, sagte jedoch nichts. Eldras blickte verwirrt von einem zum anderem, verstand nicht, was geschah.
    „Herr? Bitte, was ist los?“
    „Ich denke, Ilia, ich habe einen Fehler gemacht. Er betrifft dich eher indirekt, wichtiger wäre es für deine Mutter gewesen. Ich muss einsehen, dass ich einen Fehler machte und zugeben, dass dieser Schaden mit sich brachte.“
    „Welchen Fehler, Herr? Was brachte euch ausgerechnet jetzt auf diesen Gedanken?“ Ilia schüttelte verwirrt den Kopf.
    „Ich werde es dir später erklären. Wir müssen weiter, bevor-“ Er brach ab, als Ilia leicht zu schwanken begann.
    Die Elbin wurde blass, als sie etwas spürte, was sie vor Furcht erschaudern ließ. „Sie kommen! Die Schatten des Uralten!“
    Midnadear verfluchte sich halblaut für seine Dummheit, mitten im Wald stehen zu bleiben. „Folgt mir und eilt euch! Ich will es nicht auf einen Kampf ankommen lassen!“
    Eldras ergriff Ilias Hand, als die noch immer leicht taumelnd weiterlief. Der Magier hatte das Leuchten auf seiner Hand verstärkt, es strahlte weiter in die dichte Dunkelheit der Umgebung hinein, dennoch wurde nicht viel mehr von den Bäumen sichtbar. Es schien eher, als würde der schwarze Nebel sich ausweiten, um sie immer mehr einzuhüllen.
    Der alte Mann lief eiligen Schrittes voran, mit seiner merkwürdig geschmeidigen Gangart, welche der Elbin schon am Morgen aufgefallen war. Mit Mühe kamen seine beiden Begleiter hinterher, da Ilia immer häufiger strauchelte. Eldras meinte ihre Stimme zu vernehmen, die immer wieder, wie in Trance, die Worte „Sie kommen“ murmelte.
    „Fürchtet euch nicht, Herrin Ilia. Es wird nichts geschehen, ich stehe euch bei.“, flüsterte er und drückte die Hand der Elbin fester, während sie noch immer dem Magier hinterher liefen, ihr Atem schneller ging.
    Ilia wandte sich, mit einem verzweifelten Ausdruck in den klaren Augen, dem Menschen zu. „Ich spüre die Schatten. Ich spüre den Uralten und seine Macht. Ich spüre so viel mehr, als je zuvor, und das beängstigt mich.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein wispern, doch Eldras verstand sie.
    Der Weg, den sie durch die eintönige Dunkelheit liefen, schien niemals enden zu wollen. Der einzige Punkt, an den sich Eldras Menschenauge zu orientieren vermochte, war das helle Licht in des Magiers Hand, dass Schatten fernhielt und Sicherheit spendete. Zumindest spendete sie dies noch, doch wie lange vermochte dieses kleine Licht den Mächten des Uralten stand zu halten?
    Dennoch ließ sich der Mensch nicht von Furcht oder Sorge ergreifen. Tief in sich spürte er die Gewissheit, dass alles wieder gut werden würde.
    Die Stille erdrückte einen jeden der drei, sie hörten nur ihren eigenen, raschen Atem. Der Nebel ließ keinen Laut mehr zu.
    Erst ein Laut drang zu ihnen durch; es war ein schauerlicher Schrei, der alle Drei abrupt verharren ließ. Es war Ilia die sich zuerst soweit fasste, um sprechen zu können. „Er ist hier!“
    Der Magier wandte sich zu den beiden um, sein weißer Umhang flatterte in einem unhörbaren, plötzlich aufkommendem Wind. „Eilet euch! Es ist nicht mehr weit, bis zu den Toren der Höhlen! Ich werde die Schattenwesen aufhalten, so lange ich kann, die Flucht ist kein Ausweg mehr!“
    Ilia wollte etwas sagen, ihn bitten, es nicht zu tun, sich nicht zu opfern, doch Eldras verstärkte seinen Griff an ihrer Hand und zog sie mit sich. „Midnadear, ich werde Ilia zurückbringen!“, rief er, als er an dem Magier vorbei in die dichte Schwärze lief.
    Das Licht wurde sofort verschluckt, und Eldras sah nichts als Dunkelheit, ebenso wie Ilia. Eldras spürte, wie ihre Hand der seinen bebte, wie Ilia zitterte und er drückte sie ganz leicht. „Fürchtet euch nicht, Herrin. Das Schicksal wird uns den Weg auch blind zeigen.“
    Er hörte die Reaktion der Elbin nicht, lief einfach nur weiter. Es waren kaum fünf Schritte, als der Nebel plötzlich verschwand. Noch immer herrschte eine unnatürliche Dunkelheit, doch das Zentrum, dass sich um den Magier wob, lag hinter ihnen.
    In der Hoffnung, der Dunkelheit vollkommen zu entrinnen, beschleunigte Eldras seine Schritte, Ilia folgte ihm. Die Ruinen lagen nun unweit vor ihnen. Große Gesteinsbrocken ragten durch den Schatten und schienen einladend, sicherheitsspendend in Anbetracht der unnatürlichen Düsternis um sie herum.
    „Kommt, Herrin, wir sind gleich da!“
    Ilia schwieg, beschleunigte ein wenig ihre Schritte. Sie wollte in die Höhlen, möglicht schnell weit weg von den Schatten, die alles zu vernichten drohten.

