Geschichte

White and Holy
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    Re: Geschichte

    relator - 18.01.2009, 22:50

    Geschichte
    Wenn man sein gesamtes Leben an dem gleichen Ort zugebracht hatte, konnte es vorkommen, dass einem die Personen allmählich nur allzu bekannt erschienen und man mit schlafwandlerischer Sicherheit die Wege ging oder mit geschlossenen Augen, ohne es zu merken. Der königliche Hof, an dem alles begann, war mit Sicherheit kein besonders kleiner Ort, doch irgendwann hatten selbst die Gesichter der Mägde und Laufburschen etwas Vertrautes oder man entdeckte verwandte Züge, eine krumme Nase etwa oder eine auf bestimmte Weise geschwungene Augenbraue, sodass man sich an bereits Bekanntes erinnert fühlte, selbst wenn die Personen den Palast noch nie betreten hatten und eine vorangegangene Begegnung auszuschließen war. Bei dem Adel war es das Gleiche, der Sohn kam nach dem Vater, die Tochter nach der Mutter, und deren Kinder hatten ebenfalls etwas mit ihren Eltern gemein, einen Charakterzug oder irgendein anderes äußerliches Merkmal.
    Schönheit und Pracht verging in dem gelangweilten Auge der Gewohnheit gleichermaßen wie Hässlichkeit und Verfall erblühten, bis alles zu einer generell akzeptierten Masse der Mittelmäßigkeit verschmolz und sich niemand mehr darum scherte, ob die Böden verstaubt oder poliert, die Mosaike reich oder verblasst und die Vorhänge pompös oder fadenscheinig waren, denn alles unterwarf sich der Macht der Gewohnheit, die bloß eine einzige Forderung stellte: Die Veränderungslosigkeit, den Stillstand der Dinge und somit den Erhalt des jetzigen Zustandes, egal ob dieser wünschenswert oder verwerflich war.
    König Marloh lebte in einer Totenstadt hoch in den Bergen eines öden, trostlosen Gebirges, in der die ehemals wehrhaften Mauern schon vor langer Zeit angefangen hatten zu verwittern und die maroden Fassaden des Palastes verfielen, genau wie die verlassenen bleichen Steinhäuser, deren schwarze Fenster wie die leeren Augenhöhlen vieler Totenschädel gähnten und durch die der schneidende Wind mit schaurigem Heulen pfiff.
    Leere Gassen, durch dessen Steinpflaster sich dürre, vertrocknete Büsche mit herben Blättern gezwängt hatten und in denen spröde, verkrüppelte Bäume einen Halt fanden, gehörten ebenso zu dem Bild wie die grauen Wolkenfronten, die sich im Herbst gleichermaßen wie im Frühling und im Sommer drohend über der Stadt zusammenballten und die gähnenden Ruinen mit ihren Schatten überzogen, um allein im Winter alles unter einem gnädigen weißen Schleier des Vergessens zu verbergen.


    Nur des Nachts lebte die Stadt auf.
    Lampions tauchten die belebten Gassen in alle möglichen Farbtönen des glühenden Feuers, füllten sie mit ihrem warmen, sinnlich gedämpften Licht und warfen geheimnisvolle, verlockende Schatten in die dusteren Ruinen.
    Und es waren bei Gott keine gewöhnlichen Gestalten, die in altertümlicher, prunkvoller Kleidung betrunken von den Vergnüglichkeiten der Nacht durch die glühenden Gassen wandelten, an Hauseingängen oder halb verborgen in den warmen Schatten der Mauern lehnten, sich vielleicht sogar heimlich in den ungestörten Schutz der alten Ruinen zurückzogen, um im Schein der Kerzen zu lieben.
    Auf dem großen Platz vor dem Palast ging es zu wie auf einem Maskenball. Dort war das größte Aufgebot an Prunk und Reichtum zu finden, denn es war der Ballplatz des Adels; Musiker spielten auf den flachen, weit auslaufenden Treppen vor dem Palasteingang, während Tänzerinnen mit purpurroten Masken ihre durchscheinenden, golddurchwirkten Gewändern im Takt der ritualisierten, beinahe heilig anmutenden Musik durch die Luft wirbelten.
    Dann endete der Tanz, die Paare wurden gewechselt und die Gespräche laut. Masken wurden getauscht und Gewänder angelegt, die Musik schwoll wieder an und das Fest nahm seinen Lauf.
    Als der Mond am höchsten stand, wurden plötzlich die samtroten Vorhänge vor den Palasttoren zurückgezogen und das Portal schwang mit einem Knirschen auf, als die Flügel über Splitter und gesprungene Steinfliesen gezogen wurden. Dann traten zwei Gestalten ins Licht, Sie gekleidet in ein bodenlanges, leichtes Gewand und seidige Tuchschleier, die sie wie ein zarter Hauch aus weißem Nebel umspielten, Er in prachtvoller Kleidung mit einer fließenden Bahn schweren samtenen schwarzen Umhangs, der von einer verhüllten Dienerin getragen wurde, und einer silbernen Krone, die sein Haupt wie ein Kranz funkelnden Glanzes schmückte. Zehn Diener folgten mit gläsernen Schalen, in denen sich eine weißliche Flüssigkeit befand, die kühl und klar wie das Licht des Mondes schien und das Königspaar erleuchtete.
    Die Musiker hörten auf zu spielen und ein Flüstern fuhr über den gesamten Ballplatz, als König Darcia Marloh und seine Frau Esmeralda Marloh die oberste Stufe der königlichen Treppe betraten, gefolgt von einem Rascheln, als die Gestalten auf dem Ballplatz vor dem König und der Königin ihre Köpfe beugten.
    Atemlose Sekunden vergingen, bevor sich auch der König und die Königin verneigten, dann schritten sie, gefolgt von ihren Lichtträgern, die vielen flachen, weißen Stufen hinunter und mischten sich unter die Leute.
    Die Musik begann von Neuem zu spielen und die Treppen füllten sich mit Tänzerinnen. Auch die Gespräche lebten wieder auf, doch alles ging nun viel dezenter vonstatten, sittlicher, während die Königin und der König immer das Zentrum der Aufmerksamkeit bildeten und sich die weißen Lichter unter das rötliche Glühen der Lampions mischten, wie um an die Anwesenheit des Königspaares zu erinnern.
    In der morgendlichen Dämmerung schlossen sich die Portalflügel hinter dem Königspaar, die samtroten Bahnen verhüllten wieder die Tore. Auch die Gesellschaft löste sich nach und nach auf, die Lampions verschwanden, und als der Tag anbrach, war von dem Spuk nichts geblieben außer ein zerfetztes staubiges Leinen von verblasster roter Farbe vor einer gähnenden, verfallenen Toröffnung, das zerrissen im schneidend kalten Wind wehte.
    
    Die Gassen waren die schönsten Orte, von roten Lampions warm erleuchtet, während der Nachthimmel seine dunklen Flügel über ihnen ausbreitete.
    Der Brunnenplatz, wie die Kreuzung ein paar Straßen vor dem Hof genannt wurde, war wie alle Straßen in warmes Licht getaucht, das auf das sachte aus dem hohen, zierlichen Brunnen hervorsprudelnde Wasser fiel und sich darin brach, wodurch es ihm einen durchsichtigen roten Farbton verlieh. Das Wasser strömte wie ein durchsichtiger Schleier von einer kleinen, reich verzierten weißen Steinschale in die darunterliegende, ein wenig größere.
    Ein Mädchen lehnte an dem Stein und ließ das Wasser durch ihre Finger fließen, die mindestens genauso rein und weiß waren wie der Marmor, aus dem der Brunnen gefertigt war. Das lockige, dunkelbraune Haar hatte es teilweise zu einem Knoten aufgesteckt, der Rest hing ihr lose über die Schultern. Ihr weites, aufwendig besticktes Kleid war mit warmen goldenen und purpurnen Mustern durchwirkt und oben eng geschnürt, sodass es ihre schöne Figur betonte, gerade so, als ob es für sie und niemand anderen auf dieser Welt genäht worden war.
    "Moira!"
    Jetzt flog der Blick des Mädchens herum und sie richtete sich auf. Ihre dunklen Augen suchten nach demjenigen, der sie gerufen hatte, doch sie lächelte nicht, wie man es bei einem Wesen wie ihr vielleicht erwartet hätte; Ihre geschwungenen Lippen verzogen sich vielmehr zu einem Schmollen und ihre Augen wurden hart, als sie den großen, etwa gleichaltrigen Kerl sah, der mit langen, stapfenden Schritten auf sie zuhielt.
    "Verschwinde, Raymond! Ich habe dir doch gesagt, dass es ein Fehler war!"
    Raymond kam vor ihr zum stehen und stemmte seine Hand schwer atmend und wütend zugleich in die Hüfte. "Ein Fehler", wiederholte er und stieß ein fassungsloses Lachen aus. "Ein Fehler! Moira, wie kannst du-"
    "Ich will nichts mehr von dir wissen, Raymond!", unterbrach sie ihn. Ihre Stimme klang hell und aufgebracht, trug aber gleichzeitig eine unangenehme Schärfe in sich.
    "Nein, natürlich nicht", entgegnete dieser. "Nicht, seit du diesen Edward kennen gelernt hast!"
    "Was ist denn daran bitte so schlimm?"
    "Was daran so schlimm ist? Du betrügst mich!"
    Moira schüttelte verständnislos ihren schönen Kopf. "Edward ist nicht so uneinsichtig und konservativ wie du", sagte sie vorwurfsvoll.
    "Uneinsichtig? Ich und uneinsichtig!" Raymond stieß verächtlich die Luft aus. "Wie uneinsichtig bin ich denn bitte?"
    "Furchtbar uneinsichtig!"
    "Ach ja, findest du das!"
    "Ja! Uneinsichtig, dass du konservativ bist!"
    "Und dein Edward ist natürlich überhaupt nicht konservativ."
    "Lass mich endlich in Ruhe!"
    Raymond hob abwehrend die Hände und machte auf dem Absatz kehrt. "Wie du willst", sagte er und stapfte hochmütig davon. Bevor er wieder in den Gassen verschwand, drehte er sich noch einmal um. "Aber denk ja nicht du kannst zu mir zurückgekrochen kommen, wenn er dich vor die Tür gesetzt hat!", brüllte er, worauf Moira bloß ihren schmalen, blassen Hals reckte und ihre dunklen Locken zurückstrich. "Denk ja nicht ich werde darauf warten, dass du zurückkommst! Es gibt genug andere, mit denen ich mich vergnügen kann, da kannst du mir wirklich gestohlen bleiben!"
    "Eben", entgegnete sie halblaut und strich ihre dunkelbraunen Haare zurück, in denen sich das warme Licht der Lampions fing, doch Raymond war bereits in den Gassen verschwunden.
    Mehrere Paare gingen vorbei und warfen ihr im Vorübergehen verstohlen Blicke zu, jedoch ohne dabei zu vergessen vorzugeben, völlig in ihre Angelegenheiten vertieft zu sein.
    Die Gestalten zweier Mädchen, die schon die gesamte Zeit in einem heimlich beleuchteten Hauseingangs gelauscht hatten, lösten sich aus dem Schatten und liefen mit gerafften Kleidern und eiligen Schritten zum Brunnen.
    Moira, die mit dem Rücken zu ihnen gestanden und sie nicht bemerkt hatte, drehte sich um, als sie die nahenden Schritte hörte.
    "Lizza! Bell!", rief sie überrascht aus. "Ihr glaubt nicht, was geschehen ist!"
    "Oh Moira, ich kann es mir denken", sagte Lizza mit einem scheinheilig betrübtem Gesicht. Sie war eine indische Schönheit mit bronzefarbener, schimmernder Haut und ebenholzschwarzem Haar. "Raymonds Stimme war durch die gesamte Gasse zu hören!"
    "Er hat sich furchtbar lächerlich gemacht", kicherte Bell, eine kindlich anmutende Asiatin mit wunderschönen mandelförmigen Augen. "Du hast ihn ganz schön blamiert! Seine gesamte Charakterschwäche-"
    "Bell!", wies Lizza ihre Freundin mahnend zurecht, und auch Moira sah nicht belustigt aus, was Bell ihr Gekicher verschlug. Sie sah zu Boden, wenn auch nicht ohne sich dabei ein amüsiertes Lächeln verbeißen zu können.
    "Er nimmt es mir furchtbar übel, dass ich gestern mit Edward zusammen war", sagte Moira. "Dabei bin ich doch nicht sein Besitztum! Und verheiratet sind wir auch nicht, wieso also ist er nur immer so furchtbar…"
    "Er ist eben konservativ", antwortete Lizza und legte ihr beschwichtigend eine Hand auf die zierliche weiße Schulter. "Das hast du ihm doch selbst gesagt!"
    Moira warf ihrer Freundin einen kläglichen Blick zu, dann brachen die beiden Mädchen in Gekicher aus.
    Jetzt war es Bell, die hochnäsig den Kopf schüttelte. "Also ich verstehe euch nicht", sagte sie eingeschnappt. "Nun lacht ihr."
    Moira strich sich ein wenig atemlos die dunklen Strähnen aus ihrem reinweißen Gesicht und löste sich erleichtert von Lizza.
    "Puh, das ist wirklich so altmodisch!", sagte sie und die beiden begannen wieder leise zu kichern, wurden jedoch von Bell unterbrochen, die ihre zierlichen Arme vor der Brust verschränkte. "Ich weiß nicht wieso du dich so aufregst, Moira", sagte sie trotzig. "Raymond hat kein Recht, dich an sich zu ketten! Die ganze Geschichte ist den Ärger doch überhaupt nicht wert!"
    Lizza hakte sich bei Moira ein und warf Bell einen anklagenden, beinahe herausfordernden Blick zu. "Wenn du Moiras Probleme nicht ernst nimmst, kannst du ja auch verschwinden!", gab sie zurück.
    Bell öffnete empört den Mund, um etwas zu erwidern, doch Moira legte den beiden beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. "Sie hat doch Recht, Lizza", sagte sie. "Raymond ist es nicht wert. Ich werde bloß wie er, wenn ich mich noch länger darüber aufrege!"
    Lizza verzog schmollend die Lippen und erntete einen koketten, triumphierenden Augenaufschlag von Bell.
    "Ja, richtig", sagte Bell, ohne ihre mandelförmigen Augen von Lizzas abzuwenden. "Du brauchst schließlich keinen Sittenlehrer an deiner Seite!"
    Moira nickte zustimmend und richtete sich entschlossen auf. "Völlig richtig", sagte sie.
    Lizza stand mit blassem Gesicht und einem wütenden Blitzen in den Augen daneben, während Bells verhohlenes Lächeln, das sie ihrer indischen Freundin schenkte, ein wenig breiter wurde und dabei überhaupt nicht mehr kindlich wirkte.
    "Kommt, wir gehen zum Ballplatz!", sagte Moira, die fest entschlossen war, ihre Melancholie abzuschütteln. "Ich will tanzen!"
    "Ja", sagte Bell und hakte sich bei ihrer Freundin ein. "Vielleicht triffst du ja Edward…"
    Kichernd verschwanden die Mädchen zwischen den Paaren in den erleuchteten Gassen, die erfüllt waren von dem warmen Licht der Lampions und in denen die ferne Musik des Ballplatzes wie ein verlockender, betörender Duft schwebte.
    
