Diagnose: Kapitalismus

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    Re: Diagnose: Kapitalismus

    macho iberico - 07.01.2009, 14:41

    Diagnose: Kapitalismus
    Hier ein toller Text von Horst Stowasser, der sich mit dem Thema "Krise" aus anarchistischer Sicht beschäftigt:

    Diagnose: „Kapitalismus“

    Vom Krankheitsbild eines absurden Wirtschaftssystems und der Aktualität einer anarchistischen Alternative -



    Von HORST STOWASSER, 17.Dezember 2008:


    Krise? Was für ‘ne Krise, bitteschön? „Entscheidungssituation, Wende-,
    Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung“ bietet der Duden als erste
    Definition dieses Wortes an. Von alldem sehe ich weit und breit nichts.

    Leider.
    Hätten wir doch eine Entscheidungssituation! Aber wirklich
    entschieden wird nichts, alles geht im Grunde weiter wie gehabt – business as usual.
    Und Wendepunkt gar? Pustekuchen!

    ---Wohin denn auch? Hat irgendjemand eine wirklich andere Richtung, zu der sich alles wenden könnte?

    ---Zum Besseren – zum Guten gar?





    Ratlosigkeit laboriert



    Die desavouierten Wirtschaftsliberalen hocken rechthaberisch schmollend
    im Trotzwinkel, Banken und Unternehmer halten ungeniert die Hand auf,
    die Staatsführungen füllen diese generös mit Billionen, die etablierte
    Politik zieht ein klein wenig die Staatszügel an – und ansonsten wird laboriert.

    Kurzatmig, ja geradezu in asthmatischer Panik, auf den Moment bedacht:
    Alles schön zudecken, nur nichts aufdecken, es war doch nur ein kleiner
    Ausrutscher, s’wird halt schon weitergehen wie bisher.
    Heile, heile
    Segen…

    ---Und die Linke? Die
    frohlockt schon mal vorschnell, der Kapitalismus sei am Ende.
    Von
    wegen. In Wirklichkeit auch hier null Neues.
    Woher denn auch! Wollen
    doch die verbliebenen Linken im Grunde nichts anderes, als die
    Positionen besetzen, auf denen früher einmal die Sozialdemokratie
    hockte.
    Und so rattert die rhetorische Gebetsmühle und sondert
    altbekannte Statements ab: Der Kapitalismus funktioniert nicht so recht
    – wir können es besser! Bonzen und Manager sind schamlos reich – her
    mit ihrem Geld für die Hartz-IV-Empfänger! Die profitgeile Wirtschaft
    vernichtet Arbeitsplätze – wir fordern Arbeit für alle! Restriktive
    Steuerpolitik begünstigt bloß die Reichen – linke Konsumpolitik wird
    endlich wieder Wachstum bringen!

    ---Besser machen – umverteilen – Vollbeschäftigung – Wachstum… Ist da irgendwo irgendetwas Neues in
    Sicht? Ein Umdenken, ein Paradigmenwechsel, Visionen gar? I wo.
    Besser
    machen! Umverteilen! Vollbeschäftigung! Wachstum! Wenn einen da nicht
    der Brechreiz übermannt. Oder die Verzweiflung.
    Weil doch recht
    eigentlich folgendes klar ist: Dass die menschenverachtende
    kapitalistische Weltunordnung nicht verbessert gehört, sondern durch etwas Besseres ersetzt.
    Dass asoziales Eigentum eine Obszönität ist, die nicht umverteilt werden, sondern einem System des sozialen Besitzes weichen sollte.
    Dass nicht volle Lohnarbeit eine dem Menschen angemessene Daseinsform ist, sondern gar keine.
    Dass die Chance des Überlebens auf diesem Planeten nicht auf mehr Wachstum gründet, sondern auf weniger.


    ---Aber wer redet in
    einer Gesellschaft, deren Fortschrittsreligion seit Generationen
    „Wachstum!“ heißt, schon gerne vom Schrumpfen… Und vor allem: wer hätte
    dazu die passenden Modelle?

    ---Nur ganz wenige.