    Die Ruinen schienen noch unübersichtlicher denn je. Wenn man etwas dringend sucht, so findet man es nicht so schnell, wie es nötig wäre.
    Ilia lief nervös hinter Eldras her, der die Umgebung nach dem Eingang der Höhlen absuchte. Immer wieder murmelte er etwas wie „Schicksal, hilf“, doch erzielte dies keine Wirkung.
    „Das Schicksal ist unparteiisch, Eldras. Es ist nicht immer dafür da, uns zur Seite zu stehen. In irgendeiner Weise mag es nun dem Uralten helfen. Wir müssen den Weg alleine finden.“
    „Herrin! Ihr sagtet, ihr spürt mehr als vor der Offenbarung. Spürt ihr die Macht der Eisträne?“
    „Ich weiß es nicht. Ich bin zu aufgewühlt.“
    „Dann beruhigt euch. Es ist wichtig.“
    Ilia schwieg und schloss die Augen. Es war wichtig. Es war wirklich wichtig. Sie kontrollierte ihre Gedankenflüsse, bis sie langsam das wogende Gefühl der fremden Macht spürte. Undeutlich, düster, bedrohlich, dies war die Macht des Uralten. Und die Andere, tief in ihr, wie unter vielen, vielen Eisschichten verborgen, spürte sie das klare, erwartungsfrohe pochen des Cairesh. Er wartete auf sie. In ihrem Kopf setzten sich Bilder zusammen. Die Ruinen. Ihr Standpunkt. Und schließlich der Eingang, der ihnen den weiteren Weg vorgeben würde.
    „Ich sehe es! Auf, Eldras, lasst uns eilen!“ Sie hatte die Augen aufgeschlagen und war an dem Menschen vorbeigelaufen, ehe dieser ihre Worte ganz verstanden hatte. Er fasste sich rasch und lief hinter der Elbin her, die ihn zielsicher durch die Felsbrocken navigierte. Ein leises Fiepen ließ Ilia innehalten. Das kleine Wesen vom Vormittag saß einige Schritte von ihr entfernt auf der Erde und blickte sie aus seinen Knopfaugen an. Als sie den Blick erwiderte, sprang das Wesen auf und lief, mit geschwinden Sprüngen, vor ihr her, als wolle es ihr ebenfalls den Weg weisen.
    „Kommt, Eldras! Die Zeit läuft uns davon!“
    Der Mensch musterte das kleine Wesen während des Laufens kritisch, sagte jedoch nichts dazu, sondern beeilte sich, hinter der Elbin herzukommen. Schließlich fiepte das Kleine und hielt an einem merkwürdigen Torbogen, der anscheinend den Eingang zu den Höhlen darstellte.
    „Das ist es! Eldras, kommt! Wir haben den Eingang gefunden!“ Sie blickte dem kleinem Wesen nach, dass einen Steinbrocken hinaufgesprungen war und nun, mit langen Sprüngen, verschwand. Eldras nickte und trat neben sie. Einen Moment schien es, als würden sich beide für das bevorstehende sammeln, ehe sie stumm darin übereinkamen, einzutreten. Es war dunkel in der Höhle. Das Licht, dass schon außen nur gedämpft geherrscht hatte, wurde vollkommen geschluckt.
    „Wartet, Herrin!“ Ilia hörte hinter sich, wie der Mensch an seinem Rucksack nestelte. Einen Moment später erklang das Geräusch, wenn Stein auf Stein prallt. Der Zunder begann zu glühen, ein kleines Flämmchen, das schnell wuchs. Mit der Flamme entzündete Eldras eine Fackel, ehe er den Zunder löschte und ihn samt den Feuersteinen wieder im Rucksack verstaute.
    Nun schien das rot – goldene Licht der Flamme auf die Wände und erhellte den Gang, der schwach aber stetig in die Tiefe führte. Ilia nickte dankbar und schritt voran den Weg hinunter. Eldras, der die Fackel trug, folgte, da der Gang zu schmal war, als dass er an seiner Herrin hätte vorbeigehen können.

