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Genazino, Wilhelm - Mittelmäßiges Heimweh




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Genazino, Wilhelm - Mittelmäßiges Heimweh

Beitragvon Pippilotta » 28.12.2008, 21:23

Schon meine Eltern waren mittelmäßig, meine Kindheit war mittelmäßig, außerdem meine Schulzeit, mein Abitur und das Studium, aber seit dem letzten Anruf steuere ich auf das Mittelmäßigste zu, was es überhaupt gibt: auf eine Scheidung. (S.109)
Der Ich-Erzähler Dieter Rotmund ist Anfang 40, Controller in einem Pharmabetrieb, verheiratet mit Edith und Vater einer Tochter, Sabine. Zu seiner Familie unterhält er eine Wochenendbeziehung, seine Frau weigert sich, den Schwarzwald zu verlassen. Zwei Wohnungen kosten Geld, seine Frau gibt das vorhandene mit beiden Händen aus und Dieter ist angehalten, an allen Ecken und Enden zu sparen. Sogar die Fahrkarte nach Hause versucht er einzusparen und verbringt die stundenlange Bahnfahrt stehend in der Nähe der Zug-Toilette um im Falle des Erscheinens des Kontrollors auf diese zu verschwinden.
Aus der Ich-Perspektive schildert er sein mittelmäßiges Leben, ohne Sensationen, ohne Aufregungen, ohne Emotionen. Während der Woche stolpert er an den Feierabenden einsam durch die Straßen und Kneipen der Großstadt, an den Wochenenden muss er erkennen, dass seine Frau ihn zurückweist und auch Sabine ihm immer fremder wird. Er nimmt diese Entwicklung zur Kenntnis, ohne etwas dagegen zu tun. Selbst als ihm eines Abends in einer Kneipe ein Ohr abfällt, bringt ihn das nicht weiter aus der Ruhe. Sein biederes Leben läuft aus dem Ruder und auch sein Körper zeigt erste Zerfallserscheinungen. Fast gegenläufig dazu macht er dank seiner Überstunden, die er mehr aus Zeittotschlagen denn aus Ehrgeiz ableistet, im Unternehmen einen Karrieresprung und wird zum Finanzdirektor befördert.

Der Roman kommt ganz ohne Spannung, ganz ohne Plot aus. Minutiöse Beobachtungen von Nebensächlichkeiten und eine tiefe Melancholie machen den Charme dieses Buches aus, das stellenweise auch unheimlich witzig ist. Dem Protagonisten – ich unterstelle ihm, dass er sich nicht ungerne in der Rolle des Hilflosen, Passiven und Geknechteten sieht – möchte man am liebsten einen Tritt verpassen, weil er so untätig zusieht, wie sein Leben den Bach hinuntergeht.

Für mich eine echte Entdeckung!

Wilhelm Genazino
geb. 1943 in Mannheim, arbeitete zunächst als freier Journalist, später als Redakteur und Hörspielautor. Als Romanautor wurde er 1977 mit seiner "Abschaffel"-Trilogie bekannt und gehört seither zu den wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren.

Preise:
2004 Georg-Büchner-Preis
2007 Kleist-Preis

:stern: :stern: :stern: :stern:

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von Anzeige » 28.12.2008, 21:23

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Beitragvon Siebenstein » 28.12.2008, 21:37

Ihm fällt in der Kneipe ein Ohr ab? :grübel

Danke, @Pippi, dass du uns das Buch vorstellst. Die Rezi erinnert mich daran, dass ich schon lange mal etwas von Genazino lesen wollte...

Liebe Grüße
Siebenstein :wink:
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Beitragvon Pippilotta » 28.12.2008, 21:46

Siebenstein hat geschrieben:Ihm fällt in der Kneipe ein Ohr ab? :grübel


ja, ist so. Es wird aber eigentlich nicht weiter darauf eingegangen. Das sind so die skurrilen Elemente (in manchen Rezensionen auch als "kafkaesk" bezeichnet) in diesem Buch.

Für mich war es sicher nicht das letzte Buch von Genazino.

Alleine Krümel würde ich es nicht so sehr ans Herz legen, es sind diese Art von Protagonisten, die sie am liebsten an die Wand klatschen bzw. zum Teufel jagen würde :motz: :wink:
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Beitragvon alixe » 28.12.2008, 21:48

Danke Pippi, jetzt weiß ich ganz bestimmt, dass es kein Fehler war mir gestern das Buch zu kaufen. :wink:

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Beitragvon Sybille » 28.12.2008, 22:31

Mir hat es auch recht gut gefallen.
Liebe Grüße, Sybille
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