    ---Dabei sind soziale
    Modelle des wirtschaftlichen Schrumpfens heute wichtiger denn je – ihr
    Fehlen wird in den kommenden Jahrzehnten zu dramatischen Problemketten
    führen, die niemand mehr mit Reformen, Umverteilen, Arbeitspolitik und
    Wachstum in den Griff bekommen wird.




    ---Also noch mal: Wo ist die Krise? Und was soll das überhaupt sein?

    ---Das Wort ergibt doch nur als Ausnahmeerscheinung einen
    Sinn und zwar insofern, als es vor und nach der Krise eine krisenfreie
    Normalität gäbe.
    Hier greift die Duden-Definition Nummer zwei:
    „gefährliche Situation“.


    ---Okay, die haben wir zweifellos.


    ---Aber worin besteht sie?

    ---Darin, dass irgendwelche irrationalen Spekulationsblasen platzen oder darin, dass wir ein hochgradig irrationales Wirtschaftssystem haben? Darin, dass sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt oder darin, dass dieses Wachstum Schritt für Schritt die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten zerstört? Darin, dass die Wirtschaft nicht für jeden Menschen einen Arbeitsplatz hat oder darin, dass die kapitalistische Lohnarbeit an
    sich ein brutaler Anachronismus ist, der angesichts der Entwicklung von
    Ressourcen und Produktivkräften zunehmend sinnlos wird?





    Das System ist die Krise



    Krise als „gefährliche Situation“ – wenn wir diese Definition
    akzeptieren wollen, dann kommen wir zwangsläufig zu einer trivialen
    Feststellung:

    ---Die „gefährliche
    Situation“ besteht nicht in einer sogenannten „Währungskrise“, nicht in
    periodischen De- und Inflationen, nicht in Absatzkrisen von Automobilen
    oder steigenden Ölpreisen, sondern im System an sich: In seiner
    unersättlichen und inhaltsleeren Gier nach Profitmaximierung.
    In seiner
    verschwenderischen Vergeudung von Menschen, Umwelt und Ressourcen.
    In
    seiner geistlosen Unterwerfung alles Humanen, Schöpferischen und
    Lebenswertem unter das tumbe Diktat des Geldes.


    ---Das heißt: Die „gefährliche Situation“ besteht ständig, oder anders ausgedrückt: Das System ist die Krise und diese Krise ist ein permanenter Zustand.
    Wir sprächen demnach nicht – hoppla! – von einem Ausrutscher, sondern von einer chronischen und lebensbedrohenden Krankheit.




    hunger---Wenn
    dies aber so ist – was wäre dann das, worüber sich die Welt in den
    letzten Monaten so furchtbar aufgeregt hat? Börsenkrach, Währungskrise,
    Rezession – sind das Ursachen für negative Auswirkungen, um die sich die Politik kümmern muss oder Auswirkungen, deren Ursachen die Menschheit ein für alle Mal beseitigen sollte?

    ---Hier hilft der Duden
    schlussendlich mit seiner dritten Definition von „Krise“, und die ist
    pikanterweise eine medizinische: „Schneller Fieberanfall als Wendepunkt
    einer Infektionskrankheit“.


    ---Ich finde, das passt.


    ---Unser gesamtes
    wirtschaftliches System ist die lückenlose Kette einer einzigen
    Krankengeschichte und das, was wir als „Krise“ bezeichnen, nichts
    weiter, als ein neuerlicher Fieberschub.
    Die Anamnese dieser Krankheit
    heißt Herrschaft, die Diagnose Kapitalismus und die Prognose Wendepunkt
    oder Tod.






    Krankheit ohne Therapie



    Und wie sieht es mit der Therapie aus? Es gibt keine.
    Zumindest nicht
    dort, wo heutzutage Meinungen produziert und Entscheidungen gefällt
    werden: in den Zentren der Macht.
    Was dort ausgebrütet wird, ist
    Hektik, Kosmetik, Hilflosigkeit und kurzsichtiger Aktionismus.
    Etwa so,
    wie wenn man eine grassierende Gürtelrose mit Nivea-Creme oder eine
    Amöbenruhr mit Aspirin therapieren wollte.


