Geschichte!

Maya und Domenico
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    Re: Geschichte!

    claudi - 25.07.2008, 10:52

    Geschichte!
    Hier kommt jetzt die Geschichte!



    Re: Geschichte!

    Ruth - 25.07.2008, 12:51


    super :lol: also loooooooos, ich brauche mehr von der geschichte!!! :P



    Re: Geschichte!

    claudi - 25.07.2008, 17:40


    2. Kapitel
    Die Mathe-Arbeit lag vor mir und ich sah sie an wie einen dicken Eiterpickel auf der Nase, den man so schnell wie möglich los werden wollte. Ich glaube, dass genau da mein Problem lag. Ich sah in einer Mathe-Arbeit keine Prüfung meines Wissens, bei der man so gut wie möglich abschneiden musste, sondern eine Art Pest, die man so gut es ging meiden sollte.
    Die verdammten Graphen, zu denen ich die Funktionsgleichung angeben sollte, schienen mich regelrecht anzugrinsen, als ob sie wüssten, dass ich keinen blassen Schimmer davon hatte.

    Ich überging die Aufgabe ganz einfach und sah mir Nummer zwei an. Ich sollte mit Hilfe von drei Scheitelpunkten die gemeinsame Schnittpunkte herausfinden. Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Irgendwas meldete sich in meinem Hirn. Da war doch was... Genau, ich brauchte dafür irgend so eine Gleichung.
    Ich sah hoch auf Herrn Reile, der gerade damit beschäftigt war, die Arbeit unserer Parallelklasse zu korrigieren. Meine Mitschüler schrieben eifrig, sogar Lukas, der sich erstaunlich schnell erholt hatte von seiner „schwerwiegenden“ Verletzung. Elm schrieb natürlich am schnellsten, als ob ihm die 45 Minuten nicht ausreichen würden, um sein Wissen aufzuschreiben.
    Mit einem Seitenblick auf Herrn Reile stieß ich Elmar mit dem Ellebogen an, sodass er aus seinem Wissensrausch erwachte und seine grauen Augen auf mich richtete.
    „Nummer zwei“, raunte ich ihm zu. „Wie heißt noch mal die Gleichung dazu?“
    Er musste sich erst mal orientieren, da er selbstverständlich schon zwei Nummern weiter war. Er kritzelte hastig auf sein Löschblatt und schob es mir zu, bevor er wieder in voller Konzentration versank.
    y= ax2+bx+c stand auf Elms Löschblatt. Jetzt hätte man nur wissen müssen, was damit anzufangen war.
    „Muss ich gleichsetzen oder das Additionsverfahren anwenden?“, fragte ich, wieder an Elm gewand. Mein Pech war, dass ich davor nicht auf Herr Reile geachtet hatte, der gerade in diesem Moment hochsah und mich dabei erwischte, wie ich zu Elm gebeugt war.
    „Sam“, sagte er in strengem Tonfall, aber so leise, dass es die anderen nicht störte und kam auf mich zu. Zu allem Übel sah er noch die Gleichung auf Elms Löschblatt und sein schrumpeliges Gesicht verfinsterte sich, wenn es überhaupt noch eine Steigerung zu seiner ständig grimmigen Miene gab.
    Er nahm mir das Heft ab und ging damit zurück zu seinem Pult.
    Na toll, das war’s dann wohl. Meine zweite Sechs in diesem Halbjahr in Mathe, dachte ich und sah zu Elm rüber, der mich mit entschuldigender Miene ansah, als könnte er irgendwas dafür.

    „Das ist wohl schiefgelaufen“, sagte Elmar, als wir zusammen aus dem Mathe-Raum gingen und auf den Bio Hörsaal zusteuerten.
    „Wundert dich das etwa?“, fragte ich ziemlich übel gelaunt.
    „Ehrlich gesagt nicht“, seufzte er und seine Ehrlichkeit brachte mich zum Lachen.
    „Du scheinst aber auch wirklich immer Pech zu haben, Mann“ Er klopfte mir tröstend auf die Schulter.
    „Da kommen ja die Schöne und das Biest“, grölte Markus, der schon mit ein paar Anderen aus unserer Klasse vor dem Bioraum stand. „Fragt sich nur, wer wer ist.“ Er lachte dreckig und die anderen fielen alle mit ein.
    „Wenigstens gibt es bei uns noch einen Schönen im Gegensatz zu eurer Monster AG“, gab ich zurück, zeigte ihm den Mittelfinger und erklärte das Gespräch damit für beendet.
    „Hast wohl wieder bei dem Wanst abgeguckt, was?“, bemerkte Sandra. „Zum Glück hat dich der Reile erwischt, sonst hättest du am Ende noch ’ne Eins gehabt.“ Wieder lachten sie alle, aber ich machte mir keine Mühe etwas zu entgegnen. Die Tatsache, dass wir jetzt Bio hatten, heiterte mich auf und die Vorfreude darauf konnte mir nicht von einer Schar Dümmlingen genommen werden.

    „Sam, ich denke, dass du es wirklich schaffen könntest, mit nur ein wenig mehr Begeisterung. Und damit meine ich außer in Bio und Chemie.“ Frau Kaiser lächelte mich aufmunternd an. Sie war meine Bio-, Chemie- und Klassenlehrerin und die einzige Person, von der ich behaupten konnte, dass sie mehr draufhatte als nur das, was sie im Unterricht erzählte.
    „Ich habe heute morgen mit Frau Gröschler geredet. Du weißt sicher, worum es ging.“
    Ich nickte und sah verlegen zu Boden. Es tat mir leid, dass Frau Kaiser immer Ärger wegen mir hatte.
    Sie stand auf, ging um ihr Schreibtisch herum, lehnte sich dagegen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe vor, die ganze Sache mit der Klasse zu besprechen. So kann das nicht weitergehen. Elmar wird regelrecht gemobbt.“
    Ich musste mir Mühe geben meine Verwunderung darüber zu verbergen, dass sie mir keine Standpauke über mein Verhalten hielt.
    „Ich kann es nicht sehen, wenn sie ihn ärgern“, sagte ich schnell, um mich irgendwie zu entschuldigen.
    „Das kriegen wir schon hin“, versprach sie und strich sich eine dunkle Strähne aus ihrem Gesicht. „Weswegen ich dich eigentlich zu mir gebeten habe ist, dass ich dir sagen wollte, dass ich momentan sehr zufrieden mit dir bin, Sam. In Biologie und Chemie hast du eine sehr gute Eins und wenn es eine bessere Note gäbe, würde ich sie dir auch noch geben. Deshalb verstehe ich die anderen Lehrer nicht. Die Sam, von der sie sprechen, kenne ich gar nicht.“
    Sie sah mich an, als erwarte sie eine Erklärung, aber was sollte ich schon sagen? Daran ist mein nicht vorhandener Vater schuld, oder was?
    „Deine Fünf in Mathe kannst du dir mit Bio raushauen und die in Physik mit Chemie, aber so weit ich gehört habe, sind die sprachlichen Fächer auch nur mehr oder weniger ausreichend. Ich weiß nicht, ob du damit zufrieden bist, aber ich denke, dass du nicht noch einmal bereit wärst, eine Klasse zu wiederholen.“
    Ich schüttelte den Kopf. Auf keinen Fall. Ich hatte die fünfte Klasse wiederholt und noch mal würde ich das nicht überleben.
    „Gut, das habe ich mir schon gedacht. Vielleicht solltest du dich deshalb ein wenig mehr ins Zeug legen.“ Sie legte den Kopf schief und betrachtete mich prüfend.
    Wofür in aller Welt sollte ich mich ins Zeug legen? Aber ich sagte nichts und betrachtete nur schweigsam die Spitzen meiner Chucks.
    „Wie wäre es mit Nachhilfe?“
    Ich schüttelte wieder kräftig mit dem Kopf.
    „Sam, rede mit mir!“ Sie ging zu mir hin und stützte ihre Arme an meinem Tisch ab. „Woran liegt das? Du scheinst nur in meinen Fächern gut zu sein. Dabei bin ich mir sicher, dass dir die anderen Fächer genauso leicht fallen würden.“
    Darüber hatte ich eigentlich noch nie nachgedacht. Vielleicht hatte sie ja recht. Ich hatte aber einfach keine Lust, mich in den anderen Fächern anzustrengen.
    Frau Kaiser seufzte. „Gut, Sam. Ich gebe dir noch eine Chance. In einer Woche bekommt ihr eure Zeugnisse. Dann haben wir Sommerferien und danach will ich Besserung sehen, in Ordnung? Sonst werde ich persönlich Maßnamen ergreifen, damit dein Notendurchschnitt glänzend wird und ich bin mir nicht sicher, ob dir diese Maßnamen gefallen werden. Ich werde noch nicht mit deinem Bruder darüber reden, aber wenn sich keine Besserung zeigt, führt kein Weg dran vorbei.“ Sie ging zurück an ihr Pult und erklärte die Unterredung damit für beendet. „Schönes Wochenende, Sam.“
    „Danke!“, flüsterte ich und es war mehr für ihre Geduld mit mir als für das schöne Wochenende.
    Ich rannte raus an den Springbrunnen vorbei zu Elm, der vor dem Bus auf mich wartete.
    „Und was hat sie gesagt?“ Über sein hochrotes Gesicht lief schon der Schweiß. Es waren sicher dreißig Grad im Schatten.
    „Ach, dass sie halt ganz zufrieden mit mir ist.“ Ich ging voran in den Bus.

    „Björn!“, rief ich, als mich die Kühle unseres Flures umfing. Niemand antwortete. Ich rief noch einmal und ging in die Küche. Wie erwartet lag auf dem Küchentisch ein gelber Zettel, worauf mein Bruder in seiner akkuraten Schrift, Komme heute später. Mach mir kein Essen warm!, geschrieben hatte.
    Schon wieder. Das war bestimmt schon das hundertste Mal, dass er später kam.
    „Rabenchef!“, zischte ich. Konnte er Björn nicht einmal pünktlich nach Hause lassen? Ich ging zum Kühlschrank und holte mir aus der Kühltruhe eine Tiefkühlpizza raus, die ich in der Mikrowelle aufwärmte. Ich benutzte sie immer, wenn Björn wieder mal später kam und ich nichts kochen musste.
    Ich setzte mich mit der Pizza vor den Fernseher und schaltete MTV ein. Wenn Björn mich so sehen würde, mit der fettigen Pizza auf dem naturfarbenen Ledersofa, würde er mir was geigen. Als ich fertig gegessen hatte, saß ich noch eine Weile vor dem Fernseher, zappte mich durch alle 36 Kanäle, ohne wirklich zu registrieren, was gezeigt wurde. Eigentlich musste ich mich jetzt an die Hausaufgaben setzten, die mal wieder reichlich vorhanden waren, und das so kurz vor den Ferien! Aber ich hatte beim besten Willen keinen Nerv dazu, obwohl ich wusste, dass ich sie gar nicht machen würde, wenn nicht jetzt.
    Bei der Gelegenheit fiel mir ein, dass ich noch neue Mathehefte brauchte. Eigentlich könnte mir Björn ja welche aus Limburg mitbringen, wenn er schon zu spät kam.
    Ich wählte die Nummer des Architekturbüros, wo er arbeitet und als sich eine gezierte Frauenstimme mit: „Architekturbüro Heizmann und Co, was kann ich für Sie tun?“, meldete, hätte ich am liebsten gesagt, dass mir nicht mehr zu helfen war, aber ich sagte nur: „Hier Angelina Jolie, kann ich Björn Schäfer sprechen?“
    Die Frau zögerte einen Moment, bevor sie unsicher sagte: „Einen Moment bitte, ich verbinde Sie.“
    Ich konnte mir ihr dümmliches Gesicht jetzt bildlich vorstellen und konnte mir ein gekünstelt ungeduldiges: „Aber bitte schnell“, nicht verkneifen.
    Aus dem Telefon kam die Melodie von irgendeiner Mozart- Symphonie und ich musste bestimmt fünf Minuten warten, bis sich eine missmutige Stimme mit „Schmitz“, meldete.
    „Ich hätte gern mit Björn Schäfer gesprochen“, sagte ich diesmal wirklich ungeduldig.
    „Als was arbeitet er denn?“, fragte mich die Stimme desinteressiert.
    „Als was?“
    „In welcher Abteilung? Hier gibt es Architekten, Bauarbeiter, Bauingenieure, Graphiker, Modellbauer...“
    „Bauingenieur“, sagte ich schnell. Ich hatte vergessen, in was für einer riesigen Firma mein Bruder arbeitete.
    „Nee, die sind schon alle weg.“
    Ich runzelte die Stirn.
    „Die sind um diese Uhrzeit immer schon weg“, sagte er weiter, in der Hoffnung ich würde auflegen.
    „Okay, danke.“ Ich legte auf. Die sind um diese Uhrzeit immer schon weg? Ich sah auf die Uhr im Wohnzimmer. Halb fünf. Björn kam in letzter Zeit immer später. Hatte sich der Typ vielleicht irgendwie geirrt? Bei dem gut organisierten, wichtigen Betrieb konnte ich mir das schwerlich vorstellen. Das Architekturbüro Heizmann& Co war berühmt. Denen sah es nicht ähnlich sich Fehler zu erlauben. Aber wo war Björn dann?
    Ich schlug die Zeit tot, indem ich mir irgendwelche Fußballspiele ansah und als er um acht immer noch nicht da war, beschloss ich, Hausaufgaben zu machen. Um elf dann hörte ich, wie jemand die Tür aufschloss und ging die Treppe runter.
    „Wo warst du so lange?“, fragte ich scheinheilig. „Musstest du so lange arbeiten?“ Eine alberne Frage, wer musste schon bis elf Uhr arbeiten.
    Björn schien in bester Laune und erwiderte scheinbar beiläufig: „Nein, ich war noch bei Freunden. Und ich habe eine Überraschung für dich.“
    Ich ließ mir meine Neugier nicht anmerken, sondern fragte ihn, ob er hungrig sei. Er sagte, er habe schon gegessen.
    „Tataaa“, machte er und zog zwei Kinokarten aus seiner Jackentasche. „Mission Impossible 3, den wolltest du doch sehen oder?“
    „Cool“, sagte ich etwas teilnahmslos. Ich hatte den Einser und den Zweier auch mit Björn im Kino gesehen und sie gehörten zu meinen Lieblingsfilmen, aber ich wurde das ungute Gefühl nicht los, dass irgendwas nicht in Ordnung war. Björn war nämlich so seltsam gut gelaunt, wie immer, wenn er so spät nach Hause kam.
    „Wir können nach dem Film ja noch irgendwo essen gehen, was meinst du?“, fragte er mich, während er in die Küche ging und sich ein Glas Wasser einschüttete.
    Aha, wusste ich’s doch, irgendwas stimmte nicht.
    „Klar“, sagte ich nur, wünschte ihm eine gute Nacht und ging ins Bett.

    Um sechs Uhr sahen wir uns „Mission Impossible 3“ im Marburger Kino an und danach fuhren wir in mein Lieblingsrestaurant und zwar in ein chinesisches. Ich liebte es chinesisch zu essen.
    Nachdem wir gegessen hatten, unterhielten wir uns über alles mögliche.
    „Wer ist eigentlich diese Frau Gröschler?“, fragte er mich irgendwann im Laufe des Abends.
    „Meine Wirtschafts- und Politiklehrerin“, antwortete ich und verzog das Gesicht, als hätte ich in eine Zitrone gebissen.
    „Die Frau ist grauenhaft“, sagte er lachend. „Ist die neu? Ich hätte fast einen zu viel gekriegt, als die mir gesagt hat, sie wolle deinen Vater und nicht deinen Bruder sprechen.“
    „Also ich fand ihren Gesichtsausdruck sehr amüsant.“ Ich musste wieder lachen, als ich daran dachte, wie sie Björn angesehen hatte. „Es hat mich an eine überreife Tomate erinnert, die kurz vorm Platzen ist.“
    „Das hab ich mir gedacht. Da redet man über ernsthafte Dinge und du hast wieder mal nur Schuss im Kopf.“ Er schüttelte gespielt tadelnd den Kopf und fuhr sich durch sein blondes Haar. „Das ist meine Sam wie sie leibt und lebt.“
    Eine Kellnerin kam lächelnd an, brachte uns die traditionellen Glückskekse und fragte in diesem komischen chinesischen Akzent, ob es uns geschmeckt hatte und wir bestellten noch zwei Getränke, so wie wir das immer machten, wenn wir hier aßen.
    Während wir auf unsere Cola warteten, begann Björn, sich zu räuspern. „Sam, ich hatte eigentlich einen Grund, warum ich heute mit dir hier bin. Normalerweise hätte ich heute arbeiten müssen, aber ich habe mir extra frei genommen...“ Er stockte. „Na ist ja auch egal, ähm, ich wollte dir was sagen.“
    Shit, dachte ich. Jetzt kommt’s. Wusste ich’s doch. Mein Bruder machte plötzlich einen ziemlich nervösen Eindruck und schien keine bequeme Haltung zu finden, denn er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
    Die Kellnerin kam und brachte uns unsere Getränke. Ich griff mir das kalte Glas und nippte daran, nur damit ich was zum Festhalten hatte.
    „Rück schon raus“, forderte ich ihn auf und klammerte mich an mein Glas.
    „Okay.“ Er atmete tief ein. „Ich habe mich verlobt.“
    Ich hatte ja mit allem gerechnet, aber nicht damit. Ich starrte ihn nur an und brachte keinen Ton raus. „Mit wem?“ Es kostete mich * Mühe das zu fragen.
    „Ich habe dir doch schon von Joana Landau erzählt, oder?“
    Ich erinnerte mich. Eine, die als Architektin bei Heizmann& Co arbeitete. Warum war ich nicht gleich darauf gekommen? Björn hatte von ihrem klassenmäßigen Charakter und ihren langen Beinen geschwärmt und ich hatte ihn damit aufgezogen. Wenn ich gewusst hätte, dass er das ernst meinte...
    „Ich habe mich öfters mit ihr im Büro unterhalten“, fuhr er fort. „Sie ist wundervoll Sam, glaub mir. Sie wird dir auch gefallen. Wir lernten uns näher kennen, gingen ein paar mal in den Mittagspausen zusammen in ein Café.“ Er war plötzlich Feuer und Flamme. Und wie seine Augen leuchteten, als er das sagte. Ich konnte das nicht glauben.
    „Aber Björn, du...“, begann ich. „Du bist doch erst siebenundzwanzig. Warum hast du’s auf einmal so eilig...“ Weiter kam ich nicht. Was hatte das für einen Sinn? Er war bis über beide Ohren verliebt, das sah ich, da konnte man nichts mehr machen. „Kann sie nicht vielleicht erst mal zu uns ziehen, bevor ihr euch schon verlobt?“
    „Ich habe ihr das auch schon vorgeschlagen, aber sie will nicht.“
    „Warum nicht?“ Ich hasste die dumme Kuh, die mir meinen Bruder wegnahm, jetzt schon.
    „Sie ist Christin, verstehst du. Bei ihr läuft außerhalb der Ehe nichts.“
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie war also auch noch eine heilige Jungfrau Maria. Er hätte jede haben können, das hatte er seinem guten Aussehen zu verdanken. Und jetzt wollte er doch tatsächlich seine erste ernsthaftere Affäre heiraten.
    Mir war plötzlich kotzübel. Ich schnappte mir meinen Glückskeks, stand auf und ging raus. Ich konnte es einfach nicht fassen.
    „Sam, warte doch, lass uns darüber reden“, rief Björn mir hinterher. Er mit seinem bescheuerten Reden, was brachte das schon. Er bezahlte schnell und lief mir dann hinterher. „Sam, bitte.“ Er legte seine Hand auf meine Schulter, aber ich schüttelte sie ab. Jede Bemühung, nett zu mir zu sein, kam mir jetzt so grauenhaft heuchlerisch vor.
    Wir gingen zum Auto und ich starrte während der ganzen Fahrt teilnahmslos aus dem Fenster.
    „Ich hatte gehofft du würdest anders reagieren“, sagte Björn nach einer Weile. „Hatte gehofft du würdest dich vielleicht ein wenig mit mir freuen.“ Er klang fast ein wenig beleidigt.
    Ich sagte noch immer nichts, schließlich war ich diejenige, die beleidigt zu sein hatte. Außerdem war ich nun mal kein Freund des Redens.
    „Sam, du kennst sie doch noch gar nicht. Du hast keine Vorstellung von ihr. Sie ist einmalig, glaub mir. Ihr Glaube verleiht ihr einen unglaublichen Charakter...“
    Ich machte Radio an und stellte auf volle Lautstärke, um ihm zu zeigen, wie mich sein Gelaber anwiderte. Er drehte es sofort leiser, aber wenigstens sagte er nichts mehr.
    Als wir zu Hause waren, lief ich in mein Zimmer und wollte zuschließen, aber der Schlüssel war weg.
    „Das hat keinen Zweck, Schwesterchen. Ich habe mir schon so was Ähnliches gedacht und schon mal vorsorglich alle Schlüssel eingesammelt. Du kannst dich in keinem einzigen Zimmer im ganzen Haus einschließen. Wir werden jetzt reden, so sehr dir das auch gegen den Strich geht, hast du mich verstanden?“
    „Mit so einem Idioten wie dir rede ich nicht“, sagte ich und musste mich verflucht anstrengen, nicht in Tränen auszubrechen.
    „Gut, wenn du mir einen einzigen guten, vernünftigen Grund nennst, warum ich ein Idiot bin, lass ich dich in Ruhe.“
    *, ich wusste nicht was ich sagen sollte und das wäre doch meine Chance gewesen.
    „Sam, hör zu: Nächste Woche fahren wir zu den Landaus und erst danach wirst du dein Urteil bilden, klar?“
    Auch das noch.
    „Du weißt, dass ich in den Ferien sechs Wochen mit Freunden nach Griechenland fahre. Joana wird mitkommen. Und du wirst nicht alleine hier bleiben, das hatten wir schon ausführlich diskutiert. Tina ist ebenfalls irgendwo im Urlaub. Marion, Joanas Mutter, hat angeboten, dich die sechs Wochen aufzunehmen und ich habe zugesagt.“
    Ich schnappte nach Luft. „Das kannst du nicht machen...“
    „Doch, das kann ich Samira Schäfer, oder hast du vergessen, dass ich dein Erziehungsberechtigter bin und du noch nicht volljährig bist?“ Er warf mir meinen Zimmerschlüssel zu und ich verzog mich sofort in mein Zimmer, knallte die Tür zu und begann, wie ein Schlosshund zu heulen. Als ich schniefend den Glückskeks aus meiner Hosentasche beförderte, um einen Blick auf das Horoskop darin zu werfen, las ich: „Heute wird dir jemand eine sehr erfreuliche Nachricht machen.“ Ich heulte noch lauter. Jetzt hatten sich auch noch die Glückskekse gegen mich verschworen.



    Re: Geschichte!

    Ruth - 25.07.2008, 19:43


    weeeeeeiteeeeer!!!! ist eine schöne geschichte!!!



    Re: Geschichte!

    LillyRose - 25.07.2008, 20:39


    böser glückskeks^^ tolle geschichte! Weiter



    Re: Geschichte!

    claudi - 26.07.2008, 18:23


    3. Kapitel

    Ich hatte mir fest vorgenommen, Joana Landau zu hassen. Als Björn sie am Donnerstag vor den Ferien mitbrachte und ich die Brünette sah, die einem Hollywood Film entsprungen zu sein schien, wuchs dieser Hass noch mehr. Sie hatte meinen Bruder mit ihrer perfekten Figur und den blitzeblauen Augen betört und ich fragte mich nur, wie er auf so was reinfallen konnte.
    Björn hatte mich angerufen und mir gesagt, dass er Joana mitbringen würde. Ich solle also etwas Gutes kochen und mich von meiner besten Seite zeigen.
    „Denkste, Herzchen“, hatte ich mir nur gesagt und eine Salamipizza in die Mikrowelle geschoben, von der ich wusste, dass sie nur so vor Fett triefte. Ich mochte es, wenn die Salamis beinahe im Fett schwammen, aber ich konnte mir vorstellen, dass Joana Landau mit ihren schlanken Beinen nicht begeistert davon sein würde. Ich konnte mir bildlich vorstellen, was für ein entsetztes Gesicht sie machen würde, während sie sich ausmalte, wie viele Kalorien sie damit in sich hineinstopfen musste.
    Als Joana Landau mir dann ihre schlanke Hand entgegenstreckte, und ich daran den hübschen Silberring mit dem kleinen weißen Steinchen sah, nahm ich sie voll Abscheu und drückte kräftig zu.
    Ihre weißen, geraden Blend a med Zähne blitzten, als sie lächelte und sagte: „Freut mich dich kennen zu lernen, Sam. Dein Bruder hat mir schon viel von dir erzählt.“
    „Freut mich dir mitteilen zu dürfen, dass ich von dir Samira genannt werden will. Nur meine Freunde nennen mich Sam.“
    Björn klappte der Unterkiefer runter und er bekam einen hochroten Kopf. Ich sagte ihm, das Essen sei in der Küche und ich hätte den Appetit verloren. Dann schritt ich hoch erhobenen Hauptes an ihnen vorbei in mein Zimmer. Dort rieb ich mir erst mal die Hände und musste mir eingestehen, dass ich das wirklich hervorragend hinbekommen hatte.
    Ich konnte mir es natürlich nicht entgehen lassen zu hören, was Joana zu der Sache zu sagen hatte, schlich mich also auf Zehenspitzen runter und horchte an der Küchentür.
    „Ach komm schon, Schatz. Gib doch zu, dass du ihr erzählt hast, wie sehr ich Salamipizza liebe.“
    „Nein, wirklich nicht“, lachte Björn und diesmal war ich dran mit dem Kieferheruntergeklappe.
    „Liebling, ihr Benehmen tut mir wirklich leid.“
    „Mach dir keine Sorgen Björn. Ich kann sie verstehen, weißt du. Da kommst du eines schönen Tages einfach mit einer Frau an, die sie noch nie gesehen hat und sagst, dass du sie heiraten möchtest.“
    „Sie hat das zu akzeptieren“, gab Björn missmutig zurück.
    „Ja und genau das macht ihr zu schaffen. Sie hat nun mal niemanden außer dir.“
    Es gefiel mir nicht, dass sie es so genau getroffen hatte.
    „Bist du sicher, dass deine Familie sie bei sich haben will?“
    Joana lachte hell auf. „Sie sind schon alle gespannt auf sie. Ich bin sicher, dass sie mit ihr zurechtkommen werden.“
    Ich wandte mich angewidert ab. Warum hatte meine tolle Abschreckmethode nicht gewirkt? Na super, sie war also eine von den ganz besonders harten Nüssen. Wenigstens etwas hatten wir gemeneinsam.

    Am nächsten Morgen legte Björn, bevor er in die Arbeit fuhr, hundert Euro vor mich auf den Tisch. „Dein Benehmen gestern war grauenhaft, Sam. Das wird ab Sonntag anders, kapiert? Wir fahren am Montag morgen weg und dann kann ich dich nicht mehr kontrollieren, aber wehe ich höre auch nur die kleinste Klage über dich. Von dem Geld kaufst du dir heute nach der Schule was Anständiges.“ Er deutete auf den Hundert-Euro-Schein vor mir. „Du kaufst was feminines, klar? Etwas, das normale Mädchen in deinem Alter kaufen. Du brauchst ja nicht direkt das ganze Geld auszugeben. Und wenn du wieder in der Jungenabteilung kaufst, zieh ich dir das doppelte von deinem Taschengeld ab.“ Mit diesen Worten verließ er das Haus. Mann, war der sauer.
    Ich räkelte mich gemütlich auf meinem Stuhl in meinem ollen, viel zu kurzen Schlafanzug und stellte zufrieden fest, dass man mit hundert Euro eine Menge anstellen konnte.

    Das Erfreuliche an diesem Tag war, dass wir nur drei Stunden Schule hatten und das weniger Erfreuliche war, dass wir die Zeugnisse bekamen. Das Unerfreuliche dominierte auf jeden Fall, vor allem, als ich die zwei Fünfer in Mathe und Physik, sowie die Vierer in Politik, Wirtschaft und Französisch sah. Es war ja nicht so, dass ich nicht davon gewusst hätte, aber wenn man es schwarz auf zeugnisweiß sah, machte es irgendwie einen bedrohlicheren Eindruck.
    Trotz meines Versagens verließ ich hoch erhobenen Hauptes die Schule und schwor mir, in den Ferien keinen einzigen Gedanken daran zu verschwenden. Ich fragte Elm, ob er mit in die Stadt kam. Zum Shoppen war er nicht zu gebrauchen, da seine Mutter ihm immer seine Klamotten kaufte und er sich dem ohne Kommentar fügte. Aber für den Media Markt war er immer zu haben. Deshalb willigte er ein und wir gingen zu Fuß zum Zentrum der Stadt. Das Philippinum-Gymnasium war nicht weit davon entfernt.
    Unterwegs unterhielten wir uns über die Landaus. Ich beklagte mich ausführlich bei ihm, die Ferien in Limburg verbringen zu müssen.
    „Du kannst wie gesagt mit uns mit nach Kalifornien kommen, Sam“, bot Elm mir schon mindestens das fünfte Mal an.
    „Ich weiß, Elm, aber du weißt ja, wie Björn darüber denkt.“ Ich hätte nichts lieber getan, als zusammen mit Elms Familie zu ihrem Strandhaus in Kalifornien die Ferien zu verbringen. In den letzten Sommerferien war ich mitgewesen und es war einfach nur abgefahren gewesen, aber dieses Mal ließ Big Brother es nicht zu. Wir erreichten die Einkaufsstraße.
    „Elm“, sagte ich, „denk dich jetzt mal in Sandra hinein. In welches Geschäft würdest du gehen?“
    Es fiel ihm wirklich schwer, sich in Sandra hineinzudenken, und ich verübelte es ihm nicht. Der Unterschied zwischen ihm und der Klassenchica war auch einfach zu groß. Ich musste grinsen, als ich sein rotes, verschwitztes Gesicht mit Sandras zartem, geschminkten Barbiegesicht verglich.
    „Ich glaub’ in das da.“ Er zeigte mit seinem Wurstfinger auf den Tally Weijl.
    „Klar, warum bin ich da nicht schon früher drauf gekommen.“ Ich war noch nie in diesem Geschäft gewesen, weil sie ausschließlich Frauenkleidung führten. Und mir trat der Schweiß aus, als ich daran dachte, dass ich dort hinein musste.
    „Komm Elm, wagen wir uns in die Höhle des Löwen?“ Ein wenig zögernd ging ich auf das Geschäft zu, aus dem einem die grellen Neonlampen schon von weitem entgegenschienen.
    „Hey Sam, du erwartest doch nicht von mir, da rein zu gehen?“
    „Bitte, Elm. Komm schon! Du kannst mich doch jetzt nicht alleine lassen“, flehte ich und zog ihn einfach mit mir. Zugegeben, Elm fiel in diesem Laden auf, wie ein Erdklumpen zwischen Juwelen, aber ich brauchte wirklich Beistand.
    Die Musik dröhnte uns entgegen und der ganze Raum schien zu glitzern und zu funkeln von den vielen Strass-Steinchen und dem glänzenden Klimbim an den Klamotten. Die knapp bekleideten Angestellten sahen uns an, als kämen wir vom Mars. Und irgendwie fühlte ich mich in dem Moment auch so.
    „Okay Elm, such dir jetzt das Schlimmste raus, was du auftreiben kannst“, forderte ich ihn auf. „Du suchst nach einem Unterteil und ich nach einem Top.“ Und ich begann selbst, mich durch die Klamottenmassen zu arbeiten, die mehr preisgaben als verdeckten. Neongelb, pink, weiß, leuchteten mir entgegen und mir taten schon nach kurzer Zeit die Augen weh. Bis ich das fand, was ich suchte. Ein pinkfarbenes Neckholdertop mit tiefem, spitz zulaufendem Ausschnitt, das den halben Rücken freigab. Die Krönung war die Aufschrift aus Strasssteinchen „Totally Sexy“. Ich trug normalerweise die Größe M aber dieses Mal entschied ich mich für XS, so eng und grauenhaft wie möglich.
    Ich suchte den schwitzenden Elm auf, der auch keine schlechte Arbeit geleistet hatte. Ich entschied mich für einen weißen Mini-Rock, der an der einen Seite faltig verlief und wozu ein riesiger Gürtel mit silberner Schnalle gehörte, ebenfalls in XS. Ich ging in eine Kabine und zwängte mich in die Klamotten. Als ich heraustrat, entfuhr Elm ein Schrei. „Sam“, jammerte er, „bitte zieh das aus. Du siehst aus, als kämst du vom Strich.“ Er fuhr sich durch sein zerzaustes Haar und sah mich ungläubig an.
    „Hoffentlich ist Björns Reaktion ähnlich.“ Ich selbst erkannte mich in dem Fummel auch nicht wieder. Ich musste an die dicken Tussen denken, die sich in solche Kleidung quetschten, sodass das Fett aus allen Spalten rausquoll und war froh, dass es bei mir nichts gab, was herausschwappen konnte. Kurzerhand zog ich mich wieder aus, ging mit grimmiger Befriedigung zur Kasse und bezahlte den Ramsch. Es kostete nur 40,90 Euro. Mir blieb also noch genug Geld für ein paar aufreißerische Schuhe übrig. Ich schleppte Elm noch ins Buffalo-Schuhgeschäft und kaufte mir abscheulich hohe, weiße Sandalen, mit einem unglaublich dünnen Pfennigabsatz und einer riesigen, rosafarbenen Lederblume vorne drauf. Über das Gehen in diesen Folterinstrumenten machte ich mir vorerst keine Sorgen, das würde schon irgendwie klappen. Die Schuhe kosteten mich noch mal 49,99 Euro und von den restlichen 9,11 Euro spendierte ich Elm einen riesigen Schoko-Eisbecher und gönnte mir einen Erdbeershake. Elm war der festen Überzeugung, wir wären mindestens zehn Kilometer gelaufen obwohl ich mir sicher war, das es höchstens zwei gewesen waren.