    Bei einer überdachten Galerie vor einem Hauseingang standen ein paar Kerle in teuren Anzügen und Gewändern, lehnten lässig an den Säulen und unterhielten sich bei einem Glas Rotwein.
    Eine verhüllte Dienerin trug eine Flasche und schenkte neuen Wein nach, sobald eines der Gläser weniger als bis zur Hälfte gefüllt war, wurde ansonsten jedoch von den Anwesenden höflich ignoriert; Erst als ihr aus Versehen die Flasche aus der Hand glitt und diese klirrend am Boden zerschellte, wobei Splitter und roter Wein über die gesamte Straße spritzten, brachen sie in Gelächter aus und einer stieß einen wütenden Fluch aus.
    "Pass doch auf was du tust, dummes Schaf!", fuhr der große, schlaksige Ire sie an, dem die Dienerin den Wein über das teure Satinhemd geschüttet hatte.
    "Herzblut, Raymond", bemerkte einer der anderen, worauf erneutes Gelächter ausbrach und Raymond mit einer wütenden Geste seinen Anzug zuknöpfte, sodass der blutrote Fleck verdeckt war.
    "Nutzloses Ding!", fluchte er, wobei er den Hohn der anderen kühl ignorierte.
    Die Dienerin erwiderte kein Wort, was offenbar auch von keinem erwartet wurde, sondern huschte wie ein Geist davon und verschwand in den Gassen.
    "Wo ist eigentlich Edward?", warf einer der anderen mit einem breiten Grinsen ein.
    "Was willst du, Pjedro? Hattest du überhaupt schon mal irgendeine, die es Wert gewesen ist?"
    Pjedro, ein spanischer Typ mit verwegenem schwarzen Haar und Kinnbart, löste sich mit einem Todesblick von seiner Säule, doch Raymond fuhr fort, ehe dieser den Mund aufmachen konnte.
    "Du bekommst doch sowieso nur ab, was übrig bleibt!"
    Pjedro stieß verächtlich die Luft aus. "Man soll nicht von sich auf andere schließen, Raymond!"
    "Ihr habt euch doch nur so um Moira gerissen! Aber sie hat nicht einmal einen Blick an dich verschwendet", gab Raymond mit einem triumphierenden Flackern in den Augen zurück.
    "Und dir ist sie davongelaufen, du Held!", zischte Pjedro. "Für Edward!"
    "Denkst du etwa, dass ich ihr ewig hinterherlaufen werde?", fuhr Raymond ihn an. "Glaubst du, ich wäre ihr verfallen, so wie du deiner zweitklassigen kleinen-"
    Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte Pjedro Raymond am Kragen seines Hemdes gepackt. "Willst du wissen, was ich glaube? Ich glaube du bist ihr so tief verfallen, dass du vor Leid überhaupt nicht mehr retten kannst und dich am liebsten in irgendein Loch verkriechen würdest, um dort ungestört deiner tragischen, erbarmungswürdigen Melancholie nachzuhängen!"
    "Du idiotischer Schwachkopf, du sprichst wohl aus Erfahrung!", fauchte Raymond, wobei seine Finger sich so heftig in Pjedros Schulter gruben, dass seine Fingerknöchel sich schneeweiß färbten.
    Ein verzerrtes, zähnebleckendes Lächeln flog über Pjedros Gesicht. "Ich weiß, du kannst nichts dafür", fuhr er in gepresstem Tonfall fort. "Du bist eben konservativ."
    Er stieß Raymond von sich weg und spuckte hasserfüllt vor ihm aus, während Raymond wütend seinen Anzug zurechtrückte.
    Sie wurden unterbrochen, als ein weißliches Licht in dem gläsernen Gefäß eines Schalenträgers an ihnen vorbeischwebte und das rötliche Halbdunkel mit seinem grellen Schimmern vertrieb. Es streifte die Gesichter von Raymond, Pjedro und den anderen, die mit einem mal merkwürdig bleich aussahen, ja selbst die Farben der Gewänder schienen zu verblassen, bevor der helle Glanz von den Silhouetten vorbeigehenden Gestalten verschluckt wurde.
    Für einen Moment herrschte Schweigen, dann begann einer der anderen, über den Ball zu reden, während Pjedro und Raymond sich wütend anfunkelten.

    Wie immer an Neumond, der einzigen Nacht, in der der Himmel nicht durch den Hellen Schein des Mondes erhellt wurde sondern einzig und allein durch das sanfte Schimmern der Sterne, fand der Neumondtanz des Hochadels statt.
    Tänzerinnen und Musiker spielten ständig ihre betörenden Weisen und standen sich normalerweise an Pracht und Reichtum in Nichts nach, selbst den adeligen Tänzerinnen nicht, die auf die gleiche Art tanzten.
    Doch ab Mitternacht gehörte der Ball den Marlohs, denn der Neumondtanz glich den anderen bunten, rasant wirbelnden Tänzen in keiner Weise, sondern ließ jede noch so prachtvolle Federmaske verblassen und jedes flatternde Gewand wie albernern Flitter aussehen. Selbstverständlich stellte er jedes Mal den Höhepunkt des Abends dar, doch die Zeit für die Aufführung war noch nicht gekommen, und noch sprühte und funkelte der Ball in seiner gesamten Vergnüglichkeit und Wärme, die zu Hitze anschwoll, je weiter die Nacht fortschritt. Die Musik wechselte, die Tänzerinnen warfen ein letztes Mal ihre Tücher in die Luft und verließen die stufige Tribüne, um sich unter die Menge zu mischen und den nächsten Platz zu machen. Masken fielen, es wurde gelacht und geredet.
    Lizza zog ihre purpurne, mit weißen Federn besetzte Maske vom Gesicht und schmiegte sich kichernd an Pjedro, der ihr ein tiefrotes Weinglas reichte und dabei über ihren Handrücken und ihre Arme strich. Bell stand bei Raymond und ein paar anderen Kerlen und schenkte einem nach dem anderen kokette Augenaufschläge, wobei sie völlig unabsichtlich tiefe Einblicke in den weiten Ausschnitt ihres spitzenbesetzten Korsagenkleides gewährte, das sich perfekt an ihren Körper schmiegte. Moira und ein paar andere Mädchen hatten sich auf einer Bank niedergelassen und sonnten sich bei angeregter Unterhaltung in ihrer Schönheit, streckten ihre Beine und ließen dabei ein wenig mehr Haut blitzen als die anderen, strichen ihre funkelnden Haare mit ein wenig unschuldigerer Eleganz zurück oder betonten ihre Wimpern durch sanftes Blinzeln.
    "Du hast wundervoll getanzt, Moira!", sagte eines der Mädchen und kicherte vergnügt. "Es würde mich wundern, wenn keiner dich wahrgenommen hat!"
    "Dabei war ich bloß eine von vielen Tänzerinnen", wandte Moira bescheiden ein und lehnte sich mit einer anmutigen Geste zurück, wobei sie ihre federbesetzte Maske in der Hand drehte.
    "Ach, rede doch keinen Unsinn!", erwiderte das Mädchen. "Du warst die Schönste von allen!"
    Jetzt war es Moira, über deren Gesicht ein engelhaftes Lächeln glitt.
    "Ja, genau", pflichtete ein anderes Mädchen bei. "Dezent im Hintergrund zu tanzen ist die anziehendste Art und Weise, auf sich aufmerksam zu machen!"
    Moira stieß ein leidendes Seufzen aus. "Ich warte ja immer noch darauf, dass Edward mir seine Aufwartung macht…"
    "Edward? Er ist ein Marloh! Meinst du wirklich, dass jemand aus dem Hochadel sich mit uns einlässt?"
    "Ich habe größte Hoffnung… und wenn ich ihn ein einziges Mal in die Finger bekomme, lasse ich ihn das niemals vergessen!"
    Die Mädchen brachen in Gekicher aus und fielen sich um den Hals, während Pjedro seinen Arm um Lizzas Hüfte schlang und ihr zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht strich, wobei er ihre dunkle Schulter behutsam und lockend streichelte. Lizza schnickte mit einem Kichern die Haare zurück und drehte sich in seiner Umarmung, um ihm mit ihren schmalen Fingern über die Lippen zu streifen.
    Ineinander verschlungen ließen sie sich auf einer niedrigen Mauer nieder und hatten die ganze Nacht für nichts und niemanden mehr Augen außer für sich selbst.
    "Guten Abend."
    Bell drehte sich in elegantem Schwung um und lächelte automatisch, erstarrte jedoch, als sie die beiden unbeschreiblich gut aussehenden Kerle erblickte, die hinter ihr standen.
    "Jaden und Edward Marloh!", sagte sie mit einer Spur gehobener Überraschung in der Stimme. "Ich hatte nicht erwartet, euch zu treffen."
    Raymond und die anderen Jungs starrten ausdruckslos, wenn nicht sogar feindselig zu ihren Konkurrenten hinüber, während die Augen der Mädchen zu leuchten begannen.
    Jaden, ein blonder Typ mit dunklen Augen, ergriff ungefragt Bells Hand, um einen Kuss auf ihre Finger zu hauchen, wie es normalerweise nur beim Adel üblich war. Auf seinen schwarzen Handschuhen blitzte das aufgestickte silberne Wappen des Hochadels. "Tut uns Leid, wenn wir ungebeten kommen. Wir wollten euch nicht in Verlegenheit bringen."
    "Oh, nein", sagte Bell zog ihre Finger mit einem Lächeln und einer kaum merklichen, gezierten Bewegung zurück. Ihre dunklen, mandelförmigen Augen funkelten im gedämpften Licht der Lampions. "Bitte bringt uns nicht in Verlegenheit, uns in die Position zu bringen, euch in Verlegenheit bringen zu können."
    "Uns", knurrte Raymond in ihrem Rücken, doch weder Bell noch Jaden und Edward schenkten ihm Beachtung.
    Jaden lächelte, während Edward mit verschränkten Armen und distanziertem Gesichtsausdruck hinter ihm stand.
    "Versteht mich bitte nicht falsch", korrigierte Jaden. "Mir sind ein paar ehrliche Worte lieber, als einen gesamten Abend als ungebetener Gast in einer Gesellschaft zu verbringen. Würdet ihr dem nicht zustimmen?"
    "Das würde ganz von den Anlass meines Besuches abhängen", entgegnete Bell mit einem Lächeln und einem verhohlenen Seitenblick zu Raymond. "Aber grundsätzlich ist dem, was ihr sagt, selbstverständlich zuzustimmen."
    Jaden erwiderte ihr Lächeln mit einem amüsierten Blitzen in den Augen und hielt ihr in einer leichten Verneigung seine Hand entgegen. "Darf ich euch zu einem Balltanz einladen, Bellynn?"
    Bell errötete leicht und schlug die Augen nieder. "Nun bringt ihr mich doch in Verlegenheit", sagte sie. "Wie käme ich mir denn vor, in meinem einfachen Kleid an dem Balltanz des Hochadels teilzunehmen?"
    Sämtliche Gesichter um sie herum verblassten vor Neid, doch für Bell schien die Verärgerung ihrer Freunde plötzlich in so großer Ferne zu liegen wie Edward für Moira.
    "Selbstverständlich werde ich nicht zulassen, dass ihr den anderen Teilnehmern des Balls in irgendeiner Weise nachsteht, was die überflüssigen Oberflächlichkeiten betrifft, die der Hochadel uns auferlegt hat", sagte Jaden ohne zu zögern.
    "Dann nehme ich euer Angebot mit Freuden an, Jaden Marloh."
    Ihre zierliche kleine Hand legte sich auf Jadens schwarzen Handschuh, und Jaden berührte mit seinen Lippen sanft ihre schmalen Finger.
    "Es ist mir eine Ehre, Bellynn."
    Sie warfen sich ein verschwörerisches Lächeln zu und für einen Moment schienen sie kurz davor zu stehen, sich vor Freude und Übermut in die Arme zu fallen, doch dann besannen sie sich anders und Jaden ergriff mit einer eleganten Geste ihre Hand, um sie durch die Menge davonzuführen.
    "Abgeschleppt", murmelte Raymond missmutig.
    Die Sieger hatten das Schlachtfeld verlassen: Dem Iren war die Verärgerung deutlich anzusehen, genau wie den vielen Mädchen die Wunden, die der Besuch der beiden Marlohs geschlagen hatte. Moira war besonders blass, saß mit zusammengekniffenen Lippen und wässrigen Augen da und schluckte.
    Er hatte sie nicht einmal angesehen.
    Lizza und Pjedro waren zwischendurch in den Gassen verschwunden und hatten nichts von der ganzen Szene mitbekommen, sondern schritten selig in dem glühenden Licht der Lampions dahin, um einen ruhigeren, weniger belebten Ort zu finden, an dem sie ungestört waren.
    Dumpfer, rhythmischer Trommelschlag erklang plötzlich von den flachen weißen Treppen und hallte an den Wänden des Palastes wieder. Die Tänzerinnen, die sich noch auf den Stufen befanden, wurden mitten in ihrem Tanz unterbrochen und stoben auseinander, während die Lampions verblassten und den Platz in gespenstisches weißgrau tauchte. Mit sachtem Rascheln teilten sich die roten Samtvorhänge und die hohen Flügel öffneten sich unter steinernem Schaben und rhythmischem Trommelschlag, der immer schneller und ungeduldiger wurde, bis er nurnoch als unangenehmes Pochen gleich dem Puls eines rasenden Herzens in der Luft lag.
    Totenstille herrschte auf dem Ballplatz, die Gespräche waren verstummt, das Gelächter erstickt.
    Mit einem letzten Schlag stoppten die Trommeln, dann traten zehn Lichtträger mit leuchtend weißen Schalen aus der Schwärze des Palastes hervor. Reglos und erhaben verharrten sie auf dem obersten Absatz der Treppe, während der grelle weiße Schein sich in der schwarzen Luft brach wie in dunkles Wasser einfallende Lichtstrahlen. Sie lösten ihre Starre wie auf ein Wort und schritten in der Totenstille mit schweren, abgehackt wirkenden Schritten die Stufen hinab, während zehn in rauchige, fließende Gewänder gehüllte Gestalten sich aus der Menge lösten und ihnen vom unteren Ende der Treppe entgegenschwebten.
    In der Mitte trafen sie sich.
    Die rauchigen Gestalten verneigten sich beinahe bis zum Kniefall und streckten den Lichtgestalten in symbolischer Bitte ihre verhangenen Arme entgegen, worauf diese die bauchigen Gefäße anhoben und erstarrten. Dann, in einer furchtbar schnellen, kunstvollen Bewegung, drehten sie sich mit schwer wehenden, weißen Gewändern um die eigene Achse und gaben die Gefäße in die wartenden Hände, bevor sie blitzschnell zurückwichen und sich rechts und links auf den Stufen postierten. Auch die Marlohs verharrten noch einen Moment lang reglos, wie gebannt von dem hellen, heiligen Schimmer der Gefäße, bis das rhythmische Trommeln wieder anschwoll und sie sich zugleich aufrichteten. Die rauchigen Kapuzen fielen, die weißen Gefäße erleuchteten die schattenhaften Gesichter von Jaden, Edward, Bell und den anderen Marlohs, die im fahlen Licht fremd und bleich wirkten.
    Dann begann der zeitlose Tanz.
    Wie fetzenhafte Nebelschleier wirbelten sie umher, flatternd wie Geister, die schaurig schimmernd durch die Luft glitten; Das weiße Licht warf flüchtige schwarze Schatten, während die Gestalten im pulsierenden Takt der Trommeln umeinander flogen und sich dabei so schwerelos wie ihre rauchigen Gewänder bewegten.
    Mit einem scharfen Atemhauch kamen sie schließlich zum Stillstand, die Tücher fielen über die Gefäße und dämpften das weiße Licht mit ihren seidigen Bahnen, während die Gestalten langsam zu Boden sanken. Lichter fielen, Glas zerschellte auf den steinernen Stufen und milchiges, zähes Licht triefte über die durchsichtigen, funkelnden Scherben und die verhüllten Hände, die sich vergeblich nach dem vergossenen Licht ausstreckten und sich so hart in die scharfen Scherben gruben, dass Blut über die Finger lief.
    Allmählich wurde das Licht schwächer, bis es mit einem leisen Flackern verging, während auch die Bewegungen der rauchigen Gestalten ermatteten und sie wie tot in den nun schwarz spiegelnden Lachen liegen blieben. Die Treppe war in Lichtlosigkeit getaucht, nur die Sterne ließ die seidigen Gewänder silbrig schimmern.
    Regungslosigkeit und Totenstille herrschte auf dem Ballplatz, bis plötzlich ein anschwellender Schein vom Palasteingang erstrahlte und der König und die Königin sich gefolgt von mehreren Lichtträgern aus der Schwärze lösten.
    Die Gestalten erwachten wie Schlafende, die aus einem totenähnlichen Zustand gerissen worden waren, und erhoben sich mit schweren Gliedern, als ob das Gewicht ihrer Körper drohte, sie zu Boden zu ziehen. Dann wandten sie sich mit einem Mal in Richtung des Königs und der Königin und neigten ihre Köpfe.
    Der Tanz endete.
    Auch auf dem Ballplatz lösten sich die ersten aus ihrer Starre und erwiesen dem Herrscherpaar ihre Reverenz, was diese mit einem Kopfnicken erwiderten, bevor Esmeralda und Darcia Marloh mit einnehmenden, eleganten Schritten die Treppen hinabstiegen.
    Die Königin hielt sich im Hintergrund, während der König sich von jedem der Marlohs den großen, silbernen Siegelring küssen ließ, dann schwebten der schwarze König und die weiße Königin die restlichen Treppen hinunter und mischten sich mit ihren Lichtträgern unter die Leute.
    