    ---Da wird zum Beispiel
    versucht, die todgeweihte Automobilindustrie zu retten, indem man den
    Absatz von Automobilen kurzfristig ankurbelt – mit Bürgschaften,
    Steuergeschenken und Lockerung von Umweltstandards.
    Das ist etwa so
    originell, wie wenn Kaiser Wilhelm im Jahre 1910 versucht hätte, das
    Kutschenbaugewerbe mit Geld aus seiner Privatschatulle vor dem
    Niedergang zu bewahren.
    Auch das Auto, wie wir es kennen, ist ein
    Auslaufmodell, das es in zehn, zwanzig Jahren nicht mehr geben wird,
    und das Verbrennen fossiler Energien zum Zwecke der Fortbewegung eine
    völlig obsolete Steinzeittechnologie.
    Ob wir uns anders fortbewegen, ob
    wir den Transport von Gütern reduzieren und vernünftiger organisieren
    könnten, all das ist im politischen Mainstream kein Thema.


    ---Da werden mittels
    geostrategischer Kriegsszenarien und immer sophistischerer
    Prospektionstechniken alle Anstrengungen unternommen, sich den Zugriff
    auf die allerletzten Öl- und Gasvorkommen zu sichern.
    Dabei ist klar,
    dass im gegenwärtigen Wirtschaftssystem die Menschheit nicht eher ruhen
    wird, als bis auch das letzte Quentchen fossiler Energie verbrannt sein
    wird.
    Ob dies noch 50 Jahre dauern wird oder, wenn wir ganz, ganz
    tüchtig Energie „einsparen“ 100 oder 150 Jahre, ist für die Natur
    völlig unerheblich und spielt bei den Auswirkungen auf das Weltklima
    nicht die geringste Rolle.
    Denn hier rechnen wir in Jahrtausenden und
    was zählt, ist einzig die absolute Menge, egal, wie lange sie
    „gestreckt“ wird.
    Über die Absurdität unseres Energieverbrauchs an
    sich, über unsere Lebens-, Produktions- und Distributionsweisen jedoch,
    macht sich in den Zentren der Macht niemand ernsthaft Gedanken.


    ---Da wird mit allen
    möglichen Stimulanzen, Subventionen und Drohszenarien die Schaffung von
    Arbeitsplätzen angeregt und die Illusion am Leben erhalten, der
    Normalzustand einer Volkswirtschaft sei die Vollbeschäftigung und alles
    andere eine bedauerliche Ausnahme.
    Dabei ist es völlig offensichtlich,
    dass angesichts der weltweiten demografischen Entwicklung und des
    heutigen Produktivpotenzials ein „Arbeitsplatz an sich“ längst zu einem
    inhaltsleeren Unsinn geworden ist.
    Die merkwürdige Idee, das Recht auf
    eine menschenwürdige Existenz heute noch an die Ausübung von
    produktiver Arbeit zu koppeln, entspricht einem Weltbild, das irgendwo
    zwischen alttestamentarischem Dräuen und calvinistischem Puritanismus
    stehengeblieben ist.
    Die Alternativen zu diesem Anachronismus liegen
    auf der Hand und könnten der Menschheit ohne weiteres eine
    Wirtschaftsordnung ermöglichen, in der man nur noch drei, vier Stunden
    am Tag arbeiten müsste, und in der Kreativität, Muße und humane Werte
    wieder einen dem Menschen angemessenen Stellenwert einnähmen.
    Aber
    hierüber auch nur nachzudenken ist in der Welt unserer Eliten und
    Entscheidungsträger als „utopisch“ verpönt.


    ---Da wird mit
    Sparmaßnahmen, Haushaltsplänen und Finanzspritzen in Billiardenhöhe
    versucht, den Irrsinn exponentieller Wachstumsmodelle in den Griff zu
    kriegen, wie sie etwa für unsere Zinswirtschaft charakteristisch sind
    oder für die Generierung von spekulativen Luftwerten im globalen Stock-Exchange-Business.