    „Sam, kommst du? Wir sind spät dran.“ Björn war offensichtlich voller Vorfreude und das machte mich ganz krank. Ich hatte bereits meine Koffer gepackt und einfach meinen ganzen Kleiderschrank mitgenommen, schließlich waren es sechs Wochen, die ich in Limburg verbringen musste. Ich betone es noch mal: Gezwungenerweise!
    Ich stand gerade im Badezimmer und legte letzten Griff an mein Aussehen. Ich hatte überlegt, ob ich mich vielleicht schminken sollte, konnte mich aber doch nicht dazu überwinden. Meine Haare fielen mir offen über die Schultern. Fast bedauerte ich, dass meine Haare nicht ihre natürliche platinblonde Farbe hatten. Das hätte den Schock-Effekt noch verstärkt. Ich betrachtete mich noch einmal rundherum. Wunderbar schrecklich!, stellte ich zufrieden fest. Ich fühlte mich grauenvoll in diesen Klamotten, wie eine Wurst, aber alles war mir recht, um Björn eins auszuwischen. Er hatte die Klamotten noch nicht gesehen und ich hoffte, dass er sofort in Ohnmacht fallen würde, wenn er mich sah, das hätte uns die Landaus erspart.
    „Sam, beeil dich!“, tönte mein ungeduldiger Bruder von unten.
    „Ja, Bruderherzchen ich komme schon!“ Ich schlüpfte in meine Schuhe und stellte fest, dass es schwerer war darin zu laufen, als ich gedacht hatte. Ich machte zwei Schritte und knickte prompt um, rappelte mich aber sofort wieder auf. Wenn Sandra das konnte, konnte ich das auch!
    Ich hielt mich am Treppengeländer fest, als ich herunterkam und stakste aus dem Haus, wo Björn gerade damit beschäftigt war, meine Koffer im Auto zu verstauen.
    „Na endlich“, keuchte er, halb im Kofferrau steckend. „Ich hab deine Inliner mit eingepackt. Wir müssen uns beeilen. Hast du auch nichts vergessen?“ In diesem Moment drehte er sich um. Bei meinem Anblick riss er seine Augen auf. „Was zum... Sam!“ Er griff sich an den Kopf, das Entsetzen war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
    „Was siehst du mich so an? Ich habe das gekauft, was ein normales Mädchen in meinem Alter kaufen würde.“ Ich lächelte triumphierend. Entwaffnet!
    „Oh Gott! Bist du wahnsinnig?“
    „Nein, bin ich nicht. Du aber schon, deinem Gesicht nach zu urteilen“, gab ich zurück und stolzierte aufrecht, soweit es die Schuhe zuließen an ihm vorbei ins Auto. Er stand noch einige Momente reglos da, als müsse er sich sammeln. Dann stieg er ebenfalls wortlos ein. Er tat mir fast ein wenig leid.

    Zugegeben, das Haus der Landaus war nicht schlecht. Sie wohnten in einem ziemlich noblen Viertel in Limburg, in der Schlossgartenstraße 14. Das Haus lag in einem riesigen Garten, der von gepflegten Hecken und Rosensträuchern umgeben war. Überhaupt machte alles einen sehr ordentlichen, peniblen Eindruck. Das weiß verputzte Haus mit Fenstern, die von der Decke bis zum Boden reichten, war groß und machte auf mich irgendwie einen bedrohlichen Eindruck. Nicht weil es etwa düster gewesen wäre, sondern weil ich schon jetzt Angst hatte, ich könnte irgendetwas anfassen und es kaputt machen. Ich stakste hinter Björn her auf den Eingang zu, und er klingelte.
    Kurz darauf öffnete uns Joana die Tür, fiel Björn um den Hals und sie küssten sich, als hätten sie sich monatelang nicht mehr gesehen. Ich vollführte einen Augenlooping.
    „Hallo Samira, schön dich zu sehen“, sagte sie dann an mich gewandt und ich wusste nicht, wie sie es hinbekam, das ehrlich klingen zu lassen. Den Namen Samira zu hören war für mich ein echter Schock. Ich hasste es einfach, so genannt zu werden, aber ich erinnerte mich, ihr verständlich gemacht zu haben, dass ich von ihr so genannt werden wollte und sagte deshalb nichts.
    Ihr Blick streifte kurz meine Klamotten, aber sie schien weder erschrocken noch entsetzt zu sein. Mist! Gleich darauf kamen ihre Eltern dazu und begrüßten uns überschwänglich, wobei sie sich als Marion und Werner vorstellten. Marion war adrett gekleidet und um den Hals trug sie eine Perlenkette. Werner trug einen chices, sonnengelbes Polohemd und eine braune Cordhose. Mir viel auf, das Joana den beiden verblüffend ähnlich sah und obwohl ich mich gegen diese Leute verschworen hatte, musste ich zugeben, dass sie alle einen offenen und netten Eindruck machten. Ich meinte sogar ein bisschen besser verstehen zu können, warum Björn Joana heiraten wollte. So viel Geld konnte man sich doch einfach nicht entgehen lassen.
    Joanas jüngere Schwester Lydia tauchte auf, lief auf mich zu und reichte mir ihre Hand.
    „Hallo Sam“, begrüßte sie mich, als würde sich mich schon seit Ewigkeiten kennen, und sah mich mit ihren großen, grünen Augen neugierig an. Sie erzählte mir, dass sie zehn Jahre alt sei und beim Sprechen sah man ihre schiefen Schneidezähne.
    Die Erwachsenen gingen zusammen in das geräumige helle Wohnzimmer und Lydia packte meine Hand und zog mich die Treppe hoch zu ihrem Zimmer. Und zwar so schnell, dass ich das Gefühl hatte, jeden Moment hinzufallen. Bei diesen Schuhen bekam man ja beinahe Höhenangst.
    „Das hier ist mein Zimmer“, sagte sie und ließ sich auf ihr Bett fallen, worüber ein rosafarbener Himmel hing. Ich sah mich gründlich um. Ein typisches Mädchenzimmer, stellte ich sachlich fest. Alles in rosa und weiß. Die meisten Mädchen in Lydias Alter träumten wohl von so einem Zimmer, wobei ich daran denken musste, dass mir so etwas noch nie gefallen hatte.
    „Schön“, sagte ich nur, was hätte ich sonst sagen sollen?
    Das Schiefzahnmonster hatte sich aufgesetzt und betrachtete mich eingehend, wobei ihr Blick an meinen Schuhen hängen blieb.
    „Boah, hast du coole Schuhe“, sagte sie schließlich. Meinem üblen Gefühl nach zu urteilen entsprach das auch noch der Wahrheit.
    Ich lächelte gezwungen. „Danke!“
    „Meine Mama würde mir die nicht erlauben.“ Ihre Stimme klang bedauernd und ich freute mich. Die Landau-Eltern waren mit so etwas also nicht einverstanden. Das hatte ich hören wollen.
    „Aber du hast ja keine Mama mehr“, sagte sie weiter und langsam fing sie an, mich zu nerven. „Das hat mir Björn erzählt.“
    Na toll, warum hatte Björn nicht gleich von der Warze auf meinem rechten großen Zeh erzählt, wenn er schon dabei war? Noch ein „das hat Björn erzählt“ und ich würde ausrasten.
    „Lydia, Samira, kommt bitte runter essen!“, rief Marion von unten und die Nervensäge sprang sofort auf. Ich verschränkte meine Arme vor der Brust, damit sie nicht mehr meine Hand nehmen konnte, biss die Zähne zusammen und balancierte die Treppe herunter. Die reinste Tortur, kann ich nur sagen. Langsam fragte ich mich, ob das die Landaus überhaupt wert waren.
    Die Erwachsenen saßen schon alle am Tisch und ich setzte mich einfach Björn gegenüber, ohne dass ich dazu aufgefordert worden war. Lydia setzte sich neben mich und ich wunderte mich gerade, warum neben mir noch ein Gedeck stand, als Marion sagte: „Daniel lässt sich entschuldigen, er kommt erst ein bisschen später. Was war da noch mal Werner?“
    „Ein Nachhilfeschüler hat ihn kurzfristig um Hilfe gebeten. Er fährt Morgen in den Urlaub und wollte davor noch eine Nachhilfestunde haben.“
    „Ach genau, das war es.“ Marion warf ihrem Mann ein dankbares Lächeln zu. Die waren garantiert eines von diesen Ehepaaren, die ihre Sätze gegenseitig beendeten und nicht ohne den anderen schlafen konnten. „Wir sollen nicht auf ihn warten, weil er nicht genau weiß, wann er kommt.“
    Genau Daniel. Björn hatte Joanas Bruder erwähnt und ich konnte mir direkt vorstellen wie er aussah. Ein großer, schlaksiger Junge mit einer riesigen, runden Nickelbrille, hinter denen seine Augen übergroß schienen. Sicher hatte er auch noch lauter Pickel im Gesicht, trug ein hoch geschlossenes, blütenweißes Hemd mit einem dunkelblauen Burlingtonpollunder und einer grauen Hose mit messerscharfen Bügelfalten. Er war einer, der vor Neunmalklugheit nur so strotzte und in fünf Sekunden die Wurzel aus einer siebenstelligen Zahl zog. Einer, der halt nichts besseres zu tun hatte, als in seiner Freizeit Nachhilfestunden zu geben.
    „Lasst uns anfangen“, sagte Marion und ich wollte schon gerade nach den Kartoffeln greifen, als Werner plötzlich anfing zu beten: „Herr im Himmel, wir danken dir für die Speisen und bitten dich, sie an uns zu segnen. Danke, dass Björn und Samira hier sein dürfen. Amen.“ Alle stimmten mit ein, sogar Björn. Ich sah ihn ziemlich verdattert an und begegnete dabei seinem herausfordernden Blick, der besagte, dass ich es mit ihm zu tun bekam, wenn ich dagegen etwas einzuwenden hatte.
    Ist ja schon gut, antwortete mein Blick und ich wartete darauf, dass man mir etwas anbieten würde.
    Björn beteuerte bestimmt hundert mal, dass das Essen hervorragend schmeckte aber ich dachte gar nicht daran, ihm zuzustimmen, obwohl es tatsächlich köstlich war. Im Laufe des Mittagessens fragte Werner mich: „Und Samira, wie ist dein Zeugnis ausgefallen?“
    Wie konnte man nur so taktlos sein? Hatte Björn ihnen etwa nicht erzählt, was für eine Niete ich war?
    „Björn hat uns erzählt, dass du besonders in Bio und Chemie hervorragend bist“, fuhr da fort, als er seine Kartoffel herunter geschluckt hatte, als habe er meine Gedanken gelesen.
    Natürlich, irgendetwas musste mein Bruderherzchen ja erzählt haben und dann hatte er sich einfach das einzige Positive an mir ausgesucht.
    „Klar da hat er Recht, ich bin phänomenal in diesen Fächern. Überhaupt bin ich eigentlich eine hervorragende Schülerin. Meine Lehrerin hat mich richtig gelobt, diesmal in Mathe und Physik noch eine Fünf geschafft zu haben und in Politik, Wirtschaft und Französisch konnte ich es mit etwas Fleiß und Ergeiz auf eine Vier bringen.“ Ich lächelte strahlend, als würden mich diese Leistungen tatsächlich stolz machen. Allerdings, denke ich, hatte jeder die Ironie herausgehört. Zu meinem Erstaunen fing Werner schallend an zu lachen, klopfte mir mit seiner großen Hand auf die Schulter und sagte: „Das Mädchen gefällt mir.“ Er hatte die Sache wohl für einen Witz gehalten und ich ärgerte mich über so viel Dummheit. Ich war so wütend, dass ich „rein zufällig“ Lydias Glas anstieß, sodass sich der dunkelrote Kirschsaft über der strahlend weißen Tischdecke ergoss.
    „Ups, tut mir leid. Jetzt ist die schöne Tischdecke hin“, seufzte ich mit gespieltem Bedauern.
    „Mach dir keine Gedanken, das kriegen wir schon wieder hin“, versicherte Joana und ging mit ihrer Mutter in die offene Küche, um Tücher zu holen, womit man vielleicht noch ein bisschen was retten konnte.
    „Oh Sam, du bist ja ein richtiger Schussel“, sagte Lydia, und lachte glucksend. Anscheinend fand sie die ganze Sache richtig amüsant. Ich begann langsam ungeduldig zu werden. Konnte man diese Familie denn gar nicht aus der Ruhe bringen? Ich überlegte fieberhaft, was ich als nächstes anstellen konnte, während Joana und ihre Mutter versuchten, den Kirschsaft mit ihren Lappen wegzuwischen.
    Björn schien der einzige, den mein Benehmen störte, denn er warf mir immer wieder warnende Blicke zu.
    Ich nahm mir von der Salatplatte eine Karotte und begann, sie geräuschvoll zu verspeisen. Plötzlich fiel mir etwas ein. Ich biss ein großes Stück ab, kaute es eine Weile, und bevor ich es herunterschluckte, fragte ich Lydia, ob sie einen Unfall im Tunnel sehen wolle. Sie bejahte natürlich und ich öffnete meinen Mund voller Möhrenpatsche und zeigte ihn ihr.
    „Iiiiiih“, schrie sie und lachte begeistert.
    „Sam!“, rief Björn mir zu. Er war dunkelrot angelaufen.
    „Was denn?“, sagte ich scheinheilig, immer noch den Möhrenbrei im Mund. „Das hast du mir doch mal beigebracht.“
    Ich hatte das Gefühl, dass er um ein paar Zentimeter kleiner wurde auf seinem Stuhl und lachte in mich hinein. Betretenes Schweigen. Na endlich zeigte sich eine Wirkung. Die nächsten Minuten zeigte Lydia uns so oft den Unfall im Tunnel, dass es mir schon bald auf die Nerven ging, bis Werner schließlich freundlich aber bestimmt sagte: „Schluss jetzt. Wir haben es alle gesehen.“
    Ich begann nach einiger Zeit auf meinem Stuhl zu kippeln. Björn hasste das. Er tötete mich fast mit seinen Blicken, aber ich dachte nicht daran aufzuhören, sondern schaukelte noch stärker. Ich hatte es wahrscheinlich ein wenig übertrieben, denn auf einmal verlor ich das Gleichgewicht und merkte, wie ich das Übergewicht bekam, versuchte mich noch irgendwo festzuhalten, griff dabei aber dummerweise nach meinem noch halbvollen Teller und riss ihn mit einem durchdringenden Aufschrei mit.
    In diesem Moment hörte ich, wie die Tür aufging und jemand, „Hallo, ’tschuldigung, dass es so lang gedauert...“, sagte. Das musste Daniel sein. Ich konnte ihn nicht sehen, weil mir meine Haare wirr im Gesicht hingen und mir die Sicht verdeckten. Eine peinliche Stille kehrte ein. Ich spürte die Blicke aller Anwesenden auf mir und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Das erste, was ich sah, war die Weinsoße, die mein Top besprenkelt hatte. Das Steak lag auf meinem Bauch, der zerbrochene Teller und die Kartoffeln hatten sich auf dem Boden verteilt.
    „Da ist wohl ein kleines Missgeschick passiert.“ Erst jetzt sah ich zu meinem „Streber-Pickel-Daniel“ auf. Was ich sah war alles andere als das, was ich mir ausgemalt hatte. Er hatte dunkelbraunes Haar, trug normale Jeans statt einer Faltenhose, ein rotes Puma T-Shirt, was ihm hervorragend stand und seine braune Hautfarbe ließ darauf schließen, dass er absolut kein Stubenhocker war. Und die Augen... ich hatte noch nie in meinem Leben solche blauen Augen gesehen. Ich starrte ihn perplex an und hatte ganz vergessen, in was für einer Haltung ich auf dem Boden lag. Ich riss meinen Blick von ihm los und versuchte aufzustehen, was sich aber als ganz schön schwierig erwies mit meinem Mini-Rock und meinen hochhackigen Schuhen.
    Daniel kam zu mir und zog mich einfach hoch. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er und ich nickte. „Ja“, sagte ich, aber es klang völlig tonlos. Noch nie in meinem Leben fühlte ich mich so grauenhaft bloßgestellt und so bodenlos blamiert. Missgeschicke machten mir normalerweise nie was aus und aus Jungs machte ich mir noch weniger etwas, aber Daniel... Ich war noch nie einem so gut aussehenden Typen begegnet. Hilfe, dachte ich nur noch, so helft mir doch.
    Ich hatte das Gefühl, vollkommen nackt vor ihm zu stehen. Der Rock war auf einmal viel kürzer als vorher und das Top löste sich praktisch in Luft auf. Trotzdem kniete ich mich hin und sammelte die Kartoffeln und die Scherben auf.
    „Lass mich das machen, Samira“, sagte Joana und hockte sich neben mich. „Daniel, zeig ihr doch bitte die Toilette.“
    „Klar.“ Er lächelte mir zu, wobei seine strahlend weißen Zähne blitzten. In der rechten Wange bildete sich dabei ein kleines Grübchen. Ich folgte ihm mechanisch aus dem Esszimmer. Das Klacken meiner Schuhe auf den Fließen schien mir ohrenbetäubend laut und war mir unglaublich peinlich. Meine Knie waren wie Butter und da passierte es: Ich knickte um und fiel seitwärts auf den harten Boden.
    „Oh, hast du dir weh getan?“ Daniel war wieder neben mir und reichte mir die Hand. Ich wollte mich daran hochziehen, fiel aber sofort wieder, da ich mit den dünnen Stöckeln auf dem glatten Boden ausrutschte.
    „Für die Schuhe braucht man ja einen Führerschein“, sagte er schließlich, packte mich bei den Schultern und zog mich so hoch.
    „Alles in Ordnung?“, fragte er wieder, schon das zweite Mal in fünf Minuten. Ich kannte diesen aus dem Modelkatalog entsprungen zu scheinenden Kerl gerade mal fünf Minuten lang, und das einzige, was er gesagt hatte war: „Ist alles in Ordnung?“ und „hast du dir weh getan?“ Ich konnte es einfach nicht glauben.
    Er zeigte mir das Bad und schlug vor, dass ich mich umziehen sollte. Ich nickte nur zu diesem Vorschlag, weil ich einfach zu nichts anderem im Stande war und er ging ins Esszimmer um Björn zu bitten meine Sachen aus dem Auto zu holen. Schließlich kam er wieder, brachte mir meine Koffer und wir gingen zusammen in das Zimmer, in dem ich die nächsten sechs Wochen wohnen sollte.
    „Zieh dich um. Ich warte hier draußen auf dich, damit du dich nicht verirrst.“ Er zwinkerte mir lächelnd zu, aber ich wusste, dass er völlig ernst meinte, was er gesagt hatte. Er hielt mich wahrscheinlich für einen stummen Trottel, dem die Erdanziehungskraft reichlich Probleme bereitete und in diesem Moment fühlte ich mich auch so.
    Am Abend, als alle beisammen saßen und erzählten, schlich ich mich heimlich raus, suchte die graue Tonne auf und schmiss die Chica-Klamotten, mitsamt den Schuhen hinein. Keine Minute meines Lebens wollte ich an den heutigen Tag erinnert werden.



    Re: Geschichte!

    Ruth - 26.07.2008, 21:24


    cooooool :lol: weeeeiter! :D



    Re: Geschichte!

    LillyRose - 27.07.2008, 17:21


    oh ja bitte bitte schnell weiter!!!!
    Die Geschichte gefällt mir total :D



    Re: Geschichte!

    Elda - 27.07.2008, 18:50


    Jaa die ist voll cool
    Weiter :!:



    Re: Geschichte!

    claudi - 27.07.2008, 21:43


    gut!!



    4. Kapitel

    Was sollte ich jetzt tun? Ich hatte mir geschworen, Björn gründlich zu blamieren. Aber ich konnte mich doch nicht vor Daniel so aufführen. Ich wusste auch nicht, was plötzlich in mich gefahren war. Seit wann interessierte ich mich für Jungen? Die Antwort war verblüffend einfach: Ich interessierte mich nicht für Jungen, ich interessierte mich für Daniel. Er musste irgend eine magische Wirkung auf mich ausüben, oder so. Und eines war klar, ich würde mich vor ihm auf keinen Fall mehr zum Affen machen.
    Marion hatte uns beim Abendessen gesagt, wir sollten morgen um acht Uhr schon am Frühstückstisch sein, damit wir uns von Joana und Björn verabschieden konnten, die anschließend zu ihren Freunden fahren sollten, von da aus zum Frankfurter Flughafen und dann ab nach Griechenland.
    Ich war ein ziemlicher Morgenmuffel, hatte meine Handy aber vorsorglich auf 7.30 Uhr gestellt, damit ich um acht auch ja wach war, aber natürlich hörte ich das wilde Gepiepse in meinem tiefen Schlaf nicht und wachte deshalb erst auf, als ich von draußen Lydias durchdringendes Lachen vernahm. Ich sah auf meine Uhr. Mist schon acht. Ich schälte mich verschlafen aus meinem Bett. Normalerweise lief bei mir in den Ferien vor zehn noch überhaupt nichts. Ich schlüpfte in meine riesigen Plüschhausschuhe und schlurfte müde die Treppen hinunter. Ich musste mir Mühe geben überhaupt die Augen offen zu halten.
    Ich betrat das Esszimmer und brachte ein versöhnendes „Morgen. ’Tschuldigung, dass ich so spät dran bin“, zustande und plötzlich traf mich der Schlag. Alle waren ordentlich gekleidet, gekämmt und sauber. Ich sah an meiner jämmerlichen Gestalt mit dem lächerlichen ollen Micky Maus Schlafanzug herunter, den Björn schon angehabt hatte und vor ihm wahrscheinlich auch noch ein halbes duzend Generationen von Verwandten, außerdem standen meine Haare mir wirr um den Kopf.
    Lydia brach wieder in ihr albernes Gelächter aus, Daniel stimmte ein und bald lachte der ganze Tisch, sogar Björn. Ich wünschte mir ein Loch in den Boden, aber immerhin war mir diese Reaktion lieber als das betretene Schweigen von gestern. Ich war es gewohnt in den Ferien im Schlafanzug zu essen und hatte mir gar keine Gedanken darum gemacht, dass es hier anders sein könnte.
    „Ich zieh mich dann mal schnell um“, sagte ich, aber Werner hielt mich zurück. „Nein, bleib doch jetzt hier, ist doch halb so schlimm. Du kannst morgens so frühstücken wie du möchtest, schließlich hast du ja Ferien. Fühl dich wie zu Hause.“
    Ich lächelte. Ganz wie sie meinten. Vielleicht würde er seine Worte irgendwann bereuen, aber dann war er selbst dran schuld. Ich nahm mir zumindest vor, mich ganz wie zu Hause zu fühlen. Sie würden mich, Sam Schäfer, noch kennen lernen.
    Nach dem Essen verabschiedeten wir uns von Joana und Björn. Ich reichte meiner zukünftigen Schwägerin etwas steif die Hand und umarmte Björn. Dabei raunte er mir ins Ohr: „Wehe du machst so weiter wie bisher.“ Dann küsste er mich auf die Stirn, stieg zusammen mit seiner Verlobten in unseren Passat und brauste davon. Ich nahm mir vor, noch eine Runde zu schlafen, aber Lydia hinderte mich daran.
    „Bitte, bitte, Sam. Spiel was mit mir“, bettelte sie.
    Ich rollte innerlich die Augen und hatte keinen Bock auf ihr nerventötendes Gelächter, willigte aber doch ein. Was hätte ich tun sollen? Ich zog mir ein T-Shirt und eine kurze Hose an (alles natürlich hundertpro bequem!) und wir setzten uns auf die Terrasse.
    „Was für ein Brettspiel willst du spielen?“ Lydia zählte mir hundert verschiedene Spiele auf und sie hätte wohl auch noch weitere hundert angegeben, wenn ich sie nicht mittendrin unterbrochen hätte.
    „Such das Spiel aus, das dir am besten gefällt.“
    „Okay“, sie lief ins Haus, um was zu holen, und ich genoss die Stille ohne sie. Während ich so in Gedanken versunken war, hörte ich auf einmal ein „Buh“ direkt hinter mir. Daniel war angekommen und hatte mich so dermaßen erschreckt, dass ich fast vom Stuhl gefallen wäre. Er lachte über seinen gelungenen Scherz. Überhaupt lachten die Landaus ziemlich viel.
    „Was habt ihr vor?“, fragte er und ließ sich in den Stuhl neben mir sinken. Auch er trug Shorts und Flip-Flops.
    „Deine Schwester sucht gerade irgend ein Brettspiel aus“, antwortete ich und musste mich zwingen, ihn nicht anzustarren.
    „Nimm dich in acht, sie liebt es zu spielen. Sie wird versuchen dich die ganzen sechs Wochen zum Spielen zu überreden.“
    Ich lachte. Nicht unbedingt weil ich es besonders lustig fand, sondern einfach, weil er es lustig fand. Vielleicht schadete es mir auch nicht, ein bisschen mehr zu lachen.
    Lydia kam mit „Elfer raus“ zurück und erklärte, sie wolle „Mogeln“ spielen. Daniel schien ganz begeistert davon zu sein und bat, mitspielen zu dürfen. Marion kam mit einem Tablett Zitronenlimonade zurück und wollte auch unbedingt mitmachen. Die Spielregeln waren einfach. Man musste seine Karten so schnell wie möglich loswerden, indem man sie der Reihe nach verdeckt ablegte. Dabei konnte man aber nach allen Arten mogeln und beispielsweise heimlich ein paar Karten verschwinden lassen. Wurde man erwischt, erhielt man Strafkarten dazu. Daniel warnte uns schon im Voraus, dass er im Mogeln unschlagbar war und Lydia beobachtete ihn die ganze Zeit genau und rief jedes Mal, wenn er eine Karte ablegte: „Gemogelt.“ Meistens war es falsch und sie bekam Strafkarten, so dass Daniel am Ende tatsächlich gewann.
    „Was hab ich dir gesagt, Schwesterherz?“ Er lachte triumphierend und stand von seinem Stuhl auf. Aus seinem T-Shirt segelten mindestens zwanzig Karten heraus.
    „Mann, wie schaffst du das?“ Lydia tat beleidigt und ihr Bruder stichelte sie so lange, bis Marion dazwischenfuhr. „Daniel, lass deine arme Schwester in Ruhe. Nehmt euch lieber eine Limo und seid friedlich.“
    Es war beruhigend zu wissen, dass nicht nur Björn und ich uns stritten.

    „Kommst du mit joggen?“ Daniel stand im Rahmen meiner Zimmertür. Ich war gerade dabei, mit Lydia Karten zu spielen. Wie eigentlich schon den ganzen Tag.
    „Klar“, sagte ich natürlich. „Ich brauch nur zwei Minuten.“
    „Kann ich mit?“, fragte die nervige Lydia.
    „Du weißt genau, was dann passiert: Du kommst nicht hinterher und motzt die ganze Zeit rum“, antwortete Daniel und an mich gewandt sagte er, dass er im Wohnzimmer warten würde. Ich versprach Lydia, mit ihr noch eine Runde zu spielen, wenn ich zurückkam und sie gab sich tatsächlich zufrieden. Ich zog mir meine Adidas Sporthose und das passende T-Shirt dazu an, das Björn mir zu Ostern geschenkt hatte. Die Hose war für meinen Geschmack etwas zu eng aber andererseits hatte Björn ja auch recht: Labbersachen waren beim Sport ziemlich hinderlich.
    Wir joggten einen ruhigen Waldweg entlang.
    „Läufst du immer diese Strecke?“, fragte ich ihn, schön darauf achtend, die Luft durch die Nase ein- und durch den Mund auszuatmen, um Seitenstechen zu vermeiden.
    „Ich wechsle eigentlich, aber das hier ist die ruhigste. Meine Lieblingstrecke.“
    Nach einer Weile fiel es mir schon schwer mit ihm mitzuhalten, aber ich hätte mir lieber die Zunge abgeschnitten, als das zuzugeben. Ich biss also die Zähne zusammen und lief einfach weiter. Es wehte ein angenehmer Wind, der wenigstens ein bisschen mein heißes Gesicht kühlte. Wir sprachen die ganze Strecke nichts, bis er schließlich nach ungefähr einer Ewigkeit anhielt und verkündete, dass wir uns jetzt dehnen würden. Mir kam das sehr gelegen und ich musste mich beherrschen, nicht wie ein Ertrinkender nach Luft zu schnappen. Er schien keine Probleme damit zu haben, seine Atmung ging fast normal.
    Er zeigte mir einige Dehnübungen und ich dehnte meine Beine so lange, dass ich schon Angst bekam, sie würden noch ausleiern.
    „War das Tempo so in Ordnung oder willst du ein bisschen langsamer machen?“, fragte er mich und ich Einfaltspinsel sagte ihm auch noch, dass es so okay war. Ich war halb tot, als wir wieder zu Hause waren und wollte erst mal eine kalte Dusche nehmen, doch Marion hielt mich zurück.
    „Björn hat angerufen, sie sind angekommen. Das Hotel ist wunderschön, genau wie das Wetter.“
    „Na dann“, sagte ich nur und ging sofort unter die Dusche.
    Das eisige Wasser half mir, wieder klar zu denken. Und was mir so einfiel, gefiel mir überhaupt nicht. Ich war dabei, mich zum Idioten zu machen und das wegen einem Jungen. Das durfte einfach nicht wahr sein. Ich rieb mich mit meinem Duschgel so kräftig ein, dass mir die Augen brannten.
    Das darf auf jeden Fall nicht so weitergehen, dachte ich. Aber ließ sich so was einfach ein- und abstellen? Mit Sicherheit nicht, sonst wäre es gar nicht erst passiert. *. Ich hatte wirklich keine Ahnung davon. War ich eigentlich bescheuert? Mich Sam Schäfer, würden doch ein Paar blaue Augen nicht aus der Ruhe bringen. Schon gar nicht die eines Landaus. Okay, okay. Daniel Landau war ein gutaussehender Kerl, na und? Es gibt viele gutaussehendere Typen. Nur wen? Brad Pitt? Klar! Toll!
    Ich stieg aus der Dusche und verbrachte übertrieben lange damit, mir die Haare zu fönen. Ich ertappte mich dabei, wie ich mein Gesicht eingehend betrachtete und mich fragte, ob ich wohl gutaussehend war. Könnte sein, dass meine grünen Augen mit den dunklen Wimpern was hatten. Ich hatte auch eine gerade Nase, eine ziemlich selten reine Haut und meine Lippen, okay vielleicht nicht wie die von Scarlett Johansson, aber schmal konnte man sie auf jeden Fall nicht nennen... Idiotisch, langsam wurde ich idiotisch. Ich zog meinem Spiegelbild eine grässliche Fratze und war zufrieden, was für eine Hässlichkeit sich dabei offenbarte. Gut, dann war das ja schon mal geklärt. Es war erst neun Uhr, aber ich war so müde, dass ich sofort ins Bett fiel und noch nicht mal merkte, wie Lydia irgendwann reinkam und mich an mein Versprechen erinnern wollte.