    Der Ballplatz hatte sich geleert, die meisten Gäste waren gegangen, und nurnoch Königin Esmeralda, König Darcia und die Marlohs befanden sich auf dem Hof vor dem Palast, nach dem Tanz gewandt in weite, schwarze Umhänge mit dem silbernen Wappen der Marlohs auf dem Rücken.
    Die Flammen des Morgenrots leckten bereits am Horizont und vertrieben die Schwärze der mondlosen Nacht, doch noch hatte die Sonne sich nicht erhoben. Die Lampions waren erloschen, und nur die weiße Flüssigkeit der Lichtträger warf Licht und Schatten.
    Eine kleine, zierliche Gestalt kniete vor dem König und der Königin, die anderen hatten einen engen Kreis um sie gezogen und umringten sie mit ihren schwarzen, fließenden Gewändern.
    Die Königin streckte ihre bleichen, feingliedrigen Hände aus und schob die Kapuze zurück, die Bells Gesicht verhüllt hatte.
    Dann hallte ihre Stimme kühl und klar über den Ballplatz, als sie sprach:
    "Auserwählt von Unseresgleichen sollst du in Ehren aufgenommen werden. Wenn du dich erhebst, so erhebe dich als eine von uns, Bellynn Marloh."
    Bellynn richtete sich in ihrem flatternden, rauchigen Tuch auf und küsste ein weiters Mal den Siegelring des Königs, dann den zierlicheren, kleineren der Königin. "Ich werde in Ehren halten, was immer ihr mir Zuteil werden lasst", antwortete sie mit fester, klarer Stimme.
    Die drei verneigten sich voreinander, dann legte der König ihr ein schwarzes Tuch um die Schultern. Das silberne Wappen blitzte im weißen Licht.
    Bellynn nahm einen Platz in der Reihe der schwarzen Gestalten ein und zog die Kapuze ihres Gewandes tief ins Gesicht, dann verneigten sie sich mit den anderen Marlohs ein weiteres Mal und alle gingen wortlos auseinander.
    Staub und Asche wurde von Wind und Regen hinweggefegt, der die Ruinen peitschte.
    Die schwarze Flüssigkeit verdunstete in den Strahlen der aufgehenden Sonne.

    
    "Jaden, Bellynn."
    Edward grüßte seine Halbschwester mit einem kurzen, aber vollendeten Kopfnicken. Der Brunnenplatz glühte wie jede Nacht in dem warmen Schein der Lampions, gedämpftes Gelächter und Gerede lagen in der Luft, die vom nicht allzu weit entfernten Ballplatz erklangen, während das Wasser des Brunnens leise plätscherte. Alles wurde von dem warmen rötlichen Schein erfasst, sogar Edwards kurze, pechschwarze Haare und sein schmaler Kinnbart schimmerten ein wenig kupfern, wenn auch seine Haut bleich wie Marmor war, wie die aller Marlohs.
    "Edward?", fragte Jaden und wandte seinen dunklen Augen nur bedauernd von Bellynn ab, die ihm noch eben verspielt durch die blonden Haare gefahren war und deren Hand nun in seinem Nacken ruhte.
    "Wir müssen reden, Jaden", sagte Edward kurz.
    "Reden?", fragte Jaden gedehnt und legte seine Hand auf Bellynns schmale Finger. "Hat das nicht Zeit?"
    Edward lächelte freundlich. "Nein, hat es nicht", sagte er.
    Ein paar weißliche Lichter schimmerten zwischen den Passanten auf, mischten sich bald unter die Lampions und erhellten die fahlen, blassroten Papierkugeln, bevor die Lichtträger in ihren weißen Gewändern weiterschritten und unschuldig schimmernd am Brunnen verharrten.
    Weder Jaden noch Bellynn oder Edward ließen sich davon stören, auch wenn sie sich der Anwesenheit des weißen Lichtes genauso bewusst waren wie es wohl anders herum der Fall war.
    "Wieso gleich so frostig, Bruder?", fragte Jaden und schmiegte Bellynns Hand an die seine. "Was kann schon so Bewegendes geschehen sein?"
    Ihre Gesichter und Kleider wirkten bleich im Schein des weißen Lichtes, während Edward seinen Bruder schweigend musterte.
    "Vielleicht fällt es mir wieder ein, wenn wir ein paar Schritte gegangen sind", sagte er schließlich lauernd.
    Jaden richtete sich in Bellynns Umarmung auf und warf sich in die Brust.
    "Ausgezeichnet", sagte er aufgeräumt, doch Verärgerung überdeckte seine vorgegebene Geschäftlichkeit. "Es macht doch sicher keine Umstände, wenn unsere Schwester uns begleitet?"
    Edward wollte etwas erwidern, entschied sich dann aber anders und schenkte Jaden und Bellynn bloß ein - nun reserviertes - Lächeln. "Wir sehen uns später", sagte er.
    "Bruder!"
    Edward, der sich bereits grußlos zum Gehen gewand hatte, drehte sich noch einmal um.
    "Jaden", fragte er, die Stimme voller halbherzig unterdrückter Ungeduld und Geringschätzung.
    "Vater war äußerst angetan von Bellynns Tanzkünsten, mit denen sie sich vergangene Nacht auf dem Neumondball hervorgetan hat."
    Edward rang sich ein kühles Lächeln ab. "Wie schön", sagte er, "dass ihre Künste Darcias mit Sicherheit teures Lob finden."
    Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand.
    "Dein Bruder erstaunt mich", bemerkte Bellynn leise, während sie ihre Finger mit Jadens verschlang. "Edward, meine ich."
    "So?", fragte Jaden, ohne dabei den Blick von ihren Händen abzuwenden. "Aber du hast Recht, ich bin auch immer wieder recht… erstaunt. Erstaunt darüber, was er sich anmaßt…" Er brach ab.
    Bellynn schwieg und starrte zu Boden, während ihre Hand mechanisch seinen Nacken streichelte. Ihre dunklen, mandelförmigen Augen waren mit Kummer gefüllt, während sie in dustere Gedanken versunken dasaß.
    "Mach dir keine Sorgen, Bellynn", sagte Jaden und legte seinen Arm um ihre Schultern. "Sie werden dich anerkennen, ich verspreche es dir. Du bist auch eine Marloh, genau wie sie."
    "Ich weiß nicht, Jaden…"
    Jaden drückte ihre zierliche Gestalt fest an sich und beugte sich hinunter, um seine Wange an ihre zu legen. "Doch, du wirst schon sehen", sagte er und hauchte einen Kuss auf ihre Lippen. "Edward hat nicht das Recht, dich zu verachten. Niemand hat das, und jeder, der es tut, ist sich meiner offenen Feindschaft versichert. Ich werde dich nicht im Stich lassen, Bellynn."
    "Jaden", sagte sie mit einem bezaubernden Lächeln und erwiderte seinen Kuss. "Ich danke dir von Herzen."
    Nach einer Weile löste Jaden sich aus ihrer Umarmung. "Lass uns zum Ball gehen", sagte er. "Wir können tanzen, und ich muss mit meiner Schwester Cassandra sprechen."
    "Gut", sagte Bellynn. "Geh nur vor, ich komme gleich nach."
    Auch die weißen Lichtträger erhoben sich und verstreuten sich langsam in den Gassen, wobei sich die Passanten die größte Mühe gaben, sich von ihrem fahlen Schein nicht stören zu lassen.

    
    Kaum fünf Minuten, nachdem Jaden verschwunden war, näherten sich eilige Schritte, und Bellynn wandte sich in einer eleganten Bewegung um. Ein freudiges Lächeln flog über ihr Gesicht, als sie ihre alten Freundinnen sah. "Lizza, Moira! Wie geht es euch?"
    "Wie schön, dich wiederzusehen, Bell!", sagte Lizza. "Uns geht es gut. Doch erzähle lieber wie es dir ergeht!"
    "Oh, Recht gut", sagte Bellynn und schlug bescheiden die Augen nieder. "Darcia und Esmeralda sind unglaublich freundlich zu mir, und bei den anderen lebe ich mich bestens ein."
    "Recht gut?", wiederholte Moira, während ihre Lippen sich zu einem unbeabsichtigt gequälten Lächeln verzogen. "Du bist jetzt eine Marloh und hast bereits mit dem König und der Königin gesprochen! Und mit Edward!"
    Bellynn schwieg mit versteinerter, hochmütiger Miene in Anbetracht dieses Vorwurfs, und für einen Augenblick herrschte unangenehme Stille.
    Dann kicherte Lizza und hakte sich bei ihrer Freundin ein. "Moira hat es nicht so gemeint", sagte sie. "Sie beneidet dich. Das ist es doch, oder etwa nicht, Moira?"
    Moira erblasste ein wenig und warf ihrer indischen Freundin einen todbringenden Blick zu, doch Bellynn schüttelte den Kopf und legte ihre behandschuhten Hände auf Lizzas und Moiras Arme. Das silberne Wappen auf dem schwarzen Stoff blitzte im rötlichen Licht.
    "Nicht doch, meine Freundinnen", sagte sie. "Wir wollen nicht streiten oder uns an alte Zwistigkeiten erinnern. Ist es nicht so, Lizza?"
    Lizza erstarrte für einen Moment und sah Bellynn erschrocken an, dann schüttelte sie den Kopf und winkte mit einem erneuten, albernen Kichern ab.
    "Aber nicht doch, Bellynn. Wieso sollten wir uns denn streiten wollen?"
    Ein beinahe triumphierendes Lächeln glitt über Bellynns Gesicht, und sie fiel ihren beiden Freundinnen um den Hals.
    "Es tut so gut, eure Gesichter zu sehen."
    "Ach Bell… Ich hätte nie geglaubt, dass es soweit kommt", sagte Moira mit schlecht verborgener Bitterkeit in der Stimme, doch Bellynn ließ sich nichts anmerken.
    "Ja, Jaden ist wirklich goldwert", sagte sie stattdessen mit gesenkter Stimme und einem vielsagenden Lächeln.
    "Ist er das?", fragte Lizza überrascht. "Du meinst doch nicht etwa…"
    "Doch, doch, meine Lieben!", sagte Bellynn und kicherte vergnügt. "Er liegt mir zu Füßen und würde alles für mich tun!"
    "Oh, wie beneidenswert", schwärmte Lizza und fügte in scherzendem, heiteren Tonfall hinzu: "Eigentlich könntest du uns ja auch einem deiner Brüder vorstellen!"
    Bellynn schüttelte bedauernd den Kopf. "Jaden hat mir erzählt, dass er durch den Tanz auf mich aufmerksam geworden ist", sagte sie. "Eure Bekanntschaft muss zufällig sein, so wie sie es bei mir und Jaden war."
    "Wie schade…", schmollte Lizza bedauernd.
    Moira wurde ein wenig blasser.
    "Aber stellt euch vor, was ich für einen Haufen an Klamotten ich bekommen habe! Und auf allen ist dieses hässliche Siegel drauf", plapperte Bellynn weiter. "Seht nur, die Schuhe! Unglaublich altmodisch, und sie drücken an allen Seiten!"
    Lizza brach in Gekicher aus, während Moira mit einem weinenden und einem lachenden Augen einstimmte.
    "Ihr glaubt ja garnicht, was für eine schmale Oberweite meine Vorgängerin gehabt haben muss! Mir passt beinahe keines der Kleider, und eines wäre beinahe gerissen, als ich mich gebückt habe!"
    "Ruhm macht eben attraktiv!", stimmte Lizza noch immer kichernd zu. "Ohne ihren Ruf wären die Marlohs nur ein paar Kornblumen unter vielen anderen!"
    