    Wo doch längst evident ist, dass die in atemberaubend schnellem Tempo
    sich drehende Schuldenspirale von Zins und Zinseszins von niemandem
    jemals mehr zurückgezahlt werden kann und es an den Börsen schon seit
    langem kaum noch um einen „Stock Exchange“ mit realen Waren und
    Dienstleistungen geht, sondern um ein schnödes Hasardspiel mit
    sogenannten „Werten“, hinter denen keinerlei reale Dinglichkeiten mehr
    stehen.
    Was übrigens keine Metapher ist – der Handel mit Swaps,
    Derivaten und Optionen war in Deutschland noch vor wenigen Jahren – mit
    Recht – als illegales Glücksspiel verboten.
    Ob und wie man solcherlei
    Monstrositäten abschaffen könnte, ist dort, wo die Mächtigen agieren,
    nirgends ein Thema – stattdessen wird „Zinspolitik mit Augenmaß“
    propagiert und über „effektive Kontrollmechanismen“ des
    Börsengeschehens nachgedacht.






    Exponentieller Nonsens



    Das, was in den letzten Monaten in den Medien recht gedankenlos als
    „Krise“ bezeichnet wurde, ist also im Grunde nichts weiter, als das
    Aufplatzen der einen oder anderen Blase am Körper eines kranken
    Wirtschaftssystems, das statt einem Pflästerchen einer radikalen
    Therapie bedürfte, weil sich nämlich unter jeder Blase ein
    ausgewachsenes Geschwür verbirgt.


    ---Jedes Mal, wenn eine
    solche Blase platzt, ist das Gejammer groß, weil es manch einen juckt
    und vielen anderen auch richtig wehtut.
    Denen nämlich, die darauf
    spekuliert haben, ein arbeitsloses Einkommen zu erzielen und daran
    geglaubt haben, ihr Geld würde sich auf wundersame Weise
    vervielfältigen.


    ---Die alberne Idee,
    Geld könne „arbeiten“ und sich von selbst „vermehren“, wurde natürlich
    von jenen cleveren Akteuren lanciert, die das Spiel vollständig
    durchschauen – jenen Profi-Zockern, die am Ende immer absahnen.

    Millionen einfacher Menschen haben dieses Märchen nur allzu gerne
    glauben wollen und dabei das Naheliegende ausgeblendet: dass für jeden
    Euro ihres Spekulationsgewinns am Ende irgendjemand irgendwo auf dieser
    Welt wird bezahlen müssen – mit Arbeit, mit Schweiß oder auch mit Blut.

    Kein Wunder, dass diejenigen Spekulationsdilettanten, die ihr Kleingeld
    beim Börsengang der Telekom oder mit Lehman-Brothers-Zertifikaten
    verbrannt haben, jedesmal von einer „Krise“ reden, wenn wieder mal eine
    jener Blase platzt.
    Und dass sie tüchtig heulen, wenn sie, statt von
    der Ausbeutung anderer zu profitieren, selbst die Zeche bezahlen
    müssen.


    ---Dabei ist es gar
    nicht so schwer zu verstehen, warum weder Zinseszinsen noch
    galoppierende Renditeperformances auf Dauer jemals werden funktionieren
    können.
    Man braucht dazu nur ein bisschen Common Sense –
    gesunden Menschenverstand.
    Denn beide beruhen auf der törichten
    Fiktion, ein exponentielles Wachstum sei möglich und normal.
    Dies geht,
    wie die berühmte Geschichte mit den jeweils zu verdoppelnden
    Weizenkörnern auf dem Schachbrett zeigt, weder in der Wirtschaft, noch
    geht es in der Natur.
    Unsere Umwelt lehrt uns, dass Wachstum stets in
    wechselwirkenden Prozessen stattfindet, die sich gegenseitig begrenzen.

    In der Tat kennt die Natur nur einen Fall von ungebremstem
    exponentiellen Wachstum: den Krebs.


    Der führt in der Regel zum Tod und gilt mit Recht als Krankheit.
    Womit
    wir wieder im Bilde wären – und bei jener Definition von Krise, die
    sich selbst als eine pathologische Situation beschreibt.






    Utopisch, frech und naiv



    Es kann also nicht um Wachstum gehen, sondern um Schrumpfen.
    Modelle
    sind gefragt, die weniger brauchen und mehr bieten: Weniger
    Verschwendung, Arbeit, Energie, Schmerz und Unterdrückung.
    Mehr
    Effektivität, Muße, Ökologie, Lebensfreude und Freiheit.