    [Passt nicht oO"]



    Re: Eistränen

    Lillith - 28.06.2007, 14:40


    Tief hinab führte der Weg. Je tiefer sie kamen, desto kühler wurde es. Eine dünne Eisschicht zog sich bereits über die Steinwand und glänzte kalt im Licht der Fackel, auch der Untergrund wurde zunehmend glatter. Der Atem der beiden Gefährten kondensierte über ihren Köpfen und hing einen Moment als dünner, perlweißer Nebel über ihnen, ehe er verschwand.
    „Ich hätte nicht gedacht, dass es so tief hinabgehen würde.“, murmelte Eldras gereizt, nachdem er erneut auf dem glatten Untergrund ausgerutscht war.
    „Es geht noch weiter. Viel weiter, viel tiefer ist die Höhle des Cairesh.“ Ilias Stimme klang merkwürdig emotionslos. Sie kämpfte mit sich selbst, um nicht ihre Selbstbeherrschung zu verlieren. Immer wieder überrollten sie Wellen der Gefühle. Die Macht des Eisphönix war deutlich spürbar, beinahe greifbar. Immer wieder glitten Töne, nur für sie wahrnehmbar, durch die Luft. Sie bildeten das Lied des Abschieds, dass Ilia so stark an ihre verlorene Mutter erinnerte.
    „Herrin?“
    „Es ist alles in Ordnung, Eldras. Ich habe nur noch nie so gefühlt!“
    Eldras verstand und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Auch er spürte die Macht und Magie, die hier unten mit der Luft verwoben waren. Vermutlich hätte sogar ein Troll diese Magie verspürt.

    So plötzlich, wie der Weg angefangen hatte, hinabzuführen, ebnete er sich auch wieder. Von einem Moment auf den nächsten endete der schmale Abstieg und Ilia und Eldras fanden sich in einer weiten Höhle wieder, die über und über mit Eis bedeckt war. Die einzelne Fackel reichte, um das gesamte Gewölbe zu erleuchten, da das Eis, dass schon seit Jahrhunderten gefroren war, das Licht reflektierte. Verschiedene Gänge zweigten von dieser Höhle ab, obwohl die meisten schon nach wenigen Schritten an einer kahlen Eiswand endeten.
    „Wo lang müssen wir, Herrin?“
    „Ich bin mir nicht sicher. Ich würde sagen, wir gehen einfach den mittigen Gang entlang.“ Damit deutete sie auf die gegenüberliegende Seite des Gewölbes, wo ein breiter Gang weiterführte. Eldras nickte und ging voraus.
    Schon nach wenigen Schritten spürte die Elbin, wie etwas falsch lief. Sie hörte ein leises knacken, das von vielen, leisen gefolgt wurde, bis der Eisboden unter Eldras nachgab. Dieser war nicht mehr in der Lage gewesen, zu reagieren, als er fühlte, wie die Eisschicht wegbrach.
    Ilia schrie spitz auf, als Eldras fiel, und sich nur noch mit einer Hand an dem Eis festhalten konnte. Verbogen unter der Eisschicht war ein tiefer, tiefer Abgrund, eine Falle für jene, die unbehelligt die Heiligtümer des letzten Phönix betreten wollten.
    „Eldras!“
    Sie fiel auf die Knie und streckte ihm ihre Hand entgegen. Die scharfen Eiskanten schnitten in Eldras Finger, rotes Blut breitete sich aus. Die Feuchtigkeit sorgte dafür, dass seine Hand abzurutschen drohte, ehe er handeln konnte.
    Eldras blickte wie betäubt in die Dunkelheit unter ihm, nicht in der Lage sich von dem Anblick loszureisen. Erst ein erneuter Schrei Ilias brachte ihn in die Wirklichkeit zurück und er ließ die Fackel fallen, um mit der anderen Hand nach jener der Elbin zu greifen.
    Das Licht fiel rasch und verlosch im kalten Wind des Falls. Dunkelheit erfüllte sofort die Höhle, doch Ilia spürte Eldras Hand in der ihren und zog den Menschen hinauf, in der Hoffnung, nicht selbst hinab zu stürzen. Schwer atmend fand Eldras halt und schaffte es mit Ilias Hilfe, über die Eiskante zu klettern.
    Endlich wieder auf festem Untergrund versuchte der Mensch, seinen Atem zu beruhigen, während er den Rucksack abnahm, um eine neue Fackel zu entzünden. Die Feuersteine schlugen Funken, die erneut ein Flämmchen auf dem Zunder aufkommen ließen, das wiederum die Fackel entflammte. Das Licht flutete erneut das Gewölbe und spendete etwas Sicherheit.
    Eldras wollte Ilia danken, doch die Worte kamen nicht über seine Lippen, als er Tränen auf ihren feingeschnittenen Zügen sah. Die Elbin weinte stumme Tränen.
    „Herrin, was-?“
    „Es tut mir Leid, Eldras! Wenn ich euch doch nur nicht mitgenommen hätte, dann wäret ihr nicht in solche Gefahr geraten! Ihr hättet sterben können!“
    Eldras fand keine Worte um sie zu beruhigen, weshalb er sich vorbeugte und sie in eine Umarmung zog, in die sie sich sofort fallen ließ. „Ich wusste es doch, Herrin. Ich wusste von Anfang an, dass ich womöglich mit dem Leben bezahle, wenn ich euch begleitete, aber das wollte ich riskieren. Ich hätte euch niemals alleine gehen lassen.“
    „Bitte, Eldras, lasst mich nicht allein“, schluchzte die Elbin erstickt und klammerte sich weiter an den Menschen.
    „Nein, Herrin, nie“, flüsterte er darauf kaum hörbar.