    Das Fest war in vollem Rausch und die Zeit neigte sich der Mitternachtsstunde entgegen. Das Königspaar würde jeden Moment auf dem Ballplatz erscheinen, doch noch war von ihrer nahenden, erhabenen Ankunft nichts zu spüren und die Leute amüsierten sich, wie sie es den ganzen Abend über getan hatten.
    Jaden, Edward, Bellynn und die anderen sieben Marlohs standen in der bunten Menge neben der Skulptur eines steinernen Löwen mit abgebrochenem Kopf am untersten Treppenabsatz und verfolgten den aufgeführten Tanz mit der Überheblichkeit und Geringschätzung des Adels, niemals zu beeindruckt und fasziniert, bei einem Glas Rotwein oder in kompletter Nichtachtung der Darbietung vertieft in ein angeregtes, halblautes Gespräch.
    Cassandra, eine bleiche Frau mit schwarzen, bodenlangen Haaren und kalten hellgrauen Augen, unterhielt sich schon den gesamten Abend über mit Jaden; Bellynn stand höflich lächelnd dabei und folgte den Worten ihres Geliebten mit mäßigem Interesse. Ab und zu fügte sie ein paar freundliche Worte hinzu oder brach mit Jaden und Cassandra in leises, gezwungenes Lachen aus, bevor die beiden sich weiter unterhielten und Jaden abwesend mit seiner Hand über ihre Schulter strich.
    Edward stand ein paar Schritte entfernt bei einem älteren Herrn mit grauem Kurzbart und einer hageren Frau, die ihre silbrigen, hellbraunen Haare zu einem strengen Knoten aufgesteckt hatte und sich mit einem schwarzen Fächer - der selbstverständlich mit dem Wappen der Marlohs bestickt war - Luft zufächelte.
    "Hast du schon mit Jaden gesprochen?", fragte der alte Mann.
    "Natürlich habe ich mit ihm gesprochen, Cassius", sagte Edward. "Nur eben nicht über seine kleine -"
    "Edward!", unterbrach die alte Dame ihn in tadelndem Unterton, worauf sich Edwards Miene nur noch mehr verfinsterte.
    "- Schwester", endete er.
    Beredetes, hochnäsiges Schweigen von Elinors Seite traf mit Edwards dusterer Stimmung zusammen und brodelte wie eine schwarze Gewitterwolke über ihnen.
    "Ich wette der König wird es nicht dabei bewenden lassen", brach Edward schließlich die Stille, nachdem Cassius keine Anstalten machte, sich einzumischen. "Vor allem nicht, seit Jaden sich eine Szene in Anwesenheit der Lichtträger erlaubt hat."
    Cassius hob skeptisch eine seiner grauweißen Augenbrauen. "Sieht so aus als könnte dieser Abend sich doch noch als recht interessant gestalten…"
    "Dummkopf, so etwas unbedachtes zu tun…", sagte Elinor. "Darcia kann es überhaupt nicht leiden, wenn das Licht mit solchen Hässlichkeiten beleidigt wird."
    Eine kurze Gesprächspause trat ein, die nachdenklich und besorgt hätte sein können und bei der sich die gedämpfte Musik in den Vordergrund geschoben hätte, wenn sie nicht von Edwards unzufriedenem Schweigen gestört worden wäre.
    Irgendwann stieß er leise die angehaltene Luft aus und verschränkte die Arme locker vor der Brust, bevor er vom Boden aufsah. "Beleidigt?", fragte er dann. "Du redest von der weißen Flüssigkeit, als ob sie eine Seele hätte."
    Elinors Fächer stoppte in der Luft, und auch Cassius graue, stechende Augen verharrten ausdruckslos auf Edward.
    "Nein, im Ernst", fuhr Edward fort. "Ist es wirklich mehr als ein bisschen Schleim in einer Flasche?"
    Er erwiderte den starren, von verborgener Fassungslosigkeit und Empörung getränkten Blick seines Onkels mit einem verärgerten Funkeln in den schwarzen Augen. "Was glaubst du, was sie in ihren heiligen, gläsernen Gefäßen aufbewahren?"
    Stille herrschte, dann begann Elinors Fächer sich wieder mechanisch auf und ab zu bewegen und sie löste sich aus ihrer Sprachlosigkeit.
    "Das weiß nur das Königspaar allein", sagte sie mit bestimmter, endgültiger Stimme, deren leichtes Zittern noch unterschwellig herauszuhören war.
    "Und warum wissen wir es nicht?", fragte Edward.
    "Es ist eben das Geheimnis der Gekrönten", sagte Cassius. Seine grauen Augen ruhten missbilligend auf Edward. "Du stellst viele Fragen, seit Dorothee uns verlassen hat."
    "Du brauchst mich nicht an ihren Tod zu erinnern!", fauchte Edward.
    "Edward, wir wissen alle, dass ihr Dahinscheiden dich getroffen hat", begann Elinor und hob beschwichtigend ihre behandschuhte, knochige Hand, um sie ihm auf die Schulter zu legen, doch Edward schob sie zur Seite.
    "Und auf dein Mitleid kann ich auch verzichten, Elinor! Dieses ganze Theater, das wir hier Nacht für Nacht spielen, ist… verachtenswert! Und wir haben es einzig und alleine dem Königspaar zu verdanken, dass wir jeden Abend aufs neue tanzen, Wein trinken und uns fasziniert und angeregt über die uninteressantesten Themen unterhalten, immer in dem verzweifelten Bemühen, unser leeres Leben mit Sinn zu füllen! Und warum tun wir es, warum tun wir nicht einfach etwas anderes? - Niemand weiß es!"
    "Ich kann ja verstehen, dass dir das Leben nach Dorothees Tod sinnlos erscheint, aber - Du hast hoffentlich nicht schon mit anderen darüber… geredet?", fragte Elinor in gedämpften Tonfall, die ganz blass geworden war und sich heftiger als zuvor Luft zufächelte. Cassius hatte seinen Mund zu einem symbolischen, ein wenig säuerlichen Strich verzogen, als ob seine Lippen verriegelt seien.
    "Verdammt nochmal, und es scheint auch niemanden zu interessieren", fügte Edward beinahe lachend vor bitterer Fassungslosigkeit zu.
    "Ich…" Elinor beugte sich zu Edward vor und ergriff mit ihren gealterten Händen nach seinen. "Ich hoffe nur zu sehr, dass niemand mitgehört hat, Edward… Ich hoffe es für dich, denn wenn der König oder die Königin davon erführen…"
    "Ja, was wäre dann? Was wäre, wenn der König erfahren würde, dass ich das Licht beleidigt und seine Autorität angezweifelt hätte?"
    Elinor erstarrte, während Edward sie mit seinen schwarzen, erbarmungslosen Augen festnagelte, offenbar ohne die Absicht zu haben, die alte Dame wieder freizugeben, bevor er eine Antwort hatte.
    "Edward!", fuhr Cassius ihn plötzlich scharf an. "Das ist Hochverr- "
    Sie wurden von dem plötzlichen, allnächtlichen Tumult unterbrochen, der ausbrach, als die letzten Tänzer die Treppe verließen und sich unter die Menge mischten, während die samtroten Vorhänge sich teilten und das steinerne Schaben der Portale erklang. Weißliches Licht hob sich aus der Dunkelheit und erhellte die Schwärze, die hinter den Palasttoren herrschte, mit solch blendender Helligkeit, dass niemand den Blick von dem Königspaar, dem schwarzen Darcia und der weißen Esmeralda, abwenden konnte, die die marmornen Steinstufen mit erhabenen Schritten und fließenden Gewändern herabstiegen.
    Fahle Gestalten senkten ihre farblosen Häupter, verblichene Röcke und Tücher wurden zur Verneigung gerafft, dann verstreuten sich die weißen Lichter in der Menge, während Esmeralda und Darcia zu den anderen Marlohs hinüberschritten.
    Sie unterhielten sich.
    Sie tranken Wein.
    Sie tanzten.
    Als die Nacht der Morgenröte wich, verstreute sich die Menge und verlor sich in den Gassen; Und wie jeden Morgen blieben die Marlohs alleine vor den weißen Marmortreppen zurück, mittlerweile alle in ihre grauschwarzen Morgengewänder gehüllt, und scharten sich in engem Kreis zusammen.
    Trotz des Kreises hielten alle respektvollen Abstand zum schwarzen König und zur weißen Königin, die ebenfalls unter den anderen standen und so - abgesehen von ihren Roben - trotz der Gleichheit des Kreises hervorgehoben wurden.
    König Darcia Marloh hob seine seidige schwarze Kapuze und enthüllte sein erhabenes, königliches Gesicht. Er war ein Bruder von Cassius und etwa in dessen Alter, sein Haar war jedoch nicht grau wie das von Elinor oder Cassius, den letzten ihrer Generation, sondern noch genauso tiefschwarz wie am Tage seiner Krönung.
    "Jaden, Bellynn, ich habe ein Anliegen", sagte er. Seine ruhige Stimme hallte kraftvoll über den leeren Hof.
    Zwei der Gestalten hoben ihre Hände, und Jaden und Bellynn streiften sich die Kapuzen von den Köpfen. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, und außer dem immerzu leise in den Ruinen heulenden Wind und den sachte flatternden Gewändern herrschte Totenstille.
    "Jaden, letzte Neumondnacht hast du eine Gefährtin auserwählt, die du als würdig empfandest, Dorothees Nachfolgerin zu werden. Bist du noch immer dieser Ansicht?"
    "Ja, das bin ich", sagte Jaden, bevor er "Selbstverständlich" hinzufügte, wobei ein leises Lächeln aus seiner Stimme herauszuhören war.
    "Bellynn, letzte Neumondnacht wurdest du von einem der Marlohs zur Gefährtin erwählt. Wirst du dich als würdig erweisen, Dorothees Nachfolge anzutreten?"
    "Ja, das werde ich", sagte Bellynn.
    "Dann nimm ihr Erbe entgegen und halte es in Ehren."
    Jetzt trat Esmeralda hervor und strich ihr weißes Gewand zurück, aus dem sie eine kleine Schachtel hervorzog, die Bellynn mit einer leichten Verneigung entgegennahm.
    "Ich bedanke mich dafür", sagte Bellynn und kehrte, genau wie Jaden, an ihren Platz im Kreis zurück.
    Der König entfaltete ein Blatt Papier, das mit einer engen, verschlungenen Handschrift bedeckt war.
    "Es ist üblich, dass mit der Übergabe des Erbes Dorothee Marlohs letzte Schrift verlesen wird, die sie mir vor ihrem Tode überreicht hat. Sie lautet wie folgt: -"
    "Vater."
    Eine der Gestalten trat aus dem Kreis hervor und legte die Hand auf den Arm des Königs, sodass Darcia stoppte und seinen Blick von dem vergilbten, schweren Pergament hob, das er in den Händen hielt. Auch die anderen verharrten reglos in Anbetracht der unerwarteten Unterbrechung.
    "Edward?", fragte der König.
    "Ist die letzte Schrift nicht etwas privates?", fragte Edward, ohne den Blick zu heben oder die Kapuze zurückzuziehen.
    Die leicht sarkastische Frage, ob sie denn nicht unter sich seien, zerplatzte Darcia beinahe sichtbar auf den Lippen.
    Denn obwohl Edwards Frage die personifizierte Harmlosigkeit hätte sein können, das schlichte Nicht-Ertragen der Erwähnung der geliebten Verstorbenen, waren seine Worte unter den gegebenen Umständen mehr als bloße Kritik an Bellynn Marloh. Eine offene Bitte nach dem Verstoß von Bellynn hätte den König nur gering in einen größeren Konflikt bringen können.
    Darcias Gesicht wandelte sich zu Stein, genau wie Esmeraldas helles, von weißgoldenen Locken gerahmtes.
    "Vater, wenn ich sprechen darf", sagte Jaden und trat ungefragt aus dem Kreis heraus. "Enthält der Brief irgendwelche Inhalte, die uns nicht zuteil werden dürfen?"
    "Ich bin mir sicher, dass Dorothee es nicht gewollt hätte, ihre letzten Worte öffentlich verlesen zu lassen", entgegnete Edward.
    "Öffentlich, sagst du?", fragte Jaden mit mühsam zurückgehaltener Entrüstung. "Sind wir etwa nicht unter uns?"
    Stille breitete sich aus, die durch Edwards Schweigen und der sich somit selbst beantwortenden Frage geradezu schmerzhaft wurde.
    "Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass alle Welt sich den Mund darüber zerreißt", sagte Edward halblaut.
    "Wovon sprichst du, Bruder!", entgegnete Jaden hitzig. "Denkst du etwa-"
    Eine der Gestalten hob plötzlich ihren Arm und hielt Jaden zurück, wobei das graue Tuch wie der ledrige Flügel einer Fledermaus flatterte.
    "Genug, Jaden!", drang Cassius' Stimme unter der grauschwarzen Kapuze hervor. "Willst du etwa noch mehr anrichten?"
    "Cassius, begreifst du denn nicht-"
    "Still!", zischte er.
    Auch die anderen grauschwarzen Gestalten schwiegen.
    Jaden stieß fassungslos die Luft aus. "Vater, siehst du denn nicht, was hier gespielt wird?", fragte er. "Das ist nichts weiter als ein dummes Vorurteil… Bellynn würde niemals irgendetwas verraten, was als geheim beschlossen wurde! Sie -"
    "Jaden."
    Die erhabene, klingende Stimme des Königs ließ Jadens Protest wie das Flüstern des Windes verwehen und brachte ihn zum Verstummen. Dann klang Darcias volles, väterliches Lachen über den Hof, bei dem Jaden sichtlich erblasste und die Hände unter dem Gewand zu Fäusten ballte.
    "Wer spricht denn hier von Bellynn, mein Sohn?", fragte er, während er das Papier in seinen Händen faltete.
    "Vater!", rief Jaden, ansonsten hatten die Worte seines Vaters ihm die Sprache verschlagen.
    Das Papier verschwand unter Darcias Umhang.
    "Geht, bis die Nacht erneut ihre Flügel über uns ausbreitet", sagte der König.
    "Und was ist mit den letzten Worten Dorothees?", hauchte Jaden, bevor sie sich zum Abschied verneigen konnte. "Willst du sie nicht vorlesen, wie es im Kreis der Familie üblich ist?"
    Der König hob leicht tadelnd eine Augenbraue, bevor er antwortete. "Nach gründlichem Überlegen habe ich beschlossen, dass ihre Worte doch sehr privater Natur sind. Ich denke es wäre Dorothees Wunsch gewesen, sie geheim zu halten."
    