    ---Ich sagte eingangs,
    dass nur ganz wenige hierzu passende Modelle anzubieten hätten.
    Das
    liegt ganz einfach daran, dass sich nur ganz wenige mit diesen Themen
    beschäftigen und diese wenigen weder zu den Mächtigen zählen noch zum
    Mainstream.
    Im Gegenteil: sie gelten als Spinner und Utopisten,
    bestenfalls als naiv.
    Was ich – etwa aus dem Munde eines studierten
    Ökonomen – ganz entschieden als eine große Auszeichnung verbuchen
    würde.
    Denn was stünde dem Anfang einer „radikalen“ – also
    durchgreifenden – Therapie besser zu Gesicht, als eine gute Portion
    jener erfrischenden, unvoreingenommenen und respektlos-direkten Form
    von Naivität: geradeaus denken, respektlos hinterfragen und das
    Naheliegende erwägen – wie ein Kind.
    Wenn ich meiner elfjährigen
    Tochter die Ökonomie dieser Welt erkläre, erfasst sie sofort das
    Wesentliche: „Was für ein Schwachsinn!“ Spinner, Utopisten und Naive
    standen stets am Beginn großer Ideen und nachhaltiger Umwälzungen; man
    denke nur an die Demokraten, die vor zwei Jahrhunderten die naive Idee
    diskutierten, ob der Mensch nicht vielleicht auch ohne einen
    gottgewollten Souverän würde existieren können – vielleicht sogar
    besser…?

    ---Wenn ich hier ganz
    dezidiert eine Lanze für den naiv-direkten Denkansatz breche, so heißt
    das keinesfalls, dass die wirtschaftlichen Ideen, die hierauf aufbauen,
    naiv im landläufigen Sinne wären.
    Ganz im Gegenteil: sie sind
    strategisch fundiert, in sich schlüssig und auch im Detail wohl
    begründet.


    ---Zu den wenigen, die
    über echte Alternativen nachgedacht haben und auch heute noch
    nachdenken, gehören seit jeher die Anarchisten.
    Sie haben dabei nicht
    nur ganz erstaunliche Modelle entwickelt, sondern der staunenden Welt
    auch praktisch bewiesen, dass ihre Vorstellungen in modernen
    industriellen Massengesellschaften tatsächlich funktionieren und eine
    leistungsfähige, humane Alternative zum gemeinen Vulgär- und
    Raubkapitalismus darstellen.
    Allerdings sind hier drei Einschränkungen
    angebracht:

    ---Erstens die Tragik,
    dass ihr Experiment vom Faschismus militärisch niedergeschlagen wurde.

    Zweitens die Tatsache, dass all dies über siebzig Jahre zurückliegt.
    *
    Und drittens die Crux, dass „der Anarchismus“ heute eine
    vergleichsweise schwache Bewegung ist, die eher ein Schattendasein
    führt und sich schwer tut, wieder die Rolle eines Impulsgebers zu
    spielen, die sie einst partiell erfüllte.


    Worin aber besteht das anarchistische Modell, was ist das Originelle an ihm?*





    Die anarchistische Vision



    Anarchistische Wirtschaft beruht auf einer „dezentralen Bedürfnisproduktion“.
    Was heißt das?

    ---Zunächst einmal, dass Produzenten und Konsumenten selbst bestimmen,
    was sie produzieren, wie sie produzieren und wie sie die Produkte
    verteilen.
    In staatlich-kapitalistischen Strukturen wäre das kaum
    durchführbar – in dezentral-anarchischen Strukturen* hingegen bietet es
    sich geradezu an.
    Dort wäre ja die Gesellschaft ohnehin dezentral und
    selbstverwaltet organisiert, dort wären Produzenten und Konsumenten
    größtenteils identisch und dort bestünden günstige Voraussetzungen für
    einen verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen, Arbeitsprozessen und
    der Auswahl dessen, was wirklich gebraucht wird.
    Da in einer
    anarchischen Gesellschaft die Arbeiter gleichzeitig auch Besitzer ihrer
    Produktionsmittel wären, könnte zum Beispiel die Belegschaft eines
    Konzerns entscheiden, ihren Giganten zurückzubauen und „umzupolen“.
    Der
    einzelne Arbeiter baut heutzutage Autos oder Kampfjets ja nicht
    unbedingt aus innerer Überzeugung, sondern weil er einen Arbeitsplatz
    braucht, um Geld zu verdienen.
    In einer Gesellschaft, die in allen
    Bereichen auf freier, bewusster Entscheidung aufbaut, dürften nach
    Meinung der Anarchisten gute Chancen bestehen, dass auch im
    wirtschaftlichen Bereich die Produzenten andere Entscheidungen träfen
    als heute die Konzerne.
    Das gleiche gälte natürlich für Landwirtschaft,
    Konsumgüter und Dienstleistungen.