    Eine Weile saßen die beiden so da, ehe sie sich voneinander lösten. Ilia hatte sich wieder beruhigt und sah Eldras nun aus leicht geröteten Augen an. „Was mache ich hier, Eldras? Was tue ich hier?“
    „Ihr rettet euer Volk, Herrin Ilia. Ihr rettet euer Heimatland. Ihr rettet uns alle. Fragt so etwas nicht, zweifelt nicht. Ich werde euch helfen, dies hier zu bestehen!“
    „Danke, Eldras“, murmelte die Elbin nur, während sie sich erhob und den Blick durch die Halle gleiten ließ. Sie besah sich den Abgrund näher; er schien von einer Seite der Gewölbewand zur anderen zu verlaufen, eine tödliche Falle für jene, die unachtsam waren.
    Erst nach einem Moment fiel ihr etwas auf, was sie sich selbst verfluchen ließ. Ganz an der Höhlenwand konnte sie einen schmalen Vorsprung erkennen, der dann hinunter führte, in den Abgrund, alles ebenfalls unter Eis begraben.
    Unbewusst schloss sie die Lider und Bilder der Höhlen schoben sich vor ihr inneres Auge. Sie sah, wie sie dem Weg in die Tiefe folgte, weiter, durch verwinkelte Gänge, bis sie in eine weitere, große Höhle gelangte. Doch mehr sah sie nicht, da sie plötzlich einen starken Schwindel spürte und ein Grauton sich über alles legte. Erschrocken riss sie die Augen auf, nun wieder schwer atmend, als wäre sie weit gelaufen.
    „Herrin, was tut ihr? Herr Midnadear hat euch davon abgeraten, diese Macht zu lange zu nutzen!“ Er schlang beruhigend einen Arm um ihre Taille, da die Elbin leicht zu zittern begonnen hatte, was nicht an der Kälte um sie herum lag.
    „Ich kann nicht zaubern, wie der alte Magier. Ich kann euch nicht helfen, sollte euch etwas geschehen wie heute Mittag. Ich bitte euch, unterlasst es nun!“
    Schwach nickte die Elbin. Sie fühlte sich merkwürdig erschöpft, jedoch schien sie noch keine allzu große Dummheit gemacht zu haben, da die eisige Kälte nur unterschwellig in ihr herrschte. Eldras Nähe wirkte erstaunlicherweise ähnlich wie Midnadears Zauber, der die Kälte gebannt hatte, denn sie spürte, wie schon dieses schwache Gefühl immer weiter aus ihr wich.
    Am Liebsten hätte sie sich nie wieder von dem Menschen gelöst, doch sie wusste, dass dies nur Wunschdenken war. Obwohl sie sich nun geschwächt fühlte, wollte sie nicht rasten.
    „Lasst uns weitergehen, Eldras“, murmelte sie ohne den Menschen anzusehen. Hätte sie ihn angesehen, hätte sie die tiefe, womöglich auch begründete, Sorge um sie in seinem Gesicht ablesen können.