    "Edward!"
    "Elinor, Cassius?"
    Die drei nickten sich förmlich zu, bevor Elinor sich mit geschürzten Lippen vor ihren Gemahl schob.
    "Wir haben einiges zu besprechen, Sohn Darcias", zischte sie.
    Cassius verzog im Hintergrund ein wenig das Gesicht, gab jedoch kein Kommentar ab.
    Edward hob leicht die Augenbraue.
    "Haben wir das, Schwester Darcias?", entgegnete er dann in leicht überschwänglichem Tonfall aufgrund dem missfälligem Gesichtsausdruck Elinors. "Ich hoffe es ist nichts unangenehmes."
    Elinors bereits ein wenig magere Hand schlug sich wie die Klaue eines Raubvogels in Edwards Schulter.
    "Ich sagte wir haben zu reden", entgegnete sie mit funkelnden schwarzen Augen.
    Ein paar Minuten später schloss Cassius das Portal des ehemaligen Kirchenschiffs hinter sich zu, während Elinor ein paar Kerzen auf dem Boden anzündete und sich dann auf einem Sitzkissen davor niederließ. Edward tat es ihr gleich, und auch Cassius ließ sich auf seinem Platz nieder. Die Kerzen gaben nur gerade so viel Licht ab, dass sie die drei Gestalten in flackernden Kerzenschein hüllten, während der Rest des Kirchenschiffs - abgesehen von dem blassen Mosaikboden - in der Dunkelheit verschwand.
    "Ich erwarte eine Erklärung", zischte Elinor. "Das war wirklich nicht die feine Art, Edward!"
    "Die feine Art?", fragte Edward. "Wofür bitte soll ich mich rechtfertigen, Elinor?"
    "Für die Art und Weise, wie du Bellynn aus der Familie geworfen hast!"
    Edward war für einen Moment lang sprachlos, dann lachte er ungläubig auf. "Ich glaube nicht, dass du diejenige sein solltest, die mir diese Frage stellt…"
    "Ach nein?", gab Elinor bissig zurück. "Ist das also die neue Methode des Königshauses? Intrigieren?"
    "Hast du sie denn mit offenen Armen willkommen geheißen, Elinor?", fragte Edward. "Und hat Cassius nicht ebenso seinen Beitrag geleistet? Jaden oder Bellynn sollten mir einen Vorwurf machen, aber du… Mein Gott!" Edward erhob sich verärgert von seinem Sitzkissen. "Warum diskutierst du das nicht mit deinem Gemahl? Ich habe keine Lust, für eure Ehekriege den Kopf hinzuhalten oder mich für etwas zu rechtfertigen, für das Cassius ebenso die Verantwortung trägt."
    Elinor ließ ihn nicht gehen und griff nach seinem Handgelenk. "Weil du damit angefangen hast!"
    Edward hielt inne und musterte sie einem Moment lang abschätzend, bevor er antwortete.
    "Ich konnte nicht mit ansehen, wie Dorothees letzte Gedanken vor dieser Hure verlesen wurden, damit sie sich später mit ihren Slumfreundinnen darüber das Maul darüber zerreißen kann! Außerdem hätte jeder von euch sie nach meiner Anschuldigung verteidigen können, und Vater hätte die Geschichte unter den Tisch fallen gelassen! Bevor du also mich beschuldigst, Bellynn verurteilt zu haben, solltest du dich vielleicht fragen, warum du sie nicht selbst geschützt hast!"
    Elinor schwieg mit bleichem Gesicht, während sich auf Cassius' Miene eine tiefe Falte bildete, doch keiner der beiden sagte etwas.
    Edwards Blick funkelte noch einen Moment lang wütend, bevor das Glühen in seinen Augen müde wurde und er Elinor mit einem kaum hörbaren Ausatmen die Hand auf die Schulter legte.
    "Tut mir Leid, Elinor. Aber siehst du denn nicht, was sie mit Jaden getan hat?", fragte er. "Sie hat doch für meinen Bruder und Dorothees Erbe kaum mehr als ein herablassendes Lächeln übrig."
    Elinors Lippen bebten entsetzt.
    "Das nimmst du zurück, Edward", sagte sie mit ungläubiger und zugleich verletzter Stimme. "Das nimmst du zurück… Was muss Dorothees Tod dir nur grausames angetan haben, damit du das Heilige verabscheust und das Gute verurteilst…"
    Edwards Hand erstarrte auf ihrer Schulter, während sein Gesicht sich zu einer starrten Maske formte.
    "Sie hat recht, Edward", stimmte Cassius Elinor zu, "was Bellynns Ausschluss betrifft, mögen wir einer Meinung sein. Aber ich habe es nicht aus Hass gegen Bellynn getan, sondern einzig und allein wegen des unreinen Blutes, das in ihren Adern fließt, und das die Linie der Marlohs und unser heiliges Erbe nicht beschmutzen darf."
    Edward stieß die angehaltene Luft aus und richtete sich auf, während sein Blick ungläubig von Cassius zu Elinor wanderte. Dann fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare und nickte, bevor er auf dem Absatz kehrt machte und aus der Halle stapfte.
    Mit einem lauten Klacken fiel das Portal der Kirche hinter Edward ins Schloss, und er befand sich wieder in dem wohlig warmen Licht der rötlichen Lampions.
    Dennoch fühlte er die Kälte und die Schwärze der Nacht deutlicher als zuvor, die aus den lichtlosen Hauseingängen, den leeren Fenstern und den unbeleuchteten, lichtlosen Gassen kroch oder am Wegrand lauerte.
    Ein leichter Windstoß fegte unangenehm kühl durch die Straße, doch die Paare, die kichernd und sich leise unterhaltend an ihm vorbeischritten, schienen davon keine Notiz zu nehmen. Er wollte sich den Leuten anschließen, die in Richtung des Festplatzes strömte, doch er erkannte niemanden, mit dem er sich hätte unterhalten können, und außerdem war ihm sowieso nicht zum Reden zumute. Unschlüssig hielt er schließlich vor einer winzigen, stockfinsteren Seitengasse inne, die sich zwischen zwei Hauswänden hindurchzwängte und sich vor ihm wie der schwarze Felsspalt eines sonnig beschienenen Hangs auftat.
    Die roten Gassen und die gedämpfte Musik glichen einer prachtvollen Kulisse eines Theaterstückes, das er nicht genießen konnte, weil kleinste Unstimmigkeiten die Harmonie zerstörten, die dem flüchtigen Betrachter im Vorübergehen entgingen.
    Er zögerte noch einen Moment, bevor er sich aus seiner Starre löste und wie gebannt auf den schwarzen Spalt zuging. Ein leichter Luftzug wehte ihm entgegen, der jedoch keinen Geruch in sich trug; Der Wind wahrte die Geheimnisse und verriet nichts über das Verborgene.
    Kälte kroch Edward in die Glieder, von der er nicht sagen konnte, ob es seine eigene Angst war oder die eisige Luft, die ihn plötzlich umfing und nichts mehr mit der lauen Nachtluft gemein hatte, die er gewohnt war. Ein eisiger Schauer überlief ihn, als seine Hand die raue Hauswand berührte; Die Musik des Ballplatzes lag in weiter Ferne, und als er einen Blick über die Schulter warf, schienen die Fassaden zu glühenden Lichtschwaden und die Gestalten zu schwarzen, vorbeigeisternden Schatten zu verblassen.
    Er biss sich auf die Lippen und wandte seinen Blick hastig von den schwindenden, bestandlosen Silhouetten ab, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und streckte seine Hand nach dem schwarzen Spalt aus, der sich vor ihm wie ein licht- und bodenloser Abgrund erstreckte.
    Sein Arm bebte, und seine Haut hatte einen unnatürlich weißlichen Farbton angenommen. Im Schatten zeichneten sich an seinen Handgelenken deutlich die dunkelvioletten Adern ab, und als er sich von der Wand löste und einen zögerlichen Schritt in den Spalt hineinwagte, begannen die Umrisse seiner Hand zu glühen und tauchten die Schwärze in weiße Nebelschlieren. Schlimmer noch: Ein stechender, eiskalter Schmerz fuhr plötzlich durch seine Finger, als diese sich vor seinen Augen aufzulösen und in der Dunkelheit zu verlieren begannen.
    Ungläubig schüttelte er den Kopf und wollte mit seiner anderen Hand über seine schwindenden Finger fahren, doch da war keine Hand mehr, sondern bloß ein schauriger nebeliger Stumpf, der widerstandslos durch die Luft fuhr und nichts hinterließ als einen weißlichen, verblassenden Nebelhauch.
    Am ganzen Körper bebend stieß er den angehaltenen Atem aus und stolperte zurück, stieß gegen die Wand und tastete sich mit seinem aufgelösten Armstumpf daran entlang zum Ausgang, der mit einem Mal nurnoch als kleiner heller Spalt am Ende der Dunkelheit zu sehen war, kämpfte sich mit unsichtbaren Schritten vorwärts, während seine Glieder sich in der Schwärze auflösten, bis er schließlich völlig unerwartet um die Ecke stolperte und sich wieder in der hell erleuchteten Gasse befand.
    Nur dieser eine Schritt hatte ihn von der warmen Welt getrennt, nur ein einziger, und auch die Kälte war mit einem Mal verflogen und der rötlichen Wärme gewichen, die sich beinahe tröstend um ihn schmiegte.
    Schmerzerfüllt barg er die Arme am Körper und sank an der Wand herab, heftig atmend, während sich neben ihm der Spalt wie jede andere schattige Hausnische auftat, gewöhnlich und leicht rötlich im Schein der Lampions.
    Die Schritte vieler Passanten eilten an ihm vorbei, voller Vorfreude auf das Fest, während leise Musik vom Ballplatz erklang.
    Edward, der noch immer an die Hauswand gelehnt auf dem Boden saß, hauchte in seine bleichen Hände, rieb sie aneinander und fuhr sich über die Handgelenke und Knöchel, bevor er noch einmal in die harmlos anmutende Gasse zurückblickte, die sich nicht im Geringsten von den anderen unterschied.
    Dann schlug er mit der flachen Hand auf den Boden und fluchte voller ohnmächtiger Wut.
    
    "Was ist denn los?", fragte Moira und stellte sich auf ihre Zehenspitzen, um in der Menge etwas sehen zu können.
    Lizza zuckte mit den Schultern und schmiegte sich an Pjedro. "Ist das denn so wichtig?", maulte sie und zupfte Pjedros spanische Haarsträhnen zurecht, der sich ebenfalls zu den Treppen umgedreht hatte und den Kopf reckte, um etwas sehen zu können.
    Raymond kämpfte sich zu ihnen durch die Menge. "Edward und Jaden", sagte er ein wenig außer Atem. "Es sieht so aus, als ob sie sich duellieren würden!"
    "Edward!", rief Moira überrascht aus und strengte sich umso mehr an, einen Blick auf die Treppen zu erhaschen.
    Auch Lizza ließ von Pjedro ab und runzelte die Stirn. "Jaden?", fragte sie.
    "Ja", sagte Raymond. "Als ich mich auf den Weg gemacht habe, standen sie sich bereits gegenüber. Dabei sind weder der König noch die Königin anwesend!"
    "Was hat das denn damit zu tun?", fragte Lizza und warf Raymond einen abschätzigen Blick zu.
    "Es darf nur gekämpft werden, wenn sie dabei sind. Ansonsten ist das Urteil ungültig."
    "Pah, so ein konservativer Schwachsinn", sagte Moira verächtlich, wobei sie einen todbringenden Blick von Raymond erntete. "Wenn einer von ihnen tot umfällt, ist das Urteil wohl kaum zu bestreiten."
    "Warum kämpfen sie?", fragte Lizza, doch Raymond zuckte nur mit den Schultern.
    "Dort, der König!"
    Zuerst wollte niemand dem erstaunten Ausruf Glauben schenken, denn die Vorstellung, dass der König sich noch vor Mitternacht aus seinem Palast begab, war absolut undenkbar. Der König gehörte zur Mitte der Nacht wie das weiße Gewand zu Esmeralda, und so wich die Ungläubigkeit erst dann offenem Erstaunen, als Darcia und Esmeralda in Gefolgschaft der zehn weißen Lichtträger hervortraten und mit königlichen Gesichtsausdrücken zum obersten Absatz der Treppe schritten, wo Edward und Jaden sich schweigend gegenüberstanden und wütend anfunkelten.
    Nicht einmal die Anwesenheit des Königs konnte sie dazu bringen, sich voneinander abzuwenden.
    "Edward, Jaden", sagte der König mit lauter Stimme, die das Gemurmel der Menge sofort zum Schweigen brachte, und hob zwei gleiche, einfache Silberschwerter, sodass sie mit den langen Spitzen in den Boden zeigten und sich die Hefte wie Kreuze über ihren Köpfen erhoben. "Erbittet ihr die Schwerter, um euren Worten Taten folgen zu lassen?"
    "Ich bitte um mein Schwert, Vater!", stieß Jaden hasserfüllt aus und verneigte sich leicht in die Richtung des Königs, ohne Edward dabei aus den Augen zu lassen.
    "Es hätte nicht dazu kommen müssen!", sagte Edward halblaut, sodass nur Jaden und Darcia seine Worte hören konnte, und verneigte sich ebenfalls.
    "Zumindest nicht hier!", fügte er hinzu, als Jaden trotzig schwieg, bevor er lauter rief: "Ich erbitte mein Schwert!"
    "Das hast du nun davon", entgegnete Jaden, bevor er schadenfroh seine Schwertspitze auf Augenhöhe hob und schrie: "Dieser Kampf wird deine öffentliche Hinrichtung sein!"
    "Hör' auf, solchen Unsinn von dir zu geben!"
    "Pass auf dass du nicht an Niveau verlierst, Bruder!"
    "Pass auf, dass du dich nicht gleich am Boden wiederfindest, du Held!"
    Die Schwertspitzen schwebten sich wenige Zentimeter gegenüber, während die Menge in gebannter Totenstille verharrte.
    Dann schnellte Jaden vor, und die Schwerter schlugen mit einem metallischen Klingen gegeneinander. Edward rutschte ab und Jaden fing seinen Schwung auf, um ihm die silbern glänzende Schwertspitze in die Brust zu rammen, doch Edward stieß ihn von sich weg, bevor er die Klinge heben konnte, und die beiden standen sich von neuem gegenüber.
    Wieder gingen sie aufeinander los. Sie kämpften verbissen und ohne jede Schönheit, jede Bewegung so kurz und



    Re: Geschichte

    relator - 18.01.2009, 22:51


    gespannt wie möglich. Kein Zentimeter wurde verschenkt, kein Vorteil blieb ungenutzt und kein Atemzug wurde mit überflüssigem Gerede verschwendet.
    Der König stand wie eine schwarze Skulptur hinter den beiden und beobachtete den Kampf mit unbeweglichem Gesichtsausdruck, während die silbernen Klingen Funken sprühten und der Atem der beiden schwerer ging, je länger sie kämpften. Ihre ärmellosen Leinenhemden waren schon bald von Schweiß getränkt, und es war Jadens Klinge, die sich nach einem komplizierten Schlagabtausch plötzlich mit blutigem Rot färbte.
    Edward wich mit einem leisen Aufkeuchen zurück und riss Jaden dabei die Klinge aus der Hand, bevor er sie mit zusammengebissenen Zähnen herauszog;
    Mit einem metallischen Klappern fiel sie zu Boden, während Edwards Schwertspitze sich sofort wieder drohend hob und sein Fuß sich auf Jadens Klinge setzte.
    Erst als er einen drohenden Schritt auf Jaden zumachte, der ihm waffenlos gegenüberstand, geriet er ins Schwanken und das silberne Schwert glitt ihm aus der Hand, als er die Arme in seine heftig blutende Seite presste.
    Er war schwer verwundet.
    "Oh Gott, Edward", murmelte Jaden und stürzte auf Edward zu, bevor er das Gleichgewicht verlor.
    "Edward, es tut mir Leid, hörst du, ich wollte nicht, dass es so weit kommt, ich wollte dich nicht töten, ich-"
    Edwards Gewicht zog ihn zu Boden.
    "Edward…"
    Edward hustete heiser, dann schloss er die Augen und wurde schwer in Jadens Armen, während seine Bewegungen zum Erliegen kamen und sein Kopf auf den harten Steinboden schlug, als er den Armen seines Bruders entglitt.
    Ein tiefrotes Blutrinnsal sickerte aus seiner Nase und seinem Mundwinkel und rann ihm über die Wange.
    Darcia tauchte plötzlich über ihnen auf und beugte sich zu Edward hinab.
    Edward lag regungslos, er atmete nicht und als Darcia seinen Kopf auf die schweißnasse Brust seines Sohnes legte, schlug ihm bloß erkaltende, schweigende Totenstille entgegen.
    "Vater…", begann Jaden, doch der König schenkte ihm keine Beachtung und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
    "Das Urteil steht fest!", verkündete er, und seine Stimme hallte donnernd über den Ballplatz. "Jaden Marloh trägt den Sieg!"
    Kein Beifall erklang, keine missgönnenden Stimmen erhoben sich. Dafür war der Vorfall zu fremd und zu schockierend gewesen, und so stimmten nach und nach gemurmelte Stimmen an, die zu allgemeinem, fiebrigem Gerede anschwollen.
    Während Jaden wie versteinert im Hintergrund stand, hob der König die Arme, sodass sein Gewand seine gesamte erhabene Schwärze entfaltete, dann zog er sich den Umhang von den Schultern und bedeckte Edwards leblose Gestalt unter einem Schauer aus schwarzem Stoff.
    "Dort verharre sein Körper drei Nächte lang", fügte Darcia mit gesenkter Stimme hinzu, während er sich zu Jaden umwandte. "In Erinnerung an seine Person und den schmerzhaften Tod, den er aus purer Sinn- und Achtlosigkeit erleiden musste! Ich hoffe du hast nun erreicht, was auch immer du damit bezwecken wolltest, mein Sohn. Aber sei dir versichert, dass es nichts, aber auch wirklich überhaupt nichts an meinem Urteil über Bellynn ändern wird!"
    Hass und Verbitterung trieften wie Gift aus Darcias Stimme, als er an Jaden vorbeischritt und mit den Lichtträgern im Inneren des Palastes verschwand, ohne Jaden auch nur einen Blick zuzuwerfen.
    Nichts schmerzte so sehr wie die klaren, unverblümten Worte des Königs.