    Am nächsten Abend fragte Daniel, ob ich Lust hatte, mit zu seiner Band-Probe zu kommen. Er sah also nicht nur gut aus, sondern war auch noch musikalisch.
    Selbstverständlich willigte ich ein, obwohl ich eigentlich absolut keinen Bezug zur Musik hatte und mich auch nicht dafür interessierte. Ich hörte keine bestimmte Musik, war in dieser Richtung also völlig unvoreingenommen.
    Daniel packte seine Gitarre in den Kofferraum seines Peugeots und wir fuhren los.
    Mir fiel auf, dass er ganz im Gegensatz zu mir, eine genaue Vorstellung von guter Musik haben musste, denn sein Auto war voller CD’s. Michael W. Smith, Brian Littrell, Brian Doerksen, alles Typen, von denen ich noch nichts gehört hatte. Aber die Titel der Lieder ließen darauf schließen, dass es sich um christliche Musik handelte.
    „Willst du mal hören?“, fragte er und schob, ohne auf eine Antwort zu warten, die Brian Littrell CD rein.
    „Was hörst du so?“, fragte er mich.
    „Ich höre kaum Musik und wenn, dann nichts Bestimmtes“, antwortete ich und dabei wurde mir klar, wie komisch das für einen Musikliebhaber klingen musste. „Erzähl mir was von deiner Band“, forderte ich ihn auf.
    „Ich hab sie mit Freunden vor etwa vier Jahren gegründet, da waren wir vierzehnjährige Jungs, die alle so sein wollten wie Elvis Presley.“ Er grinste bei dieser Erinnerung. „Wir treffen uns seitdem regelmäßig im Keller von Steffens Haus und proben. Ab und zu werden wir auch zu einem Worship-Konzert eingeladen. Wir machen christliche Musik. Steffen spielt Schlagzeug, Jan spielt Keyboard und singt, Olli spielt E-Gitarre und Bass, dann haben wir noch Kai den Cellisten und meine Wenigkeit, die singt und alle Arten von Gitarre spielt.“
    „Wow, nicht schlecht, ihr habt ja alle Instrumente drin.“
    „Nicht ganz“, lachte er. „Es ist cool, wenn einem so viele verschiedene Instrumente zur Verfügung stehen. Du kannst nämlich um so mehr verschiedene Dinge ausdrücken, die mit Texten nicht zu machen sind. So kannst du die Zuhörer immer in die gewünschte Stimmung versetzten. Hat man zum Beispiel ein feuriges Lied, von dem man das Publikum begeistern will, wählt man Schlagzeug. Ein anspruchsvoller Text verlangt eine möglichst einfache Melodie mit wenigen Instrumenten. Dafür eignet sich die Gitarre bestens.“
    Ich war wirklich beeindruckt. „Und die Songs, schreibt ihr die selbst?“
    „Ich schreibe sie meistens und dann besprechen wir sie alle zusammen.“
    Daniel blinkte nach links, bog von der Hauptstraße in die Werkgasse ein und parkte vor einem kleinen, efeubewachsenen Häuschen.
    „So, da wären wir schon. Die Jungs werden dir sicher gefallen.“
    Ich lächelte nur. Ich hätte ihm doch nicht sagen können, dass mir außer ihm noch nie in meinem Leben ein Junge gefallen hatte und sicherlich auch nie gefallen würde.
    Daniel klingelte und eine Frau im mittleren Alter, die mich unangenehmer Weise an meine Französischlehrerin Frau Anciaux erinnerte, öffnete. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie uns mit „Bonjour tout le monde“, begrüßt hätte und ich war tatsächlich so mit diesem Gedanken beschäftigt, dass ich auf ihr „Hallo, schön das ihr gekommen seid“, doch tatsächlich „Bonjour Madame“, erwiderte. Ich biss mir auf die Lippen, aber sie schien es als Scherz aufgenommen zu haben, denn sie lächelte nur belustigt und Daniel hatte es zum Glück gar nicht erst mitbekommen. „Sind die andern schon alle da, Sina?“, fragte er stattdessen.
    „Ja. Und ihr habt noch mehr Besuch“, antwortete Sina geheimnisvoll.
    „Wieder die Mädchen?“ Es klang irgendwie nicht so begeistert.
    „Genau.“
    Ich folgte ihm eine geflieste Treppe runter in den Keller und uns schlug schon das Stimmengewirr entgegen, bevor wir den Raum überhaupt betreten hatten.
    Mich traf fast der Schlag, als ich die vier Tussen sah, die sich um die Jungen drängten, die gerade dabei waren, ihre Instrumente anzuschließen oder zu stimmen. Bei unserem Eintreten, waren alle Köpfe herumgeschnellt.
    „Mal wieder pünktlich wie die Eisenbahn“, rief ein etwas Kräftigerer, dem schon der Schweiß über das Gesicht lief und der gerade seine E-Gitarre stimmte, also Ollie. Er erinnerte mich komischerweise an Elm.
    „Hi Danny“, begrüßten ihn die Mädchen und es klang irgendwie nach hysterischen Fans, deren Idol gerade zum Autogrammgeben aufgetaucht war, aber ich neige in solchen Fällen leicht zum Übertreiben.
    „Hallo Leute“, grüßte Daniel zurück. „Ich hab jemanden mitgebracht.“
    Plötzlich glotzten mich sechzehn Augen an. Es gab nichts, was ich mehr hasste.
    „Das ist Sam.“ Er klopfte mir auf die Schulter. „Seid lieb zu ihr, sie ist die Schwester meines zukünftigen Schwagers.“
    „Hi“, sagte ich.
    „Ach echt? Die Schwester von Björn?“, fiel es Jan hinter seinem Keyboard auf und ich fragte mich, wie oft Björn schon hier gewesen war. Ein „Ich bin Björns Schwester“, schien in jedem Fall zu reichen, um sofort erkannt zu werden.
    „Herzlich Willkommen, Sam“, meldete sich nun auch die Bohnenstange Kai, der hinter seinem Cello irgendwie verloren wirkte.
    Die Mädels starrten mich nur eifersüchtig an und meine Hau-drauf-Reflexe meldeten sich durch ein verräterisches Kribbeln in meinen Händen.
    „Lasst uns keine Zeit mehr verschwenden. Wir müssen den neuen Song noch mal ordentlich proben.“ Daniel nahm einen Hocker. „Setz dich und fühl dich wie zu Hause“, sagte er zu mir und lächelte tröstend, als habe er gemerkt, dass mir diese ganze Sache nicht so behagte. Dann nahm er sich selbst einen, setzte sich darauf und stimmte seine Gitarre. Die Augen der Mädchen hingen wie gebannt an jeder seiner Bewegungen.
    Ollie hatte ihm einen Notenständer gebracht mit einigen Blättern drauf.
    „Gut, fangen wir an.“ Daniel blätterte kurz in seinen Noten. „Lasst uns als Aufwärmübung das Instrumentale spielen.
    Er zählte bis drei und alle setzten perfekt zur gleichen Zeit ein. Es hörte sich wirklich klasse an, das merkte sogar ich, die keinen blassen Schimmer von Musik hatte.
    „Das war schon gut“, kommentierte Daniel.
    „Das war geil“, sagte eines der Mädchen und jeder Anwesende wusste wahrscheinlich, dass sie ausschließlich Daniel damit meinte.
    „Danke, Verena. Spielen wir jetzt Your word.“
    Es gab ein Vorspiel, nur mit Gitarre und leiser Klavierbegleitung, wozu Steffen nur in einem einfachen Takt die Base Drum spielte. Plötzlich setzte Daniel mit dem Text ein und von der Seite der Tussen war ein hörbares Aufseufzen zu vernehmen. Diesmal nahm ich es ihnen aber nicht übel, denn wenn ich gekonnt hätte, hätte ich auch aufgeseufzt, doch mir blieb alles im Hals stecken. Daniels Stimme war einsame Spitze. Kräftig, aber gleichzeitig irgendwie so beruhigend. Ich war mir sicher, dass er bei „Deutschland sucht den Superstar“ locker gewonnen hätte. Seine Stimme verzauberte, fesselte einen regelrecht. Er vollbrachte mühelos kunstvolle Schlenker, sang einmal laut und ausdrucksvoll und einmal leise und warm.
    Ich starrte ihn den ganzen Abend nur noch an. Wartete in den Pausen, in denen sie über irgendeinen Part diskutierten, der nicht gut geklappt hatte, ungeduldig darauf, dass er wieder singen würde. Ich wartete mit richtiger Vorfreude darauf und versank wieder in völliger Betäubung, wenn er sang. Sogar die begeisterten Zwischenrufe der Mädchen entgingen mir.
    Sie spielten noch das ein oder andere Lied durch, eins besser als das andere und ich war richtig enttäuscht, als Daniel verkündete, es sei genug für diesen Abend.

    „Und, was hältst du davon?“, fragte er mich auf dem Nachhauseweg. Ich hatte mich noch gar nicht zu der Leistung seiner Band geäußert, denn das hatten die Tussen ausführlich genug getan. Was sollte ich schon sagen? „Dan, ich liebe deine Stimme?“
    „Ihr seid super gut“, sagte ich deshalb, ohne dabei speziell auf seine Stimme einzugehen. „Habt ihr schon mal überlegt, eine CD aufzunehmen?“
    „Uns hat eine Plattenfirma ein Angebot gemacht.“
    Ich war baff. „Wow, und?“
    Er atmete tief ein. „Wir wissen es noch nicht.“
    „Was gibt es denn da zu überlegen? Das wäre der absolute Hammer. Euer Album würde einschlagen wie eine Bombe.“
    „Genau da liegt das Problem.“
    „Was für ein Problem bitteschön?“
    „Überleg doch mal, Sam. Würdest du das wollen, an meiner Stelle meine ich? Die meisten denken an das Geld, das man damit verdient und die Anerkennung bei den Leuten. Aber was das alles mit sich bringt...Ich glaube kaum, dass mir der Erfolg unbedingt gut tun würde.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin dagegen. Ich hab den Jungs gesagt, dass ich ihnen die Chance nicht nehmen will und wenn sie wollen, sollen sie sie auch nutzten, aber ich steige dann aus.“
    In meinem Hirn arbeitete es. Was für ein Mensch war Daniel Landau? Mir dämmerte es langsam. Ein populärer von allen geliebter junger Mann, der immer und überall gegen seinen Willen im Rampenlicht stand. Es musste schrecklich sein.
    „Ich denke, ich würde dasselbe tun“, antwortete ich deshalb.
    „Echt?“ Sein Blick war so verwundert, dass ich annahm, die Einzige zu sein, die ihn verstand.
    „Ja, ich meine, wo solltet ihr dann noch Proben, wenn jetzt schon der Keller voller Fans ist?“
    Er lachte. „Das waren übrigens Mädels aus meiner Klasse.“
    „Ah ja.“
    „Du magst sie nicht?“
    „Du?“
    „Warum sollte ich nicht?“
    „Pfff“, machte ich und er lachte wieder. „Gibt es eigentlich Menschen, die dich nicht mögen oder die du nicht magst?“
    „Die Welt ist sicher voll solcher Menschen. Wenn ich eine CD aufnehmen würde, würden sie mich alle kennen, kein schöner Gedanke, oder?“
    „Allerdings nicht.“
    „Hast du Hunger?“, wechselte er dann das Thema.
    In dem Moment knurrte mein Magen und wir fingen beide an zu lachen.
    „Das war dann wohl ein Ja?“
    „Ich glaube schon.“
    „Magst du Döner?“
    Ich verzog das Gesicht. „Ich kann’s mir nicht vorstellen.“
    „Sag bloß, du hast noch nie welchen gegessen?“
    „Björn hat mich mehr als einmal davor gewarnt.“
    „Ach Blödsinn. Das schmeckt umwerfend.“ Er bog in eine kleine Gasse ein und schaltete die Scheibenwischer ein, denn es hatte angefangen zu regnen. Er parkte vor einer kleinen Dönerbude, stieg aus und ich folgte ihm in das warme Häuschen. Björn hatte mir bestimmt schon hundertmal erzählt, wie unhygienisch die Dönerbuden waren, aber die hier machte zumindest nicht diesen Eindruck. Vielleicht war Björn auch einfach nicht derjenige, auf dessen Urteil man wirklich vertrauen sollte. Daniel zumindest mochte sie, also beschloss ich, sie auch zu mögen.
    Bei unserem Eintreten hatte sich das Gesicht des Türken an der Theke aufgehellt.
    „Daniel, mein Freund“, rief er mit ausgebreiteten Armen. „Was geht?“
    Die beiden begrüßten sich per Handschlag. „Bei mir ist alles klar, wie steht’s mit dir Volkan?“
    „Bestens, wenn du da bist.“
    Noch ein Daniel-Anhänger also.
    „Was hast du für eine schöne Mädchen mitgebracht, meine Freund?“, fragte Volkan, als er mich bemerkte.
    „Hi“, sagte ich.
    „Dein Mädchen?“, fragte er mit einem Augenzwinkern.
    „Sie gehört bald zur Familie.“
    „Ah, Schwester von Björn?“
    Mein Lächeln gefror. Das durfte doch nicht wahr sein. Woher kannte ein Dönerverkäufer Björn, den Dönerhasser?
    „Ich habe ihm von deinem Bruder erzählt“, sagte Dan, als habe er meine Gedanken gelesen.
    „Was darf’s denn sein, für meine Freund und dem schönes Mädchen?“
    „Das schöne Mädchen hat noch nie einen Döner gegessen, Volkan. Gib dir Mühe, dass sie nachher nichts anderes mehr will. Und für mich auch noch einen. Ohne Knoblauchsoße, wie immer.“
    „Ich mach dir beste Döner, den du in deine Leben essen wirst“, sagte er zu mir und machte sich an die Arbeit.
    Ich beobachtete fasziniert, wie er zwei viertel Fladenbrot auf einem kleinen Öfchen aufwärmte und dann von dem aufgespießten riesigen Batzen Fleisch mit einem Spezialmesser Stücke abschälte. Dann füllte er das Fladenbrot mit extra viel Salat, Gurken und Tomaten und gab Jogurtsoße dazu. Er packte die beiden Döner in Alufolie. „Drei Euro, meine Freund. Zur Feier des Tages, weil Mädchen erste Mal Döner isst, einer umsonst.“
    Daniel lachte mal wieder, bedankte sich und verabschiedete sich. Wir mussten versprechen, wiederzukommen, um ihm zu sagen, wie mir der Döner geschmeckt hatte, dann gingen wir zurück zum Auto.
    Ich hatte noch nie etwas Besseres gegessen, aber vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil ich so hungrig war und weil Daniel neben mir saß. Wahrscheinlich hätte mir jetzt sogar Haferschleimsuppe geschmeckt.
    Wir fuhren nach Hause. Es war ein Uhr, als wir ankamen. Wir schlichen uns auf leisen Sohlen in unsere Zimmer, Dan wünschte mir eine gute Nacht und ich war sicher, dass ich bestens schlafen würde.



    Re: Geschichte!

    Ruth - 28.07.2008, 10:03


    das ist eine so schöne geschichte, wirklich!!!!! schnell weiter!!!



    Re: Geschichte!

    LillyRose - 28.07.2008, 18:30


    ja weiter. Die story ist super! :D



    Re: Geschichte!

    claudi - 29.07.2008, 11:55


    5. Kapitel

    Das laute Vibrieren meines Handys, das ich mir ja auf halb acht gestellt hatte, hörte ich noch nicht mal, so fest schlief ich. Als ich dann um halb elf endlich erwachte, schien die Sonne strahlend durch die Rollladen und besprenkelte die Wand mit hellen Flecken. Ich war noch immer müde und hätte sicherlich noch zwei weitere Stunden schlafen können, aber ich hatte immer so ein schlechtes Gewissen, wenn ich den halben Tag verschlief. Man schläft insgesamt schon genug. Wie ich gehört hatte verbrachte man ein drittel seines Lebens im Bett, bei der Lebenserwartung heut zu Tage, mit 90 Jahren also, dreißig Jahre. Und da ich wirklich fand, dass das mehr als genug war, hatte ich keine Lust, weitere fünfzehn Jahre draufzuschlagen. Ich erhob mich langsam und schlurfte in meinen abgelatschten Schlappen ins Gästebad, um zu duschen. Dummerweise hatte ich in meiner Morgenmuffelei nicht gemerkt, dass der Hahn auf eiskalt gestellt war, zog in bis auf den Anschlag hoch und schrie wie am Spieß, als sich das Eiswasser über mich ergoss. Das Blut schien mir in den Adern zu gefrieren und ich war hundert pro kurz vor einem Herzinfarkt, schaffte es aber gerade noch so, den Hahn auf warm zu stellen. Jetzt war ich zweifellos wach.
    Marion hatte mich anscheinend kreischen gehört, was allerdings kein Wunder war, denn sie klopfte an die Tür und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich fragte sie, ob es normal sei, dass in der Duschkabine Vogelspinnen hausten.

    Im Wohnzimmer traf ich auf Ly, die sich gerade irgend einen albernen Kitsch im Fernseher anguckte. Als sie mich sah, schaltete sie sofort ab. „Na endlich.“ Sie rollte mit den Augen. „Ich dachte schon, du wolltest den ganzen Tag schlafen. Mama hat mir verboten dich zu wecken.“
    Brave Marion.
    „Hast du schon gegessen?“, fragte ich Lydia.
    „Klar, schon um neun.“ Antwortete sie, als wäre sie auf diese Leistung stolz. „Wo wart ihr denn gestern Abend?“
    „Ich habe Dan bei seiner Bandprobe begleitet.“
    „Dan?“
    „Daniel.“ Ich hatte die Angewohnheit, alle Namen abzukürzen, wo es nur ging. Jeden Namen kürzte ich, nur Björns nicht, weil er mir ausdrücklich verboten hatte, ihn Bjö zu nennen.
    „Wo ist Daniel denn jetzt?“, fragte ich so unauffällig wie es nur ging, während ich mir aus dem Küchenschrank Müsli holte.
    „Der hat Fußballtraining“, antwortete Ly gelangweilt. Sie war gerade eingehend damit beschäftigt, das Schielen zu üben und ich fand, dass der Gesichtsausdruck, den sie dabei machte, hervorragend zu ihr passte. „Guck mal!“, machte sie und schielte mich direkt an. Kein schöner Anblick.
    Ich begann, mein Müsli zu essen.
    „Machst du noch mal den Unfall im Tunnel?“, fragte sie und sah mich flehend an.
    „Nein“, erwiderte ich bestimmt.
    „Bitte, bitte.“
    Ich zeigte ihr also resigniert den Matsch in meinem Mund und sie krisch begeistert. Warum hatte ich Trottel ihr das nur beigebracht? Ich würde jetzt wohl sechs Wochen bei jedem Essen einen Unfall im Tunnel demonstrieren müssen.
    „Wollen wir gleich mit den Fahrrädern raus gehen?“, fragte sie mich und ich kam sofort auf den Punkt: „Könnten wir nicht bei der Gelegenheit bei Dans Fußballtraining vorbeischauen?“
    Ly zuckte mit den Achseln. „Wenn du willst.“

    Wir fuhren mit den Inlinern, weil mir definitiv die Lust aufs Radfahren verging, als ich Lys rosafarbenes, glitzerndes Fahrrad sah.
    Man konnte in der Gegend optimal inlinern, weil der Asphalt glatt war und es keine großartigen Hügel gab. Es stellte sich heraus, dass Lydia das Inlinern ebenso wenig draufhatte wie das Schielen, und ich musste sie an der Hand nehmen, damit wir überhaupt voran kamen. Als es ein wenig bergab ging, jammerte sie und wollte nicht weiter, aber ich fuhr vor und machte ihr von unten Mut. So steil wäre es gar nicht, sie würde das schon schaffen. Tatsächlich fuhr sie, und zwar laut schreiend, den Berg hinunter und natürlich prompt gegen die einzige Mülltonne weit und breit, sodass sie böse hinfiel und sich das Knie aufriss. Sie fing wie am Spieß an zu heulen, als sie das Blut sah, das aus der Wunde floss.
    „Hey Ly, ist doch nicht so schlimm, das kriegen wir schon hin. Ist doch bloß ein bisschen Blut“, versuchte ich sie zu trösten, aber am liebsten hätte ich sie angeschrieen, sie solle sich gefälligst nicht so anstellen. Ich tupfte ihr das Knie mit einem benutzten Taschentuch ab, das ich zufällig noch in meiner Hosentasche gefunden hatte, aber das beruhigte sie auch nicht. Zum Glück lockte ihr Geschrei eine nette, ältere Frau an, die gerade in ihrem Garten gearbeitet hatte und sie bot an, zu helfen.
    „Oh du armes Schätzchen“, übertrieb sie natürlich. „Das tut bestimmt furchtbar weh. Komm, das verarzten wir schnell.“ Das dumme Geschwätz half tatsächlich und Lys Geheul wurde, dem Himmel sei Dank, leiser. Die Frau wusch ihr die Wunde mit einem sauberen Tuch aus, schmierte eine glibberige Wundsalbe drauf und verband ihr das Knie mit einer Mullbinde. Es sah nach etwas Großartigem aus und das half tatsächlich. Lydia strahlte sogar ein bisschen. Ich war mir sicher, dass sie jetzt auch noch stolz darauf war. Sie humpelte natürlich übertrieben und sagte, dass es unmöglich sei, noch bis zum Sportplatz zu fahren, aber ich dachte nicht daran, nur wegen einem albernen Kratzer Dans Fußballtraining zu verpassen, also stützte ich Lydia so gut ich konnte und wir schafften es tatsächlich bis zum Sportplatz der Grundschule, woran ein Fußballplatz grenzte.
    Ich merkte, dass ich Lydia falsch verstanden hatte. Daniel spielte nicht, wie ich gedacht hatte, sondern er stand mitten im Spielfeld und kommandierte eine Schar Halbwüchsiger herum, die wild hinter dem Ball herliefen, als hinge davon ihr Leben ab.
    Lydia setzte sich ins Gras und ich ging weiter vor, bis an das eiserne Geländer, welches den Fußballplatz eingrenzte. Natürlich war ich nicht alleine. Drei Mädchen standen, ebenfalls an das Geländer gelehnt, da und sahen dem ganzen mit äußerstem Interesse zu. Und ganz bestimmt war es weder der Ball, noch die Halbwüchsigen, die ihre Aufmerksamkeit erregten.
    „Pass Achmed, pass Matthias zu. Foul!” Daniel blies in die Trillerpfeife, die um seinen Hals hing und sprintete zu den beiden Jungen, die sich gerade anbrüllten.
    „Das war gefoult du Arsch“, schrie Achmed seinem Kameraden zu. Der brüllte irgendwas zurück und packte dem Türken in seinem Zorn am Kragen.
    „Hey Jungs, lasst das.“ Dan riss die beiden auseinander, die sich immer noch feuerspuckende Blicke zuwarfen. „Ihr habt zwei Möglichkeiten, entweder ihr vertragt euch und spielt, oder ihr prügelt euch und seid draußen. Ich kenn eine Menge Jungs, die gerne euren Platz einnehmen würden.“
    Sofort reichten sich die beiden Streithähne die Hand und das Spiel ging weiter.
    „Oh Gott, ich könnte den ganzen Tag nichts anderes machen, als ihn ansehen. Der Typ ist so geil“, hörte ich eines der Mädchen neben mir schwärmen.
    „Komm wir sagen ihm, er soll sein T-Shirt ausziehen.“ Die Puten kicherten, als wären sie bescheuert. Sie waren etwa in meinem Alter, vielleicht sogar älter. Dumme Kühe, dachte ich. Wie konnte man nur so primitiv sein?
    In dem Moment drehte Dan sich um und mein Herz machte einen Sprung, als er strahlend lächelte, mir zuwinkte und auf mich zukam.
    Die dummen Ziegen lachten wie blöd und winkten zurück, weil sie natürlich dachten, es hätte ihnen gegolten. „Er kommt auf uns zu!“, rief die eine und strich sich über die fettigen, wasserstoffblonden Haare. Das Lächeln auf ihren Gesichtern erstarrte, als er zu mir kam, anstatt zu ihnen, und ich lachte mir innerlich ins Fäustchen.
    „Hey Sam, was machst du denn hier?“, fragte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    „Wollte mal sehn, was du so machst. Ly hat mich hergeführt. Sie ist unterwegs dummerweise hingefallen und hat sich das Knie aufgeschürft.“
    „Oh“, er verzog das Gesicht. „Setze niemals meine Schwester auf Dinge, mit denen sie sich fortbewegen kann und die umkippen könnten.“ Er lachte strahlend. „Ich komm gleich, das Spiel dauert nur noch fünf Minuten.“ Er wollte gerade wieder zurücklaufen, da bemerkte er die Chicksen, die unserem Gespräch wie Spione gelauscht hatten und begrüßte sie pflichtbewusst.
    Die Tussen sahen mich neidisch an und sie fingen an, miteinander zu tuscheln. Man brauchte nicht viel Fantasie, um zu erraten, über was.
    Nach fünf Minuten beendete Dan das Spiel mit einem Pfiff und kündigte an, dass nächsten Donnerstag wieder Training war. Die Jungen verabschiedeten sich und machten sich auf den Heimweg. Ich hatte mich neben Lydia ins Gras gesetzt und sah zu, wie er sich mühelos über das Geländer schwang und auf uns zukam.
    „Was hast du nur wieder angestellt, Schwesterherz? Zeig mal her.“
    Lydia präsentierte ihm stolz ihr verbundenes Knie und schilderte ihren Sturz übertrieben dramatisch.
    Dan war zu Fuß hier und wir gingen beziehungsweise fuhren langsam zurück. Lydia konnte plötzlich wieder erstaunlich gut fahren, ohne sich jede zweite Minute über ihr Knie zu beschweren.
    „Hast du eigentlich immer dein ganzes Harem dabei?“, fragte ich Daniel, als ich noch ein Blick zurück auf die Gören warf, die uns offensichtlich hinterher starrten.
    Dan lachte zuerst, dann antwortete er: „Lässt sich leider nicht vermeiden.“
    „Was bedeutet das denn jetzt schon wieder?“
    „Hey Sam, ich will hier mal eins klarstellen: Das ist auf jeden Fall keine Absicht. Bitte denk nicht von mir, dass ich so einer bin, der sich jedes Mädel schnappt, okay?“
    „Hab ich mir eigentlich schon gedacht, dass du so einer nicht bist.“
    „Weißt du, manchmal hasse ich das. Ich mein’, wenn ich ein fettes Pickelgesicht wäre, würden die mich nicht mal angucken, und genau das ist der Punkt. Ich möchte wegen meiner Art gemocht werden.“
    Ich fühlte mich irgendwie schuldig. „Das ist ziemlich viel bei jemandem wie dir verlangt, würde ich sagen. Bei Menschen wie dir ist es nun mal schwer, auf innere Werte zu achten“, rutschte es mir heraus und ich fügte noch schnell hinzu: „Ich spreche nicht aus Erfahrung, aber ich denke mir das so.“
    „Eigentlich traurig. Zählen innere Werte denn überhaupt nichts mehr?“
    „Doch, aber man sieht nun mal zuerst das Äußere“, gab ich achselzuckend hinzu. „Und ich kenne genug Leute, die sich nicht weiter für andere interessieren, wenn das bei ihnen nicht stimmt.“
    „Leider.“
    „Wie lange trainierst du die Mannschaft schon?“, fragte ich schließlich, um das Thema zu wechseln, das mir ziemlich unangenehm war.
    „Erst seit ungefähr zwei Monaten. Die Jungs sind nicht schlecht, haben aber keine Ahnung was Disziplin ist. Das müssen sie erst mal lernen, erst dann können sie richtig gut werden. Es sind mehr oder weniger Jungen aus schwierigen Verhältnissen, weißt du, da kann man nicht wirklich viel verlangen. Für manche von ihnen sind die Trainingsstunden der einzige Lichtblick in ihrem Alltag und ich versuche, ihnen einfach das zu geben, was ihnen fehlt: Zuneigung, Vertrauen, Aufmerksamkeit und so was.“
    Ich zog innerlich den Hut vor ihm. „Was machst du eigentlich noch alles, außer Nachhilfe geben, Halbwüchsige trainieren und eine Band leiten?“
    Wir waren gerade an der Stelle angelangt, wo Ly hingefallen war und sie bat Dan, sie den Berg hochzuschieben.
    „Ich betreue eine Kindergruppe in unserer Gemeinde. Das sind auch Kinder aus nicht-christlichen Verhältnissen. Das macht Spaß, ist aber manchmal ziemlich anstrengend. Wir erzählen ihnen dann Geschichten aus der Bibel, spielen mit ihnen und so. Und bald haben wir ein Zeltlager, das ich unter anderem betreuen werde.“
    Ich fragte mich, ob er wohl für seine ganzen Wohltätigkeiten bezahlt wurde, denn mich würden nicht mal Euroscheine dazu bringen, mich mit irgendwelchen nervigen Kindern abzuplacken, die ich nicht mal kannte.
    Wir hatten den Berg hinter uns gebracht und Lydia beschwerte sich, dass sie nicht mehr konnte. Daniel lud sie kurzerhand auf seinen Rücken und trug sie den ganzen restlichen Weg nach Hause.

    An diesem Abend, als ich an Lydias Zimmer vorbei in mein Zimmer ging, hörte ich aus dem Raum leises Gitarrenspiel. Ich blieb wie angewurzelt stehen, als Daniel dazu leise zu singen begann und konnte es mir nicht nehmen näher zu treten und einen Blick durch den Türspalt zu werfen. Lydia lag in ihrem Bett und Dan saß auf der Bettkante und sang ihr tatsächlich ein Gutenachtlied vor. Das Licht der Nachttischlampe beschien sein Profil und ich verschwand schnell, aus Angst, beim Gaffen erwischt zu werden.
    Ich konnte lange nicht einschlafen. Daniel Landau war der bemerkenswerteste Mensch, den ich je kennen gelernt hatte. So selbstlos. Seine Fähigkeiten und sein Aussehen hatten seinen Charakter nicht verdorben, so wie das bei den meisten der Fall war. Er kam mir so unwirklich vor. Gäbe es von der Sorte nur ein paar Menschen mehr auf der Welt, wäre schon alles viel einfacher, da war ich mir sicher. Dann müsste ich mich nicht mit Sandras, Lukas’ und Frau Gröschlers rumquälen, dann wäre alles viel, viel schöner.
    Er war sicherlich nicht perfekt, hatte gewiss Fehler, bestimmt sogar viele, redete ich mir ein. Aber eins war sicher, er verdiente es, wegen seiner Art und nicht wegen seines Aussehens bewundert zu werden und dafür hatte er meine uneingeschränkte Bewunderung. Ich schämte mich dafür, dass ich ihn am Anfang nur wegen seiner blauen Augen und überhaupt seinem Äußeren so bewundert hatte, er war viel mehr als das. Ich würde jeden Menschen hassen, der das anders sah, und ich würde dafür sorgen, dass er seine Ruhe hatte. Jawohl, das würde ich.