    Ich wünschte mir inzwischen nichts sehnlicher, als die Feder ruhen lassen zu können um dem Alten mit vollster Aufmerksamkeit folgen zu können. Immer wieder schlug mich seine Erzählung in den Bann, und ich brauchte viel Selbstbeherrschung, um nicht einfach nachzugeben und statt nebenbei zu schreiben einfach der Magie der Geschichte zu folgen. Aber was wäre ich für ein Schreiberling, wenn ich mich von der wunderbarsten Erzählung mitreißen ließe?
    Ich liebten diesen Beruf und ich verfluchte ihn.
    Ich verfluchte ihn dafür, dass ich die Geschichte nicht mit genau den Worten des Alten niederschreiben konnte. Seine Worte, die vielleicht niemand mehr genauso hören würde, gaben der Geschichte den Zauber, der sie belebte, der dafür sorgte, dass ich sah, wie die silbernen Tränen über das Gesicht der Elbin Ilia liefen, wie Eldras, der Mensch, sich um die junge Frau sorgte...
    Ich blickte den Alten an, der schon seit einigen Minuten schwieg. „Warum sprecht ihr nicht weiter, Herr?“
    „Weil die Erzählung von Ilia und Eldras Reise dort, in jenem Moment schwerer wird. Ihr solltet wissen, dass die beiden tatsächlich einander zu lieben begannen. Eine verbotene Liebe, die jedoch vom Schicksal zusammengebracht wurde. Würde ich die Gefühle der beiden so beschreiben, wie es einem als erstes in den Sinn käme, so würde ich die Gefühle durch sogenannten Kitsch verderben, und das will ich nicht.“
    „Da mögt ihr recht haben, Herr! Doch erzählt die Geschichte so, wie sie war, ich alleine werde mich um die Niederschrift kümmern. Ihr könnt sie euch später durchlesen und entscheiden, ob ich dem Kitsch verfallen bin!“
    Damit lachten wir beide leise, ehe der Alte weitersprach.


    „Eldras, ich muss mich wohl wieder entschuldigen. Hätte ich das früher gesehen, wäret ihr niemals in Gefahr geraten!“ Ilia deutete auf den Vorsprung.
    Eldras machte eine Handbewegung, die die Tatsache, dass er beinahe in den Abgrund gestürzt wäre, als unwichtig abtat. Dabei fiel Ilias Blick auf die noch immer blutenden Wunden, die das Eis an Eldras Fingern hinterlassen hatte. „Habt ihr Verbandssachen eingepackt, Eldras?“
    „Ja, natürlich. Zumindest etwas. Aber dafür brauche ich doch nicht-“
    „Ich will nicht, dass es noch schlimmer wird.“, sagte die Elbin und zog bereits ein sauberes weißes Tuch hervor und eine kleine Phiole. Als ihr die Phiole in die Hand fiel, hatte sie fragend die Augenbraue hochgezogen, ihr war sofort klar gewesen, dass der Magier sie eingepackt haben musste. Mit dem Elbenmittel konnte sich Eldras als Mensch unmöglich auskennen.
    Nun tröpfelte sie bereits drei tropfen der klaren Flüssigkeit auf die verschiedenen Schnitte. Die Wunden leuchteten immer, wenn ein Tropfen aufkam, leicht auf. Fasziniert betrachtete Eldras, wie geschickt die Elbin die Wunden versorgte. Das Mittel in der Phiole ließ ein Kribbeln zurück, und der pochende Schmerz verklang sofort. Um zu verhindern, dass Schmutz in die Wunden kam, band Ilia mit raschen Bewegungen das Tuch um seine Hand, was der Mensch protestierend zur Kenntnis nahm, da er dadurch die Hand nur noch eingeschränkt nutzen konnte.
    Ohne auf seine Beschwerden zu achten, erhob sich die junge Frau und schulterte ihren Rucksack. „Kommt, Eldras! Wir müssen weiter!“
    Damit folgte sie der Kante des Abgrunds, die sich unter der Eisschicht ausmachen ließ bis zur Wand, wo sie den Vorsprung ausgemacht hatte. Unter dem Eis führte ein Weg hinab ins Dunkel.
    Elben hatten nie ein Gewicht, dass Eis oder Schnee beeinflusste – Eis brach niemals unter ihren Sohlen und keine Schneeflocke würde sich nachgiebig zeigen, sie konnten einfach über dem Schnee wandeln – dennoch gab die dünne Eisschicht nach, als Ilia auf sie trat um behutsam den Weg für sich und Eldras zu öffnen. Der Mensch trat zu ihr, musterte sie ernst und half ihr sofort schweigsam bei der Aufgabe.
    Mit einem letztem, etwas stärkeren, Fußtritt war die Lücke im Eis groß genug, dass die beiden hindurch passten. Eldras ging, mit der Fackel in der Hand, zuerst hinab, Ilia, die den Weg kannte, direkt nach ihm.
    Es ging steiler hinab als der erste Gang und weit tiefer. Das Fackellicht glänzte an der fernen anderen Seite matt auf dem Eis, wie es auch überall anders um sie herum glänzte. Die beiden Gefährten gingen langsam, um nicht zu stürzen. Im Gegensatz zum ersten Gang hinab, war dieser Weg direkt am Abgrund, und die Gefahr zu straucheln und tödlich tief zu fallen, war nicht gering.