    Dieses Mal, in dieser Nacht, in der sowieso nichts so geschah wie es üblich war, öffneten sich die steinernen Tore des Palastes nicht. Die Musiker schwiegen und die Tänzerinnen wagten nicht, die steinernen Stufen zu betreten, auf deren oberstem Absatz der tote Körper des Königssohnes unter der Flut des schwarzen Umhangs lag.
    Jaden hatte sich auf die oberste Steinstufe gesetzt und den Kopf in den Händen vergraben, und so verharrte er die gesamte Nacht reglos, bis die letzten Gäste gegangen waren und nurnoch die Marlohs in ihren schwarzgrauen Morgengewändern sich ein wenig abseits von Edward und Jaden zusammenscharten.
    Bellynn war nicht unter ihnen.
    Einmal kam eine der verhüllten Gestalten, Cassandra, zu Jaden hinüber, und setzte sich für eine Weile wortlos neben ihn; die anderen Marlohs, Cassius und Elinor, ignorierten ihn mit wütender Verbitterung.
    Als der König und die Königin nicht auftauchten, verschwanden sie schließlich in den Gassen, bis Jaden alleine zurückblieb.
    Er verharrte noch einige Zeit reglos, dann löste er sich mit steifen Gliedern aus seiner Starre und fuhr mit den Finger über den Stoff des schwarzen, samtigen Mantels.
    Sein Blick war glasig und abwesend, dunkle Ringe zeichneten seine Augen.
    Nur langsam kehrte das Leben in seine Augen zurück und stumme Tränen rannen an seinen Wangen hinab.
    "Es tut mir so Leid, Edward", hauchte er, während er das Tuch langsam zurückschob und mit der Hand darunter entlangtastete.
    "So unendlich Leid… Bellynn…"
    Seine Hand schloss sich unter dem schwarzen Samt um den kalten, silbernen Griff seines Schwertes, das Edward unter sich begraben hatte, und er zog die blitzende Klinge langsam wieder unter dem Tuch hervor.
    Der einfache, lederumwickelte Griff kam zum Vorschein, unverziert und kalt funkelnd. Es folgte die silbrig blitzende Klinge, ebenfalls schlicht und selbst am Ansatz rasiermesserscharf; Seine dunklen Augen fuhren an ihrem sich zuspitzendem Verlauf entlang.
    Dann stockte er.
    Er hatte die Spitze herausgezogen, die Spitze seines Schwertes, die noch voll von Edwards Blut war.
    Oder besser gesagt sein musste, denn als er mit Augen und Fingern über die Klinge strich, fühlte und sah er nichts anderes als eine schleimige, weißlich leuchtende Substanz, die mit ihrem schattenhaften, schimmernden Licht an seinen Fingern hinabtroff und sich schleichend langsam schwarz färbte, als sie zu Boden tropfte.
    Das Licht der Lichtträger.
    Erschüttert von seiner Entdeckung zuckte Jaden zurück und stieß die Klinge mit einem Scheppern von sich.
    Neugier, Scheu und Abscheu rangen in ihm einen erbitterten Kampf, während er sich langsam dem schwarzen Tuch näherte und den samtigen Saum mit zitternden Fingern umschloss.
    Dann riss er das Tuch fort. Der flatternde schwarze Vorhang flog beiseite und legte die bleiche, marmorne Gestalt seines Bruders frei, der in seinem Totenschlaf merkwürdig verletzlich wirkte.
    Sein Leinenhemd war getränkt in schauriges weißes Leuchten und sein Körper lag in einer schimmernden Lache seines hellen, silbrigen Blutes.
    "Edward…", hauchte Jaden tonlos und tastete mit zitternden Fingern nach dem zweiten, nach Edwards Schwert, das neben ihm auf dem Boden lag. "Was geschieht hier, Bruder? Wessen Blut…" Er schluckte und stieß ein heiseres, trauriges Lachen aus. "Nein, eigentlich will ich es garnicht wissen."
    Das Lachen erstarb ihm auf den Lippen, als er wieder auf die Klinge in der Hand herabsah, deren bebende Spitze auf seine Brust wies.
    "Ich glaube es ist an der Zeit-"
    Die Sonne schob sich über die Kuppe der Berge, ein glühender Spalt, der über den Horizont leckte und den Himmel erhellte. Einige einsame Strahlen erfüllten plötzlich den Ballplatz und die Treppe, fielen auf Ruinen und die erhabenen Palasttore, die an Kontur verloren und wie im Flug der Jahrhunderte vor seinen Augen alterten. Steine zerfielen beinahe lautlos zu Staub und zu Asche, die wie Nebelschlieren von den verfallenden Dächern herabwehten; Die Steinfliesen brachen und rasch wachsende Risse krochen über die Palasttore, bis der rechte Portalflügel mit einem klagenden Seufzen zusammenfiel, während das Licht des anbrechenden Tages anschwoll.
    Ein Husten ließ Jaden zusammenfahren und er sah gerade noch, wie Edward müde die Augen aufschlug und sich mühsam und mit schweren Gliedern aufsetzte.
    "Edward!", schrie Jaden, doch er erschrak vor seiner eigenen Stimme, die plötzlich furchtbar leise und weit entfernt klang, und auch Edward fuhr herum.
    "Jaden?", fragte er halblaut mit noch ein wenig rauer Stimme und blickte sich suchen um, doch sein Blick ging geradewegs durch Jaden hindurch wie durch einen Nebelschleier.
    Jaden verstand erst, als er auf seine Finger herabsah: Sein Körper war kaum mehr als ein verblassender Schemen, der im erstarkenden Licht seine Beständigkeit verlor und ihn wie ein lächerliches Nachtgespenst schwinden ließ, das ins Tageslicht getreten war.
    Einen Augenblick später war Edward allein auf dem obersten Absatz der Treppe, die er beinahe nicht mehr wiedererkannte: Mit gesprungenen Stufen, die halb unter Staub, Geröll und struppigem, trockenem Gebüsch begraben lag, erhob sich die breite steinerne Treppe in Richtung des graublauen Himmels und der beiden verfallenen Torpfeiler, an denen noch die Reste eines zerfetzten, von Wind und Wetter zerfaserten rosigen Tuches hingen.
    Wie betäubt von dem fremdartigen Anblick sah Edward auf die Ruinen einer Stadt herab, die er nun zum ersten Mal im ungetrübten Licht des Tages erblickte.



    Re: Geschichte

    relator - 26.01.2009, 21:20


    "- Schwester", endete er.
    Beredetes, hochnäsiges Schweigen von Elinors Seite traf mit Edwards dusterer Stimmung zusammen und brodelte wie eine schwarze Gewitterwolke über ihnen.
    "Ich wette der König wird es nicht dabei bewenden lassen", brach Edward schließlich die Stille, nachdem Cassius keine Anstalten machte, sich einzumischen. "Vor allem nicht, seit Jaden sich eine Szene in Anwesenheit der Lichtträger erlaubt hat."
    Cassius hob skeptisch eine seiner grauweißen Augenbrauen. "Sieht so aus als könnte dieser Abend sich doch noch als recht interessant gestalten…"
    "Dummkopf, so etwas unbedachtes zu tun…", sagte Elinor. "Darcia kann es überhaupt nicht leiden, wenn das Licht mit solchen Hässlichkeiten beleidigt wird."
    Eine kurze Gesprächspause trat ein, die nachdenklich und besorgt hätte sein können und bei der sich die gedämpfte Musik in den Vordergrund geschoben hätte, wenn sie nicht von Edwards unzufriedenem Schweigen gestört worden wäre.
    Irgendwann stieß er leise die angehaltene Luft aus und verschränkte die Arme locker vor der Brust, bevor er vom Boden aufsah. "Beleidigt?", fragte er dann. "Du redest von der weißen Flüssigkeit, als ob sie eine Seele hätte."
    Elinors Fächer stoppte in der Luft, und auch Cassius graue, stechende Augen verharrten ausdruckslos auf Edward.
    "Nein, im Ernst", fuhr Edward fort. "Ist es wirklich mehr als ein bisschen Schleim in einer Flasche?"
    Er erwiderte den starren, von verborgener Fassungslosigkeit und Empörung getränkten Blick seines Onkels mit einem verärgerten Funkeln in den schwarzen Augen. "Was glaubst du, was sie in ihren heiligen, gläsernen Gefäßen aufbewahren?"
    Stille herrschte, dann begann Elinors Fächer sich wieder mechanisch auf und ab zu bewegen und sie löste sich aus ihrer Sprachlosigkeit.
    "Das weiß nur das Königspaar allein", sagte sie mit bestimmter, endgültiger Stimme, deren leichtes Zittern noch unterschwellig herauszuhören war.
    "Und warum wissen wir es nicht?", fragte Edward.
    "Es ist eben das Geheimnis der Gekrönten", sagte Cassius. Seine grauen Augen ruhten missbilligend auf Edward. "Du stellst viele Fragen, seit Dorothee uns verlassen hat."
    "Du brauchst mich nicht an ihren Tod zu erinnern!", fauchte Edward.
    "Edward, wir wissen alle, dass ihr Dahinscheiden dich getroffen hat", begann Elinor und hob beschwichtigend ihre behandschuhte, knochige Hand, um sie ihm auf die Schulter zu legen, doch Edward schob sie zur Seite.
    "Und auf dein Mitleid kann ich auch verzichten, Elinor! Dieses ganze Theater, das wir hier Nacht für Nacht spielen, ist… verachtenswert! Und wir haben es einzig und alleine dem Königspaar zu verdanken, dass wir jeden Abend aufs neue tanzen, Wein trinken und uns fasziniert und angeregt über die uninteressantesten Themen unterhalten, immer in dem verzweifelten Bemühen, unser leeres Leben mit Sinn zu füllen! Und warum tun wir es, warum tun wir nicht einfach etwas anderes? - Niemand weiß es!"
    "Ich kann ja verstehen, dass dir das Leben nach Dorothees Tod sinnlos erscheint, aber - Du hast hoffentlich nicht schon mit anderen darüber… geredet?", fragte Elinor in gedämpften Tonfall, die ganz blass geworden war und sich heftiger als zuvor Luft zufächelte. Cassius hatte seinen Mund zu einem symbolischen, ein wenig säuerlichen Strich verzogen, als ob seine Lippen verriegelt seien.
    "Verdammt nochmal, und es scheint auch niemanden zu interessieren", fügte Edward beinahe lachend vor bitterer Fassungslosigkeit zu.
    "Ich…" Elinor beugte sich zu Edward vor und ergriff mit ihren gealterten Händen nach seinen. "Ich hoffe nur zu sehr, dass niemand mitgehört hat, Edward… Ich hoffe es für dich, denn wenn der König oder die Königin davon erführen…"
    "Ja, was wäre dann? Was wäre, wenn der König erfahren würde, dass ich das Licht beleidigt und seine Autorität angezweifelt hätte?"
    Elinor erstarrte, während Edward sie mit seinen schwarzen, erbarmungslosen Augen festnagelte, offenbar ohne die Absicht zu haben, die alte Dame wieder freizugeben, bevor er eine Antwort hatte.
    "Edward!", fuhr Cassius ihn plötzlich scharf an. "Das ist Hochverr- "
    Sie wurden von dem anschwellenden allnächtlichen Tumult unterbrochen, der ausbrach, als die letzten Tänzer die Treppe verließen und sich unter die Menge mischten, während die samtroten Vorhänge sich teilten und das steinerne Schaben der Portale erklang. Weißliches Licht hob sich aus der Dunkelheit und erhellte die Schwärze, die hinter den Palasttoren herrschte, mit solch blendender Helligkeit, dass niemand den Blick von dem Königspaar, dem schwarzen Darcia und der weißen Esmeralda, abwenden konnte, die die marmornen Steinstufen mit erhabenen Schritten und fließenden Gewändern herabstiegen.
    Fahle Gestalten senkten ihre farblosen Häupter, verblichene Röcke und Tücher wurden zur Verneigung gerafft, dann verstreuten sich die weißen Lichter in der Menge, während Esmeralda und Darcia zu den anderen Marlohs hinüberschritten.
    Sie unterhielten sich.
    Sie tranken Wein.
    Sie tanzten.
    Als die Nacht der Morgenröte wich, verstreute sich die Menge und verlor sich in den Gassen; Und wie jeden Morgen blieben die Marlohs alleine vor den weißen Marmortreppen zurück, mittlerweile alle in ihre grauschwarzen Morgengewänder gehüllt, und scharten sich in engem Kreis zusammen.
    Trotz des Kreises hielten alle respektvollen Abstand zum schwarzen König und zur weißen Königin, die ebenfalls unter den anderen standen und so - abgesehen von ihren Roben - trotz der Gleichheit des Kreises hervorgehoben wurden.
    König Darcia Marloh hob seine seidige schwarze Kapuze und enthüllte sein erhabenes, königliches Gesicht. Er war ein Bruder von Cassius und etwa in dessen Alter, sein Haar war jedoch nicht grau wie das von Elinor oder Cassius, den letzten ihrer Generation, sondern noch genauso tiefschwarz wie am Tage seiner Krönung.
    "Jaden, Bellynn, ich habe ein Anliegen", sagte er. Seine ruhige Stimme hallte kraftvoll über den leeren Hof.
    Zwei der Gestalten hoben ihre Hände, und Jaden und Bellynn streiften sich die Kapuzen von den Köpfen. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, und außer dem immerzu leise in den Ruinen heulenden Wind und den sachte flatternden Gewändern herrschte Totenstille.
    "Jaden, letzte Neumondnacht hast du eine Gefährtin auserwählt, die du als würdig empfandest, Dorothees Nachfolgerin zu werden. Bist du noch immer dieser Ansicht?"
    "Ja, das bin ich", sagte Jaden, bevor er "Selbstverständlich" hinzufügte, wobei ein leises Lächeln aus seiner Stimme herauszuhören war.
    "Bellynn, letzte Neumondnacht wurdest du von einem der Marlohs zur Gefährtin erwählt. Wirst du dich als würdig erweisen, Dorothees Nachfolge anzutreten?"
    "Ja, das werde ich", sagte Bellynn.
    "Dann nimm ihr Erbe entgegen und halte es in Ehren."
    Jetzt trat Esmeralda hervor und strich ihr weißes Gewand zurück, aus dem sie eine kleine Schachtel hervorzog, die Bellynn mit einer leichten Verneigung entgegennahm.
    "Ich bedanke mich dafür", sagte Bellynn und kehrte, genau wie Jaden, an ihren Platz im Kreis zurück.
    Der König entfaltete ein Blatt Papier, das mit einer engen, verschlungenen Handschrift bedeckt war.
    "Es ist üblich, dass mit der Übergabe des Erbes Dorothee Marlohs letzte Schrift verlesen wird, die sie mir vor ihrem Tode überreicht hat. Sie lautet wie folgt: -"
    "Vater."
    Eine der Gestalten trat aus dem Kreis hervor und legte die Hand auf den Arm des Königs, sodass Darcia stoppte und seinen Blick von dem vergilbten, schweren Pergament hob, das er in den Händen hielt. Auch die anderen verharrten reglos in Anbetracht der unerwarteten Unterbrechung.
    "Edward?", fragte der König.
    "Ist die letzte Schrift nicht etwas privates?", fragte Edward, ohne den Blick zu heben oder die Kapuze zurückzuziehen.
    Die leicht sarkastische Frage, ob sie denn nicht unter sich seien, zerplatzte Darcia beinahe sichtbar auf den Lippen.
    Denn obwohl Edwards Frage die personifizierte Harmlosigkeit hätte sein können, das schlichte Nicht-Ertragen der Erwähnung der geliebten Verstorbenen, waren seine Worte unter den gegebenen Umständen mehr als bloße Kritik an Bellynn Marloh. Eine offene Bitte nach dem Verstoß von Bellynn hätte den König nur gering in einen größeren Konflikt bringen können.
    Darcias Gesicht wandelte sich zu Stein, genau wie Esmeraldas helles, von weißgoldenen Locken gerahmtes.
    "Vater, wenn ich sprechen darf", sagte Jaden und trat ungefragt aus dem Kreis heraus. "Enthält der Brief irgendwelche Inhalte, die uns nicht zuteil werden dürfen?"
    "Ich bin mir sicher, dass Dorothee es nicht gewollt hätte, ihre letzten Worte öffentlich verlesen zu lassen", entgegnete Edward.
    "Öffentlich, sagst du?", fragte Jaden mit mühsam zurückgehaltener Entrüstung. "Sind wir etwa nicht unter uns?"
    Stille breitete sich aus, die durch Edwards Schweigen und der sich somit selbst beantwortenden Frage geradezu schmerzhaft wurde.
    "Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass alle Welt sich den Mund darüber zerreißt", sagte Edward halblaut.
    "Wovon sprichst du, Bruder!", entgegnete Jaden hitzig. "Denkst du etwa-"
    Eine der Gestalten hob plötzlich ihren Arm und hielt Jaden zurück, wobei das graue Tuch wie der ledrige Flügel einer Fledermaus flatterte.
    "Genug, Jaden!", drang Cassius' Stimme unter der grauschwarzen Kapuze hervor. "Willst du etwa noch mehr anrichten?"
    "Cassius, begreifst du denn nicht-"
    "Still!", zischte er.
    Auch die anderen grauschwarzen Gestalten schwiegen.
    Jaden stieß fassungslos die Luft aus. "Vater, siehst du denn nicht, was hier gespielt wird?", fragte er. "Das ist nichts weiter als ein dummes Vorurteil… Bellynn würde niemals irgendetwas verraten, was als geheim beschlossen wurde! Sie -"
    "Jaden."
    Die erhabene, klingende Stimme des Königs ließ Jadens Protest wie das Flüstern des Windes verwehen und brachte ihn zum Verstummen. Dann klang Darcias volles, väterliches Lachen über den Hof, bei dem Jaden sichtlich erblasste und die Hände unter dem Gewand zu Fäusten ballte.
    "Wer spricht denn hier von Bellynn, mein Sohn?", fragte er, während er das Papier in seinen Händen faltete.
    "Vater!", rief Jaden, ansonsten hatten die Worte seines Vaters ihm die Sprache verschlagen.
    Das Papier verschwand unter Darcias Umhang.
    "Geht, bis die Nacht erneut ihre Flügel über uns ausbreitet", sagte der König.
    "Und was ist mit den letzten Worten Dorothees?", hauchte Jaden, bevor sie sich zum Abschied verneigen konnte. "Willst du sie nicht vorlesen, wie es im Kreis der Familie üblich ist?"
    Der König hob leicht tadelnd eine Augenbraue, bevor er antwortete. "Nach gründlichem Überlegen habe ich beschlossen, dass ihre Worte doch sehr privater Natur sind. Ich denke es wäre Dorothees Wunsch gewesen, sie geheim zu halten."