    Es war Samstag Morgen, höchstens neun, als Ly in mein Zimmer gestürmt kam, wo ich selbstverständlicher Weise noch wie ein Bär geschlafen hatte.
    „Sam!“, rief das nervtötende Geschöpf doch tatsächlich, als habe sie nicht gesehen, dass ich noch im Traumland schwebte. Ich hatte gerade von Elm geträumt. Er hatte mir „Like a Prayer“ vorgesungen in Madonnastimme, aber das war nicht so schlimm wie Lydias schiefe Zähne, die plötzlich vor meinem Gesicht auftauchten.
    „Sam, Sam. Eben hat mein Kieferorthopäde angerufen. Ich krieg ’ne echte feste Zahnspange“, rief sie so aufgebracht, als hätte man ihr gerade erzählt, dass sie im Lotto gewonnen hatte.
    Ich knurrte irgendwas unverständiges und vergrub mein Gesicht in meinem Kopfkissen. Was interessierte mich auch die bescheuerte Zahnspange? Sollte sie doch meinetwegen eine komplett neues Gebiss bekommen, bei ihren Zähnen war sowieso nicht mehr viel zu retten.
    „Stell dir das vor, Sam! Dann seh’ ich so richtig cool aus, wie die ganzen Großen aus der Zehnten.“
    Abgesehen davon, dass die Zehnten überhaupt nicht cool waren, verhalfen Brackets ganz bestimmt nicht dazu. Ich brachte dann doch noch ein krächzendes, weniger überzeugtes „Cool“, hervor, in der Hoffnung, sie würde sich zufrieden geben.
    „Dann hab ich schon an meinem Geburtstag eine feste Zahnspange und kann sie allen meinen Freundinnen zeigen.“
    Plötzlich war ich hellwach. „Was, du hast bald Geburtstag?“ Das ganze Haus voller Lydias, wie sollte ich das überleben?
    „Klar, in einer Woche. Und dann feier ich eine richtig coole Pyjamaparty.“ Sie vollführte einen Freudentanz, aber ich war eher in der Stimmung zu einem Totentanz.
    „Und jetzt komm schon. Schlaf nicht immer so lange.“ Sie ging zu meinem Bettende und kitzelte mich an meinem rechten Fuß, der unter der Bettdecke hervorguckte.
    „Ist ja gut, ich komm ja schon“, sagte ich. Ich war mir klar darüber, dass sie mir keine ruhige Minute mehr lassen würde, wenn ich jetzt nicht aufstand. Ich erhob mich und hatte das Gefühl, als würden mich Gewichte wieder zurückziehen wollen, aber es half alles nichts, Lydia stand vor mir wie ein Sklaventreiber, der seinen Prügelknaben bewacht. „Ist ja gut, schon gut“, sagte ich noch mal resigniert und seufzte tief, während ich schleppenden Ganges in die Küche ging und mir Müsli aus dem Küchenschrank holte.
    Ly verschwand und an ihrer Stelle trat Dan in die Küche. Er trug nur T-Shirt und Shorts und hatte noch einen verschlafenen Blick.
    „Morgen“, sagte er und ließ sich neben mir nieder. Ich mochte seine Stimme, wenn sie so rau klang.
    „Morgen“, grüßte ich zurück und schob ihm einen Teller hin. „Gut geschlafen?“
    „Kurz.“ Er lächelte. „Hab’ noch so über das ein oder andere nachgedacht.“ Er ließ mir gar keine Zeit, näher zu fragen, sondern fragte mich gleich: „Kommst du eigentlich am Sonntag mit in die Gemeinde?“
    Björn hatte schon erzählt, dass die Landaus Sonntags immer in eine Gemeinde gingen. Eigentlich hatte ich absolut keine Lust. Ich hatte es noch nie so mit den religiösen Dingen gehabt. Es gab so viele verschiedene Religionen, welcher sollte man sich da anschließen? Ich hatte mir auch noch nie wirkliche Gedanken über Dinge nach dem Tod oder so gemacht und eigentlich wollte ich, dass das so blieb, denn immer, wenn ich ins Grübeln darüber kam, beschlich mich so eine komische Unruhe, aber was sollte ich sagen? Dass ich keine Lust hatte, wäre zu direkt und alles andere klang nach Ausrede.
    „Ja, klar“, sagte ich deshalb, es war schließlich erst Mittwoch. „Wann fängt das denn an?“
    „Um zehn Uhr, aber wir fahren schon um halb los. Mit einer Viertelstunde Fahrt muss man schon rechnen.“
    Na toll. Was waren das bloß für Frühaufsteher? Ich Morgenmuffel passte hier überhaupt nicht rein, hatte ich so den Eindruck.
    „Wusste gar nicht, dass Ly bald Geburtstag hat“, sagte ich, einfach um was zu sagen.
    „Hmhm.“ Er hatte den Mund voll Müsli. „Damit liegt sie allen schon seit Monaten in den Ohren. Sie will so eine großartige Party feiern, mit allen Freundinnen, zig rosaroten Luftballons und Sarah Connor Musik. Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du dich ein bisschen mit den Mädchen beschäftigen würdest.“
    Ich musste einen ziemlich verdatterten Gesichtsausdruck gemacht haben, denn er lachte lauthals und sagte: „Keine Angst, ich lass dich schon nicht mit denen alleine. Der Geburtstag ist am Dienstag. Bis dahin haben wir noch genug Zeit, um uns irgendwas phänomenales auszudenken.“ Er grinste und kniff mich in den Arm. „Dachtest wohl, ich verdonnere dich dazu, den Mädels Tanzunterricht auf Sarah Connor Musik zu geben?“
    Ich musste lachen. „Da bin ich ja beruhigt.“

    Am Abend waren es draußen immer noch fünfundzwanzig Grad, obwohl es schon dunkel war. An Schlaf war nicht zu denken, ich würde mir in meinem Bett nur wie in einem Toaster vorkommen. Ich hatte es mir mit meinem Physikheft auf der Terrasse in der Hollywoodschaukel bequem gemacht, soweit es unter diesen Umständen möglich war, es sich gemütlich zu machen. Ich hasste Physik genauso wie Mathe und konnte mir aus den bescheuerten Elektromotoren, die ja die Umkehrung von den Dynamomaschinen sein sollten, keinen Reim machen. Meine Güte, wen interessierte das schon? Mir reichte es, wenn ich wusste, dass er funktionierte. Wie, war mir völlig Wurst. Aber ich kam nun mal nicht drum rum. Wenn ich nicht wie Irmgard, Elms Putze enden wollte, musste ich das wohl lernen. Ich war gerade dabei, dass Zeug einigermaßen zu kapieren, als ich jemanden auf die Terrasse kommen hörte. Es war Daniel, er sprach mit irgendjemandem am Telefon. Er sah mich nicht und ich sah ihn nicht, ich saß mit dem Rücken zu ihm.
    „Du musst das durchziehn, da führt kein Weg dran vorbei....klar, kann ich ja verstehn....“
    Er sprach ziemlich leise, sodass ich nicht immer alles verstand und ich merkte, wie ich die Ohren spitzte. Schuldgefühle deswegen, sowas besaß ich schon lange nicht mehr, die waren wohl irgendwo zwischen Spickzettel verfassen und Unterschriften fälschen verloren gegangen.
    „Samira Schäfer ist bei uns... ja, die Schwester von Björn...“
    Diese geheimnisvolle Person am Ende der Leitung kannte Björn also auch. Ich begann schon, mich gar nicht mehr darüber zu wundern.
    „Sie ist nett...was?...nein!“ Er lachte amüsiert und ich meinte sogar zu wissen, worüber. Bestimmt war das irgend eine blöde Tussi, mit der er gerade sprach, die genauestens über sein Liebesleben Bescheid wissen wollte. Ich wurde misstrauisch.
    „Hör zu, ich mach jetzt Schluss, okay?...nicht zu spät ins Bett, klar?...“ Er lachte. Pause. „Du weißt, dass ich für dich da bin...nein, hab ich doch schon oft gesagt...“ Wieder Pause. „...klar, gute Nacht.“ Der Piepton des schnurlosen Telefons zeigte mir, dass er aufgelegt hatte. Jetzt hieß es, mich ruhig zu verhalten. Wenn er mich entdecken würde, wie ich hier saß und ihn bespitzelte...ich wollte gar nicht weiterdenken. Er stand noch lange so und ich fragte mich, was er noch die ganze Zeit machte, da ich keinen Ton hörte. Nach einer Zeit dachte ich mir, dass er wohl schon weg war. Ich hatte seine Schritte wahrscheinlich nur nicht gehört und traute mich, einen Blick hinter die Hollywoodschaukel zu werfen. Ich bekam fast einen Herzkasper, als ich sah, dass er immer noch da stand, beruhigte mich aber wieder, als ich sah, dass er die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt hatte. Er hatte mich also nicht gesehen. Da entdeckte ich, dass er die Hände gefaltet hatte. Er betete. Ich ging wieder hinter der Schaukel in Deckung und wartete, bis er wirklich ging.
    In dieser Nacht konnte ich einfach nicht einschlafen. Und daran war sicherlich nicht die Hitze Schuld. Ich fragte mich die halbe Nacht, wer wohl die Person war, mit der Dan telefonierte. Ich kam mir albern vor, weil ich mir so einen Kopf darum machte. War doch schnurzegal. Wahrscheinlich irgend eine unwichtige Klassenkameradin oder so. Ich presste mir das Kissen vors Gesicht, als könnte mir das helfen, von den Gedanken loszukommen. Irgendwann schlief ich doch ein.

    Ich genoss den Freitag in vollen Zügen, obwohl das Wetter zum Mäuse melken war. Es regnete, als ginge es um Leben oder Tod, aber die wunderbare Ruhe im Haus ohne Lydia war einfach himmlisch. Sie war schon am frühen Morgen zusammen mit Marion zum Kieferorthopäden gefahren, der ihr die heißgeliebten Brackets verpassen sollte. Danach wollten sie noch irgendwas einkaufen gehen oder so, das war mir eigentlich völlig egal. Werner war schon seit gestern auf Geschäftsreise und ich war mit Dan alleine. Wir hatten vorgehabt uns ein bisschen was für Lys Geburtstag zu überlegen, waren aber nicht wirklich dazu gekommen, sondern hatten einfach über das ein oder andere gequatscht. Jetzt war er duschen gegangen und ich lungerte vor dem Fernseher herum und sah mir das Kochduell an, obwohl mich das noch nie interessiert hatte. Beim Anblick der knusprig braunen Putenschnitzel lief mir das Wasser im Mund zusammen und ich ging an den Kühlschrank, um irgendwas essbares aufzustöbern. Ich fand ein paar Diätjoghurts und fragte mich, für wen die wohl waren. Dann dachte ich daran, Elm auch mal so was zu empfehlen. Ich würde ihn zwar sowieso nicht dazu kriegen, Joghurt zu essen, aber ich nahm mir vor, mich mal nach Diätschokoeis oder Diätnegerküssen zu erkundigen und griff mir kurzerhand die Nougatcremeschokolade, die ich in der Vorratskammer gefunden hatte. Ich wollte mich gerade wieder gemütlich vor den Fernseher schmeißen, als das Telefon klingelte. Mich nervte der Ton und ich begriff erst später, dass ja keiner außer mir da war, um abzuheben. Deshalb ging ich auf die Jagd nach dem nervtötenden Ding, was schon zum hundertsten Mal den Anfang von „Für Elise“ trällerte und wunderte mich über die Hartnäckigkeit, mit der der Mensch an der anderen Leitung klingelte.
    „Bei Landau“, sprach ich ganz außer Atem in den Hörer, als ich das Ding endlich gefunden hatte.
    „Hi, hier ist Nadine. Ist Daniel da?“, antwortete eine Frauenstimme.
    Aha, dachte ich. Da haben wir doch den geheimnisvollen Anrufer von Mittwoch. Der würde ich die Suppe kräftig versalzen. „Oh, hi“, flötete ich. „Sorry, Danny kann leider im Moment nicht. Aber soll ich ihm irgendwas von dir ausrichten?“
    „Äh...“, die Person zögerte. „Wer bist du denn?“
    Ganz genau. Jetzt wirst du misstrauisch, was? Jetzt hab ich dich, dachte ich und sagte mit dem gleichen Singsang in der Stimme, den Sandra immer aufsetzte, wenn sie irgendjemanden von sich überzeugen wollte: „Ich bin Samira. Ich gehöre praktisch schon fast zur Familie.“ Ich hängte noch ein albernes Kichern hintendran und fand mich umwerfend überzeugend. Ich hatte mein Ziel nicht verfehlt. Nadine stotterte rum. „Ah, ähm ja...okay, dann ruf ich halt später noch mal an.“
    „Ich kann ihm gern was ausrichten, er ist nämlich zur Zeit so furchtbar beschäftigt musst du wissen. Ich weiß nicht, ob du ihn heute noch erreichst. Er duscht gerade, sonst hätte ich ihn dir ja gegeben.“ Ich entfernte das Telefon eine Armlänge von mir und rief, sodass Nadine es hundertprozentig genau hörte: „Was? Du brauchst ein Handtuch? Ja Moment, ich komme gleich.“ Und wieder ans Telefon gewand säuselte ich: „Tut mir leid, ich hab leider keine Zeit mehr, soll ich ihm jetzt was ausrichten oder nicht?“
    „Nein, schon gut, ich ruf noch mal an.“ Sie hatte aufgelegt.
    Ich rieb mir die Hände. „Großartig Sam, großartig“, sagte ich mir.
    Als Daniel geduscht wieder herunterkam, fragte er, wer dran gewesen sei.
    „Ach, keine Ahnung. Da hat sich irgendeiner verwählt.“



    Re: Geschichte!

    claudi - 29.07.2008, 12:51


    ist es gut??



    Re: Geschichte!

    Ruth - 29.07.2008, 14:08


    ja es ist super!!!!! :lol: :lol: :lol: schnell weiter :!:



    Re: Geschichte!

    claudi - 29.07.2008, 16:24


    6. Kapitel

    Lys Begeisterung für ihre neuen Brackets ließ am Samstagmorgen sofort nach, als sie mit heftigen Zahnschmerzen aufwachte und nichts anderes außer Joghurt und Suppe essen konnte. Sie wimmerte die ganze Zeit herzzerreißend herum und verwünschte ihren Kieferorthopäden.
    Marion versuchte vergebens, ihre Tochter mit Mousse au Chocolat und Erdbeershake zu beruhigen, die Leckereien lenkten sie nicht von ihrem Schmerz ab. Ich war genervt von ihrem Geheule, versuchte das aber möglichst vor ihr zu verbergen. Stattdessen spielte ich mit ihr Monopoly und Phase 10, sah mir mit ihr zusammen Sissi an und versprach sogar, an diesem Abend bei ihr zu übernachten. Ich hatte eindeutig ein zu weiches Herz.
    „Liest du mir was vor, Sam?“, fragte sie mich, als wir unsere Zähne geputzt hatten und ins Bett wollten. „Normalerweise macht das immer Daniel.“ Sie seufzte, als vermisse sie ihren Bruder sehnlichst, der gerade mal seit fünf Stunden zu einem Freund gegangen war.
    „Klar“, sagte ich natürlich. „Was möchtest du denn hören?“ Konnte sie sich nicht einfach eine von ihren hundert Kassetten anhören?
    „Fünf Freunde und das Haus am Strand“, sagte sie wie aus der Pistole geschossen. Als ich noch jünger war, hatte ich die Fünf Freunde Bücher abgöttisch geliebt. Gestört hatte mich immer nur, dass der Hund von Georgina als Freund mitgezählt wurde, da es eigentlich nur vier Kinder waren. Ich las also bestimmt dreißig Seiten, bis Lydia mir sagte, dass Daniel ihr das schon gestern Abend vorgelesen hatte, und ich erst ab Seite 60 lesen sollte. Ich hätte sie am liebsten erwürgt, blätterte aber brav dreißig Seiten weiter und las ab da noch mal zwanzig, bis meine Stimme ganz heiser war.
    „Betest du noch mit mir?“, frage Ly als nächstes und ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie mir angeordnet hätte, mich dabei auf das Dach zu stellen.
    „Wenn du möchtest...“
    „Lieber Vater im Himmel“, begann sie. „Danke, dass wir heute gesund bleiben durften und dass uns nichts Schlimmes passiert ist. Mach, dass wir gut schlafen und hilf den Leuten, die arm sind und die...“ Es schien mir, als würde sie zögern. „...die drogensüchtig sind. Amen.“
    „Amen“, sagte ich und wunderte mich schon gar nicht mehr über ihren seltsamen letzten Satz.
    In diesem Moment trat Marion ein. „Samira, dein Bruder möchte dich sprechen.“ Sie hielt mir das Telefon entgegen. Ich nahm es und verzog mich damit in mein Zimmer.
    „Hi, Björn.“
    „Hallo Sam. Sorry, dass ich noch so spät anrufe, aber ich wollte mal deine Stimme hörn.“
    Ich rollte mit den Augen. Er war eben romantisch angehaucht.
    „Wie ist es in Griechenland?“ Es interessierte mich nicht im Geringsten.
    „Unglaublich warm. Sogar so spät haben wir noch 28 Grad und strahlendes Wetter. Das Hotel ist auch traumhaft, es würde dir garantiert gefallen.“
    Ich sah missmutig aus dem Fenster. Hier schüttete es schon seit gestern wie aus Eimern. Ich würde viel dafür geben, jetzt irgendwo im Süden zu sein.
    „Wie ist es bei dir?“, fragte er mich dann, und ich begriff, warum er mich sprechen wollte. Er wollte mich aushorchen.
    „Ganz okay“, antwortete ich kurz.
    „Du benimmst dich?“
    „Ich esse mit den Fingern und rülpse bei Tisch.“
    Er lachte. „Na dann.“ Es entstand eine Pause. „Sam, ich muss dir noch was sagen.“ Es musste ja einen tieferen Sinn geben, warum er mit mir hatte sprechen wollen. „Joana und ich haben beschlossen, schneller zu heiraten. Wir haben unsere Hochzeit auf den 22. September festgelegt.“
    „Was?!“ Ich konnte es nicht fassen.
    „Es gibt keinen Grund noch länger zu warten...“ Das reichte. Ich legte auf. Ich blickte starr geradeaus aus dem Fenster in den Garten, den der Regen in eine Sumpflandschaft verwandelt hatte. Das, was ich sah, spiegelte genau meine Gefühle in diesem Moment wieder. Ich verstand die Welt nicht mehr und wollte sie auch gar nicht verstehen. Ich war wütend, verzweifelt und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mir etwas Wichtiges Stück für Stück weggenommen wurde. Und zwar in rasendem Tempo. In kurzer Zeit schon würde ich mit leeren Händen da stehen.
    Mir schossen Tränen in die Augen, als mir das klar wurde, und je mehr ich versuchte sie zu verdrängen, desto schneller kamen sie. Und dann flossen sie wie die Regentropfen draußen, unaufhaltsam. Ich presste mein Gesicht in mein Kissen und heulte meine Wut hinein. Ich fühlte mich so unglaublich verlassen wie noch nie zuvor in meinem Leben. Erst hatte ich meine Eltern verloren und jetzt würde ich auch noch meinen Bruder verlieren, den Einzigen, den ich noch hatte. Mein Schluchzen wurde fast hysterisch, als ich aus meinem Schrank einen Pulli meiner Mutter holte und ihn überzog. Er war aus unglaublich weichem, hellgelben Kaschmir. So hatte ich Mama in Erinnerung, kuschelig und freundlich. Doch auch dieser Pulli, der mir normalerweise in jeder schwierigen Situation half, konnte mich nicht beruhigen. Da half nur noch eins, ich brauchte eine Abkühlung. Immer noch heulend rannte ich die Treppe runter, vorbei an Marion, wobei ich nicht auf ihre Frage, ob etwas nicht in Ordnung sei, reagierte, raus aus der Tür. Ich lief in den Garten auf die Terrasse und ließ mich in die Hollywoodschaukel fallen. Das Donnern und Blitzten und das Geräusch des Regens übertönte mein Geheul und wütete mit meinem Inneren um die Wette. In neun Wochen schon, würde ich niemanden mehr haben, niemanden. Allein. Was sollte ich nur tun? Oh Gott, warum musste ich immer alles verlieren? Der Gedanke, Björn liebe jemand anderen mehr als mich, quälte mich. Ich kauerte mich in der Schaukel zusammen. Ich wusste nicht wie lange ich so heulend da gelegen hatte, als ich durch das Tosen des Gewitters hindurch jemanden meinen Namen rufen hörte. Erst dachte ich es wäre Einbildung, aber dann hörte ich es deutlich.
    „Sam, wo steckst du?“ Kurz darauf sah ich Dans Gestalt, die sich dunkel vom Himmel abzeichnete, auf mich zukommen. „Ach hier bist du.“ Er seufzte, erleichtert mich gefunden zu haben. Im Mondlicht sah ich sein Gesicht. Von seinen Haarspitzen tropfte das Wasser. Er hatte mich anscheinend schon seit längerer Zeit hier draußen gesucht. Jetzt ließ er sich neben mir nieder. „Ist es wegen Björns Anruf?“
    Wie scharfsinnig, dachte ich ironisch und nickte.
    „Möchtest du darüber reden?“
    Ich zuckte mit den Achseln.
    „Also lass mich zusammenfassen: Björn hat dir vor kurzem mitgeteilt, dass er und Joana schon sehr bald heiraten wollen und das hat dich geschockt.“
    Ich nickte wieder.
    „Hör zu, ich versteh das, ehrlich.“
    „Glaub ich nicht. Du weißt nicht was es heißt alleine zu sein, weil du ständig jemanden um dich herum hast. Wenn nicht deine Familie, dann einen deiner hundert Freunde. Du hast keine Ahnung wie es ist jemanden zu verlieren, weil du noch nie einen Menschen den du liebst verloren hast. Und dann weißt du nicht wie man sich fühlt, wenn einem der letzte Halt von einem anderen Menschen genommen wird, der alles, alles hat.“ Ich verbarg mein verheultes Gesicht in dem nassen Pullover meiner Mutter, damit er es nicht sah.
    Er sagte lange nichts, sondern sah nur starr geradeaus und ich dachte schon ich hätte ihn beleidigt, als er wieder zu sprechen begann: „Du hast Recht, ich habe meine Eltern noch und außerdem viele Freunde, aber du musst wissen, dass es viele Formen der Einsamkeit gibt. Nicht nur die, die du gerade durchlebst. Ich kann dieses Gefühl aber trotzdem verstehen, auch wenn ich es in dieser Weise noch nie selbst erlebt habe. Aber denk doch mal anders rum. Durch die Heirat mit meiner Schwester vergrößert Björn die Familie doch und nicht anders herum. Und Sam, du glaubst doch nicht, dass Björn dich weniger lieben wird als jetzt. Es gibt nur noch jemanden, den er liebt. Gut, ich gebe zu, dass Joana manchmal unausstehlich ist“, er lachte, „aber im Großen und Ganzen ist sie wirklich erträglich. Keine Angst, sie ist nicht wie Lydia.“
    Jetzt musste sogar ich ein wenig lachen.
    „Wenn du mit der Situation trotzdem nicht klar kommst hilft es immer noch zu beten. Gott hört dich immer, und wenn du ihn hast, bist du nie alleine. Das ist der Hauptgrund dafür, dass ich diese Einsamkeit, die du fühlst, nicht kenne. Und natürlich sind wir – ich spreche für meine ganze Familie – immer für dich da, in Ordnung?“
    Ich nickte und wischte mir die Tränen aus den Augen, die wieder flossen, als Dan geendet hatte. Ich hatte seine Freundlichkeit und Fürsorglichkeit nicht verdient.
    Er lächelte mir aufmunternd zu. „Komm her.“ Er zog mich in seine Arme. Mir wurde augenblicklich warm und ich musste wieder anfangen zu heulen- ich hasste mich dafür. Mich hatte ein weiterer Weinkrampf gepackt, ich verbarg mein Gesicht an seiner Schulter und er zog mich fester in seine Arme. Ich war mir sicher, dass er in mir so was wie eine kleine Schwester sah, aber ich war verliebter in ihn, als ich es jemals für möglich gehalten hatte.

    Der nächste Tag war ein Sonntag, an dem die Landaus in eine Gemeinde gehen. Ich hatte am Abend zuvor zugesagt mitzukommen, verschlief aber selbstverständlich. Als ich aufwachte war es zehn und die Landaus waren schon längst weg. Warum hatte Ly mich nicht geweckt? Dieses eine Mal hätte ich es wirklich gebrauchen können.
    Was soll’s, dachte ich mir. So umgehe ich eine qualvolle Stunde, in der ich die ganze Zeit sitzen und mit dem Schlaf kämpfen muss.
    Ich kannte das von den wenigen Malen, in denen ich in der Kirche war. An Weihnachten, an Ostern und ab und zu während meiner Konfirmandenzeit. Ich sah keinen großen Sinn darin, dass ein Mann dafür bezahlt wurde einen Text runterzuleiern, den er sich aufgeschrieben hatte. Unser ehemaliger Pfarrer, Herr Weichsler, hatte mit Leidenschaft über Treue gepredigt und dann war herausgekommen, dass er seine Frau schon seit einiger Zeit mit einer anderen betrog. Irgendwie fiel mir jedes Mal dieses Ereignis ein, wenn mir jemand was über Religion erzählte. Ich hatte früher immer gedacht, dass die, die gläubig sind, vorbildlich und fehlerlos leben. Aber unser Pfarrer hatte mich vom Gegenteil überzeugt, und ich hatte mich gefragt, ob nicht vielleicht alle Frommen so scheinheilig waren. Bis ich die Landaus getroffen hatte. Eigentlich machten sie nicht den Eindruck, irgendwas vorzutäuschen. Sie machten mir wieder klar, dass vielleicht nicht alle überzeugten Christen so falsch waren wie unser Pfarrer. Aber was verstand ich schon davon?
    Ich nahm erst mal eine Dusche und frühstückte dann vor dem Fernseher. Da ich mich beim Essen wieder Mal an Elm erinnerte, rief ich ihn kurzerhand in Kalifornien auf seinem Handy an. Das er mal wieder nicht erreichbar war, erfuhr ich von der flötenden Computerstimme an der anderen Leitung, und ich sprach einfach auf den Anrufbeantworter. „Hi Elm. Wollte nur wissen, was du so machst. Hier bei meiner zukünftigen Familie ist es nicht mal so schlecht, aber ich fühl mich nicht so wirklich dazugehörig. Die sind so anders, weißt du. Naja ich würd’ ja gern noch mehr sagen, aber ich fühl mich im Moment so albern, weil ich laber und mir eh keiner zuhört, also ruf mich zurück Elm, falls du zufälligerweise in den nächsten Wochen mal ausnahmsweise dein Handy benutzten solltest. Also bis dann.“ Ich legte auf und mich überkam so etwas wie Heimweh. Seitdem ich von München nach Marburg gekommen war, hatte ich nie mehr Heimweh gehabt. Seit ich bei Björn war... Jetzt war er weg, weit weg, und ich war alleine bei Leuten, die ich ja nicht mal leiden wollte. Ich ließ mich auf das Wildledersofa sinken, zog die Beine an und legte meinen Kopf auf die Knie. Alleine. Es war wieder da, dieses elende Gefühl des Alleingelassenseins.
    „Okay Gott, wenn du mich jetzt hörst“, hörte ich mich plötzlich flüstern. „Daniel hat gesagt, dass ich mit dir reden kann, wenn ich mich einsam fühle, und ich fühle mich gerade sehr einsam. Das ist ein blödes Gefühl.“ Hatte das überhaupt einen Sinn? Ich fühlte mich wie eben, als ich auf Elms Anrufbeantworter gesprochen hatte. „Ich will Björn zurück, das ist alles. Ich bin nicht bereit, ihn mit dieser Joana Landau zu teilen. Ich hab doch auch noch ein Wörtchen mitzureden, oder? Schließlich ist er mein Bruder. Aber wie ich diese ganze Heiratsaktion finde, das wollen die alle noch nicht mal hören. Das ist doch nicht fair. Er ist doch mein Bruder...“ Meine Stimme wurde heiser und meine Augen feucht. „Hilf mir bitte, wenn du mich hörst.“

    Der Nachmittag verlief wie ein typischer Sonntagnachmittag in einer perfekt harmonischen Familie. Ich suchte verzweifelt nach einem Fehler, der mir einen Grund gab, sie zu hassen, aber ich fand nichts. Klar, Dan stichelte Ly und sie reagierte mit frechen Bemerkungen, aber das war ja nichts Besonderes. Ich wollte sie hassen, ich wollte es wirklich, denn dann würde es mir sicherlich besser gehen, glaubte ich zumindest.
    Nach dem Mittagessen gingen wir spazieren. Es hatte heute schon nicht mehr geregnet, aber der gestrige Regen hatte der Natur gut getan, denn alles war sattgrün. Werner, der gestern Abend von seiner Geschäftsreise zurückgekommen war, hatte den Arm um Marion gelegt und erzählte in den blumigsten Farben von seinen Erlebnissen. Jeder der an uns vorbeikam, grüßte freundlich lächelnd. Hier schien alles perfekt zu laufen.
    Am Abend fragte mich Marion, wo ich am liebsten Essen gehen wollte und wir gingen in ein echt geniales Chinarestaurant, wo ich mir den Bauch voll schlug. Nur rührte ich diesmal bewusst den Glückskeks nicht an. Ich scherzte mit Werner und stellte fest, dass er wirklich Sinn für Humor hatte. Ich mochte ihn. Nur Lydia war das Essen zu scharf und sie war am laufenden Band am Trinken. Gut für mich, denn ich verputzte ihre Portion noch zusätzlich, so dass Dan eine scherzhafte Bemerkung über meine schlanke Linie machte, auf die ich ja achten sollte. „Ich kenne wenige Mädels, die bei McDonalds einen BigMac statt einen Salat nehmen, aber du gehörst anscheinend dazu.“ Er sagte es nicht direkt, aber ich wusste, dass er BigMac-Mädels mehr mochte, als Salat-Mädels. Kein Wunder, wem gefielen auch schon diese blassen Rohkost-Vegetarier-Tussen, die sich was auf ihre Rippen einbildeten und unbedingt Germany’s next Topmodel werden wollten?
    Wir waren erst um elf Uhr wieder zu Hause, und ich war ziemlich müde. Daniel bot mir zwar noch an, sich einen Film mit ihm anzusehen, aber noch nicht mal diese verlockende Aussicht konnte mich von meinem Bett abhalten. Ich ging hoch, tastete mich in dem dunklen Flur an der Wand entlang und wollte meine Zimmertür öffnen, aber sie war verschlossen. Ich versuchte es noch ein paar Mal, rüttelte daran und wunderte mich. Ich hatte sie auf jeden Fall nicht zugeschlossen. Da fiel mir auf, dass ich eine Tür zu weit war, tastete mich zurück und fand dann doch mein Zimmer, das auch ordnungsgemäß offen war. Ich war zu müde, um mich darüber zu wundern, warum diese eine Tür verschlossen war und es war mir eigentlich auch egal. Aber hätte ich gewusst, was sich dahinter verbarg, ich hätte mit Garantie kein Auge zu tun können.



    Re: Geschichte!

    Ruth - 29.07.2008, 18:40


    suuuuuper geschichte! riesen kompliment!! und jetzt noch schneller weiter, ich bin ein riesen fan der geschichte!!!