    ---Genau betrachtet
    wäre erst in dieser Bedürfnisproduktion das verwirklicht, was der
    Liberalismus fälschlich für sich in Anspruch nimmt – dass sich nämlich
    „der Markt“ frei entfaltet und gemäß den tatsächlichen Bedürfnissen der
    Verbraucher produziert.


    ---Durch die dezentrale
    Vernetzung einer solchen Gesellschaft würden viele Waren, Produkte und
    Lebensmittel in der näheren Umgebung erzeugt und verbraucht.
    Das könnte
    ganz beträchtliche Transport-, Lager- und Logistikkosten einsparen.
    Es
    reduzierte den ökologischen Wahnsinn, dass viele Produkte aus reinen
    Gründen eines Handelsgewinns um die ganze Erde hin- und
    hertransportiert werden.
    Gleiches ließe sich für die Weiterverarbeitung
    von Rohstoffen erreichen, die sich heute – ebenfalls aus Gründen des
    Profits – überwiegend die reichen Industrieländer gesichert haben.

    Import und Export wären dann nur noch für Produkte nötig, die etwa nur
    in bestimmten Klimazonen gedeihen oder an bestimmten Plätzen
    hergestellt werden können.
    Daher dezentrale Bedürfnisproduktion.


    ---Anarchistische
    Wirtschaftstheoretiker gehen davon aus, dass in einer solchen Ökonomie
    am Ende nur noch das hergestellt würde, was alle Menschen der Erde zum
    Leben, zum Vergnügen und zur Bequemlichkeit brauchen.
    Nicht mehr und
    nicht weniger.


    ---Einigen mag das
    jetzt bedenklich nach 'DDR-Wirtschaft' klingen: grau, phantasielos,
    einheitlich und immer knapp.
    In den Augen der Libertären ist das
    allerdings barer Unsinn: Gerade in einer anarchischen Gesellschaft
    werde es viel Raum für Individualität, Vielfalt und Phantasie geben,
    und auch 'Luxus' sei kein Tabu – sofern es sich dabei nicht um
    Protzerei auf Kosten anderer handelt, sondern um Freude am Schönen und
    am Genuss.
    In den verschiedenartigsten autonomen Mikro-Gesellschaften,
    aus denen die anarchische Gesellschaft besteht, könnten sich
    verschiedene Menschengruppen auch nach verschiedenen Konsumbedürfnissen
    und Lebensgewohnheiten zusammenschließen: von bedürfnislos-grau bis
    genussvoll-schrill.
    Wer mehr konsumieren wolle, habe durchaus das
    Recht, sich diesen Mehrkonsum zu erarbeiten.
    Was jedoch nach
    anarchistischer Meinung verschwinden soll, ist die Ausbeutung anderer
    Menschen, denn libertäre Wirtschaft müsse eine Solidarwirtschaft sein, die nicht auf parasitärer Lebensweise aufbauen dürfe.






    Eine Ökonomie des Verzichts?



    Das bedeutet aber auch, dass wir nicht nur an „uns“ denken können,
    sondern auch an den „Rest der Menschheit“.
    Eine solche
    Solidarwirtschaft müsste weltweit wirken, oder sie hätte ethisch
    versagt.
    Heute lebt der kleinste Teil der Menschen im Überfluss,
    während der größte Teil nicht einmal genug zu essen hat.


    ---Heißt das, dass wir Verzicht üben müssen und verdammt wären, zu verarmen?

    ---Ja und nein.