    Als Eldras den ebenen Boden erreichte, wartete er auf die Elbin. Sie war zurückgefallen, in ihre Betrachtungen der Reflektionen des Eises vertieft.
    Weit über ihm konnte der Mensch die Eisschicht betrachten, konnte sogar das Loch sehen, durch das er beinahe hier hinab gestürzt wäre. Gar nicht weit entfernt konnte er die Fackel sehen, die ihm aus der Hand gefallen war. Das Feuer zeigte, dass selbst die letzte Glut verloschen, und die Fackel in der Hälfte zerbrochen und somit unbrauchbar geworden war. Kaum war er zu dieser Feststellung gekommen, trat Ilia neben ihn. „Ich gehe nun vor. Von hier aus sind die Gänge ein einziger Irrweg. Folgt mir und lasst euch von keiner Illusion täuschen.“
    Ihre Augen waren merkwürdig glanzlos, und Eldras hatte das besorgniserregende Gefühl, dass sie nicht nur durch die Betrachtung des Lichts zurückgeblieben war. Um den sicheren Weg für ihn und sich selbst zu kennen, hatte sie sich wieder in Gefahr gebracht, was dem Menschen nicht gefiel. Er hatte sie doch gebeten, es zu lassen. Doch er sagte nichts, sondern folgte ihr einfach, als sie voranschritt.
    Das Licht der Fackel verließ das Gewölbe und ließ nur Dunkelheit zurück. Das Eis war das einzige, was sich an die Anwesenheit der beiden Gefährten erinnern konnte.

    Viele Wege zweigten neben und vor ihnen ab, doch Ilia führte Eldras eisern hindurch, ohne Sorge oder Furcht, sich zu verlaufen. Sie schwiegen die gesamte Zeit.
    Eldras versuchte zu schätzen, wie viel Zeit seit ihrem Aufbruch aus dem Elbendorf verstrichen sein mochte. Zu dem Zeitpunkt mochte es etwa drei Stunden nach Mitternacht gezählt haben, höchstens vier, als sie Midnadear im Wald zurückließen. Und nun? Die Zeit in diesen Gängen und Höhlen aus Eis und Stein zu erahnen, war unmöglich. Waren sie erst eine Stunde oder gar schon einen Tag hier? Was bedeutete eigentlich noch Zeit im Angesicht des Eises, dass schon seit vielen, vielen Jahrhunderten hier an Wänden und Böden hing und nur wuchs? Was bedeutete noch Zeit im Angesicht der Tatsache, dass vermutlich eines der ältesten Wesen Acenas in greifbarer Nähe war?
    Plötzlich hielt Ilia inne und Eldras wäre beinahe in sie hinein gelaufen.
    Sie zitterte leicht, weshalb Eldras ihr beruhigend seine verbundene Hand auf die Schulter legte.
    „Spürst du ihn?“
    Eldras brauchte nicht erst fragen, von wem die Elbin sprach. Die Macht, die Magie, die Anwesenheit von etwas uraltem in der Luft, hatte zugenommen. Ein jeder hätte bemerkt, dass er vor dem Heiligtum des letzten Phönix gestanden hätte, wäre er an ihrer Stelle gewesen.
    Und Ilia musste dies alles noch stärker spüren. Diese Tatsache schien beinahe unglaublich für Eldras. Er spürte alles ungeahnt intensiv.
    Sein Kopf war von einem unterschwelligem Gesang gefüllt, den er nicht zuordnen konnte, ihm aber wohl bekannt vorkam.
    Seine Finger zitterten, nicht vor Kälte, sondern durch das Gefühl des Allmächtigem um ihn.
    Er fühlte sich, als ob seine Seele aufblühte ob all der Reinheit und des Friedens um ihn herum.
    Sein Herz weinte ob der Trauer, die trotz allem in allem mitschwang. Der Trauer um den Verlust dessen, was einem am liebsten war.
    So musste man fühlen, wenn man göttlichem gegenübertrat.

    Ilia weinte, ohne es wahrzunehmen, stumme Tränen. Alles war unwichtig geworden, für sie war es in jenem Moment nur wichtig dieses Gefühl niemals zu verlieren.
    Alle Gefühle die sie erfüllt hatten, als sie die Höhlen betraten, waren aufgeblüht. Nur Angst und Sorge waren verschwunden. An einem Ort solchen Friedens konnte es kein Unglück geben!
    Sie spürte ihre Liebe zu Eldras, die sich langsam aber sicher entwickelt hatte. Sie liebte ihn.
    Sie spürte ihre Hoffnung, dass alles gut würde. Es war eine bedeutungslose Phrase gewesen, doch nun keimte die Hoffnung, und der Satz schien sich zu bewahrheiten. Ja, alles würde gut werden!
    Noch so viele Gefühle fluteten durch ihren Körper, dass Ilia das Gefühl hatte, zu zergehen.
    Doch Cairesh wartete auf sie.
    Sie schlug die Augen auf und wischte die unbemerkte Träne fort.
    „Wir haben unser Zeil erreicht, Eldras! Wir haben es wahrhaftig geschafft!“, flüsterte sie überwältigt.
    Sie trat den letzten Schritt um eine Ecke und fand sich in einem gewaltigem Gewölbe wieder. Überall herrschte Licht, dass von keiner Fackel ausging. Wasser, dass bei der Kälte hätte gefrieren müssen, tropfte zur Decke empor, wo sich Eismassen sammelten, wie überall an den Wänden.
    Eine gewaltige Treppe führte zu einem Eisklotz hinauf, der der Ausgang allen Eises in diesen Höhlen war. In der Mitte des Klotzes war das schönste und reinste Wesen, dass Ilia und Eldras jemals gesehen hatten. Der letzte Phönix.