    "Edward!"
    "Elinor, Cassius?"
    Die drei nickten sich förmlich zu, bevor Elinor sich mit geschürzten Lippen vor ihren Gemahl schob.
    "Wir haben einiges zu besprechen, Sohn Darcias", zischte sie.
    Cassius verzog im Hintergrund ein wenig das Gesicht, gab jedoch kein Kommentar ab.
    Edward hob leicht die Augenbraue.
    "Haben wir das, Schwester Darcias?", entgegnete er dann in leicht überschwänglichem Tonfall aufgrund dem missfälligem Gesichtsausdruck Elinors. "Ich hoffe es ist nichts unangenehmes."
    Elinors bereits ein wenig magere Hand schlug sich wie die Klaue eines Raubvogels in Edwards Schulter.
    "Ich sagte wir haben zu reden", entgegnete sie mit funkelnden schwarzen Augen.
    Ein paar Minuten später schloss Cassius das Portal des ehemaligen Kirchenschiffs hinter sich zu, während Elinor ein paar Kerzen auf dem Boden anzündete und sich dann auf einem Sitzkissen davor niederließ. Edward tat es ihr gleich, und auch Cassius ließ sich auf seinem Platz nieder. Die Kerzen gaben nur gerade so viel Licht ab, dass sie die drei Gestalten in flackernden Kerzenschein hüllten, während der Rest des Kirchenschiffs - abgesehen von dem blassen Mosaikboden - in der Dunkelheit verschwand.
    "Ich erwarte eine Erklärung", zischte Elinor. "Das war wirklich nicht die feine Art, Edward!"
    "Die feine Art?", fragte Edward. "Wofür bitte soll ich mich rechtfertigen, Elinor?"
    "Für die Art und Weise, wie du Bellynn aus der Familie geworfen hast!"
    Edward war für einen Moment lang sprachlos, dann lachte er ungläubig auf. "Ich glaube nicht, dass du diejenige sein solltest, die mir diese Frage stellt…"
    "Ach nein?", gab Elinor bissig zurück. "Ist das also die neue Methode des Königshauses? Intrigieren?"
    "Hast du sie denn mit offenen Armen willkommen geheißen, Elinor?", fragte Edward. "Und hat Cassius nicht ebenso seinen Beitrag geleistet? Jaden oder Bellynn sollten mir einen Vorwurf machen, aber du… Mein Gott!" Edward erhob sich verärgert von seinem Sitzkissen. "Warum diskutierst du das nicht mit deinem Gemahl? Ich habe keine Lust, für eure Ehekriege den Kopf hinzuhalten oder mich für etwas zu rechtfertigen, für das Cassius ebenso die Verantwortung trägt."
    Elinor ließ ihn nicht gehen und griff nach seinem Handgelenk. "Weil du damit angefangen hast!"
    Edward hielt inne und musterte sie einem Moment lang abschätzend, bevor er antwortete.
    "Ich konnte nicht mit ansehen, wie Dorothees letzte Gedanken vor dieser Hure verlesen wurden, damit sie sich später mit ihren Slumfreundinnen darüber das Maul darüber zerreißen kann! Außerdem hätte jeder von euch sie nach meiner Anschuldigung verteidigen können, und Vater hätte die Geschichte unter den Tisch fallen gelassen! Bevor du also mich beschuldigst, Bellynn verurteilt zu haben, solltest du dich vielleicht fragen, warum du sie nicht selbst geschützt hast!"
    Elinor schwieg mit bleichem Gesicht, während sich auf Cassius' Miene eine tiefe Falte bildete, doch keiner der beiden sagte etwas.
    Edwards Blick funkelte noch einen Moment lang wütend, bevor das Glühen in seinen Augen müde wurde und er Elinor mit einem kaum hörbaren Ausatmen die Hand auf die Schulter legte.
    "Tut mir Leid, Elinor. Aber siehst du denn nicht, was sie mit Jaden getan hat?", fragte er. "Sie hat doch für meinen Bruder und Dorothees Erbe kaum mehr als ein herablassendes Lächeln übrig."
    Elinors Lippen bebten entsetzt.
    "Das nimmst du zurück, Edward", sagte sie mit ungläubiger und zugleich verletzter Stimme. "Das nimmst du zurück… Was muss Dorothees Tod dir nur grausames angetan haben, damit du das Heilige verabscheust und das Gute verurteilst…"
    Edwards Hand erstarrte auf ihrer Schulter, während sein Gesicht sich zu einer starrten Maske formte.
    "Sie hat recht, Edward", stimmte Cassius Elinor zu, "was Bellynns Ausschluss betrifft, mögen wir einer Meinung sein. Aber ich habe es nicht aus Hass gegen Bellynn getan, sondern einzig und allein wegen des unreinen Blutes, das in ihren Adern fließt, und das die Linie der Marlohs und unser heiliges Erbe nicht beschmutzen darf."
    Edward stieß die angehaltene Luft aus und richtete sich auf, während sein Blick ungläubig von Cassius zu Elinor wanderte. Dann fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare und nickte, bevor er auf dem Absatz kehrt machte und aus der Halle stapfte.
    Mit einem lauten Klacken fiel das Portal der Kirche hinter Edward ins Schloss, und er befand sich wieder in dem wohlig warmen Licht der rötlichen Lampions.
    Dennoch fühlte er die Kälte und die Schwärze der Nacht deutlicher als zuvor, die aus den lichtlosen Hauseingängen, den leeren Fenstern und den unbeleuchteten, lichtlosen Gassen kroch oder am Wegrand lauerte.
    Ein leichter Windstoß fegte unangenehm kühl durch die Straße, doch die Paare, die kichernd und sich leise unterhaltend an ihm vorbeischritten, schienen davon keine Notiz zu nehmen. Er wollte sich den Leuten anschließen, die in Richtung des Festplatzes strömte, doch er erkannte niemanden, mit dem er sich hätte unterhalten können, und außerdem war ihm sowieso nicht zum Reden zumute. Unschlüssig hielt er schließlich vor einer winzigen, stockfinsteren Seitengasse inne, die sich zwischen zwei Hauswänden hindurchzwängte und sich vor ihm wie der schwarze Felsspalt eines sonnig beschienenen Hangs auftat.
    Die roten Gassen und die gedämpfte Musik glichen einer prachtvollen Kulisse eines Theaterstückes, das er nicht genießen konnte, weil kleinste Unstimmigkeiten die Harmonie zerstörten, die dem flüchtigen Betrachter im Vorübergehen entgingen.
    Er zögerte noch einen Moment, bevor er sich aus seiner Starre löste und wie gebannt auf den schwarzen Spalt zuging. Ein leichter Luftzug wehte ihm entgegen, der jedoch keinen Geruch in sich trug; Der Wind wahrte die Geheimnisse und verriet nichts über das Verborgene.
    Kälte kroch Edward in die Glieder, von der er nicht sagen konnte, ob es seine eigene Angst war oder die eisige Luft, die ihn plötzlich umfing und nichts mehr mit der lauen Nachtluft gemein hatte, die er gewohnt war. Ein eisiger Schauer überlief ihn, als seine Hand die raue Hauswand berührte; Die Musik des Ballplatzes lag in weiter Ferne, und als er einen Blick über die Schulter warf, schienen die Fassaden zu glühenden Lichtschwaden und die Gestalten zu schwarzen, vorbeigeisternden Schatten zu verblassen.
    Er biss sich auf die Lippen und wandte seinen Blick hastig von den schwindenden, bestandlosen Silhouetten ab, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und streckte seine Hand nach dem schwarzen Spalt aus, der sich vor ihm wie ein licht- und bodenloser Abgrund erstreckte.
    Sein Arm bebte, und seine Haut hatte einen unnatürlich weißlichen Farbton angenommen. Im Schatten zeichneten sich an seinen Handgelenken deutlich die dunkelvioletten Adern ab, und als er sich von der Wand löste und einen zögerlichen Schritt in den Spalt hineinwagte, begannen die Umrisse seiner Hand zu glühen und tauchten die Schwärze in weiße Nebelschlieren. Schlimmer noch: Ein stechender, eiskalter Schmerz fuhr plötzlich durch seine Finger, als diese sich vor seinen Augen aufzulösen und in der Dunkelheit zu verlieren begannen.
    Ungläubig schüttelte er den Kopf und wollte mit seiner anderen Hand über seine schwindenden Finger fahren, doch da war keine Hand mehr, sondern bloß ein schauriger nebeliger Stumpf, der widerstandslos durch die Luft fuhr und nichts hinterließ als einen weißlichen, verblassenden Nebelhauch.
    Am ganzen Körper bebend stieß er den angehaltenen Atem aus und stolperte zurück, stieß gegen die Wand und tastete sich mit seinem aufgelösten Armstumpf daran entlang zum Ausgang, der mit einem Mal nurnoch als kleiner heller Spalt am Ende der Dunkelheit zu sehen war, kämpfte sich mit unsichtbaren Schritten vorwärts, während seine Glieder sich in der Schwärze auflösten, bis er schließlich völlig unerwartet um die Ecke stolperte und sich wieder in der hell erleuchteten Gasse befand.
    Nur dieser eine Schritt hatte ihn von der warmen Welt getrennt, nur ein einziger, und auch die Kälte war mit einem Mal verflogen und der rötlichen Wärme gewichen, die sich beinahe tröstend um ihn schmiegte.
    Schmerzerfüllt barg er die Arme am Körper und sank an der Wand herab, heftig atmend, während sich neben ihm der Spalt wie jede andere schattige Hausnische auftat, gewöhnlich und leicht rötlich im Schein der Lampions.
    Die Schritte vieler Passanten eilten an ihm vorbei, voller Vorfreude auf das Fest, während leise Musik vom Ballplatz erklang.
    Edward, der noch immer an die Hauswand gelehnt auf dem Boden saß, hauchte in seine bleichen Hände, rieb sie aneinander und fuhr sich über die Handgelenke und Knöchel, bevor er noch einmal in die harmlos anmutende Gasse zurückblickte, die sich nicht im Geringsten von den anderen unterschied.
    Dann schlug er mit der flachen Hand auf den Boden und fluchte voller ohnmächtiger Wut.