    Re: Geschichte!

    claudi - 29.07.2008, 21:28


    ich stell dann mal gleich 2 kapitel rein:


    7. Kapitel

    „Sam, kann ich heute Nacht bei dir schlafen?“ Lydia stand in ihrem dünnen Nachthemd in dem Türrahmen zu meinem Zimmer und blinzelte, weil ich die Nachttischlampe noch anhatte.
    „Klar“, sagte ich. „Kannst du nicht schlafen?“
    Sie nickte. „Ich kann einen Tag vor meinem Geburtstag nie einschlafen.“
    Ich konnte das zwar nicht verstehen, erinnerte mich aber, dass es mir früher genauso ergangen war. Früher, als meine Eltern noch gelebt hatten. Es schien mir eine Ewigkeit her.
    Sie kroch unter meine Bettdecke und zog sich die Decke bis zum Kinn.
    „Tun dir deine Zähne immer noch weh?“, fragte ich sie, während ich den John Grisham Schmöker weglegte und das Licht ausknipste.
    „Hmhm“, machte sie und nickte heftig. Ich glaubte, dass sie sich nur anstellte, aber das gehörte wohl einfach zu ihr. Sie wollte halt Aufmerksamkeit. Dabei hatte sie doch eigentlich schon mehr als genug davon, sollte man meinen.
    „Singst du mir was?“, bettelte sie.
    Ich wäre ja einverstanden, wenn ich mit ihr beten sollte, aber singen...
    „Ich kann gar nicht singen“, sagte ich deshalb, um mich aus der Sache rauszureden.
    „Egal“, sagte da die nervtötende Lydia. „Ich merk’ gar nicht, wenn jemand falsch singt.“
    „Ich mag singen auch nicht“, sagte ich schnell und hoffte, dass die Sache damit gegessen war.
    „Warum denn nicht?“
    „Ich dachte du hättest Zahnschmerzen“, bemerkte ich, um sie endlich zum Schweigen zu bringen.
    „Aber ich kann trotzdem noch reden.“
    „Ich singe einfach nicht gerne. Ich singe besser gesagt nie. Ich will eben nicht, dass jemand krepiert, nur wegen meiner Stimme, weißt du?“ Ich grinste und sie kicherte albern. Aber die Hauptsache war, dass sie nicht weiterfragte. Ich hatte ihr nicht die ganze Wahrheit erzählen wollen. Ich sang seit dem Tod meiner Mutter tatsächlich nicht mehr. Nie. Nicht unter der Dusche, nicht wenn mein Lieblingslied im Radio lief, ich pfiff nicht mal. Früher habe ich oft mit meiner Mutter gesungen. Sie hat mich in Opern und Musicals mitgenommen, mir Gesangs- und Geigenunterricht bezahlt, mich in der Schule in die Chor-AG geschickt, wo ich bei jeder Aufführung einen Solopart bekommen hatte. Die Musik war, auch wenn es schwer zu glauben ist, ein wichtiger Teil meines Lebens gewesen. Ich hatte gerne gesungen, weil meine Mutter es gemocht hatte, weil meine Mutter es so gewollt hatte und weil sie es geliebt hatte, mich singen zu hören. Sie hatte gewollt, dass ich später einmal auf eine Musikschule ging und Sängerin wurde und ich hatte es auch gewollt, bis dieser grauenhafte Flugzeugabsturz passiert war, der mir nicht nur meine Eltern, sondern auch ein Stück von mir selbst genommen hatte. Ich war anders geworden, ab diesem Zeitpunkt. Nie wieder hatte ich die Lust verspürt, zu singen. Etwas war verloren gegangen. Etwas tief in mir verletzt, tief drinnen. Der Sinn und die Leidenschaft für die Musik waren plötzlich weg, hatten keine Bedeutung mehr in meinem Leben. Es war einfach ein Geheimnis von Mama und mir, das war so und würde immer so bleiben. Björn hatte sich zuerst gewundert, dass ich keinen Ton mehr sang, aber er hatte es akzeptiert, dachte wohl, ich hätte es mit der Pubertät verlernt. Und es war mir lieb, das er so naiv war.
    „Erzähl mir dann was.“ Lydias Stimme riss mich zurück in die Realität.
    „Was willst du denn hören?“
    „Ist mir egal. Denk dir halt was aus.“
    Ich seufzte und begann die typische zauberhafte-Prinzessin-wird-von-mutigem-Traumprinzen-gerettet-Geschichte zu erzählen. Als ich fertig war, war ich schon ganz heiser.
    „Die Geschichte war doof“, sagte Ly dann und ich hätte sie am liebsten erwürgt. Da riss ich mir den Hintern auf, um sie zu amüsieren, und sie fand’s doof.
    „Dann erzähl du mir was“, krächzte ich.
    Sie dachte kurz nach. „Gut, also ich erzähl dir jetzt ne Geschichte, die echt passiert ist, und zwar genau hier im Haus.“
    Bestimmt erzählte sie jetzt von ihrer letzten tollen Geburtstagsparty, an der sie den ganzen Tag Barbie gespielt hatten und anschließend Sissi gesehen hatten, aber ich hatte mich getäuscht.
    „Also, vor ungefähr zwei Jahren“, begann sie mit so einem geheimnisvollen Unterton in der Stimme, „da waren nur ich, Danny und...“, sie stockte und verbesserte sich dann, „nur ich und Danny zu Hause. Es war am Hochzeitstag von Mama und Papa. Papa hatte Mama Eintrittskarten zum König der Löwen Musical geschenkt und da waren die hingefahren. Das Wetter war total blöd, es hat die ganze Zeit geregnet. Daniel und ich haben bis spät noch das Spiel des Lebens gespielt, das dauert ja so lange, und dann sind wir ins Bett gegangen. Mitten in der Nacht bin ich aufgewacht, weil ich draußen an der Tür was gehört hatte. Zuerst hab ich gedacht, ich hätte mir das alles nur eingebildet und es war nur das Gewitter, das mich geweckt hatte, aber dann hörte ich noch Mal ein Geräusch und ich ging zu Daniel ins Zimmer. Der war auch schon wach und sagte mir, dass ich mich ganz ruhig verhalten sollte. Ich fragte ihn, ob das Einbrecher waren, aber er antwortete mir nicht und sagte nur, ich sollte keine Angst haben. Dann hat er bei der Polizei angerufen und gesagt, dass in der Schlossgartenstraße 14 gerade eingebrochen wurde. Er hat sich tatsächlich die Pistole genommen, die Opa ihm geschenkt hat. Opa war nämlich früher Polizist und hat ihm seine alte Dienstwaffe geschenkt, mit der kann man natürlich nicht mehr schießen, die ist nur noch zum Angucken gut. Mir hat er gesagt, dass ich das Licht im Flur anknipsen sollte, sobald die Tür aufgehen würde. Dann sollte ich schnell zurück in mein Zimmer laufen und abschließen. Ich hatte richtig Schiss, ehrlich. Danny hat sich auf die Treppe gestellt und nach einer Zeit ging die Tür auf, und ich knipste das Licht schnell an. Ich sollte ja eigentlich in mein Zimmer laufen, aber ich war zu neugierig und blieb stehen wo ich war, von da aus konnten die mich nämlich nicht sehen. Die Typen haben einen richtigen Schock gekriegt, kann ich dir sagen, als die die Pistole gesehen haben. Daniel hat nämlich gesagt: Ziemlich dämlich bei einem Bullen ins Haus einzubrechen, glaubt ihr nicht auch? Es waren zwei Männer und ich hab gehört wie der eine gesagt hat: Scheiße. Okay, ist ja gut.
    Strümpfe vom Kopf und an die Wand stellen, aber plötzlich!, hat Daniel gesagt und ich musste mir das Lachen verkneifen, obwohl ich immer noch voll Schiss hatte. Die Männer haben gemacht, was Danny ihnen gesagt hat, und dann kam auch schon die echte Polizei. Die hat die dann alle in Handschellen gelegt und die haben uns noch über alles mögliche ausgefragt. Ich konnte dann die ganze Nacht nicht schlafen vor Angst.“
    „Klar, und ich bin die Kaiserin von China“, lachte ich und knuffte ihr in den Oberarm.
    „Glaubst du’s mir nicht?“, fragte sie, anscheinend verwundert über diese logische Tatsache.
    „Du verarschst mich, Ly. Hältst du mich für bescheuert? Daniel steht den Einbrechern mit einer Spielzeugpistole gegenüber...“
    „Das war keine Spielzeugpistole, das war Opas alte Dienstwaffe.“
    „Ist doch egal, das ist doch Schwachsinn, Ly.“ Ich wunderte mich nur, seit wann sie so eine blühende Fantasie hatte. Sie war doch sonst nicht so einfallsreich.
    „Ich versprech’s dir, ehrlich bei meiner Würde. Frag Daniel doch selbst.“
    Ganz abgesehen davon, dass Lydia nicht das kleinste Fünkchen Würde besaß, würde ich ihrem Rat ganz bestimmt nicht folgen. Sie wollte mich nur drankriegen. Ich konnte vielleicht die pq-Formel nicht, mag sein, aber naiv war ich trotzdem nicht.
    „Okay, lass uns jetzt schlafen, Ly. Ich bin müde und dank deiner tollen Geschichte, kann ich wahrscheinlich jetzt kein Auge zu tun.“ Ich drehte mich auf die andere Seite.
    „Aber Sam, du musst mir glauben.“ Sie rüttelte an meiner Schulter und ich bekam langsam einen zu viel.
    „Ist ja gut, ich glaub’s dir ja“, sagte ich, um sie zufrieden zu stellen. Schließlich war ja morgen ihr Geburtstag.
    Sie nahm mir das zwar nicht ab, sagte aber trotzdem nichts mehr und fünf Minuten später fing sie schon an, mir schamlos in mein rechtes Ohr zu schnarchen, sodass ich kurz vor’m Explodieren war. Ich versuchte dieses grauenvolle Geräusch einfach zu ignorieren, schaffte es aber nicht. Als sie sich dann auch noch ausbreitete, sodass ich an die Wand gedrängt wurde, hatte ich genug.
    „Das lass ich nicht mit mir machen, nein ganz bestimmt nicht“, murmelte ich und schälte mich aus der Decke, bemüht, sie nicht aufzuwecken. Ich hatte mal irgendwo gesehen, gehört oder wie auch immer, dass man schnarchenden Menschen die Nase mit einer Wäscheklammer zuklemmen musste, damit sie aufhörten. Wie bekam ich nur mitten in der Nacht eine Wäscheklammer? Jetzt murmelte sie auch noch im Schlaf, aber so schnell, dass ich nichts verstand. Wer weiß, am Ende sabberte sie auch noch auf mein Kopfkissen. Na toll. Lydia schnarchte weiter. Irgendwo würde ich doch wohl eine Wäscheklammer herbekommen. Logisch nachdenken, sagte ich mir. Wäscheklammern benutzte man im Normalfall um Wäsche aufzuhängen und Wäsche waren in der Waschküche. Gut, die würde ich ja wohl auch noch finden. Ich schlich mich aus dem Zimmer und stahl mich den Flur entlang. Es war dummerweise stockdunkel, so dass ich das Skateboard nicht sah, das direkt vor der Treppe lag. Ich trat drauf, das dumme Ding rollte mir unter den Füßen weg, ich landete auf meinem Hintern und das verflixte Board rollte laut scheppernd die Treppen runter. Ich biss mir auf die Lippen und kniff die Augen zusammen. Das hatte sicherlich noch die letzte Küchenschabe geweckt.
    „Samira, was ist denn los? Ist alles in Ordnung?“ Marion hatte das Licht angemacht und stand blinzelnd im Türrahmen des Schlafzimmers, hinter ihr tauchte Werner auf und sah mich mit verschlafenem Blick an. Zu guter Letzt trat auch noch Daniel auf den Flur und fragte, was passiert sei.
    „Ich bin auf der Flucht. Die Außerirdischen kommen!“, sagte ich, während ich mich am Treppengeländer hochzog. Ein kläglicher Versuch der Sache ein weinig Humor zu verleihen. „Wer lässt denn sein Skateboard am Treppenabsatz stehen?“
    „Ich glaube, das hat Lydia da stehen lassen. Suchst du irgendwas, soll ich dir was holen?“, fragte Marion fürsorglich, als hätte ich keine eigenen Beine.
    „Ähm, nein schon in Ordnung. Wollte nur mal Christoph Kolumbus spielen, auf der Suche nach einer...Wäsche...nach einer Wasserflasche.“ Jetzt hatte ich Trottel mich auch noch fast verplappert. Die hätten mich wahrscheinlich für schizophren gehalten, wenn sie den wahren Grund wüssten, warum ich nachts auf dem Flur rumschlich.
    „Die findest du in der Küche“, gab Werner zum Besten.
    „Herzlichen Dank, aber das hab ich mir schon fast gedacht“, murmelte ich. „Geht wieder schlafen, das mit den Außerirdischen war nur ein Scherz, kein Grund zur Panik, hab mir nur meinen Knöchel gebrochen.“ Ich humpelte die Treppe runter und tat so, als würde ich in die Küche gehen, doch als sich die letzte Tür hinter ihnen geschlossen hatte, ging ich in die andere Richtung in das Treppenhaus, das sicherlich in den Keller führte. Ich fand dummerweise keinen Lichtschalter, humpelte im Dunkeln die steile Treppe runter, in der Hoffnung, dort irgendwo einen Schalter ausmachen zu können, verirrte mich bei der Suche in dem labyrinthartigen Kellergewölbe, bis ich endlich einen Schalter fand. Dann merkte ich jedoch, dass es der falsche gewesen war, denn ich stand in der Garage und das Garagentor ging mit quälend lautem Quietschen auf.
    „Du dummes Ding, geh ja wieder zu, oder du wirst mich kennen lernen.“ Ich drückte wie wild auf den Knopf, bis dass das Tor stehen blieb und langsam wieder runterging. Hoffentlich hatte das keiner gehört. Ich fand dann endlich doch einen echten Lichtschalter und nach einer Zeit auch die Waschküche. Die war aber so riesig, dass ich gar nicht wusste, wo ich anfangen sollte zu suchen. Ich brauchte sicher eine Viertelstunde, bis ich endlich eine bescheuerte rote Wäscheklammer fand.
    Den Rückweg fand ich glücklicherweise leicht und als ich Lydia gerade das Ding an die Nase klemmen wollte, drehte sie sich plötzlich auf den Rücken, und atmete durch den Mund weiter. Ich wartete und dachte, gleich würde das Schnarchen wieder anfangen, aber ich wartete vergebens. Ich war so dermaßen sauer, dass ich das Fenster öffnete und die verfluchte, rote Klammer so weit wie möglich wegschmiss. Dann legte ich mich neben Lydia zurück und versuchte einfach nur noch zu schlafen. Ich war müde, stinksauer und mein Knöchel tat höllisch weh. Es dauerte keine zwei Minuten, da fing sie wieder an zu schnarchen...

    8. Kapitel

    Nie wieder würde ich den Fehler begehen mit einem Mädchen in Lys Alter in einem Zimmer zu schlafen, das am nächsten Tag Geburtstag hatte. Um sechs Uhr morgens war Lydia schon wach und ließ mich keine Minute mehr zur Ruhe kommen.
    „Glaubst du, dass Mama und Papa schon wach sind?“
    „Nein! Hundert pro nicht. Schlaf wenigstens noch zwei Stunden, okay?“
    „Sahaam, ich kann jetzt nicht mehr schlafen“, quengelte sie. Dann warf sie sich auf mich und umarmte mich so fest, dass mir die Luft abgedrückt wurde.
    „Könntest du mich dann bitte wenigstens noch eine halbe Stunde schlafen lassen?“, schnaufte ich und drehte mich so ruckartig um, dass sie von mir runterpurzelte.
    „Aber heute ist mein Geburtstag, da musst du machen was ich will. Du hast mir ja noch nicht mal gratuliert.“ Sie fing an, mich mit ihren Haarspitzen im Gesicht zu kitzeln.
    „Ich gratuliere dir, wenn ich wach bin“, knurrte ich und drehte mein Gesicht zur Wand.
    „Sa-haam, sei nicht so ein Bruu-humbä-häär“, sagte sie mit verstellter Singsangstimme. „Du bist außerdem schon wach.“
    „Ich wi-hill aber nicht wa-hach sein. Definitiv nicht. Nicht um sechs Uhr morgens, Ly.“
    „Singst du mir ein Geburtstagslied?“ Sie hörte mir anscheinend überhaupt nicht zu.
    „Du weißt, dass ich nicht singe.“
    „Hab ich vergessen.“ Sie begann, in meinem Schrank zu wühlen. „Warum hast du nur solche Jungensachen, Sam? Immer nur grau, schwarz, grün. Das ist ja voll langweilig. Wieso ziehst du nie was pinkes an?“
    „Erstens: Wühl nicht in meinen Sachen rum. Zweitens: Ich bin doch keine Barbie. Drittens: Sei ruhig!“
    „Erstens: Okay. Zweitens: Achso. Drittens: Ich hab heute Geburtstag und kann machen was ich will.“
    „Gut.“ Ich erhob mich. „Gut, schön. Ich hab jetzt noch nicht mal mehr Lust zu schlafen. Komm her du kleines Monster.“ Ich nahm sie in den Arm und drückte so fest zu, dass ihr die Luft wegblieb. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Hoffentlich wirst du bald gescheiter, einsichtiger, vernünftiger, netter, hübscher.“ Sie lachte und gab mir eine Kopfnuss.
    „Ich weiß, dass du heute Geburtstag hast und ich dir all deine Wünsche erfüllen muss und so weiter, also sing ich dir auch ein Geburtstaglied. Das heißt, ich singe ja nicht. Aber ich rappe.“
    „Dann musst du mir also ein Geburtstagslied rappen.“ Ly klatschte begeistert in die Hände.
    „Ja, aber du musst mir dabei helfen. Ein Rap funktioniert nämlich nicht ohne Beat, okay? Du musst immer diesen Takt klatschen.“ Ich klatschte rhythmisch in die Hände. „Und dabei musst du immer dieses Geräusche machen:“ Ich imitierte ein paar einfache Takte eines Schlagzeuges.
    „Gut, du schlägst den Takt und ich rappe. Auf drei, okay? Alles bereit?“ Sie nickte begeistert. „Eins, zwei, drei.“ Lydia spielte ihre Rolle miserabel, aber ich ignorierte ihren grauenhaften Takt einfach. „Happy Birthday, to you, yeah“, rappte ich. „Marmelade im Schuh. Aprikosen in den Hosen, yeah. Happy Birthday to you, baby. Happy…”
    „Ihr amüsiert euch bestens, was?“
    Ich wirbelte herum. Scheiße, Dan!, dachte ich nur noch.
    „Ja, Sam hat mir gerade ein Geburtstagslied vorgerappt“, sagte Lydia begeistert. „Machst du’s noch mal, Sam?“
    „Ähm, nein. Das war doch genug oder?“
    „Gerappt? Wie Sido? Bist du ein Aggroberlin-Fan?“, fragte Dan auch noch.
    „Nein, nein. Um alles in der Welt.“ Ich schüttelte heftig den Kopf.
    „Sam kann nur nicht singen. Sie kann halt nur rappen.“ Prima Lydia. Sie hatte dem Ganzen noch das fehlende i-Tüpfelchen gegeben. Das hatte sie mit ihrem Scharfsinn ja mal wieder toll hinbekommen. Daniel musste mich jetzt nicht nur für völlig geschmacksverirrt halten, sondern auch noch für komplett unmusikalisch.
    Wenn er das tat, ließ er sich das zumindest nicht anmerken, denn er klopfte mir auf die Schultern und sagte lachend: „Witzige Idee, ehrlich. Ein Geburtstagsrap. Sollte ich vielleicht mal in meiner Band besprechen.“
    Daniel ging an mir vorbei auf Lydia zu, um ihr zu gratulieren und irgendwie wollte ich das nicht sehen, deshalb zog ich mich schnell, unter dem Vorwand duschen zu müssen, zurück.

    An diesem Tag erlebte ich das erste Mal eine Landauer-Familienfeier mit. Ich hatte schon keinen Bock mehr, als ich die tausend Kuchen sah, die Marion schon drei Tage davor gebacken hatte. Wir hatten das Haus am Vortag geschmückt. Alles war voller Luftballons, Girlanden und Luftschlangen, sodass man sich nicht mal gescheit bewegen konnte. (Ich neige, wie ja alle wissen, oft dazu, zu übertreiben.)
    Ich half Marion die Tische im Garten zu decken. Es war zum Glück schönes Wetter, so dass man bequem draußen feiern konnte. Zum Mittagessen trafen die ersten Gäste ein. Eine Lissy, die jüngste Tante von Dan und Ly, und beide Großelternpaare Landau und Meizner. Zugegeben, ich mochte sie auf Anhieb, denn sie hatten alle so etwas Besonderes, Aufgeschlossenes, das ich an ihnen bewunderte. Opa Landau, der ehemalige Polizist, erinnerte mich sofort an Dan. Er hatte früher sicher mal genauso ausgesehen wie sein Enkelsohn. Ich fragte mich nur, ob ihn die Tussen auch überall hin verfolgt hatten.
    Mit der Zeit trafen immer mehr ein, sodass ich mich langsam fragte, ob die Familie überhaupt ein Ende nahm. Onkels, Tanten, Kusinen, Cousins vom Kleinkind bis zum Knacker. Alle wurden freudig begrüßt und ich wurde jedem einzelnen vorgestellt. „Willkommen in der Familie, Sam.“ „Schön dich kennen zu lernen.“ „Hab schon einiges von dir gehört.“ „Du siehst Björn aber gar nicht ähnlich.“
    „Mir schwirrt der Namen vor Kopf“, sagte ich zu Dan, der mir seine Großfamilie vorstellte. „Äh, ich meine natürlich der Kopf vor Namen.“
    Er lachte nur und beschwichtigte mir, ich müsse mir das alles nicht sofort merken. Wie beruhigend!
    Lydia hatte an einem Tag so viele Geschenke bekommen wie ich in sechzehn Jahren meines Lebens nicht. Die hatten anscheinend alle Geld wie Heu. Ich schätzte keines der Geschenke unter fünfzig Euro. Von ihren Eltern hatte sie ein Handy und einen neuen Schreibtisch bekommen, von Dan einen Kinogutschein für 5-mal Film nach freier Wahl.
    Bei Tisch dankte Werner wie gewöhnlich erst mal für die guten Gaben und das Zusammensein, bevor man anfing zu essen. Ich glaubte zu wissen, dass alle der Anwesenden gläubig waren.
    Ich hatte mich neben Dan gesetzt, denn nur der Gedanke, ganz „alleine“ neben all den fremden Leuten zu sitzen, machte mir schon Angst. Ich mochte große Familienfeiern überhaupt nicht. Vielleicht, weil ich es nicht gewöhnt war. Meine Familie war sehr klein und nie waren alle da gewesen, wenn wir ein Familienfest veranstalteten. Das war nie gegangen, weil alle so weit weg wohnten oder verstritten waren und sich somit weigerten, zu kommen. Meine Mutter wurde schon als Baby von ihren Eltern in ein Kinderheim gesetzt, aus einem Grund, den ich nie erfahren habe. Sie wuchs nur in Betreuung irgendwelcher Pfleger auf. Die Eltern meines Vaters wollten meinen Vater nicht mehr sehen, seit er meine Mutter geheiratet hatte. Sie kam aus keiner reichen Familie und hatte keine Vergangenheit. Ich hatte sie das erste und wahrscheinlich auch letzte Mal auf der Beerdigung meiner Eltern gesehen und kaum ein Wort mit ihnen gewechselt.
    Ich war deshalb erstaunt diese riesige Familie friedlich beisammen zu sehen. Sie kamen extra wegen dem Geburtstag einer ihrer vielen Nichten, vielleicht von weiter her und beschenkten sie, als wäre sie das einzige Kind für das man sein Geld ausgeben konnte. Sie unterhielten sich lachend, jeder mit jedem, machten fröhliche Gesichter, scherzten. Die Jüngeren spielten alle friedlich miteinander und freuten sich einfach. Es kam mir so unreal vor. Das hatten wir mit unserer winzigen Familie niemals, nicht ein einziges Mal geschafft. Es gab etwas, was diese Menschen alle miteinander verband, sie zusammenhielt und kein Platz ließ für Streit, Ärger und schlechte Laune.
    „Hey Sam, wie gefällt’s dir hier in Limburg bei den Landaus?“, fragte mich eine Tante von der Meizner-Seite.
    „Es ist cool hier. Danke. Und wo kommen Sie her?“
    „Oh, nenn mich ruhig Melanie und um alles in der Welt lass das Sie weg. Ich komme aus Frankfurt.“
    „Okay, Mel?“
    Die Frau mir gegenüber, ungefähr zehn Jahre älter als ich, lachte amüsiert. „Du bist ein Spitznamentick, oder? Ich habe schon gehört, wie du Daniel Dan und Lydia Ly genannt hast.“ Sie wandte sich zu den Jugendlichen, die zusammensaßen und sich anscheinend gut verstanden. „Hey Leute, ihr seid vielleicht unhöflich, lasst euer neuestes Familienmitglied einfach so alleine hier stehn.“
    „Sorry Sam, war keine Absicht“, rief der siebzehn-jährige, rothaarige Kevin. „Kannst ruhig hier rüber kommen.“
    „Setzt dich doch zu ihnen“, forderte mich Mel auf. „Die sind alle ganz lieb.“ Sie zwinkerte mir zu und ich mochte sie auf Anhieb.
    Ich hasste es, um mich herum viele Leute zu haben. Ich war ständig misstrauisch, weil ich es nicht gewohnt war, nett behandelt zu werden. (Das lag wohl daran, dass ich selbst nicht nett war) Aber ich gab mir einen Ruck, um nicht feige auszusehen und ging zu den anderen rüber.
    „Hi“, sagte ich nur und setzte mich irgendwo außen hin. Ich wünschte, Dan wäre jetzt hier, aber er unterhielt sich gerade mit irgendwelchen anderen Familienangehörigen.
    „Meinst du nicht, dass es langsam Zeit ist, Lydia ein Geburtstagslied zu singen?“, fragte Kevin. Ich runzelte die Stirn.
    „Du kennst unser traditionelles Geburtstagslied ja noch gar nicht“, sagte ein braunhaariges, etwa vierzehn Jahre altes Mädchen. „Kevin, sag, dass es Zeit ist für das Lied.“
    Kevin erhob sich und bat mit erhobener Hand um Ruhe, die auch sofort einkehrte. „Ich glaube fast, die Zeit ist gekommen für das Lied, was meint ihr dazu?“
    Lydia strahlte und klatschte in die Hände. „Ja, bitte!“
    Alle fielen in ein fröhliches Gelächter ein und Daniel und Werner erhoben sich, gingen zu Lydia hin, die sich schon auf einen Stuhl gesetzt hatte, nahmen die Enden des Stuhles und der Großvater Landau stimmte mit seiner tiefen Bassstimme an: „Hoch soll sie leben.“ Alle stimmten mit ein: „Hoch soll sie leben, dreimal hoch...“ Und bei diesen Worten hoben Dan und Werner den Stuhl hoch in die Luft, sodass Lydia fast runterfiel. „Hoch, hoch“, sangen alle und sie wurde noch zweimal hochgehoben, so dass sie vor Begeisterung kreischte. Als sie nach dem dritten Mal „Hoch!“ auf den Boden gelassen wurde, klatschten alle und sie lief vor lauter Freude rot an.
    Ich klatschte auch und irgendwie, ich weiß noch nicht mal wieso, wurde mein Blick unklar. Warum um alles in der Welt musste ich heulen? Ich sprang schnell auf, bevor das noch jemand sah und eilte ins Haus, wo ich erst mal ins Badezimmer ging. Ich setzte mich auf die Toilette, zog die Beine an und legte meine Stirn auf die Knie. Ich hörte sogar von hier noch das Gelächter und irgendwie stimmte mich das alles unglaublich traurig. Konnte ich mich denn nie freuen? Einfach nur freuen. Wenn es Grund zum Frohsein gab, heulte ich und wenn ich jemandem eins ausgewischt hatte, freute ich mich. Irgendwie kam ich mir so unglaublich schlecht vor. Plötzlich klopfte es an die Tür und sie ging auf. Werner stand da.
    „Oh, ich dachte, ich hätte abgeschlossen“, sagte ich schnell und wischte mir flüchtig die Tränen aus den Augen.
    „Passiert mir auch manchmal, wenn ich ganz dringend muss“, scherzte er und setzte sich auf den Badewannenrand. „Ich hab gesehen, wie du reingelaufen bist. Stimmt irgendwas nicht, Sam?“
    „Doch, doch, schon alles in Ordnung“, beeilte ich mich zu sagen.
    „Dann ist das da wohl eine plötzliche Singallergie.“ Er deutete auf meine roten Augen.
    „Ja furchtbar, die quält mich schon seit meinen jungen Jahren.“ Mein Aussehen musste zu diesem Scherz ziemlich grotesk wirken.
    Er lächelte aber nicht. „Fühlst du dich nicht wohl? Hast du Heimweh, vermisst du vielleicht Björn? Oder ist es etwas ganz anderes?“
    „Ich...ich weiß es eigentlich selbst nicht so genau“, versuchte ich mich rauszureden.
    „Hör zu Sam, sag mir einfach, dass du nicht darüber reden willst, und ich bin sofort weg. Aber falls du drüber reden möchtest, bei mir findest du ein offenes Ohr.“
    „Ach es ist...“ Ich zog die Nase hoch. „Es ist nur...Mir ist nur klar geworden, als ich Lydias Gesicht gesehen hab...Naja ich hab mich gefragt, ob ich in ihrem Alter auch nur ein einziges Mal so gestrahlt habe wie sie. Mein elfter Geburtstag war...er war grauenvoll. Ich kann mich noch daran erinnern. Weg von zu Hause, bei meiner Tante in München, die ich nicht mochte. Sie hat mir so ein scheußliches lilafarbenes Haarband geschenkt.“ Ich musste ein bisschen lachen. „Als hätte ich es jemals getragen. Und naja, dann hat sie von McDonalds ein Happy Meal mitgebracht und damit meinte sie dann, habe sie meine Wünsche erfüllt. Hat mich mit einem kitschigen Liebesfilm, der eigentlich gar nicht für Kinder in meinem Alter gedacht war, alleine gelassen und ist zu ihrem Freund. Ich habe den ganzen Abend nur noch geweint. Das einzige Schöne waren die zehn Minuten, in denen Björn mich angerufen hat.“ Ich sah auf meine Hände und merkte, dass Werner die erste Person nach vielen Jahren war, der ich mein Herz ausschüttete. Das war normalerweise gar nicht meine Art. Aber ich wunderte mich schon gar nicht mehr.
    „Ah, also alte Erinnerungen.“
    „Nicht nur das.“ Wenn ich schon mal dabei war, dachte ich, konnte ich ihm auch gleich alles erzählen. Ich berichtete ihm von meiner eigenen kleinen, verstrittenen und verstreuten Familie. „Früher ist mir gar nicht so aufgefallen, was mir alles gefehlt hat. Ich fand Familientreffen einfach nur bescheuert, hasste meine Familie und dachte, das sei normal. Jetzt merk ich erst, wie viel ich verpasst habe...“ Ich schnäuzte in ein Klopapierblatt.
    „Ja, du hast recht, wir haben wirklich eine einzigartige Familie, und wir sind alle sehr froh darüber. Aber weißt du, Gott hat dir andere Dinge geschenkt. Einen Bruder, der dich über alles liebt, für dich sorgt, wie ein Vater. Ich weiß nicht, wie Daniel in solch einer schwierigen Situation reagieren würde, ob er überhaupt noch an Lydia denken könnte, wenn er plötzlich alleine mit ihr dastehen würde. Björn ist wirklich bewundernswert, das sollte dir immer vor Augen stehen. Es gibt sicher noch Dinge, von denen ich nicht mal weiß, aber für die man einfach dankbar sein sollte. Und sieh, das was da draußen ist, ist jetzt auch deine Familie. Wir sind sehr froh, dass du hier bist, Sam. Dass du bald zu unserer Familie gehörst. Und wir möchten dir gerne all das geben, was dir bis jetzt gefehlt hat, in Ordnung?“
    „Danke. Ihr seid alle so nett zu mir, das hab ich eigentlich gar nicht verdient.“
    „Ach Blödsinn. Jetzt komm wieder mit raus und amüsier dich noch ein bisschen, heute ist schließlich Lydias Geburtstag und sie wäre sicher nicht einverstanden damit, wenn sie dich weinen sehen würden.“
    „Ja“, ich lachte. „Das denke ich auch.“
    Als wir rauskamen, erhob sich direkt ein braungebrannter Mann im mittleren Alter und die Gespräche verstummten. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz neben Dan und ein kleines Mädchen starrte mich neugierig aus dunklen Knopfaugen an, die mich irgendwie an die Augen meines Lieblingskuschelteddybären erinnerten. Das Mädchen streckte die Ärmchen nach mir aus und ich nahm sie auf den Schoß. Es war, als wüsste die Kleine, was Werner und ich eben besprochen hatten. Ich vergrub meine Nase in ihrem seidig weichen Haar.
    „Meine lieben Brüder, liebe Schwägerinnen und Kinder und so weiter und so weiter“, begann der Mann, der aufgestanden war. „Wie ihr ja alle wisst, arbeite ich nun seit fünf Jahren in Südamerika in der Mission. Und ich muss sagen, es läuft bestens. Und ich denke, dass auch ihr viel dazu beigetragen habt. Ich bin euch sehr dankbar, dass ihr mich mit eurem Geld und natürlich mit euren Gebeten immer noch so geduldig versorgt. Ohne euch wäre diese Organisation nie zu Stande gekommen und ich soll euch für eure reichliche Unterstützung besonders im Namen der Einheimischen danken. Die Mission macht reichlich Fortschritte. Wir haben hundertsieben Angestellte, Einheimische wie auch Ausländer und konnten schon in viele Gebiete durchdringen, wo es noch niemand hingeschafft hat. Es haben sich gottlob auch schon viele, viele Eingeborene bekehrt.“
    Er erzählte noch eine Zeit von verschiedenen Erlebnissen im Dschungel und ich hörte ihm wirklich interessiert zu. Ich war baff. Die Landaus hatten zwar Schotter ohne Ende, aber sie gaben auch ohne Ende weg. Sie bezahlten eine ganze Mission mit zig Angestellten als Familie. Sie hätten ein Denkmal verdient, soviel stand fest und gleich noch eins dazu, weil noch nicht mal ich wegen ihrer Bescheidenheit davon erfahren hatte.
    Nach dem Bericht des Mannes begann man, den Tisch abzuräumen und dann
    unterhielt ich mich mit ein paar, bis um sechs Uhr Lydias Pyjamapartygäste eintrafen und langsam die Familie den Rückzug antrat. Wer konnte es ihnen übel nehmen? Ich bekam zum Abschied von jedem eine Umarmung. Und ich fühlte mich plötzlich so, als würde ich dazugehören. Alle gaben mir dieses Gefühl und ich war ihnen unglaublich dankbar dafür.
    Daniel und ich beschäftigten uns mit zwölf aufgedrehten in Schlafanzug bekleideten Mädchen, spielten mit ihnen, bis wir kein Spiel mehr sehen konnten, sahen uns mit ihnen sogar einen Teeniefilm mit Hilary Duff an und machten um Mitternacht eine Nachtwanderung- im Schlafanzug, versteht sich. Dank der Tatsache, dass die Schlossgartenstraße ganz am Ende von Limburg steht, war in direkter Nähe ein Wald, wo wir glücklicherweise um diese Zeit kein menschliches Wesen mehr antrafen.
    In der Zwischenzeit hatten Marion und Werner das große Gemeinschaftszelt aufgebaut, in denen die Mädels schlafen sollten. Ich war heilfroh, als Lydia sich breit vor den Zelteingang stellte und verkündete, dass hier nur Mädchen unter sechzehn rein durften. Dan und ich taten, als täte uns das furchtbar leid, wünschten ihnen eine gute Nacht und gingen durch das dunkle Haus zu unseren Zimmern.
    „War echt ein schöner Tag heute“, flüsterte ich Dan zu.
    „Das ist es immer, bei so einer Feier. Vor allem mit der Familie“, flüsterte er zurück.
    „Warum flüstern wir eigentlich? Deine Eltern sind doch noch gar nicht im Bett.“
    „Ich flüster weil ich heiser bin, Mann.“
    Ich lachte leise, wisperte aber weiter: „Deine Familie ist sehr nett.“
    „Ja, das stimmt. Schön, dass es dir so gefallen hat und danke, dass du mir mit den Girls geholfen hast. Ich hätte das alleine nicht überlebt. Dann könnte ich jetzt noch nicht mal mehr flüstern.“
    Ich lächelte und merkte erst später, dass er das ja wegen der Dunkelheit gar nicht sehen konnte. Wir waren an unseren Zimmern angelangt.
    „Okay, schlaf gut und ruh dich gut aus“, sagte er, noch immer leise.
    „Mach ich. Gute Nacht.“
    Ich warf mich auf mein Bett und schlief sofort ein, und das erste Mal seit ich hier war, war ich richtig glücklich.