    Cairesh, der Vergangene!
    Cairesh Eisträne!

    Ilia trat näher an die Treppe, ihre Schritte hallten laut in dem Gewölbe wieder, in dem sonst nur das magische tropfen des Wassers zu hören war, dass zur Decke schwebte.
    Sie hörte keine weiteren Schritte, Eldras war hinter ihr geblieben und betrachtete mit einer Mischung aus Trauer und Ehrfurcht den Eisphönix.
    Ilia wusste mit einem mal was auf sie zukommen würde. Doch ihr Weg erfüllte sie nicht mit Angst oder Trauer. Es war Hoffnung. Hoffnung darauf, dass alles so wurde, wie es sein sollte.
    Sie wandte sich noch ein letztes mal zu Eldras um, der ihre Bewegung bemerkte und ihr ebenfalls in die Augen sah.
    Ihre Stimme war leise, trotzdem gut vernehmbar, als sie, vor der Treppe zum Eisphönix hinauf, flüsterte:
    „Eldras, ich liebe dich.“
    Eine einzelne Träne stand in ihren Augen, als sie einen schweigenden Eldras zurückließ und die Treppe hinaufschritt.
    Eldras ahnte, was geschehen würde, war jedoch nicht in der Lage, seine Ilia aufzuhalten. Er sah, wie sie, geschmeidig und wunderschön im Licht des Eisphönix leuchtend, das Plateau am Ende der Treppe erreichte.
    „Ich liebe dich auch, Ilia“, wisperte er, doch sie drehte sich nicht mehr herum.
    Sie legte die rechte Hand leicht auf das Eis, und in jenem Moment nahmen Licht und Gesang zu.
    Das Licht erstrahlte hell, blendete jedoch nicht die Augen des Menschen am Eingang der Halle.
    Der Gesang hallte von den Wänden wider, passte sich jedoch dem Lied an, ein wundervolles, trauriges Lied entstand, das Lied des Abschieds benannt.
    Ein wundervoller, melancholischer Schrei erschallte, als das Eis um den Eisphönix verschwunden war und das wundervolle Wesen über Ilia in der Luft schwebte, sein Licht verstrahlte und den Gesang erklingen ließ.
    Blaue, silberne und weiße Federn glänzten wie Eis im Licht, und eisblaue, dennoch so warme und weise Augen, blickten erst zu Ilia, dann zu Eldras. Der Phönix war etwas größer als ein Adler, doch strahlte er eine Erhabenheit aus, die kein Lebewesen nachahmen konnte.
    Eine Stimme erklang, und die gesamte Halle erzittert unter ihr. „Dank sei euch, Tochter des Waldes und Sohn der Abenteuer! Das Schicksal entschied, der Weg gegeben, die Wahrheit offenbart...“
    Das Echo verebbte als einen Cairesh weiteren Schrei ausstieß und in einem hellem, blauem Licht verschwand.
    Eldras wurde von dem Licht geblendet. Als er die Augen wieder aufschlug sah man oben auf der Treppe eine andere Gestalt; der Eisblock war verschwunden, an seiner statt war Ilia zurückgeblieben. Ihre Gestalt wandte sich, mit einer letzten, vereisten Träne auf der Wange, Eldras zu.
    Sie war zu einer Gestalt geworden, die lange Zeit auf die Heiligtümer des Cairesh achten würde, eine Gestalt, wie aus Eis gehauen, doch viel kunstvoller und schöner, als jede Figur es hätte sein können.
    Das Licht, dass noch immer in der Halle herrschte, glitzerte auf ihrer eisigen Oberfläche, auf ihren Lippen, die Eldras traurig zulächelten.
    Eldras Griff um die Fackel, die erstaunlicherweise allein durch die Kälte verloschen war, wurde fester. Er konnte nicht verhindern, dass einzelne Tränen über sein Gesicht rannen.
    Wie Nadrim Kaleen an das Schicksal verlor, so verlor Eldras seine geliebte Ilia an das Schicksal und das Eis.

    Und oberhalb der Höhlen des Eisphönix fiel eine erste Schneeflocke zu Boden, der viele weitere folgen würden.

