Studie einer Person

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    Re: Studie einer Person

    Frederic Grenouille - 01.06.2007, 20:20

    Studie einer Person
    Ein kleiner, quadratischer Raum. Ungefähr die Größe einer Gefängniszelle, weshalb es nicht viel zu sehen gab. In der Mitte stand ein einfacher, hölzerner Tisch, an den scheinbar phlegmatisch ein Stuhl gelehnt war. Auf dem Tisch ausgebreitet lagen mehrere Fotografien. Durch ein kleines, unerreichbar hohes Fenster fiel Licht herein. Er hatte schon versucht, herauszugucken, aber selbst wenn er den Stuhl auf den Tisch stellte und dann hinauszusehen versuchte war das Fenster immer noch zu hoch gelegen. Aus Langeweile hatte er mittlerweile die Fotografien eingehend studiert. Viel gab es darauf allerdings nicht zu sehen: Ihn selbst. Beim Spazierengehen, beim Lesen, beim Fernsehen. Allerdings immer nur ihn. Sonst keinen. Nach einer Weile hatte er den Eindruck, die einzige noch lebende Person im Universum zu sein. Ein unlogischer Eindruck, wie er selbstkritisch bemerkte. Denn wie wäre es dann zu erklären, dass er hier war? Er war ganz normal in seinem Bett eingeschlafen und als er wieder aufwachte, war er plötzlich hier gewesen. War das möglich? Träumte er vielleicht? Diese Möglichkeit hatte er zuerst in Betracht gezogen, aber nachdem er sich selbst ausgiebig gezwickt hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass er nicht träumte.

    In einer Ecke des Raumes, auf den ersten Blick fast nicht zu sehen, kauerte eine Toilette nebst Waschbecken. Der Spülkasten, früher vermutlich weiß, war grau angelaufen und von zahlreichen Flecken verunziert. Neu war dieses Zimmer also ganz bestimmt nicht mehr.

    In Panik geraten war er dankenswerter weise nicht, das hätte seine Situation wohl noch verschlimmert. Er war einfach aufgewacht und hatte festgestellt, dass er auf einmal an einem anderen Ort war. Befreiungsversuche fruchteten nichts, die Tür, die nach draußen führen musste, war aus massivem Stahl, abgeschlossen und ohne Gitter, nichteinmal Luftdurchlässe fanden sich. An Flucht war also nicht zu denken.

    Nachdem er sich eingehend mit den Fotografien von ihm selbst befasst hatte, war ihm einiges bewusst geworden. Er sah alt aus. Zwar wusste er, dass er die Blüte seiner Jahre schon hinter sich hatte, aber das er so alt und ausgelaugt aussah, das hatte er nicht wahrgenommen. Erstaunlich, was ihm jetzt alles an ihm selber auffiel. Sein Haar war matter geworden, hatte viel von seinem früheren Glanz verloren. Seine Augen, früher so lebhaft, wirkten jetzt eher wie langsam vertrocknende Teiche. Und seine Haut erinnert ihn an Pergament. Manchen Leuten war es peinlich, Fotos von sich selbst zu sehen, ihn aber erfüllte es nach und nach mit Schaudern.
    Wer diese Fotos geschossen hatte, das wusste er nicht. Zwar ging er solchen Tätigkeiten wie auf den Bildern oft nach, aber er wurde selten dabei fotografiert. Das lag weniger an seiner mangelnden Fotogenität, sondern eher daran, dass er kaum jemanden kannte, der ihn fotografieren würde. Er pflegte selten Kontakt zu anderen Menschen. Das war wohl einer der Gründe, warum er sich mit dieser Situation so schnell abfinden konnte.
    Langsam bekam er Hunger. Trinken konnte er das Leitungswasser aus der kleinen Waschschüssel in der Ecke des Raumes, aber essen konnte er nichts. Wollte ihn vielleicht jemand töten? Unsinn, wenn das der Fall sein sollte, dann wäre das weitaus schneller und einfacher gegangen. Oder sollte er verhungern, eine derart grausame Todesart erleiden? Nein, das war auszuschließen. Er machte sich zwar nicht die Illusion, dass alles gut wäre, aber er wusste, was realistisch war und was nicht. Das hier war das echte Leben und kein Psychothriller, wie sie so häufig im Fernsehen liefen.

    Wieder ging er auf den Tisch zu, setzte sich auf den fast anklagend ächzenden Stuhl und studierte erneut die Fotografien. Vielleicht waren sie ein Hinweis? Eine Anklage? Genug dieser Gedanken, sagte er sich selbst, wenn er jetzt nervös wurde, dann würde er auf jeden Fall sterben. Wenn er die Nerven bewahrte, konnte er möglicherweise einen Weg zur Flucht finden. Dazu musste er nur rational bleiben und sich nicht irgendwelchen halbgaren Spekulationen hingeben. Sah er wirklich so alt aus?