    Re: Geschichte!

    Ruth - 29.07.2008, 21:47


    wow, diese geschichte ist wirklich einfach der hammer, ich bin süchtig danach!!! weeeiteeer :lol:



    Re: Geschichte!

    claudi - 30.07.2008, 12:06


    9. Kapitel

    „Daniel! Da ist jemand für dich an der Tür.“ Marions Stimme drang von drinnen gedämpft an mein Ohr.
    Ich sah von dem Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel auf und schaute blinzelnd in die strahlende Sonne über mir.
    „Ly, ich muss mal eben auf die Toilette. Lass alle Männchen da stehn, wo sie sind, klar? Ich hab mir jeden Standort genau gemerkt.“
    „Mach nicht zu lange.“
    „Ja, ja.“ Ich schlüpfte in meine Flip Flops, die neben mir im Gras lagen und schlurfte durch die Terrassentür in die Kühle des Hauses. Ich musste unbedingt wissen, wer an der Tür war.
    „...wegen Chemie...Probleme...“, hörte ich schon von weitem die Stimme eines weiblichen Wesens, das alle meine Alarmglocken schellen ließen. Das war die Stimme der Tussi am Telefon neulich.
    „Das geht im Moment ziemlich schlecht, ich hab gleich Fußballtraining...“ Daniel hatte mich entdeckt.
    „Oh Nadine, darf ich dir jemanden vorstellen: Samira Schäfer. Sie gehört bald zur Familie.“ Er legte den Arm um mich. Perfekt. Er hatte ja keine Ahnung, was er Nadine damit antat. Ihr dämlicher Gesichtsausdruck bestätigte meine Vermutung, sie musste uns einander für versprochen halten. Und im Gegensatz zu mir schien Dan völlig unwissend. Er glaubte anscheinend wirklich, sie wolle Chemie lernen. Mitten in den Sommerferien. Einleuchtend.
    „Du kannst aber so ab sechs noch mal vorbeischau’n, dann müsste ich wieder da sein.“
    Ich musste auf jeden Fall verhindern, dass diese eingebildete Ziege Daniels Zeit für nichts und wieder nichts in Anspruch nahm. „Wie wäre es, wenn ich ihr ein bisschen helfen würde?“, bot ich daher gütig an.
    „Du?“ Daniel sah mich ungläubig an.
    „Ich weiß, in Mathe bin ich ein Loser. Aber Chemie hab ich echt drauf.“
    „Aber das ist Chemie aus der 12., Sam.“
    „Chemie ist Chemie und Chemie ist logisch.“ Ich zuckte mit den Schultern.
    „Genau wie Mathe.“ Er sah mich immer noch verständnislos an.
    „Mathe...“ Ich zog die Nase kraus und rollte die Augen. „Mathe ist was vollkommen anderes.“
    „Okay, wenn du Nadine helfen kannst, klar.“
    „Ist schon in Ordnung, ich komme einfach später. Ich will ja nicht deine Zeit verschwenden“, wandte sich Nadine mit geheuchelter Rücksicht am mich.
    „Nein, tust du nicht, echt. Ich liebe Chemie“, erwiderte ich in geheuchelter Hilfsbereitschaft. „Außerdem sind Dans Freunde auch meine Freunde.“ Ich lächelte übertrieben freundlich.
    „Das ist nett von dir Sam, ehrlich. Ich mach mich dann mal fürs Training fertig, in Ordnung? Ihr kommt ja zurecht.“ Er verschwand. Nadine konnte jetzt nichts mehr sagen.
    „Lass uns in mein Zimmer gehen, da haben wir wenigstens Ruhe.“
    Sie folgte mir mit einem drei-Tage-Regenwetter-Gesicht. Ich spielte die Unwissende. „Ach, das kapierst du schon. Ich sorge dafür, dass du die nächste Arbeit in zehn Wochen nicht verhaust.“ Die Betonung legte ich auf zehn Wochen, wobei ich ihr übermitteln wollte, dass ich sehr wohl ihr Spielchen durchschaut hatte. Aber die Schlaftablette Nadine verstand diesen Wink natürlich nicht.
    „Gut, also was ist dein Thema?“, fragte ich, als sie ihr Heft und ihr Buch aus ihrem rosa Schiki-Miki-Täschchen hervorzog. Wortlos schlug sie ihr Heft auf und schob es mir zu.
    Nukleophile Substitution, las ich. „Klar, die Nukleophile Substitution“, sagte ich kennerisch. Ich hatte diesen Begriff noch nie zuvor gehört. „Die gehört doch in die organische Chemie.“ Das hatte ich gerade in ihrem Heft gelesen. „Ähm, also was davon verstehst du nicht?“
    „Die Reaktionen.“
    „Gut, also alles. Ähm... beginnen wir doch...“ Ich sah mir die Gleichungen an, „mit der ersten. Sauerstoff als Nukleophil.“ Ich las mir kurz den dazugehörigen Text durch, warf ein paar flüchtige Blicke auf die Texte davor und hatte sofort den Überblick.
    „Verstehst du wenigstens ein bisschen?“
    „Ja, das Cl bedeutet Chlor.“
    „Zum Gück, das ist ja schließlich das Schwerste“, murmelte ich vor mich hin. „Gut, also die Synthese von Estern erfolgt durch die Substitution von Chlorid durch Carbonsäure. Auf Deutsch heißt das, dass das Chlorid durch die Carbonsäure ersetzt wird.“
    Die nächsten Minuten laberte ich sie mit irgendwelchen Reaktionen und deren Ergebnisse voll und hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass sie mir nicht mal mit halbem Ohr zuhörte.
    „Also fassen wir zusammen: Bei der nukleophilen Substitution reagiert...vervollständige den Satz!“
    „...ein Nukleophil in Form einer Lewis-Base mit einer organischen Verbindung vom Typ R-X, wobei das Heteroatom durch das Nukleophil ersetzt wird.“
    Der perfekt richtig geleierte Satz bestätigte meinen Verdacht, dass sie das Thema in Wirklichkeit bestens beherrschte.
    „Du kannst’s ja.“ Ich bemühte mich, nicht überrascht zu klingen.
    „Ja, ich glaub’, ich hab’s gerallt.“
    Mir war klar, dass sie es konnte, ich wollte sie aber nicht so ohne weiteres wegschicken, sondern brummte ihr noch ein paar Gleichungen auf, die sie machen sollte, damit sie sicherer wurde, wie ich behauptete. Sie konnte die Gleichungen fehlerlos aufschreiben und ich lobte mich in den höchsten Tönen, als wäre das mein Verdienst. Nadine rannte fast aus dem Haus. Ich hatte meine Sache gut gemacht und sie vertrieben, hoffentlich für immer.
    Um halb sechs kam Daniel heim und fragte sofort, wie es gelaufen war. „Ach, die konnte das schon alles bestens“, sagte ich ihm.
    „Wieso ist sie dann gekommen?“
    „Daniel“, sagte ich mit flehender Stimme. Ich konnte nicht fassen, dass er die Sache immer noch nicht durchschaut hatte. „Das war ein Vorwand. Das sieht doch jeder Blinde mit Krückstock, der bergauf bremst.“

    „Samira, kann ich reinkommen?“
    „Klar.“ Ich war gerade dabei, mir ein bisschen englische Grammatik anzusehen, die ich nicht verstand. Nicht, dass ich das freiwillig tat, mein Gewissen zwang mich dazu. Ich sah nämlich ständig Frau Kaiser vor mir und dachte an ihre Worte im Bezug auf Besserung. Vielleicht konnte ich ja wirklich, wenn ich wollte. Ich musste mich einfach bessern, allein um ihr den ganzen Stress, den sie wegen mir hatte zu ersparen.
    Marion trat ein. „Ich wollte kurz mit dir sprechen.“ Sie setzte sich neben mich aufs Bett. „Werner, Daniel und ich würden morgen gerne nach Frankfurt zu unseren Verwandten fahren. Die ganze Landau-Familie wird da sein. Wir wollen über die Missionsgesellschaft sprechen, du hast ja bestimmt davon mitbekommen, als mein Schwager Thomas am Dienstag etwas dazu gesagt hat. Es wird nicht großartig interessant, zumal dort nur die Erwachsenen sein werden. Wir reden über finanziellen Kram und so. Daniel ist sehr interessiert an der ganzen Sache und wenn du mitkommen möchtest, kannst du das gerne tun, wir möchten dich aber auch nicht zwingen.“
    „Wann fahrt ihr?“
    „Etwa gegen Mittag.“
    „Und was ist mit Lydia?“
    „Wenn du dich entscheidest, mitzukommen, bleibt sie bei einer Freundin. Wenn du hier bleibst, bleibt sie auch hier. Du kannst es dir ja noch mal überlegen, es ist dir freigestellt.“
    „Okay, danke.“
    „Gut.“ Sie lächelte und stand auf. Sie war wie immer geschmackvoll und vorteilhaft gekleidet und ich musste zugeben, dass sie für ihr Alter enorm hübsch war. Wie Joana, dachte ich finster.
    Sie nahm die lehre Cappuccino-Tasse auf meinem Nachttisch mit, als sie raus ging, drehte sich aber noch mal um. „Was ich vergessen habe, wir werden über Nacht in Frankfurt bleiben. Du solltest dann ein paar nötige Dinge einpacken.“
    Ich warf das Grammatikbuch in die Ecke. Ich hatte keinen Bock mehr. Lydia musste bald vom Klavierunterricht zurückkommen und bei Dan würde das mit der Jungschar, oder was auch immer er da für eine Kindergruppe leitete, wohl noch etwas länger dauern. Ich schnappte mir meine Inliner und fuhr ein bisschen durch Limburg, kaufte mir ein Eis und fuhr dann Lydia entgegen, die die Strecke von zu Hause bis zu ihrer privaten Klavierlehrerin immer zu Fuß ging. Ich gab ihr mein Eis, weil sie mir unmissverständlich zu verstehen gab, dass sie es gerne hätte, und ich fragte sie, was sie von der Frankfurtfahrt hielt.
    „Das is’ voll langweilig da, echt. Die reden da nur den ganzen Tag rum und gucken sich Akten oder so was durch. Bitte bleib hier bei mir, das wird viel witziger.“
    Einerseits wollte ich lieber hier bleiben, da ich mir bei dem ganzen Landau-Clan sowieso nur überflüssig vorkommen würde, andererseits könnte es mit Dan doch ganz lustig werden, und ich würde liebend gerne zwei Tage mit ihm ohne irgendwelche Freunde oder Klassenkameraden verbringen. Aber ich sah ein, dass Lydia mir keine Ruhe lassen würde, für sie war es natürlich beschlossene Sache, dass ich bei ihr blieb. Sie bildete sich anscheinend ein, dass ihre Anwesenheit unverzichtbar war. Außerdem würde ich von Daniel wahrscheinlich eh nichts haben, wenn er sich tatsächlich für diesen Kram interessierte, über den die Landaus spekulierten. Deshalb verkündete ich beim Abendbrot, dass ich hier bleiben würde. Daniel bedauerte das, und Marion sagte auf Anhieb: „Lydia, ich hoffe nicht, dass du deine Hände im Spiel hattest.“ Sie warf ihrer Tochter einen kritischen Blick zu, die nur mit den Schultern zuckte. Ich kannte diesen Blick. Er erinnerte mich an den eines Lehrers, wenn er wissen wollte, ob die Hausaufgaben von einem Mitschüler abgeschrieben waren.
    „Wie du möchtest Samira. Ich lass euch ein paar Pizzen da, die ihr euch aufwärmen könnt. Ansonsten holt euch doch einfach einen Döner oder so. Wir sind ja nicht lange weg.“
    „Keine Sorge, ich kann kochen. Ich koche seit fünf Jahren für Björn und mich.“
    „Tut mir leid, das hatte ich vergessen. Dann kannst du dich an der Gefriertruhe im Keller bedienen.“
    „Aber bitte, die Leichen stehen dir zum Verzehr zur Verfügung“, sagte Daniel mit Grabesstimme, sodass Lydia in schallendes Gelächter ausbrach.
    „Daniel.“ Marion sah ihren Sohn entrüstet an und schüttelte dann lächelnd den Kopf.
    „Frau Mutter, seid nicht so gestreng mit eurem Sohne. Ihn trifft keine Schuld an Eurer Angewohnheit Eure Opfer in der Gefriertruhe zu verstauen“, mischte sich Werner in geschwollener Sprache ein.
    „Also Werner, du nicht auch noch.“ Marion kniff ihn in die Seite.
    „Mama, was ist das denn hier für gutes Fleisch?“, fragte Lydia grinsend und stocherte in ihrem Hackfleischbällchen rum.
    „Ist das der Klaus oder die Hedwig?“ Daniel verzog das Gesicht. „Sag jetzt bitte nicht Klaus, der ist schon vor einem Monat abgelaufen.“
    Lydia fiel fast vom Stuhl vor lachen und Marion hatte alle Mühe es sich zu verkneifen. „Jetzt ist aber gut, also bitte. Ich hab gleich keinen Appetit mehr. Werner, sag doch was.“ Jetzt musste sie auch lachen.
    Ich saß nur da und fragte mich bestimmt zum hundertsten Mal, ob es irgendwo auf der Welt noch eine zweite Familie gab wie diese.

    Ich habe ja schon einmal diese verschlossene Tür erwähnt, die ich mit meiner Zimmertür verwechselt habe. An diesem Abend, als ich von der Toilette kam und daran vorbeiging, hörte ich ein Rumoren aus dem Zimmer. Ich runzelte die Stirn, trat näher und hörte es deutlicher. Ich war kurz davor, die Tür zu öffnen, um zu sehen, wer drin war, irgendwas hielt mich aber davon ab. Es interessierte mich eigentlich auch gar nicht wirklich, also ging ich weiter. Aber dann hörte ich, wie die Tür aufging. Ich drehte mich um und sah Daniel mit einer kleinen Sporttasche rauskommen. Er schloss die Tür wieder ab und ging weg, ohne mich gesehen zu haben. Komisch. Ich dachte, das wäre vielleicht irgendeine Abstellkammer oder ein zweites Gästezimmer. Hatte Daniel seine Klamotten da drin? Eine Art begehbarer Schrank? Ich wusste es nicht, wunderte mich ein bisschen, dachte mir aber nichts dabei. Wenn ich gewusst hätte, was es damit auf sich hatte, ich wäre garantiert nicht so schnell eingeschlafen.



    Re: Geschichte!

    Ruth - 30.07.2008, 13:15


    uuuuuh, was da wohl drinn ist? :D weiteeer :P



    Re: Geschichte!

    claudi - 31.07.2008, 09:50


    10.Kapitel

    „Ihr kommt zurecht, ja?“
    „Klar“, antworteten Ly und ich wie aus einem Mund.
    „Mama, lass die Armen endlich in Ruhe und komm jetzt, wir sind doch nur zwei Tage weg“, rief Dan aus dem Auto.
    „Samira, tut mir leid, dass du wegen Lydia zu Hause bleibst. Ich weiß, dass es wegen Lydia ist. Wenn wir wieder da sind, unternehmen wir was du willst, in Ordnung?“
    „Das macht mir nichts aus“, sagte ich. „Es ist schon okay.“
    „Gut. Amüsiert euch. Und wenn irgendwas ist, die Nummer von meinem Schwager steht auf einem Zettel neben dem Kabeltelefon. Die Hausschlüssel liegen auf dem Küchentisch. Sperrt abends ab, die Alarmanlage funktioniert mal wieder nicht. Wenn jemand anruft, sagt, er kann uns auf dem Handy erreichen. Meine Handynummer steht übrigens auch auf dem Zettel neben dem Telefon. Lasst keine Mechaniker rein, wir haben nämlich keine gerufen. Ein beliebter Trick, um ins Haus einzubrechen...“
    „Mama“, unterbrach Ly ungeduldig. „Wir sind doch keine zwei Jahre mehr.“
    „Ja, okay.“ Marion war sichtlich nervös. Sie strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und seufzte. „Machs gut mein Schatz.“ Sie küsste Ly auf die Wange und umarmte mich kurz. Lydia rollte genervt mit den Augen. „Sie hat immer Schiss, wenn ich alleine bleibe, auch wenn sie nur zum Aldi fährt.“
    Wir winkten dem davonbrausenden Wagen hinterher und verschwanden ins Haus, als er nicht mehr zu sehen war. Irgendwie kam mir das Haus jetzt so riesig und unhandlich vor.
    „Was machen wir jetzt?“, fragte Ly und klatschte in die Hände. Der Gedanke begeisterte sie anscheinend, sturmfrei zu haben.
    „Lass mich raten: Spielen.“
    „Nee. Wir feiern jetzt eine Party. Ich lade meine Freundinnen ein, okay?“
    „Lydia.“ Das meinte sie doch wohl nicht ernst. „Du kannst doch nicht...Nein, das erlaube ich nicht.“ Es fing an, Spaß zu machen.
    „Aber du bist nicht meine Mutter...“
    „Wir können ja gerne deine Mutter anrufen und sie fragen. Ihre Handynummer steht auf dem weißen Zettel neben dem Schnurtelefon, direkt unter der Nummer von deinem Onkel.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Also?“
    „Mann, du Spielverderber.“
    Ich spielte den lieben langen Tag mit ihr und sie nannte mich einen Spielverderber!
    „Also ich hätte jetzt Bock auf den Pool.“ Ich war noch nie in dem Pool der Landaus gewesen, der sich im Keller befand.
    Sie zuckte beleidigt mit den Schultern. „Geh doch.“
    Ich zog meinen Badeanzug an und schwamm ein bisschen herum, bis Lydia runterkam und mir mitteilte, dass sie bei ihrer Freundin schlafen würde.
    „Wieso denn auf einmal? Solltest du nicht nur zu deiner Freundin, wenn ich nicht hier geblieben wäre?“
    „Jepp, aber sie hat grad angerufen und gefragt, ob ich trotzdem will.“
    „Geh doch“, sagte ich ein bisschen beleidigt und tauchte unter. Toll, ich war schließlich nur wegen ihr hier geblieben. Aber andererseits waren die Aussichten ohne Lydia doch auch nicht schlecht. Dann konnte ich mir mal wenigstens die Sendung ansehen, die mich interessierte oder so lange schlafen, wie ich wollte.
    „Ich pack meine Sachen, heut Abend werde ich abgeholt.“