    Für Eldras mochte das Ende ein Verlust gewesen sein, doch für das gesamte Land Marlyn gesehen, war es ein Gewinn, ein Sieg. Der Eisphönix vertrieb den Uralten in die Ferne, auf eine Insel hoch im nördlichem Eismeer. Dort fristete er, abgeschirmt durch Eis, Schnee und Wassermassen, ein Dasein zwischen Leben und Tod.
    Der Elbenrat wurde von Midnadear aufgeklärt, was geschehen war, seit er das Ratshaus so fluchtartig verlassen hatte.
    Nadrim und Kirano trauerten um Ilia, doch trauerten sie nicht wie Eldras es tat. Dieser schien zu leiden. Häufig strich er durch die Wälder, wie er es vor seiner ersten Begegnung mit seiner Liebe getan hatte.
    Es waren einige Wochen seit Caireshs Auferstehung vergangen und Eldras streifte wieder durch den Wald, nahe den Ruinen und durch den Schnee, der seit dem schicksalhaftem Tag beständig vom Himmel herabsank und sich bereits als dichte, weiße Schicht, die bis zu seinen Knien ragte, abgelegt hatte. Nur durch den Pfad, den er Tag für Tag aufs neue durchlief, konnte er noch zu den Ruinen gelangen.
    Ein leises Flügelschlagen ließ ihn aufblicken. Auf dem Felsblock, vor dem er einst Ilia aufgefangen hatte als sie stürzte, saß Cairesh Eisträne. Der Schnee schien einen Bogen um ihn zu machen, wäre doch die Schönheit der einzelnen Flocke in seiner Gegenwart vergangen.
    „Leidest du noch immer, Sohn der Abenteuer?“ Die Stimme des Eisphönix klang melodisch in Eldras Ohren und Kopf wieder.
    „Ich werde ewig leiden, ehrwürdiger Cairesh.“
    „Du liebtest sie, obwohl es euch verboten war. Ich wünschte, ich könnte dir tröstendere Worte sagen, doch musst du dich mit meinem Versprechen begnügen. Ilia, die Tochter des Waldes und des Eises, wird zu dir zurückkehren. Es mag Jahrhunderte dauern, aber sie wird zurückkehren.“
    „Aber wie, Unsterblicher? Ich bin ein Mensch, ein Sterblicher. Magier und Elben und ihr, als Phönix, mögt so lange leben, ich jedoch nicht.“
    „Deswegen bin ich zu dir gekommen. Phönixtränen mögen eine unverhoffte Wirkung haben, sollte ein Mensch sie trinken. Sie werden dir ewige Jugend schenken.“ Tatsächlich lief darauf eine einzelne Träne aus dem eisblauem Auge des Phönix und wurde von einer, plötzlich erschienenen Eisschale aufgefangen.
    „Ich danke euch, Ehrwürdiger Cairesh.“, flüsterte Eldras heiser und von Freude durchflutet, während er die kleine Schale aufhob.
    „Versprich mir bloß eines für dieses Geschenk, Eldras Menschensohn.“
    Eldras nickte „Alles würde ich euch versprechen für diese Gabe!“
    „Es ist etwas, was mir am Herzen liegt. Bleibe deiner Ilia treu. Verliere dich nicht in Spielen, verliere deine Liebe zu ihr nicht.“
    „Ich verspreche es, Herr des Eises!“


    „... Und damit endet meine Erzählung“, beendete der Alte mir gegenüber die Geschichte.
    Ich blickte ihn fragend an. „Ich verstehe das nicht, Herr. Was geschah noch? Welchen Fehler sah Midnadear ein? Trafen sich Ilia und Eldras jemals wieder? Wie könnt ihr eure Geschichte dort beenden?!“
    „Möge sich doch ein jeder selbst seine Antwort geben! Meine Geschichte ist zu ende. Allerdings kann ich euch noch eines sagen: Cairesh kam noch einmal zu Eldras und erzählte ihm eine wundervolle Neuigkeit. Die anderen Phönixe kehrten nach Acena zurück.“
    „Wie wunderbar! So war das Hoffen doch wenigstens für Cairesh nicht vergebens!“
    „Hoffen ist niemals vergebens. Nie. Vergesst das nicht.“ Damit erhob sich der Alte und ich blickte auf das viele Pergament, dass ich beschrieben hatte.
    „So erzählt mir noch eines, Herr! Wer seid ihr, und was war eure Rolle in der Geschichte?“
    „Die interessantesten Fragen an einer Geschichte werden nie gelöst, merk dir das für den Fall, dass du mal deine eigene Geschichte aufschreibst.“
    Lächelnd trat der Alte an die Tür meines Hauses. In seinen Augen blitzte eine ungesehene Jugend auf, als er zum Gruß mit dem Kopf nickte. Dann verschwand der merkwürdige Mann. Wer weiß, ob ich ihn jemals wiedersehe?

    Ende



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