    Verzicht üben müssen wir ganz sicherlich, aber nicht etwa deshalb, weil
    es nicht möglich wäre, allen Menschen ein lebenswertes Leben zu bieten,
    und wir darum „unseren“ Reichtum zu verschenken hätten.
    Wir werden so
    oder so gezwungen sein, den manischen Konsumgalopp zu bremsen, wie wir
    ihn in den westlichen Industrienationen pflegen, weil uns nämlich die
    Verschwendungsorgie, in der wir leben, geradewegs in katastrophale
    Sackgassen führt.
    Das hat wirtschaftliche, ökologische und
    demografische Gründe, und mit Anarchie überhaupt nichts zu tun.
    Wenn
    man bedenkt, dass es allein in Nordrhein-Westfalen mehr Kraftfahrzeuge
    gibt als auf dem ganzen afrikanischen Kontinent, wird klar, dass es
    nicht um moralische Fragen geht, sondern um Tatsachen: um den Irrsinn
    unserer verschwenderischen Lebensweise, die unmöglich ein Modell für
    die Menschheit sein kann.
    In all den genannten Fällen konsumieren wir
    nämlich mit ungedecktem Kredit – sowohl dem Geld als auch der Natur
    gegenüber.


    ---Auf den
    hemmungslosen Verbrauch von Energien und Ressourcen, auf Prestige-Luxus
    und Konsumrausch als Ersatzbefriedigung für wirkliches Leben wird die
    Menschheit also auf jeden Fall verzichten müssen, weil nämlich viele
    Reserven, aus denen wir uns bedienen, schon bald erschöpft sein werden.

    Ob das aber eine Verarmung bedeutet, ist zu bezweifeln.
    Man
    könnte auch das Gegenteil vermuten.
    Die Überwindung der Sinnleere des
    Alltags, des Trends zu Vereinzelung, Entfremdung und Vermassung, der
    immer mehr Menschen in eine Art Ersatzbefriedigung treibt.


    ---Die Frage, vor der
    wir heute stehen, ist also nicht, ob wir so weiterleben können wie
    bisher, denn das können wir ganz eindeutig nicht.
    Die Alternative
    lautet, ob wir mit unserer Luxusyacht stilvoll in den Fluten eines
    bescheuerten Systems untergehen, oder ob wir unser Schiff umtakeln und
    einen neuen Kurs einschlagen.
    Dieser neue Kurs bedeutet zwar einen
    Verzicht auf einige Dinge und Gewohnheiten, aber nicht eine Verarmung
    unseres Lebens.
    Wir könnten stattdessen eine völlig neue Lebensqualität
    gewinnen, die man nirgends für Geld kaufen kann, und vermutlich wären
    bei entsprechender Organisation nicht einmal Abstriche beim
    Lebensstandard hinzunehmen.


    ---Wie das? Durch Einsparung und Umverteilung.






    Eine Ökonomie der Vernunft



    Folgen wir der anarchistischen Wirtschaftsvision, so dürfen wir
    annehmen, dass in einer Gesellschaft der konsequenten
    Bedürfnisproduktion die Menschen solche Dinge herstellen werden, die
    sie tatsächlich brauchen und haben wollen.
    Diese Gesellschaft bräuchte
    keine Rüstung mehr, keine Raumfahrttechnologie, keine Werbung, keine
    künstlichen Modetrends, keine gewollt konstruierten Verschleißprodukte,
    keine Prestigeausgaben, keine Kriege, keinen Superluxus für die
    Superreichen, keinen unnützen Transport, keine Spekulationsgeschäfte,
    keine staatliche Repräsentation, keine reichen Sozialparasiten, die auf
    Kosten anderer ein arbeitsloses Einkommen genießen und so weiter…
    Ebenso käme sie ohne Bürokratenheere aus, weil sie sich selbst
    verwalten könnte, ohne Sozialhilfe und Arbeitslosengelder, weil sie ein
    Solidarsystem kleiner Gruppen wäre, und vermutlich auch ohne den
    eminent teuren Repressionsapparat von Justiz, Polizei, Strafvollzug.

    Auch im aufgeblähten Medien- und Kommunikationsbereich würden die
    Menschen vermutlich gerne auf einiges verzichten wollen.