    Der Abend war ziemlich einsam. Ich war Einsamkeit ja gewohnt, aber bei den Landaus hatte ich herausgefunden, dass ich es mehr mochte, in Gesellschaft zu sein. Ich mochte diese grauenhafte Stille nicht. In jedem Raum, in dem ich mich befand, schaltete ich deshalb irgendwas an. Entweder das Radio, die Stereoanlage, oder den Fernseher. Das minderte das Gefühl der Einsamkeit ein bisschen. Ich backte mir eine Pizza auf, machte den Fernseher an, sah mir noch das Ende von einem alten James Bond Film an, hatte dann aber keine Lust mehr und langweilte mich. Ich legte mich aufs Sofa, während der Fernseher immer noch lief. Es war noch zu früh, um zu schlafen. Mein Blick fiel auf die Bibel, die auf dem kleinen Sofatischchen lag. Ich griff sie mir, blätterte ein wenig darin herum und las die Stellen, die unterstrichen waren. Dann kam ich zu einem Kapitel, das „Evangelium nach Johannes“ hieß. Ich las mittendrin und stellte fest, dass es ja gar nicht so langweilig war, wie ich immer gedacht hatte. Es wurde von Jesus erzählt, wie er gekreuzigt wurde. Ich hatte zwar schon davon gehört, kannte aber keine Einzelheiten. Ich vertiefte mich in die Geschichte, verfolgte gespannt die Handlung, aß zwischendurch einen Joghurt und fragte mich, warum Jesus das alles mit sich hatte machen lassen. Er hätte ja immerhin die Macht gehabt, seine Feinde alle umzubringen. Warum hatte er das nicht getan? Ich verstand das nicht. Ich wusste nicht wieso, aber plötzlich fiel mir Björn ein. Ich hatte, seitdem er mir das mit der Hochzeit gesagt hatte, nicht mehr mit ihm geredet. Ich nahm das schnurlose Telefon zur Hand und starrte es lange an.
    Er hätte mich anrufen sollen, dachte ich. Er ist schließlich Schuld an dem Streit.
    Ein paar mal war ich kurz davor, seine Handynummer einzutippen, ließ es aber doch. Ich hatte schließlich auch meinen Stolz. Es kostete eine Menge Überwindung ihn anzurufen, um ihm zu sagen, dass es mir leid tat. Nach einer Zeit, als ich so hin- und herüberlegt hatte, tippte ich endlich seine Nummer ein, die ich auswendig kannte.
    „Ja?“ So meldete er sich immer am Handy.
    „Björn?“
    „Sam?“
    Ich wusste erst nicht, was ich sagen sollte. „Hey, wie geht’s euch?“
    „Gut, danke.“ Er konnte die Verwunderung in seiner Stimme nicht verbergen.
    „Was habt ihr so alles gemacht?“, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel.
    „Ach komm schon Sam, deswegen rufst du nicht an.“
    „Ja, eigentlich...es tut mir leid, Björn.“
    „Was?“
    „Das ich...Mann, du weißt schon warum.“
    „Okay.“ Er lachte. „Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Was ist mit dir los, Schwesterchen?“
    „Sei froh, dass ich mich überhaupt entschuldigt habe und mecker’ nicht noch rum.“
    „Bin ich ja, bin ich ja. Ist bei euch alles klar?“
    Ich erzählte ihm, dass ich alleine war und erklärte ihm, wo die anderen waren.
    „Was macht ihr so den ganzen Tag außer rumknutschen?“, wollte ich von ihm wissen.
    „Sam, was hast du gegen Joana?“
    „Wer hat denn gesagt, dass ich was gegen sie hab’?“
    „Der Unterton in deiner Stimme.“
    Ich biss mir auf die Lippen. Ich mochte zwar die Landaus immer mehr, aber davon war Joana tatsächlich ausgeschlossen.
    „Ich hab’ nichts gegen sie“, log ich.
    „Wir waren heute in einer wunderschönen Stadt, der Name interessiert dich sowieso nicht.“
    Wie gut er mich kannte.
    „Wir sind eigentlich jeden Tag auf irgendwelchen Touren quer durch Griechenland. Mal dahin, mal dorthin.“
    Ich konnte spüren, wie er bei diesen Worten die Schultern zuckte und musste lächeln.
    „Es ist wunderschön hier, Sam. Irgendwann fliegen wir mal zusammen hier hin.“
    „Ja, ganz genau. Wenn du fünf liebe Kinderchen hast und eine billige Putzhilfe brauchst, nimmst du mich mit, was?“
    Er lachte. „Ich hatte eigentlich vor, das etwas früher zu machen. Wenn ich vielleicht ein kleines Baby habe. Das wirst du doch wohl noch schaffen, oder?“
    „Ha, ha, ha!“
    „Was hältst du von Daniel?“
    Ich wurde rot. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“
    „Och, nur so.“
    „Björn, jetzt komm mir nicht mit deinem nur so. Wie kommst du darauf? Sag!“
    „Wieso bist du so scharf drauf das zu wissen?“
    „Stell mir keine Gegenfragen!“
    „Wieso, du hast mir doch eine Gegenfrage gestellt.“
    „Nein, hab’ ich gar nicht.“
    „Hast du.“
    „Hab’ ich nicht.“
    „Hast du.“
    „Ist doch egal. Ich wollte doch nur wissen, warum du wissen willst, wie ich Daniel finde.“
    „Und ich wollte ganz einfach wissen, wie du Daniel findest. Warum stellst du dich so an? So bist du doch sonst nicht.“ Er klang wirklich verwundert und ich biss mir auf die Lippen. Jetzt hatte ich mich durch mein albernes Verhalten verraten.
    „Ach, er ist ganz okay“, antwortete ich deshalb so desinteressiert wie möglich.
    „Gut Sam, ich will ja nicht unhöflich sein, aber es ist schon ziemlich spät und wir sind ganz schön müde...“
    „Ja, ja ist gut. Ich wünsch’ dir ’ne gute Nacht.“ Ich legte auf und sah auf die Uhr in der offenen Küche. Halb elf. Ich gähnte und beschloss, ins Bett zu gehen. Dann fiel mein Blick auf Photoalben. Ich sah sie mir an. Es waren Hochzeitsphotos von Werner und Marion. Sie erinnerte mich an Joana und er hatte ziemliche Ähnlichkeit mit Lydia, nur Daniel konnte ich keinem zuordnen. Als aber ein Bild mit den Brauteltern kam, war es, als sähe ich in Dans Gesicht, nur ein paar Jahre älter. Nicht zu fassen. Er ähnelte seinem Großvater unglaublich.
    Als ich ins Bett schlüpfte, war es draußen schon so dunkel, dass ich die Rollläden gar nicht mehr runterzulassen brauchte. Ich machte das Fenster weit auf, denn es war stickig in dem Zimmer. Ich konnte nicht einschlafen. Irgendwie fand ich keine richtige Position zum Liegen. Ich entschied mich dafür, noch ein bisschen den John Grisham Roman weiterzulesen. Das würde mich wenigstens müde machen.
    Ich las noch fünfzig Seiten und als ich die Augen kaum noch offen halten konnte, war es schon halb zwei. Ich legte mich hin und war fast eingeschlafen, als seltsame Geräusche in mein Bewusstsein sickerten, die ich zuerst mit einem Traum verband. Ich öffnete meine Augen, aber das Geräusch war noch immer da. Ich saß plötzlich senkrecht in meinem Bett mit weit aufgerissenen Augen. Das waren Kratzgeräusche an der Tür und mir kam ein schrecklicher Gedanke, der mir einen Schauer über den Rücken jagte: Hatte ich die Tür abgesperrt? Als Lydia abgeholt worden war, war sie noch offen gewesen und nein, ich hatte den Haustürschlüssel auf dem Küchentisch nicht mal angerührt. Die Alarmanlage funktionierte nicht. Meine Hände wurden kalt und ich schwitzte wie verrückt. Das Geräusch sägte an meinen Nerven. Die Tür war zwar von außen nicht zu öffnen, aber leichter zu knacken, wenn sie nicht verschlossen war. Ich erinnerte mich an den Einbruch, von dem mir Lydia erzählt hatte, und mir wurde heiß und kalt abwechselnd. Ich schlich in Daniels Zimmer, von wo aus man Ausblick auf die Haustür hatte und spähte aus dem Fenster. Tatsächlich, eine Gestalt hatte sich an der Tür zu schaffen gemacht. Was sollte ich jetzt tun?
    Ruhig Sam. Gaaanz Ruhig. Klar denken, nicht den Verstand verlieren, sagte ich mir.
    Sollte ich mich einfach verstecken und warten, bis der Kerl genommen hatte, was er wollte, oder sollte ich handeln? Ich wunderte mich zwar, warum ein einziger Kerl einen Einbruch in eine Villa wagte, dachte aber nicht weiter darüber nach.
    Komisch, mein Verstand war plötzlich ganz klar. Das war wohl das Adrenalin in meinem Blut. Aber seltsamer Weise kam ich erst gar nicht auf die Idee, die Polizei zu rufen. Mein Blick fiel auf den Baseballschläger, den Daniel zur Verzierung an die Wand gehängt hatte, und ich nahm ihn kurzerhand runter. Mich packte plötzlich eine enorme Wut auf den Einbrecher. Einer gegen einen, das ist noch zu machen, dachte ich mir. Ich war froh, dass ich eine solche erfahrene Schlägerin war, und meine Hau-drauf-Reflexe meldeten sich. Ich war nicht mehr zu stoppen. Die Angst verlieh’ mir nicht nur Mut, sondern auch Kräfte. Ich lief die Treppe runter und stellte mich neben die Tür, wartete auf den Moment, in dem sie aufgehen würde. Alle Muskeln waren angespannt, der Baseballschläger zum Schlag schon ausgeholt. Ich wollte den Kerl ja nicht umbringen, deshalb würde ich ihm nur ordentlich eins in die Magengegend verpassen. Dann würde es für mich ja wohl nicht so schwer sein ihn mit meinen lang geübten Griffen unter Kontrolle zu halten. Jetzt fiel mir erst die Polizei ein, die dann ja auch einsetzten musste, aber es war zu spät. Meine Hände waren schweißnass, sodass ich schon Angst hatte, der Schläger würde mir aus der Hand rutschen. In Gedanken ging ich jeden einzelnen Schlag durch, den ich ihm verpassen würde und alles in mir war bereit.
    Plötzlich machte es Klack und die Tür ging langsam auf. Ich sah nur einen dunklen Schatten, holte Luft, packte den Schläger fester und...jetzt! Ich schlug dem Kerl den harten Holzschläger mit Wucht in den Unterleib, sodass dieser aufkeuchend zu Boden sackte. Ich warf mich auf ihn, packte seine Arme und drehte sie auf dem Rücken zusammen. Ein Aufschrei entfuhr ihm, aber er versuchte erst gar nicht, sich zu wehren. Ich hatte ihn voll erwischt.
    „Stop“, keuchte er. „Ich bin kein Einbrecher.“ Seine Stimme war vor Schmerzen nur ein heiseres Flüstern.
    „Ganz genau, du bist nur ein mieser, kleiner, dreckiger Dieb. So ein asozialer Drecksack, der sich ein bisschen was holen will, stimmt’s?“ Ich drückte seine Arme hoch und er keuchte.
    „Nein, hör auf, Mann. Ich gehöre hier hin, ich bin Silas Landau.“
    „Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich bin die Kaiserin von China, Ching Chang Chong mein Name.“ Ich hatte eine grauenhafte Wut auf den Typ. Wie konnte man nur so dreist sein?
    „Glaub mir, Mann. Ich bin der Zwillingsbruder von Daniel.“
    Im erstem Moment stutzte ich. So dreist konnte doch noch nicht mal ein gerissener Gauner sein.
    „Hör mal, du hast den falschen Fisch an der Angel. Ich gehöre bald zur Familie, klar? Ich bin...“
    „Ich weiß, du bist Samira Schäfer, die Schwester meines zukünftigen Schwagers Björn. Mach doch das Licht an und geh von mir runter, dann siehst du’s.“
    „Ja klar, den Trick kenn ich. In der Zeit, in der ich das Licht anmache, verpisst du dich. Und die Informationen lassen sich einfach besorgen.“
    „Meine Schwester Lydia hatte am Dienstag Geburtstag, und ihr Lieblingsfilm ist Sissi. Mein Vater hat eine Vorliebe für Poloshirts.“
    Ich war wie versteinert. Das hörte sich alles ziemlich echt an. Aber nein, das waren alles Informationen, die man einfach herausfinden konnte.
    „Was ist das traditionelle Ereignis bei Geburtstagen, wenn die Familie versammelt ist?“, hörte ich mich sagen. Das konnte kein Außenstehender wissen.
    „Das Geburtsgaslied: Hoch soll sie leben! Das Geburtstagskind wird dreimal in die Luft gehoben“, sagte er wie aus der Pistole geschossen.
    Ich war erstarrt, alles in mir sträubte sich dagegen. Nein, nein, das war unlogisch. Das konnte nicht sein. Ich sprang auf, rannte zum Lichtschalter, knipste das Licht an und der ganze Flur wurde augenblicklich in das gleißende Licht der Halogenstrahler getaucht.
    Der Typ, der behauptete Daniels Zwillingsbruder zu sein, erhob sich nur sehr langsam und stand schwerfällig auf, wobei er sich den Bauch hielt.
    Er sah auf. Ich begegnete seinem Blick. Nein. Das war Daniel. Seine Augen, sein Mund, seine Haare... Ich konnte mir den Schrei nicht verkneifen, riss die Hände vor meinen Mund, und mir wurde plötzlich so schwindelig, dass ich das Gefühl hatte, jeden Moment den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dass es Daniel nicht war, sah ich nur an seinen Haaren, die länger und ungepflegter waren und an seinem Körperbau. Er war dünner, abgemagerter, hatte nicht dieses gesunde Aussehen wie sein Bruder. Seine Haut war fast grau, die Wangen eingefallen, die Augen ausdruckslos. Da war kein Leuchten, kein Anzeichen auf die Lebensfreude wie in den Augen seines Bruders.
    Ich schluckte schwer und stützte mich an der Wand ab. „Was machst du hier, wo kommst du her, warum weiß ich nichts von dir?“
    „Viele Fragen auf einmal. Ich hab einen langen Weg hinter mir, ich würd’ jetzt gern was essen oder so.“
    „Du bleibst steh’n und beantwortest mir alles ganz genau.“
    „Ich hab’ nicht gewusst, dass du nichts von mir weißt, ehrlich. Dachte, meine Eltern hätten’s dir schon gesagt.“
    „Schon?“
    „Ich bin das Stück Scheiße in der Familie. Mich verheimlichen die so gut es geht.“ Er zuckte die Schultern und ließ sich auf dem Boden sinken. Sein Bauch tat ihm anscheinend immer noch weh und ich bereute es, ihn nicht gleich ganz zusammengeschlagen zu haben.
    „Wo kommst du * noch mal her?“, schrie ich außer mir. „Kannst du mir nicht wie ein normaler Mensch klar und deutlich alles erzählen?“
    „Hey Mann, reg dich nicht so auf, keep cool, okay? Ich komm grad aus der Anstalt...“
    „Anstalt?“ Ich verstand gar nichts mehr.
    Er zuckte mit den Schultern. „Entzugsanstalt.“
    Ich hatte das Gefühl, der Boden würde mir unter meinen Füßen weggerissen werden. Warum konnte ich jetzt nicht ganz einfach tot umfallen, auf der Stelle? Ich wollte den Typ nicht mehr sehen, denn er zerstörte etwas. Er zerstörte das idyllische Bild der Familie Landau. Das war es, was ich die ganze Zeit gesucht hatte, der Fehler, der diese Familie zu einer normalen Familie machte. Aber dieser Fehler war zu groß, um ihn als normal zu bezeichnen, und man hatte ihn mir verschwiegen. Absichtlich. Wie ich sie alle hasste!
    „Ich glaube das alles nicht, nein, das muss ein Irrtum sein.“ Ich rannte zum Telefon und tippte die Nummer der Freundin ein, bei der Lydia war. Sie hatte sie mir unter die Handynummer ihrer Mutter auf den weißen Zettel geschrieben.
    „Stop! Was machst du da?“ Das Monster war hinter mir aufgetaucht.
    „Rühr dich nicht von der Stelle, ich werde den Scheißirrtum gleich aufdecken, gleich regelt sich das alles schon. Es wird für alles eine vernünftige Erklärung geben.“ Ich ließ lange klingeln, bis sich eine verschlafene Frauenstimme meldete.
    „Geben Sie mir Lydia!“, bellte ich in den Hörer.
    „Entschuldigen Sie, ich weiß nicht wer Sie sind, aber es ist halb drei Uhr morgens. Lydia schläft.“
    „Es ist ein Notfall, beeilen sie sich, * noch mal!“, rief ich.
    Es dauerte, bis Lydia sich mit erschrockener Stimme meldete: „Was ist passiert?“
    „Wer ist dieses Monster, das behauptet dein Bruder zu sein? Lydia was geht hier vor? Sag mir, dass Daniel keinen Zwilling hat, der drogensüchtig ist. Sag es mir!“
    Stille.
    „Lydia!“
    „Warum ist Silas da?“, murmelte sie erschrocken mehr zu sich selbst.
    „Ihr Verräter, ihr gemeinen, elenden Verräter!“, schrie ich in den Hörer und schleuderte ihn wutentbrannt zurück in die Fassung.
    „Kennst du meinen Bruder?“
    Er nickte.
    „Persönlich?“ Meine Stimme wurde schrill, wie die von Frau Gröschler, wenn sie sich aufregte.
    Er nickte wieder und ich brach darauf in hemmungsloses Schluchzen aus.
    „Hey, ist alles in Ordnung?“, fragte er. Ich hatte das Gefühl, dass er richtig Schiss hatte
    „In Ordnung? Willst du das wirklich wissen? Nichts, gar nichts ist in Ordnung. Deine tolle Familie und mein ehrlicher, mich über alles liebender Bruder sind...sind...“ Ich drehte mich auf dem Absatz um. „Ich gehe jetzt in mein Zimmer, schließe meine Tür ab und nehme den Baseballschläger und ein Telefon mit hoch.“ Ich rannte hoch. Weg, nur weg von diesem grauenvollen Alptraum. Sicher würde ich morgen früh aufwachen und merken, dass es alles nur ein furchtbarer Traum gewesen war. Ich warf mich auf mein Bett und heulte und heulte, bis ich das Gefühl hatte, die 75% des Wasseranteils in meinem Körper waren aufgebraucht. Erst dann fiel ich in einen unruhigen Schlaf.

    11. Kapitel

    „Samira, antworte doch, bist du da drinnen?“ Marions schrille Stimme weckte mich. Sie klang fast panisch.
    Ich rieb mir die Augen und wusste erst nicht, was los war, bis ich mich erinnerte.
    „Samira, bitte mach die Tür auf, wir müssen reden.“
    Ich lag still in meinem Bett. Nichts, kein Wort würde ich mit denen reden. Warum waren die überhaupt schon da? Wollten sie nicht erst gegen Abend aus Frankfurt zurück sein? Ich begriff. Lydia hatte sie alarmiert, und sie waren schon so früh wie möglich gekommen. Ich sah auf die Uhr, während Marion weiter versuchte mich zum Aufschließen zu bewegen. Acht Uhr zwölf. Ich drehte mich auf die andere Seite. Ich würde heute den ganzen Tag schlafen.
    „Sam, bitte sag was“, meldete sich nun Werner von draußen zu Wort. „Sonst müssen wir annehmen, dass dir was passiert ist und die Tür mit Gewalt öffnen lassen.“
    „Ich lebe noch. Hat Mr. Zwillingsbruder vielleicht noch was von seinen Drogen übrig? Ich hätt’ jetzt liebend gern ein paar Pillchen davon“, rief ich. Sie sollten sich doch alle verpissen!
    „Sam, bitte. Wir müssen reden, das ist dumm gelaufen.“
    Ich hörte Marion leise weinen, stülpte mir das Kissen über den Kopf und ließ das Gerede dieser Verräter auf mich einwirken, wie das eintönige Prasseln des Regens, bedeutungslos, nicht würdig beachtet zu werden.
    Den ganzen Tag verbrachte ich in meinem Zimmer. Zwischendurch hörte ich, wie Daniel sich meldete. Wie sie sich alle den Hintern aufreißen, dachte ich mit grimmiger Befriedigung. Ich musste nur grinsen, nahm den John Grisham Roman und las das ganze Buch durch. Irgendwann versuchte Marion, mich mit Essen zu locken, aber ich schwieg beharrlich, obwohl ich wie verrückt Hunger hatte und aufs Klo musste. Aber damit musste ich wohl bis heute Nacht warten. Zum Glück war die Wasserflasche in meinem Zimmer noch voll. Verdursten konnte ich schon mal nicht. Irgendwann, es war bereits Nachmittag, hörte ich ein Geräusch und sah, wie jemand einen Zettel durch den Türspalt schob. Ich hob ihn auf und merkte, dass es ein Brief von Lydia war.
    Liebe Sam, sei bitte nicht mehr so böse auf uns und komm wieder raus. Ich vermisse dich nämlich. Ich hab dich lieb. Deine Lydia
    Liebe Lydia, schrieb ich zurück. Jemanden, den man lieb hat, lügt man nicht an. Sam
    Ich schob den Zettel durch den Spalt zurück, ließ noch eine Ecke auf meiner Seite, um zu sehen, wann sie ihn wegnahm. Kaum hatte ich ihn durchgeschoben, verschwand die Ecke auch schon aus meiner Sicht. Ly hatte anscheinend schon die ganze Zeit darauf gewartet.
    Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken und fragte mich, ob ich Björn oder den Landaus jemals wieder vertrauen konnte. Ich war verzweifelt.

    Ganz leise drehte ich den Schlüssel im Schloss um, öffnete die Tür unglaublich langsam und schlich mich auf Zehenspitzen raus. Es war drei Uhr morgens, da müssten sie eigentlich alle schon schlafen. Mein Magen knurrte wie ein wütender Köter, und ich musste dringend aufs Klo. Als ich an der Tür direkt neben meinem Zimmer vorbeischlich, stockte ich. Natürlich, das war keine Abstellkammer und auch kein begehbarer Schrank, das war Silas’ Zimmer. Jetzt verstand ich auch das Gebet für die Drogensüchtigen von Lydia. Ich verstand so manches. Leise schlich ich mich runter, ging aufs Klo ohne zu spülen, um durch das Geräusch keinen zu wecken und schlich mich dann in die Küche an den Backofen. Wie ich mir gedacht hatte: Reste vom Mittagessen. Die würde ich mir schnell warm machen.
    Plötzlich ging das Licht an. Ich schrie und wirbelte herum.
    „Ich wusste, dass du kommst.“ Daniel stand keine drei Schritte hinter mir.
    Weglaufen war zwecklos, das war mir klar, denn er stand im Türrahmen.
    „Samira, wir müssen reden.“
    „Ihr hattet zehn Tage Zeit zum Reden“, gab ich schnippisch zurück.
    „In der Mikrowelle steht aufgewärmter Nudelauflauf. Während du isst, erkläre ich dir alles.“
    „Gib dir keine Mühe.“ Ich holte mir dem Teller aus der Mikrowelle, ging an ihm vorbei, setzte mich an den Tisch und wollte gerade anfangen zu essen, da sah ich stirnrunzelnd auf den Nudelauflauf.
    „Wer gibt mir jetzt die Gewissheit, dass du nicht Silas bist und mir Drogen untergemischt hast?“, sagte ich sarkastisch.
    „Gestern wolltest du doch noch ein paar von seinen Pillchen.“
    Gut gekontert.
    „Du siehst ihm ja so ähnlich.“ Ich lachte affektiert. „Nicht zu fassen. Jetzt hast du ja auch noch Konkurrenz.“ Ich stockte. „Nein, halt. Du hattest ja schon immer Konkurrenz, ich weiß es nur erst seit gestern, also...“
    „Sam. Bitte. Lass mich das erklären.“
    „Was willst du mir erklären, Daniel? Wolltet ihr, dass ich nicht verwirrt werde, wenn ich dich gleich zweimal kennen lerne? Wolltet ihr mir diese ärgerliche Angelegenheit ersparen, euch nicht auseinanderhalten zu können, oder wolltet ihr das perfekte Bild eurer Familie nicht mit Dreck beschmutzen?“
    „Sam, es war Björns Idee, dir vorerst nichts von Silas zu erzählen.“
    „Oh mein ehrenwertes Bruderherzchen. Er hat tatsächlich fabelhafte Ideen, finde ich auch. Genau wie die Idee, mir eine halbe Ewigkeit zu verschweigen, dass er verlobt ist und statt Überstunden zu machen, sich in der Heimatstatt seiner Zukünftigen einen Namen zu verschaffen. Selbst der Dönermann kennt ihn. Nicht zu fassen. Mein Bruder ist so was von intelligent.“ Ich schob mir eine Fuhr Nudeln in den Mund.
    „Er wusste, dass du nicht begeistert sein würdest, wenn du von seiner Verlobung erfahren würdest“, begann Daniel einfach, ohne auf mein zynisches Gerede zu achten. „Er wusste, dass du uns dann mit Vorurteilen und Misstrauen begegnen würdest. Er hielt es deshalb für besser, wenn du erst mal nichts von einem drogenabhängigen, zukünftigen Familienmitglied erfahren würdest. Du würdest uns noch mehr Misstrauen entgegenbringen, hat er gesagt.“
    „Ich sag’s ja immer, mein Bruder ist so unsagbar klug, so einfallsreich.“
    „Sei ehrlich zu dir selbst, du hättest doch genau so gehandelt, wie Björn es vorrausgesagt hat, stimmt’s?“
    „Nein, hätte ich nicht. Ich hätte zuerst herausfinden wollen, wie ihr seid. Und dann hätte ich mir ein Urteil gebildet.“ Das war zwar glatt gelogen, aber es waren genau die Worte, die Björn mir Tag für Tag vorpredigte.
    „Ich kenne dich zu wenig, um zu beurteilen, ob du ehrlich mit dir selbst bist, aber ich denke, Björn wusste was er tat. Er kennt dich nämlich.
    Hör zu, Sam. Es tut uns leid. Es tut uns leid, dass wir dir das verheimlicht haben, es tut uns wirklich leid. Wir sehen ja ein, dass es ein Fehler war. Aber kannst du uns nicht einfach verzeihen und versuchen zu akzeptieren, dass ich einen Zwillingsbruder habe, der mit Drogen zu tun hatte?“
    „Du hast ja keine Ahnung, was für Ängste ich durchgestanden habe, als ich ihn unten an der Tür gesehen habe.“
    Plötzlich prustete er los und lachte so laut und hemmungslos, dass ich gar nichts mehr verstand.
    „Nein, so lustig war das eigentlich nicht“, kommentierte ich beleidigt.
    Er konnte mir nicht antworten, weil er so sehr lachen musste. „Nein, nein“, sagte er als er sich wieder gefangen hatte und sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischte. „Du hast das falsch verstanden. Ich stelle mir nur gerade vor...“, ein neuer Lachanfall unterbrach ihn, „...wie du ihm eins mit dem Baseballschläger überhaust. Zack!“ Er schlug mit seinem imaginären Schläger in die Luft. „Ich hätte viel darum gegeben, das gesehen zu haben, Sam. Als Silas das erzählt hat, konnte ich mich nicht mehr halten. Ich kann mir richtig vorstellen, wie du ihn wutentbrannt zusammenprügelst.“
    Jetzt musste ich auch grinsen. „Ich fand’s in dem Moment echt nicht so witzig.“
    „Weißt du“, er lachte wieder. „Weißt du, was er gesagt hat? Er hat gedacht, er krepiert, so fest hast du zugeschlagen, Mann“, er schüttelte den Kopf. „Du hast’s wirklich drauf, wenn du sogar Silas in die Knie zwingst.“
    „Und ich bin fast krepiert vor Angst. Ich sehe nichts wirklich humorvolles darin.“
    „Hey, verzeihst du uns?“
    „Bist du jetzt im Auftrag deiner Familie oder was?“
    „Nein. Aber ich spreche für sie alle.“ Er hielt mir seine Hand hin. Ich sah einen Moment darauf, im Zwiespalt mit meinem Stolz und meinem Wunsch, wieder in Frieden mit ihnen zu leben. Ich konnte ihnen ja nicht ewig böse sein, sie hatten schließlich nur gemacht, was Björn ihnen befohlen hatte. Er war der eigentliche Übeltäter und ihm würde es auch noch an den Kragen gehen. Ich nahm seine Hand und schüttelte sie. „In Ordnung.“
    „Puh, da fällt mir ja ein Stein vom Herzen. Wenn du Rachegedanken hast, bleibt am Ende keiner mehr am leben.“ Er boxte mir in die Schulter.
    „Der Witz war schlecht, Daniel.“ Ich boxte zurück.
    „Aua, nicht so fest, Mrs. Tomb Raider. Sie brechen mir noch den Arm.“
    „Halten Sie die Klappe Mr. Wehleidig. Erzählen Sie mir lieber was über Ihren Klon.“
    Er wurde augenblicklich wieder ernst. „Hey versprich mir eins: hab Geduld mit ihm, klar? Er ist schwierig. Falsche Freunde, verstehst du. Mit fünfzehn hat er angefangen Haschisch zu rauchen, und mit der Zeit wurden die Drogen immer härter. Er hat dann so eine total kaputte Freundin gehabt, der war schon nicht mehr zu helfen. Die war ein einziges psychisches und körperliches Wrack. Die hat ihm den Stoff besorgt.“ Er zuckte mit den Achseln. „Keine Kohle mehr, unfähig, den Führerschein zu machen. Es wurde schlimmer und schlimmer, bis meine Eltern ihn mit Polizeigewalt in eine Anstalt geschickt haben mit Entziehungskur und so. Das Schlimmste war ja, daneben zu stehen und nichts tun zu können. Er hat mich fast mit da reingezogen, aber ich hab irgendwann den Schlussstrich gesetzt.“
    „Was heißt das?“ Ich hatte mir eine Cola aus dem Kühlschrank geholt und nippte an der Flasche.
    „Ich hab mit vierzehn auch geraucht. Kein Haschisch, aber Nikotin. Als ich gesehen hab, wie das bei Silas ausgeartet ist, hab ich sofort aufgehört.“
    „Du hast geraucht?“
    „Naja, ausprobieren wie es ist. Und dann kam noch dazu, dass Silas im Kindesalter immer mein Vorbild war. Er ist fünf Minuten älter als ich. Er ist am 15. Dezember um 11.58 Uhr geboren und ich am 16.Dezember um 00.03 Uhr. Wir haben an unterschiedlichen Tagen Geburtstag.“
    „Nein!“ Ich lachte amüsiert. „Echt? Wie geil!“
    „Tja.“ Er zuckte mit den Schultern. „Weißt du, wir wollten auf der Rückfahrt nach Frankfurt an der Klinik vorbeifahren, in der Silas war, und hättest du mitgewollt, wollten wir es dir sagen und dir ihn vorstellen, obwohl es sicher nicht toll gewesen wäre, ihn gleich in der Drogenklinik kennen zu lernen. Aber du hast dich dagegen entschieden, deshalb wollten wir dir erst davon sagen, wenn wir wieder zu Hause sind. Keiner hat damit gerechnet, dass er aus der Klinik abhauen würde. Wir wussten ja, dass es ihm da nicht gefällt, aber dass er von Frankfurt bis nach Limburg trampen würde, hatten wir nicht geahnt.“
    „Weißt du was? Ich werde langsam müde. Wie spät ist es, vielleicht halb fünf? Schon bald Zeit, wieder aufzustehen.“
    Wir wünschten uns eine gute Nacht und gingen ins Bett. Irgendwie war ich erleichtert, dass es für das Verschweigen von Dans Zwilling eine Erklärung gab und dass es nicht, wie ich angenommen hatte, die Tatsache war, dass er die Familie blamierte. Wäre eigentlich auch ein wenig zu krass gewesen.



    Re: Geschichte!

    crossgirl14 - 31.07.2008, 15:33


    hey

    echt coole geschichte.. :top:
    ich will mehr!!!!!



    Re: Geschichte!

    Ruth - 01.08.2008, 10:43


    wow, das ist ja ne nachricht.... coohoool :lol: schnell weiter!!!



    Re: Geschichte!

    claudi - 02.08.2008, 15:30


    12. Kapitel

    Ich schlief bis ein Uhr nachmittags und wunderlicher Weise versuchte Lydia noch nicht mal, mich zu wecken. Entweder fühlte sie sich schuldig, und es galt als Wiedergutmachung oder sie dachte, meine Tür sei immer noch abgeschlossen. Ich schälte mich aus der Decke und fühlte mich immer noch unglaublich müde. Ich ging unter die Dusche, dann in die Küche. Als ich in den großen Ess- Wohn- und Küchenraum kam, schlug mir der Geruch von Nikotin entgegen, und der Fernseher lief. Auf dem Sofa gammelte doch tatsächlich dieser widerwärtige Daniel-Klon. In der einen Hand eine Kippe und in der anderen eine Flasche Bier. Er hatte nur Boxershorts an. Es war kein schöner Anblick. Ich beachtete ihn nicht, ging an ihm vorbei in die Küche und kochte mir einen Kaffe.
    „Hey, früher hat man mal guten Morgen gesagt“, rief Silas aus dem Wohnzimmer.
    „Früher hat man noch draußen geraucht“, gab ich patzig zurück. Sollte mir dieser Idiot nichts von Anstand erzählen.
    Er erhob sich, kam auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen. „Schlechter Start. Lass uns von vorn anfangen. Ich bin Silas, freut mich meine Peinigerin kennen zu lernen.“
    „Zieht das bei den Weibern etwa? Bei mir nicht.“ Ich nippte an meinem Kaffee. „Und deine nikotinvergilbte Hand kannst du dir sonst wohin stecken. “
    Er lachte. Es klang rau und heiser. Ich bemerkte, dass er dieses Grübchen, das Daniel in der rechten Wange hatte, wenn er lachte oder lächelte, nicht hatte. Ich war richtig erleichtert.
    „Du gefällst mir. Bist im wahrsten Sinne des Wortes schlagfertig.“ Er lachte über seinen Scherz, es gab nichts, was ich mehr hasste, und machte mir mein Frühstück fertig, darauf achtend ihn zu ignorieren.
    In dem Moment trat Marion ein und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht rum, während sie das Gesicht verzog. „Silas, ich habe dich schon gebeten, draußen zu rauchen, war das unklar?“
    „Draußen gibt’s keinen Fernseher.“ Er drückte seine Zigarette in dem Blumentopf der Mini-Palme aus, die auf der Kochinsel stand.
    „Hey!“, rief ich. Er brachte mich zur Weißglut. „Für so was gibt’s einen Aschenbecher, wenn ich mich recht erinnere. Blumen sind zur Dekoration gedacht, okay? Auch wenn du das nicht verstehst, versorg deinen Dreck dahin, wo er hingehört!“
    Silas sah mich ziemlich überrascht an, nahm die Zigarette aus dem Blumentopf, warf sie in den Mülleimer und verließ das Zimmer.
    „Danke, Samira. Ich glaube fast, dass ihm so was fehlt.“ Marion setzte sich neben mich auf einen Stuhl.
    „Was meinst du?“ Sie sah heute irgendwie aus, als wäre sie über Nacht um fünf Jahre gealtert. Sie wirkte übermüdet, erschöpft und gestresst. Sie tat mir plötzlich unendlich leid.
    „Naja, harte Worte. Jemand der ihm zeigt, wo es lang geht. Das kann ich nicht.“
    „Kein Thema. So was macht mich ehrlich gesagt rasend. Ich weiß wie es ist, wenn man sich bemüht, damit etwas schön aussieht oder schön wird und dann kommt einer und tritt deine Bemühung mit Füßen. Ich kenn das.“ Ich schlurfte meinen heißen Kaffee.
    Marion stützte die Stirn in die Hände und seufzte schwer. „Ich frag mich so oft, was ich falsch gemacht habe mit seiner Erziehung. Ich frage Gott oft danach, aber ich weiß es einfach bis heute noch nicht. Daniel ist so anders.“
    „Siehst du, das zeigt doch schon, dass du nicht daran schuld bist. Daniels ganzes Wesen ist anders. Sie haben sich verschieden entwickelt und die negative Entwicklung ist wahrscheinlich Silas’ falschen Freunden zu verdanken.“ Oh Mann, jetzt redete ich schon wie ein Seelenklempner. Seit wann war ich so ein Psychofritze?
    Marion seufzte. „Im Nachhinein wünscht man sich, man könnte die Zeit zurückspulen, um so einige Fehler nicht mehr zu begehen.“
    „Was für ein langweiliges Leben. Zu wissen, was passiert und darauf warten, um es anders zu machen“, dachte ich laut.
    Marion lächelte ein bisschen und jetzt sah ich das Grübchen in ihrer rechten Wange. Es war mir noch nie vorher aufgefallen.
    „Du meinst, dass ich mir vielleicht weniger Sorgen machen sollte?“
    „Ich weiß nicht. Ich kenne Silas nicht und weiß nicht inwiefern es nötig ist sich um ihn Sorgen zu machen.“ Das ich mir an ihrer Stelle auch ganz gewaltige Sorgen machen würde, wenn ich mir den Jungen so ansah, verschwieg ich taktvoll. „Soll ich dir auch einen Kaffee machen?“, wechselte ich schnell das Thema, da ich keine Lust hatte, mir mit den Gedanken an den Trottel (Drogenabhängige sind nichts anderes meiner Meinung nach) den Tag zu verderben.