    Ein Foto fesselte ihn ganz besonders: Es zeigte ihn, wie er durch eine etwas verwahrloste Seitenstraße ging. Natürlich war kein anderer Mensch darauf zu sehen. Aber dennoch faszinierte ihn etwas: Er trug, deutlich sichtbar, seine neuen Schuhe auf diesem Bild. Es konnte also keinesfalls älter als drei Tage sein. Aber in diesen drei Tagen war er niemals durch diese Seitenstraße gegangen. Es war nicht schockierend, vielleicht erinnerte er sich auch nur nicht daran, möglich war es. Vielmehr war es kurios. Wer machte sich bitte die Mühe, ihn bei solchen banalen Handlungen zu fotografieren?

    Irgendwann wurde das ganze Rumgelaufe zu bunt. Viel gab es hier eh nicht zu sehen. Außerdem wurde er langsam wieder müde, was selbst seinen mittlerweile knurrenden Magen etwas betäubte. Nach einer ordentlichen Portion Schlaf würde er sich besser fühlen. Bestimmt.

    Die bedrückte Atmosphäre des Raumes verfolgte ihn bis in seine Träume hinein. Normalerweise träumte er selten und wenn doch, dann von banalen Dingen, die des Erinnerns nicht wert waren, aber diesmal war es ein bemerkenswert abstrakter Traum: Er sah sich selbst, wie auf den Fotografien, allerdings jung, mit strahlenden Augen und einem ebensolchen Lächeln. Aber diese Bilder erfüllten ihn nicht mit Trauer oder Wehmut. Sie erfüllten ihn mit Abscheu. Dieses Lächeln wirkte so falsch, so selbstverliebt, so... unerfahren. Und ihm wurde zum ersten Mal bewusst, wie glücklich er in diesem Körper mit all seinen Erfahrungen und seinem getragenen Leid war. Denn den Wert der Erfahrung konnte nichts ersetzen. Keine Jugend. Keine Schönheit. Nichts.

    Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, erwachte er aprubt. Zuerst fühlte er sich etwas verwirrt, wie immer, wenn man plötzlich vom Traum in die Realität gerissen wird und nicht genau weiß, wieso. Als er aufstand und auf dem kargen Tisch neben den Fotografien noch einen Teller mit belegten Broten sah, musste er lachen. Er wusste nicht genau, wieso. Aber irgendwie schien dieser Teller etwas so abstraktes an sich zu haben, dass er sich vor Lachen kaum einbekam, mehrere Minuten lang. Dann setzte er sich hin und begann zu essen. Die Brote waren durchaus keine überdurchschnittliche Kost, lediglich Wurst und Käse auf einfachen Graubrothälften mit etwas Butter, aber seinem Magen reichte es allemal. Nachdem er die Brote verzehrt hatte, fühlte er sich gleich weitaus zufriedener. Dennoch war ihm etwas mulmig. Seine kreativen Ängste begannen langsam, sich bemerkbar zu machen: Was, wenn die Brote vergiftet waren? Wieder schüttelte er diesen Gedanken ab. Rational denken, sagte er sich, rational denken, dann besteht Hoffnung.

    Nach einigen Stunden bangen Wachens wurde ihm langsam einiges klar. Er wusste, warum er hier war und dieser Grund erfüllte ihn mit Entsetzen. Seine Haare standen ab, so oft hatte er sie sich gerauft, seine Haut wirkte blass, seine Fingernägel waren mittlerweile allesamt abgekaut und seine Augen vor Entsetzen geweitet. Wieso? Wieso? Wieso? Diese Frage pochte unablässig in ihm und mit jedem Pochen spürte er, wie es näherkam. Es. Was auch immer ihm das antat, die Gründe kannte er und alleine dieses Wissen war schon schrecklich genug.

    Wieder einige Stunden später war er in Euphorie versunken. Er lachte, schrie, war absolut erleichtert und ekstatisch. Dieser Stimmungswechsel kam auf einen Schlag nach seiner Paranoia und war ebenso plötzlich wie ermüdend. Er wollte schlafen, aber seine Ekstase ließ ihn beschwingt tanzen und obwohl er so eingesperrt war, im Körper wie im Geiste, war er frei. Wenn er die Augen schloss, dann sah er ein wunderbares, helles Licht, das langsam näherkam. Er wollte bei diesem Licht sein. Es meinte es gut mit ihm, das konnte er spüren. Er schloss nocheinmal die Augen, um das Licht zu sehen... Es machte ihn glücklich... Und Glück, das war alles, nach dem er sich sehnte.

    Ende



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