    ---All das aber bindet
    heute unglaubliche Mengen an Arbeitskraft, Kreativität, Ideen,
    Ressourcen, Werten und Geld.
    Für die Herstellung und Verteilung von
    Waren, Lebensmitteln und Dienstleistungen wird schon heute der
    geringere Teil menschlicher Arbeit aufgewendet – der größere Teil wird
    verschwendet und verpufft in „Leistungen“, die entweder niemand
    wirklich braucht, oder die auf andere Weise besser organisiert werden
    könnten.


    ---Alle Jahre wieder
    kursieren Studien amerikanischer und europäischer Universitäten, die
    ausrechnen, wieviel Arbeitsstunden der Mensch bei einer konsequenten
    Bedürfnisproduktion noch leisten müsste, um den Bedarf aller Menschen
    der Erde zu befriedigen.
    Wohlgemerkt: aller Menschen.
    Und wir
    sprechen hier nicht nur von der bloßen Ernährung, sondern von einem
    anständigen Konsum- und Lebensstandard! Zur Zeit liegen diese Zahlen
    zwischen drei und fünf Stunden täglich, manche Anarchisten kommen mit
    ihren Rechenkunststücken sogar auf die phantastische Vision einer
    Fünf-Stunden-Woche – und nicht mal die ist bei genauerem
    Hinsehen von der Hand zu weisen… Wie dem auch sei, die
    Welternährungsexperten der Vereinten Nationen sind sich darin einig,
    dass allein der weltweite Wegfall der Rüstung genügend Kräfte und
    Mittel freisetzen würde, um mit dem Hunger in der Welt sofort Schluss
    zu machen.


    ---„Warum aber tut man es dann nicht?“, fragt meine naive Tochter.


    ---Die Antwort ist
    ebenso einfach wie absurd: Wegen der inneren Logik unseres
    Wirtschaftssystems.
    Im Kapitalismus zahlt es sich nicht aus, den Hunger
    zu besiegen und ist deshalb ökonomisch unvernünftig.
    Denn hungernde Menschen stellen keinen „Markt“ dar: sie sind zu arm, um zu bezahlen.
    Rüstung hingegen ist ein vernünftiges Geschäft,
    und der Supercoup, von dem jeder Rüstungsmanager träumt, ist der Krieg,
    weil sich dabei nämlich die teuren Waffensysteme selbst vernichten, so
    dass sie anschließend wieder neu gekauft werden müssen.




    ---Angesichts dieses
    Irrsinnssystems zum Schluss noch einmal die Frage: Was ist eigentlich
    „die Krise“, von der zur Zeit so unendlich viel schwadroniert wird?
    Irgendwelche Zahlen auf den elektronischen Anzeigetafeln in der Wall
    Street oder die ganz banale Tatsache, dass solche Zahlen überhaupt
    existieren und ihre kryptische „Logik“ letztendlich über unser aller
    Wohl und Wehe bestimmen?


    ---Zugegeben, diese Frage ist eine rhetorische. Es ist an der Zeit, dass aus ihrer Beantwortung eine neue Realität erwächst.


    ..




    *Aus nachvollziehbaren Gründen kann ich an dieser Stelle weder eine
    wirtschaftliche Analyse der Spanischen Revolution von 1936 leisten noch
    einen Abriss anarchistischer Wirtschaftstheorien oder anarchischer
    Gesellschaftsstrukturen liefern.
    Alles drei versuche ich ausführlich,
    auf leicht verständliche Art und mit zahlreichen Quellenangaben in:
    Horst Stowasser, Anarchie! Hamburg 2007, S.
    397 – 410, 86 – 115 und 68
    – 78

    ..


    Dieser Artikel erschien zuerst - leicht gekürzt - in "Hintergrund - Das Nachrichtenmagazin", Heft 1/2009


    Horst Stowasser
    Der Autor: Horst Stowasser, Jahrgang 1951, lebt und arbeitet in einem
    libertären Großprojekt in Südwestdeutschland.
    1971 gründete er das
    anarchistische Dokumentationszentrum „Das AnArchiv“.
    Sein Standardwerk
    Anarchie! stand drei Monate nach Erscheinen auf Platz 1 der deutschen
    Sachbuchbestenliste.
    (Anarchie! Idee – Geschichte – Perspektiven
    Hamburg 2007, Edition Nautilus, 511 S., illustriert, 24.
    90 Euro)



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