    "Was ist denn los?", fragte Moira und stellte sich auf ihre Zehenspitzen, um in der Menge etwas sehen zu können.
    Lizza zuckte mit den Schultern und schmiegte sich an Pjedro. "Ist das denn so wichtig?", maulte sie und zupfte Pjedros spanische Haarsträhnen zurecht, der sich ebenfalls zu den Treppen umgedreht hatte und den Kopf reckte, um etwas sehen zu können.
    Raymond kämpfte sich zu ihnen durch die Menge. "Edward und Jaden", sagte er ein wenig außer Atem. "Es sieht so aus, als ob sie sich duellieren würden!"
    "Edward!", rief Moira überrascht aus und strengte sich umso mehr an, einen Blick auf die Treppen zu erhaschen.
    Auch Lizza ließ von Pjedro ab und runzelte die Stirn. "Jaden?", fragte sie.
    "Ja", sagte Raymond. "Als ich mich auf den Weg gemacht habe, standen sie sich bereits gegenüber. Dabei sind weder der König noch die Königin anwesend!"
    "Was hat das denn damit zu tun?", fragte Lizza und warf Raymond einen abschätzigen Blick zu.
    "Es darf nur gekämpft werden, wenn sie dabei sind. Ansonsten ist das Urteil ungültig."
    "Pah, so ein konservativer Schwachsinn", sagte Moira verächtlich, wobei sie einen todbringenden Blick von Raymond erntete. "Wenn einer von ihnen tot umfällt, ist das Urteil wohl kaum zu bestreiten."
    "Warum kämpfen sie?", fragte Lizza, doch Raymond zuckte nur mit den Schultern.
    "Dort, der König!"
    Zuerst wollte niemand dem erstaunten Ausruf Glauben schenken, denn die Vorstellung, dass der König sich noch vor Mitternacht aus seinem Palast begab, war absolut undenkbar. Der König gehörte zur Mitte der Nacht wie das weiße Gewand zu Esmeralda, und so wich die Ungläubigkeit erst dann offenem Erstaunen, als Darcia und Esmeralda in Gefolgschaft der zehn weißen Lichtträger hervortraten und mit königlichen Gesichtsausdrücken zum obersten Absatz der Treppe schritten, wo Edward und Jaden sich schweigend gegenüberstanden und wütend anfunkelten.
    Nicht einmal die Anwesenheit des Königs konnte sie dazu bringen, sich voneinander abzuwenden.
    "Edward, Jaden", sagte der König mit lauter Stimme, die das Gemurmel der Menge sofort zum Schweigen brachte, und hob zwei gleiche, einfache Silberschwerter, sodass sie mit den langen Spitzen in den Boden zeigten und sich die Hefte wie Kreuze über ihren Köpfen erhoben. "Erbittet ihr die Schwerter, um euren Worten Taten folgen zu lassen?"
    "Ich bitte um mein Schwert, Vater!", stieß Jaden hasserfüllt aus und verneigte sich leicht in die Richtung des Königs, ohne Edward dabei aus den Augen zu lassen.
    "Es hätte nicht dazu kommen müssen!", sagte Edward halblaut, sodass nur Jaden und Darcia seine Worte hören konnte, und verneigte sich ebenfalls.
    "Zumindest nicht hier!", fügte er hinzu, als Jaden trotzig schwieg, bevor er lauter rief: "Ich erbitte mein Schwert!"
    "Das hast du nun davon", entgegnete Jaden, bevor er schadenfroh seine Schwertspitze auf Augenhöhe hob und schrie: "Dieser Kampf wird deine öffentliche Hinrichtung sein!"
    "Hör' auf, solchen Unsinn von dir zu geben!"
    "Pass auf dass du nicht an Niveau verlierst, Bruder!"
    "Pass auf, dass du dich nicht gleich am Boden wiederfindest, du Held!"
    Die Schwertspitzen schwebten sich wenige Zentimeter gegenüber, während die Menge in gebannter Totenstille verharrte.
    Dann schnellte Jaden vor, und die Schwerter schlugen mit einem metallischen Klingen gegeneinander. Edward rutschte ab und Jaden fing seinen Schwung auf, um ihm die silbern glänzende Schwertspitze in die Brust zu rammen, doch Edward stieß ihn von sich weg, bevor er die Klinge heben konnte, und die beiden standen sich von Neuem gegenüber.
    Wieder gingen sie aufeinander los. Sie kämpften verbissen und ohne jede Schönheit, jede Bewegung so kurz und gespannt wie möglich. Kein Zentimeter wurde verschenkt, kein Vorteil blieb ungenutzt und kein Atemzug wurde mit überflüssigem Gerede verschwendet.
    Der König stand wie eine schwarze Skulptur hinter den beiden und beobachtete den Kampf mit unbeweglichem Gesichtsausdruck, während die silbernen Klingen Funken sprühten und der Atem der beiden schwerer ging, je länger sie kämpften. Ihre ärmellosen Leinenhemden waren schon bald von Schweiß getränkt, und es war Jadens Klinge, die sich nach einem komplizierten Schlagabtausch plötzlich mit blutigem Rot färbte.
    Edward wich mit einem leisen Aufkeuchen zurück und riss Jaden dabei die Klinge aus der Hand, bevor er sie mit zusammengebissenen Zähnen herauszog;
    Mit einem metallischen Klappern fiel sie zu Boden, während Edwards Schwertspitze sich sofort wieder drohend hob und sein Fuß sich auf Jadens Klinge setzte.
    Erst als er einen drohenden Schritt auf Jaden zumachte, der ihm waffenlos gegenüberstand, geriet er ins Schwanken und das silberne Schwert glitt ihm aus der Hand, als er die Arme in seine heftig blutende Seite presste.
    Er war schwer verwundet.
    "Oh Gott, Edward", murmelte Jaden und stürzte auf Edward zu, bevor dieser das Gleichgewicht verlor.
    "Edward, es tut mir Leid, hörst du, ich wollte nicht, dass es so weit kommt, ich wollte dich nicht -"
    Edwards Gewicht zog ihn zu Boden.
    "Edward…"
    Edward hustete heiser, dann schloss er die Augen und wurde schwer in Jadens Armen, während seine Bewegungen zum Erliegen kamen und sein Kopf auf den harten Steinboden schlug, als er den Armen seines Bruders entglitt.
    Ein tiefrotes Blutrinnsal sickerte aus seiner Nase und seinem Mundwinkel und rann ihm über die Wange.
    Darcia tauchte plötzlich über ihnen auf und beugte sich zu Edward hinab.
    Edward lag regungslos, er atmete nicht und als Darcia seinen Kopf auf die schweißnasse Brust seines Sohnes legte, schlug ihm bloß erkaltende, schweigende Totenstille entgegen.
    "Vater…", begann Jaden, doch der König schenkte ihm keine Beachtung und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
    "Das Urteil steht fest!", verkündete er, und seine Stimme hallte donnernd über den Ballplatz. "Jaden Marloh trägt den Sieg!"
    Kein Beifall erklang, keine missgönnenden Stimmen erhoben sich. Dafür war der Vorfall zu fremd und zu schockierend gewesen, und so stimmten nach und nach gemurmelte Stimmen an, die zu allgemeinem, fiebrigem Gerede anschwollen.
    Während Jaden wie versteinert im Hintergrund stand, hob der König die Arme, sodass sein Gewand seine gesamte erhabene Schwärze entfaltete, dann zog er sich den Umhang von den Schultern und bedeckte Edwards leblose Gestalt unter einem Schauer aus schwarzem Stoff.
    "Dort verharre sein Körper drei Nächte lang", fügte Darcia mit gesenkter Stimme hinzu, während er sich zu Jaden umwandte. "In Erinnerung an seine Person und den schmerzhaften Tod, den er aus purer Sinn- und Achtlosigkeit erleiden musste! Ich hoffe du hast nun erreicht, was auch immer du damit bezwecken wolltest, mein Sohn. Aber sei dir versichert, dass es nichts, aber auch wirklich überhaupt nichts an meinem Urteil über Bellynn ändern wird!"
    Hass und Verbitterung trieften wie Gift aus Darcias Stimme, als er an Jaden vorbeischritt und mit den Lichtträgern im Inneren des Palastes verschwand, ohne Jaden auch nur einen Blick zuzuwerfen.
    Nichts schmerzte so sehr wie die klaren, unverblümten Worte des Königs.


    Dieses Mal, in dieser Nacht, in der sowieso nichts so geschah wie es üblich war, öffneten sich die steinernen Tore des Palastes nicht. Die Musiker schwiegen und die Tänzerinnen wagten nicht, die steinernen Stufen zu betreten, auf deren oberstem Absatz der tote Körper des Königssohnes unter der Flut des schwarzen Umhangs lag.
    Jaden hatte sich auf die oberste Steinstufe gesetzt und den Kopf in den Händen vergraben, und so verharrte er die gesamte Nacht reglos, bis die letzten Gäste gegangen waren und nurnoch die Marlohs in ihren schwarzgrauen Morgengewändern sich ein wenig abseits von Edward und Jaden zusammenscharten.
    Bellynn war nicht unter ihnen.
    Einmal kam eine der verhüllten Gestalten, Cassandra, zu Jaden hinüber, und setzte sich für eine Weile wortlos neben ihn; die anderen Marlohs, Cassius und Elinor, ignorierten ihn mit wütender Verbitterung.
    Als der König und die Königin nicht auftauchten, verschwanden sie schließlich in den Gassen, bis Jaden alleine zurückblieb.
    Er verharrte noch einige Zeit reglos, dann löste er sich mit steifen Gliedern aus seiner Starre und fuhr mit den Finger über den Stoff des schwarzen, samtigen Mantels.
    Sein Blick war glasig und abwesend, dunkle Ringe zeichneten seine Augen.
    Nur langsam kehrte das Leben in seine Augen zurück und stumme Tränen rannen an seinen Wangen hinab.
    "Es tut mir so Leid, Edward", hauchte er, während er das Tuch langsam zurückschob und mit der Hand darunter entlangtastete.
    "So unendlich Leid… Bellynn…"
    Seine Hand schloss sich unter dem schwarzen Samt um den kalten, silbernen Griff seines Schwertes, das Edward unter sich begraben hatte, und er zog die blitzende Klinge langsam wieder unter dem Tuch hervor.
    Der einfache, lederumwickelte Griff kam zum Vorschein, unverziert und kalt funkelnd. Es folgte die silbrig blitzende Klinge, ebenfalls schlicht und selbst am Ansatz rasiermesserscharf; Seine dunklen Augen fuhren an ihrem sich zuspitzendem Verlauf entlang.
    Dann stockte er.
    Er hatte die Spitze herausgezogen, die Spitze seines Schwertes, die noch voll von Edwards Blut war.
    Oder besser gesagt sein musste, denn als er mit Augen und Fingern über die Klinge strich, fühlte und sah er nichts anderes als eine schleimige, weißlich leuchtende Substanz, die mit ihrem schattenhaften, schimmernden Licht an seinen Fingern hinabtroff und sich schleichend langsam schwarz färbte, als sie zu Boden tropfte.
    Das Licht der Lichtträger.
    Erschüttert von seiner Entdeckung zuckte Jaden zurück und stieß die Klinge mit einem Scheppern von sich.
    Neugier, Scheu und Abscheu rangen in ihm einen erbitterten Kampf, während er sich langsam dem schwarzen Tuch näherte und den samtigen Saum mit zitternden Fingern umschloss.
    Dann riss er das Tuch fort. Der flatternde schwarze Vorhang flog beiseite und legte die bleiche, marmorne Gestalt seines Bruders frei, der in seinem Totenschlaf merkwürdig verletzlich wirkte.
    Sein Leinenhemd war getränkt in schauriges weißes Leuchten und sein Körper lag in einer schimmernden Lache seines hellen, silbrigen Blutes.
    "Edward…", hauchte Jaden tonlos und tastete mit zitternden Fingern nach dem zweiten, nach Edwards Schwert, das neben ihm auf dem Boden lag. "Was geschieht hier, Bruder? Wessen Blut…" Er schluckte und stieß ein heiseres, trauriges Lachen aus. "Nein, eigentlich will ich es garnicht wissen."
    Das Lachen erstarb ihm auf den Lippen, als er wieder auf die Klinge in der Hand herabsah, deren bebende Spitze auf seine Brust wies.
    "Ich glaube es ist an der Zeit-"
    Die Sonne schob sich über die Kuppe der Berge, ein glühender Spalt, der über den Horizont leckte und den Himmel erhellte. Einige einsame Strahlen erfüllten plötzlich den Ballplatz und die Treppe, fielen auf Ruinen und die erhabenen Palasttore, die an Kontur verloren und wie im Flug der Jahrhunderte vor seinen Augen alterten. Steine zerfielen beinahe lautlos zu Staub und zu Asche, die wie Nebelschlieren von den verfallenden Dächern herabwehten; Die Steinfliesen brachen und rasch wachsende Risse krochen über die Palasttore, bis der rechte Portalflügel mit einem klagenden Seufzen zusammenfiel, während das Licht des anbrechenden Tages anschwoll.
    Ein Husten ließ Jaden zusammenfahren und er sah gerade noch, wie Edward müde die Augen aufschlug und sich mühsam und mit schweren Gliedern aufsetzte.
    "Edward!", schrie Jaden, doch er erschrak vor seinen eigenen Worten, die plötzlich furchtbar leise und weit entfernt klangen, und auch Edward fuhr herum.
    "Jaden?", fragte er halblaut mit noch ein wenig rauer Stimme und blickte sich suchen um, doch sein Blick ging geradewegs durch Jaden hindurch wie durch einen Nebelschleier.
    Jaden verstand erst, als er auf seine Finger herabsah: Sein Körper war kaum mehr als ein verblassender Schemen, der im erstarkenden Licht seine Beständigkeit verlor und ihn wie ein lächerliches Nachtgespenst schwinden ließ, das ins Tageslicht getreten war.
    Einen Augenblick später war Edward allein auf dem obersten Absatz der Treppe, die er beinahe nicht mehr wiedererkannte: Mit gesprungenen Stufen, die halb unter Staub, Geröll und struppigem, trockenem Gebüsch begraben lag, erhob sich die breite steinerne Treppe in Richtung des graublauen Himmels und der beiden verfallenen Torpfeiler, an denen noch die Reste eines zerfetzten, von Wind und Wetter zerfaserten rosigen Tuches hingen.
    Wie betäubt von dem fremdartigen Anblick sah Edward auf die Ruinen einer Stadt herab, die er nun zum ersten Mal im ungetrübten Licht des Tages erblickte.



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