    Ich verbrachte den Tag damit, Lydia beizubringen, vernünftig Inliner zu fahren. Hauptsache weg von dem Ort, an dem dieser Doppelgänger war. So sehr ich mich bemühte, ich konnte mich einfach nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass es Daniel zweimal gab. Einmal in gut und einmal in böse. Das war ja fast wie im Märchen. Was für eine seltsame Ironie das Schicksal doch hatte. Und ich glaube noch nicht mal an das Schicksal. Nein, das wäre zu einfach. Aber ich bin mir nicht sicher, was ich sonst glaube.
    Sicher bin ich mir darin, dass Lydia der geborene Tölpel ist. Ich brauchte wer weiß wie lange, um ihr erstmals begreiflich zu machen, dass Inliner keine Schuhe waren, und man deshalb auch nicht so darin laufen konnte, als wären es welche. Ich machte ihr hundertmal vor, wie die Beinbewegungen beim Inlinern aussehen mussten, bis sie es endlich kapierte, zeigte ihr, wie man die Bremsen benutzte, ohne auf den Kopf zu fallen, wie man ohne Bremsen bremste, und wie man die Fahrtgeschwindigkeit verlangsamen oder erhöhen konnte, wenn man einen Berg runterfuhr. Als sie das Rückwärtsfahren lernen wollte, hatte ich eindeutig genug und schlug ihr vor, nach Hause zu fahren, da es sowieso Zeit zum Abendbrot war.
    Wir kamen gerade rechtzeitig, um noch die Käseplatte zu kreieren und den Tisch zu decken. Dann fanden sich alle in der Küche ein und ich erfuhr, dass Daniel Silas mit zu dem Fußballtraining genommen hatte.
    „Ham’ wir noch Bier im Kühlschrank?“, war das Erste, was Silas fragte. Und das Zweite: „Wer war denn die geile Blondine am Fußballplatz?“
    Ich fand, dass diese zwei Sätze perfekt das demonstrierten, was er in der Birne hatte.
    Nach dem Gebet langten alle zu, nur mir war der Appetit ganz plötzlich vergangen.
    „Möchtest du nichts essen?“, fragte mich Werner, als ich mir nichts nahm.
    „Hübsche Frauen achten auf ihre Figur, Werner“, kam Silas mir zuvor.
    Mir fiel auf, dass er seinen Vater beim Vornamen nannte. Er hatte eindeutig nicht dieses Verhältnis zu seinen Eltern, das Daniel hatte. „Ich achte nicht auf meine Figur“, gab ich bissig zurück. „Ich habe keinen Appetit.“
    „Oh, ach so. Du bist ja auch schlank genug.“ Er lächelte, wie er sicher annahm, verführerisch und ich musste mich ganz schön zusammenreißen, um nichts über den Grund loszuwerden, der mir den Appetit vertrieb. Ich beließ es einfach dabei, ihm einen verachtenden Blick zu zuwerfen.
    „Ich habe übrigens mit dem Chefarzt der Anstalt geredet, Silas“, warf sein Vater ein. „Sie waren in Sorge, als sie gemerkt haben, dass du weg warst. Du hättest zumindest eine Nachricht hinterlassen sollen. Aber sie sagen, da du sowieso die Therapie schon fast abgeschlossen hast, verzichten sie darauf, dich anzuklagen und zurückzuholen.“ Er machte eine kurze Pause und wartete auf die Reaktion seines Sohnes, fuhr dann aber fort, als dieser sich nicht äußerte: „Du hattest Ärger mit einigen Kollegen?“
    „Ey, das sind nicht meine Kollegen. Das sind gestörte und kaputte Typen, klar?“
    „Das sind Leute, die alle mal was mit Drogen oder Alkohol zu tun hatten, Silas, genau wie du.“
    „Was willst du damit sagen?“ Silas Blick hatte etwas feindliches angenommen, dass ich schon fast Schiss bekam.
    „Dass du nicht das Recht hast diese Leute zu verurteilen. Gerade du nicht.“ Er sagte das ernst, aber unglaublich ruhig.
    „Hey, die sind so gut wie tot, ja? Die verrecken da, die ham alle nicht mehr lange. Ich bin wenigstens nicht so asozial...“
    „Bei dir hätte es vielleicht auch nicht mehr lange gedauert, wenn wir dich nicht dazu gezwungen hätten...“
    „Werner, bitte.“ Marion hatte die Hand auf seinen Arm gelegt. Sie sah ängstlich zu ihrem Sohn rüber.
    „Was ist, wollt ihr dafür jetzt etwa ’ne Medaille?“
    Daniel schmiss sein Messer geräuschvoll auf seinen Teller und sah seinen Bruder fast drohend an, sagte aber nichts.
    „Ich will nur, dass du uns erklärst, warum du dich mit diesen Leuten da schlagen musst und sie provozierst. Keine Medaille.“
    Ich bewunderte Werners Geduld. Ich wäre schon hundertmal ausgerastet.
    Silas lachte zynisch. „Weil das Spasties sind.“
    „Das reicht, verlass den Tisch!“ Werner deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Tür.
    „Du hast mich gefragt.“
    „Wenn du denkst, du unterscheidest dich auch nur im Kleinsten von diesen Menschen, dann hast du dich gewaltig getäuscht, mein Sohn. Und so lange du die Füße unter meinen Tisch steckst, verhältst du dich angemessen, verstanden? Das bedeutet: Nicht mehr als eine Flasche Bier am Tag und geraucht wird draußen, oder dein Taschengeld ist gestrichen. Und jetzt geh und überleg, was du an deinem Verhalten eventuell ändern könntest.“
    „Ich komm auch anders an Geld, darauf kannst du wetten! Wenn du denkst, dass ich auf deine Kohle angewiesen bin, hast du dich geschnitten.“ Er stand auf.
    „Darf ich dich daran erinnern, dass du zu zwei Monaten Haft verurteilt werden würdest, wenn wir nicht deine enormen Schulden bezahlt hätten?“
    Silas drehte sich um, um zu gehen.
    „Silas!“ Werner stand auf. „Ich habe die Schulden dieses eine Mal gerne bezahlt, aber noch mal mach’ ich es nicht mit.“
    Er knallte die Tür hinter sich zu und Marion zuckte zusammen. Ich hatte so eine Wut in mir, dass ich ihm am liebsten hinterhergerannt wäre und ihm mit Dans Baseballschläger so gewaltig einen in seine empfindlichste Stelle verpasst hätte, dass ihm für die nächsten paar Monate das Reden mächtig zu anstrengend sein würde.
    Alle aßen still vor sich hin. Lydia hatte während dieser Auseinandersetzung kein einziges Mal aufgesehen und Daniel schnitt sein Brot in hunderttausend kleine Krumen. Das Brot verkörperte sicher seinen Zwillingsbruder.

    Da Marion versprochen hatte, ich könne mir aussuchen, was ich unternehmen wollte, sobald sie wieder aus Frankfurt zurückwaren, und Ly mich mühevoll bearbeitete, entschied ich in den „Movie Park“ zu fahren. Dan war begeistert von der Idee und deshalb setzten wir uns am Freitagmorgen in Dans blauen Peugeot und fuhren los. Das Silas mitkam, erfreute mich zwar nicht gerade, konnte mir aber trotzdem nicht die Laune verderben. Ich saß mit Lydia hinten. Dan machte seine Michael W. Smith CD an.
    „Was is’ denn das? Hörst du immer noch so einen Scheiß?“, beschwerte sich Silas und musterte seinen Bruder mit gerunzelter Stirn.
    „Wenn das Scheiß ist, als was bezeichnet man dann deine Musik?“ Gut gekontert. Silas hielt seine Klappe.
    „Hey“, rief er nach einer Zeit nach hinten. „Um Mal hier ein bisschen Stimmung hier reinzubringen: Was ist eine Blondine mit dunkel gefärbten Haaren?“ Er wartete gar nicht erst auf eine Antwort. „Künstliche Intelligenz.“ Er lachte über seinen albernen Witz. Er konnte ja nicht wissen, dass ich eine dunkel gefärbte Blondine war. Hätte er es gewusst, hätte er sich wahrscheinlich noch witziger gefunden.
    „Ha, ha, selten lustig, ich bin noch am überlegen ob ich lachen soll, aber weißt du auch, warum Blondinenwitze so kurz sind? Damit Männer sie verstehen.“
    Er sah nach hinten und machte ein ziemlich verdutztes Gesicht, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ich so reagieren würde.
    „Und warum haben Frauen eine Gehirnzelle mehr als Pferde? Damit sie beim Putzen nicht aus dem Putzeimer trinken.“
    Jetzt kam ich richtig in Fahrt. „Warum machen Frauen wohl so selten Männerwitze, hä? Na, weil sie tierlieb sind. Und weißt du, wann du einen Euro wert bist? Wenn du einen Einkaufswagen durch den Aldi schiebst.“
    „Frauen haben dann zwei Gehirnzellen, wenn sie schwanger sind.“
    Daniel kugelte sich am Steuer vor lachen und als ich einen neuen Anlauf nahm, seinem Bruder was an den Kopf zu werfen, unterbrach er mich prustend. „Stop, Stop, jetzt ist’s aber mal gut, in Ordnung?“ Er lachte wieder. „Wisst ihr, wie eine Blondine Marmelade macht? Sie schält einen Berliner.“ Jetzt lachten die beiden Brüder um die Wette, eine Gemeinsamkeit hatten sie also doch, und ich verkniff mir noch einen Vergleich von Männern mit alten Autoreifen. Aufgeblasen und ohne Profil.

    Ich war lange nicht mehr in einem Freizeitpark gewesen. Das letzte Mal, denke ich, bei einem Klassenausflug vor drei Jahren. Wir waren, wenn mich nicht alles täuschte, im Fantasialand gewesen, aber es war schon so lange her, dass ich mich gar nicht mehr richtig daran erinnerte wie es war von einem fünfzig Meter hohen Tower in die Tiefe zu stürzen, kopfüber Loopings zu drehen, in halsbrecherischer Geschwindigkeit Schrauben zu drehen und spektakuläre Shows zu sehen, in denen sich brennende Stundmänner von Hausfassaden stürzten. Kurz gesagt, ich freute mich mindestens so sehr wie Lydia auf den Freizeitpark, und als ich schon von weitem die gigantischen Achterbahnen ausmachen konnte, war ich nicht mehr zu halten.
    Der Wucher war der Preis von ganzen fünfundzwanzig Euro, aber ich musste es ja nicht bezahlen. Als erstes stellten wir uns bei der Wasserbahn an, und Daniel dirigierte mich hundert Prozent absichtlich in die erste Reihe, sodass ich patschnass wieder rauskam. Zum Glück war es ein heißer Tag, sodass mir diese Abkühlung willkommen war. Wir klapperten eine Attraktion nach der anderen ab, zerrten Lydia gegen ihren Willen überall mit rein, dachten in unserem Eifer gar nicht an ihren empfindlichen Magen, bis es ihr dann nach der Holzachterbahn „Bandit“, die einen gnadenlos hin- und herschleuderte, vollkommen genug war. Sie kotzte mir genau auf mein T-Shirt und ich rannte erst mal mit ihr zur Toilette.
    „Warum hast du nicht gesagt, dass dir schlecht ist? Wir hätten ja zu den weniger rasanten Bahnen gehen können“, sagte ich, während ich notdürftig ihr Top und mein T-Shirt reinigte.
    „Ich hab’s gar nicht gemerkt“, redete sie sich heraus, und ich glaubte ihr kein Wort.
    „Wir sollten noch mal in die Wasserbahn, damit wir richtig sauber werden“, schlug ich ironisch vor, worauf sie kicherte.
    Draußen warteten die Landau-Twins schon auf uns und sahen uns besorgt an. Zumindest Daniel. Denn Silas Blick war eher belustigt und ich bedauerte, dass Lydia nicht ihn angekübelt hatte.
    „Habt ihr’s im Griff?“, fragte Dan. „Ich hab hier übrigens noch ein Ersatz T-Shirt, weil Mama sich schon so was in der Art gedacht hat.“
    „Das hättest du früher sagen sollen“, erwiderte ich genervt und Lydia ging sich umziehen. Wir stellten ihr frei, was wir als nächstes machen sollten. Sie wollte unbedingt in dieses alberne 4-D Kino, in dem Sponge Bob einem Gürkchen hinterher jagte.
    Der Park war in fünf verschiedene Trakte eingeteilt, wovon jeder ein anderes Schaubild darstellte und den entsprechenden Namen dazu trug. Das Roxy
    4-D Kino befand sich dem „Hollywood Street Set“-Trakt und da wir uns im „Old West“-Teil befanden, mussten wir noch zusätzlich die „Streets of New York City“ durchqueren, also den halben Freizeitpark durchwandern. Aber keiner von uns beschwerte sich, da wir uns alle schuldig fühlten.
    Da die Show erst in fünfzehn Minuten anfing, kauften wir uns ein Eis und setzten uns direkt vor das Kino. Ich ging der sehr interessanten Beschäftigung nach, Silas dabei zu beobachten, wie er rauchend jeder vorbeigehenden Blondine hinterher starrte, die eine halbwegs ansehnliche Figur hatte. Daniel dagegen spielte mit Lydia Schnick-Schnack-Schnuck und ich fragte mich, ob es je einen größeren Unterschied zwischen Brüdern, nein, zwischen zwei Menschen überhaupt geben konnte, als den zwischen diesen eineiigen Zwillingen.
    Um exakt viertel vor drei wurden wir in einen Vorraum eingelassen und mussten dann noch mal eine Viertelstunde warten, bis wir ins Kino durften, und die Vorstellung begann. Ich setzte meine Brille auf, gähnte und hoffte, dass der Film nicht zu lange dauern würde. Gegen mein Erwarten war der Film echt lustig. Die Gurke rollte einmal auf mich zu und instinktiv streckte ich meine Hände danach aus, um zu verhindern, dass sie mich überrollte. Und als eine Figur platzte, wurde dir aus Drüsen am Vordersitz Wasser ins Gesicht gespritzt, so dass alle Zuschauer angeekelt aufschrieen. Ich amüsierte mich prächtig, als ich plötzlich eine Hand auf meiner spürte. Mein erster Instinkt war, die Hand abzuschütteln, aber dann fiel mir noch rechtzeitig ein, dass Daniel neben mir saß, und ich hielt still. Er kraulte mir die Handfläche und verhakte seine Finger mit meinen. Ich hielt die Luft an und konnte mich plötzlich gar nicht mehr auf das Geschehen auf dem Bildschirm konzentrieren. Ich dachte nur an seine Hand und das Gefühl, das sein Daumen verursachte, der mir leicht über den Handrücken strich. Tausend Schmetterlinge im Bauch, Ameisen über meinem ganzen Körper und Wackelpudding statt Knie. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich fähig zu so was war. Zögerlich drückte ich seine Hand und er erwiderte den Druck. Was hatte das alles zu bedeuten? Der Film war zu Ende, Sponge Bob hatte sein Gürkchen wieder. Die Lichter gingen langsam an. Dan entzog mir seine Hand und wir nahmen unsere Brillen ab. Ich sah ihn an und bekam einen enormen Schreck, als ich sah, dass nicht Dan, sondern Silas neben mir saß. Aber eben saß doch noch... Ich hatte mich doch tatsächlich vertan. Er grinste mich so unverschämt an, dass ich ihm am liebsten an Ort und Stelle eine schallende Ohrfeige verpasst hätte. Sein Grinsen verriet mir, was er dachte. Er wusste, dass ich ihn für Daniel gehalten hatte, und ich hatte mich doch tatsächlich verraten. Mir schoss die Röte ins Gesicht. Ich sprang vor Wut und Scham auf und eilte allen Leuten voran aus dem Kino. Was für ein Idiot, wie ich ihn hasste. Ich musste alle Kraft aufwenden, die ich aufbringen konnte, um mich unter Kontrolle zu halten, denn sonst würde ich gleich rot sehen. Silas kam lässig rausgeschlendert, die Hände in der Hosentasche vergraben.
    „Ich wusste doch, dass du scharf auf meinen Bruder bist“, raunte er mir zu.
    Ich sah ihn nicht mal an. „Und wie kommst du bitte darauf?“ Was für eine dämliche Frage.
    „Weil alle Frauen auf meinen Bruder steh’n. Glaubst du, ich bin blind? Ich habe nur noch eine Bestätigung gesucht.“ Er grinste, zog seine Marlboro-Zigaretten aus der Hosentasche und zündete sich eine an.
    „Du bist widerwärtig, hinterlistig und rücksichtslos. Ich kann keinen Charakter erkennen, keine Spur von Würde oder Selbstkontrolle, Ehrlichkeit oder Liebenswürdigkeit. Schneide dir eine Scheibe von deinem Bruder ab, dann wirst du schnell rauskriegen, warum alle ihn lieben.“ Ich ließ ihn stehen und eilte zu Dan und Lydia, die gerade aus dem Kino kamen. Warum hatte ich Idiot es nicht gemerkt? Daniel würde niemals eine so billige Anmache verwenden. Im Vergleich zu seinem Bruder kam er mir immer liebenswerter vor.

    Wir gingen auf Lydias Drängen noch in die Ice-Age Wasserbahn, tuckerten im Schneckentempo über den „Mistery River“, setzten uns (ohne Lydia!) in den Freefall Tower und in noch einige vielversprechend wirkenden Bahnen, wobei ich immer versuchte, Daniel zwischen mir und Silas zu haben, was mir leider nicht immer gelang. Ich konnte sein wissendes Grinsen einfach nicht ertragen. Wir klapperten auch die Shows ab und gingen dann im „Pizza Depot“ was essen. Es war halb sieben, als wir den Park todmüde verließen. Ich war zumindest todmüde. Silas alberte rum, pfiff den Frauen hinterher und Ly kicherte die ganze Zeit. Als sich eine Frau verachtend nach uns umsah, nachdem Silas ihr etwas hinterhergerufen hatte, reichte es mir.
    Ich schaffte es gerade noch, mich zu beherrschen, da ich mich in Dans Gegenwart wusste, sonst hätte ich mich garantiert vergessen.
    „Würdest du deine peinlichen Spielchen bitte ausführen, wenn wir nicht dabei sind? Noch ein einziger Pfiff und ich pfeif’ dir auch was, kapiert?“, knirschte ich schlecht gelaunt.
    „Und wer sagt mir, dass ich auf dich hören muss, Spaßbremse?“
    „Ich“, meldete sich Dan zu Wort. „Und da ich das Auto fahre, bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als auf mich zu hören. Sonst lasse ich dich noch hier.“ Er grinste siegessicher, als sein Bruder resigniert mit den Augen rollte.
    Auf der Rückfahrt schlief Ly auf meinem Schoß ein und ich merkte schon gar nicht mehr, wie sie auf meinen Schoß sabberte, weil ich auch schon eingedöst war. Ich träumte, auf einer Achterbahn eine ewig lang scheinende Strecke hochgezogen zu werden, quälend langsam. Endlich waren wir auf der Spitze. Ich guckte runter und sah, dass es hunderte von Metern senkrecht in die Tiefe ging. Wir waren über den Wolken. Ich wollte kreischen, aber es blieb mir im Hals stecken, denn schon sauste die Bahn mit einer rasanten Geschwindigkeit in die Tiefe...

    13. Kapitel

    „Sahaam. Wenn du mit willst, musst du jetzt aufstehn!“ Lydia steckte ihren Kopf durch den Türspalt und ich vergrub meinen Kopf unter der Bettdecke.
    „Bin in fünf Minuten am Start“, murmelte ich noch im Halbschlaf und drehte mich auf die andere Seite.
    „Nee, bist du gar nicht, das weiß ich. Du schläfst doch eh nur wieder ein.“ Sie packte die Zipfel meiner Decke und zog sie über mir weg.
    „Du grausamer, rücksichtsloser Sklaventreiber“, maulte ich und sah keine andere Möglichkeit, als mich aufzuraffen und fertig zu machen. Hätte ich doch bloß nicht versprochen, mit in die Gemeinde zu kommen. Obwohl, immer noch besser, als alleine mit Silas hier zubleiben. Warum musste das nur schon so früh anfangen?
    Ich beeilte mich mit dem Anziehen (seit Silas da war, frühstückte ich nicht mehr im Schlafanzug) und ging mit Ly im Schlepptau in die Küche, wo Marion gerade damit fertig geworden war, den Tisch zu decken.
    „Schön, dass du mitkommen willst“, sagte sie und lächelte mir zu.
    Das Frühstück verlief glücklicher Weise ohne Silas. Ich überlegte schon, ob ich mir nicht doch vielleicht lieber etwas anders, als meine verwaschene Levi’s und mein khakifarbenes Tanktop anziehen sollte, als ich mich mit den Landaus verglich, entschied mich aber dagegen. So war ich nun mal.
    Die Gemeinde war vollkommen anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Keine bunten Glasfenster, keine Wandmalereinen, noch nicht mal ein einziges von diesen makaberen Bildern eines gekreuzigten Mannes mit Dornenkrone. Keine harten Holzbänke in einem kalten, finsteren Raum.
    Der Raum war zitronengelb gestrichen, gepolsterte Stühle standen in mehreren Reihen in Richtung Kanzel. Kein Prunk und keine großartigen Verzierungen, wie ich sie von der Kirche kannte. Ich saß zwischen Ly und Dan ziemlich weit hinten, sodass ich mich schon fast fragte, ob sie das absichtlich gemacht hatten, damit ich sie nicht blamieren konnte. Zuerst wurden ein paar Lieder gesungen, die ich nicht kannte, mal davon abgesehen, dass ich eigentlich gar kein Lied aus dem ganzen Buch kannte. Aber ich genoss es, dass Daniel mir von links ins Ohr sang. Als ich begann, ungeduldig auf die Uhr zu sehen, stand erst ein Mann auf, las etwas aus der Bibel und sagte dazu etwas, dem ich aber nicht folgen konnte. Schon nach den ersten paar Minuten war meine Konzentrationsfähigkeit auf das unterste Level herabgesunken, und ich sah mir die Leute um mich rum an. Quälend langsam verstrichen die Minuten und ich war erleichtert, als der Mann sich wieder hinsetzte, und ein Lied angestimmt wurde.

    Draußen stellte mich Marion jedem vor, den sie begrüßte, was ich als äußerst peinlich empfand. Ich hatte es noch nie gemocht, angegafft zu werden und Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Daniel stellte sich zu den Jungs aus seiner Band, die mich auch alle netter Weise begrüßt hatten, und ich stand neben Lydia, die aufgeregt mit einer ihrer Freundinnen tuschelte. Ich kam mir vor wie bestellt und nicht abgeholt und hätte mich am liebsten unauffällig zurückgezogen.
    Ich sah mir die Leute an und entdeckte ein Mädchen, dass nicht bei den anderen stand, sondern alleine mit einem kleinen Jungen an der Hand, etwas abseits. Entschlossen ging ich auf sie zu.
    „Hi, ich bin Sam“, sagte ich, setzte ein Lächeln auf und schüttelte ihr kräftig die Hand.
    „Ich bin Nicolette“, stellte sie sich leise vor, so dass ich es kaum verstand, allerdings mit einem unüberhörbaren französischen Akzent. Sie war bildhübsch. Lange dunkle Haare, schokoladenbraune Augen, volle Lippen und lange dunkle Wimpern. Ich fragte mich, warum sie so abseits stand und kam auf den Punkt, dass sie einfach zu schüchtern war, um auf die anderen Leute zuzugehen.
    Ich erkundigte mich nach ihrem Alter und sie flüsterte mir zu, dass sie siebzehn war.
    „Und wer ist der Kleine hier?“
    Sie bestätigte mir die Vermutung dass er ihr Bruder war und ich erfuhr, dass er drei Jahre alt war und Louis hieß. Ich hätte zwar auf Jean getippt, weil alle Franzosen irgendwas mit Jean hießen, obwohl es doch so ein scheußlicher Name war.
    „Sam, wir wollen fahren.“ Daniel war neben mich getreten und begrüßte Nicolette mit einem Händedruck, wobei mir auffiel, dass sie dabei weder ein Strahlelächeln noch ein verführerischen Ton aufsetzte. Jawohl, sie gefiel mir.
    „Okay, bis demnächst dann“, sagte ich, strich Louis durchs Haar und ging hinter Dan her ins Auto.

    „Wer ist diese Nicolette?“, fragte ich Dan beim Mittagessen.
    „Sie ist noch nicht lange hier“, gab er mir als Antwort. „Sie hat davor irgendwo bei Orleans gewohnt, glaub ich. Nett, dass du mit ihr geredet hast, sie grenzt sich nämlich ziemlich aus.“
    Ich konnte das gut verstehen. Sie kam aus einem anderen Land und schämte sich vielleicht wegen ihrer Aussprache oder so. Im Grunde waren wir uns ziemlich ähnlich, Nico und ich. Wir waren beide Eigenbrödler, wenn auch aus unterschiedlichen Ursachen, aber ich hatte sie auf Anhieb gemocht und beschloss, sie mal irgendwann aufzusuchen.
    Silas hatte sein Zimmer abgeschlossen, und schlief bis in den Nachmittag hinein. Seine Mutter war offensichtlich nicht begeistert von seiner Angewohnheit den halben Tag zu verschlafen, wer konnte es ihr verübeln, aber sie nahm es mit Tapferkeit hin und beschwerte sich nicht mal bei ihm. „Er ist schließlich alt genug um Verantwortung über sein Leben zu übernehmen.“ Alt genug vielleicht schon, aber deshalb noch lange nicht fähig.

    Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, wann immer das Telefon klingelte und kein anderer in der Nähe war, dran zu gehen und mich mit „Bei Landau“ zu melden. Genauso öffnete ich die Tür, wenn es klingelte und die anderen gerade beschäftigt waren. Es schien auch keinen zu stören. Im Gegenteil. Keiner der Landaus machte sich mehr die Mühe, ans Telefon oder zur Tür zu hasten, so dass es mir überlassen war, abzuheben oder zu öffnen.
    Ich aß gerade eine Banane, als es wieder klingelte. Ich rollte mit den Augen, schmiss die Bananenschale in den Abfalleimer und ging an die Tür. Am liebsten hätte ich sie wieder zugeschlagen, denn vor mir stand diese Nadine, die anscheinend nie müde wurde, Daniel zu bezirzen.
    „Ist...“, begann sie, doch ich unterbrach sie.
    „Ja, natürlich ist Daniel da.“ Ich wollte ihn gerade von untern rufen, als mir eine andere Idee kam. Ein siegessicheres Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Vielleicht war Silas ja doch zu etwas zu gebrauchen. Dan gab, soviel ich wusste, gerade so einem kleinen Möchtegern Gitarrenunterricht.
    „Moment ich hol ihn eben“, sagte ich zu Nadine und hastete die Treppen hoch in Silas’ Zimmer.
    „Hey, hast du Bock mit ein paar Mädels um die Häuser zu ziehen, die garantiert scharf nach dir sind?“, fragte ich ihn. Warum eigentlich? Natürlich hatte er Bock!
    „Unten steht eine. Tu so, als wärst du Daniel und sie wird dir die Füße küssen.“ Ich grinste. „Also?“
    Er war gerade damit beschäftigt, den Flirtchatroom unsicher zu machen, was auch sonst? Er sah mich verwundert an, dann grinste er. „Hey, du bist…du bist richtig fies, weißt du das?“ Er lachte. „Du gefällst mir.“
    „Das Mädchen heißt Nadine, zu deiner Info.“
    Er ging mir voraus aus dem Zimmer und ich konnte nicht anders, als ihm zu folgen.
    „Hi Nadine“, begrüßte er die Blonde in einer Art, die auf jeden Fall mehr Donald Ducks als Daniels war.
    Sie sah zuerst ein bisschen verwirrt aus. „Warst du irgendwie krank oder so? Du siehst so dünn und so...so irgendwie anders aus“
    Wie scharfsinnig, dachte ich nur sarkastisch und musste mir ein Grinsen verkneifen.
    „Nein, nein ich bin kerngesund. Ich hab’s nur mal mit diesen Weight Watchers versucht, um meinen Babyspeck runterzukriegen“, erwiderte Silas gekonnt und klopfte sich auf seinen eher schon eingedellten Bauch. Nadine sah ihn ziemlich verwirrt an, entschied sich dann aber, das als einen Scherz aufzufassen und lachte gekünstelt. „Und das sagt gerade der Kerl mit Limburgs bester Figur.“ Sie klimperte mit ihren getuschten Wimpern und Silas lächelte verführerisch. Ich nahm an, dass er noch nie solche Komplimente bekommen hatte.
    „Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du mit auf ’ne Party von einer Freundin kommen willst. Wir können nämlich noch jemanden mitnehmen und ich würd’s echt geil finden, wenn du mich begleiten würdest.“
    Ich musste mir auf die Zunge beißen von Wut. Nicht auszudenken, was ich gemacht hätte, wenn sie den richtigen Daniel so beflirtet hatte.
    „Klar komm ich mit, wann geht’s los?“
    „Jetzt gleich. Ich weiß, ich bin ein bisschen spät mit der Einladung, aber mir ist es erst später eingefallen, dich mitzunehmen. Ihr Jungs braucht ja nicht lange zum Fertigmachen.“
    „Klar, nur ’ne Frage von Minuten.“ Er zwinkerte ihr zu. „Sam kann sich ja so lange um dich kümmern.“ Er sah mich auffordernd an, und ich konnte ihm gerade noch einen finsteren Blick zuwerfen, bevor er hoch zu seinem Zimmer ging. Jetzt hieß es aufpassen, dass nicht der echte Daniel auftauchte. Ich beschloss, sie einfach vor der Tür stehen zu lassen und sie mit irgendwelchem Schrott zuzulabern, der sie möglichst langweilte. Ich fing also an, ihr die grauenhaften Umstände zu schildern, in denen die tibetanischen Seehunde lebten, die wegen der dort ausgebrochenen Seehundgrippe eingesperrt werden mussten. Sie schien nicht mal zu merken, was für einen Schuss ich redete und hörte mir gezwungener Weise zu.
    „Ich finde, wir sollten nicht tatenlos zusehen“, kommentierte ich. „Wir könnten ja eine Tombola zur Rettung der Seehunde veranstalten, was meinst du?“
    In dem Moment kam Silas zurück. Er hatte sich umgezogen und sich die Haare in einer wilden Frisur gestylt, sodass ich am liebsten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte. Jeder Idiot würde merken, dass das nicht Daniel war. Niemals würde Dan...
    „Wow, du siehst ja richtig geil aus“, rief Nadine begeistert und ich atmete auf. Okay, diese Idioten würden es anscheinend doch nicht merken.
    „Versau’s nicht“, raunte ich ihm zu, als er an mir vorbeiging.
    Als sie Arm in Arm zu Nadines Auto gingen, fragte ich mich, ob das nicht vielleicht doch ein Fehler war, Silas für Daniel einzusetzen, aber es war schon zu spät. Ich schluckte. Er würde Daniels Ruf möglicherweise vollkommen zerstören, nein schlimmer noch, beschmutzen, missbrauchen. Ich zwang mich, nicht weiterzudenken und hoffte, dass er sich benehmen würde. Wenigstens hatte Daniel jetzt seine Ruhe.

    „Wo ist Silas?“, fragte mich Dan, als er fertig mit dem Gitarrenunterricht war.
    Ich zuckte die Schultern. „Irgendwohin weg. Ein Freund hat ihn abgeholt.“
    „Ein Freund?“
    Ich wand mich unter seinem Blick. Ich mochte es nicht, ihn anzulügen, dass hatte er einfach nicht verdient, aber das hatte ich jetzt davon. „Er sagte ein...ein Klassenkamerad.“ Ich konnte nur hoffen, dass er noch ehemalige Klassenkameraden hier in der Nähe hatte.
    „Ach, dann war das sicher Nick. Mit dem war Silas ziemlich gut befreundet.“
    „Bestimmt war es Nick“, beteuerte ich ebenfalls, aber ich brachte es nicht übers Herz, ihn anzusehen. Die ganze Zeit schon musste ich daran denken, wie Silas jetzt wohl gerade Dans Ruf schändete.
    „Hast du Lust, mit mir ein bisschen Joggen zu gehen? Ich hatte an einen kleinen See hier in der Nähe gedacht.“
    Ich willigte ein, obwohl seine Gegenwart mich nur immer wieder daran erinnerte, was ich hinter seinem Rücken verbrochen hatte. Selbst wenn er Nadine nicht besonders mögen sollte, wäre es ihm sicher nicht Recht, wenn er erfahren würde, dass Silas für ihn eingesprungen war.
    Wir fuhren zu dem See und joggten ein paar mal rundherum, bis sich die Sonne langsam dem Horizont zuneigte und die Luft ein bisschen abkühlte. Trotzdem herrschte noch immer eine drückende Hitze.
    Als ich schon vollkommen aus der Puste war, ließ Dans Atmung noch kaum auf Anstrengung schließen.
    „Wie machst du das?“, keuchte ich.
    „Was?“
    „Deine Atmung so...ruhig zu halten.“
    „Üben, üben, üben“, antwortete er und grinste. „Lass uns dann aufhören, wenn du nicht mehr kannst.“ Er blieb stehen.
    „Nein...ich kann...noch.“ Meine Keuchen bewies aber, dass das gelogen war und er lächelte.
    „Du bist es nicht gewohnt, dass ist alles. Wenn du Abend für Abend joggst, hast du irgendwann keine Probleme mehr.“
    Toll! Ich hatte das Gefühl zu ersticken, meine Seite schmerzte so sehr, dass ich kaum mehr aufrecht gehen konnte, außerdem brannte mein Kopf vor Hitze und mein Hals war ausgetrocknet, sodass ich das Gefühl hatte, ich könnte den ganzen See leer trinken. Und Daniel, der grinste vor sich hin, als hätte er eben mal seinen Morgenspaziergang erledigt.
    Wir schlenderten noch ein bisschen herum, bis meine Atmung wieder normal war, dann gingen wir runter ans Ufer und Daniel zeigte mir, wie man flache Steine über das Wasser hüpfen lassen konnte. Seine Steine sprangen bis zu sechs Mal und meine gingen schon nach dem zweiten Mal unter.
    „Weißt du, was ich jetzt machen will?“, fragte er mich schließlich und hatte so ein Funkeln in den Augen. „Ich will jetzt da rein.“
    „In den See? Jetzt?“
    Er nickte. „Du nicht?“
    „Wir haben weder Handtücher noch Klamotten zum Wechseln...“ Ich konnte den Satz nicht mehr zu Ende sprechen. Er zog sich das T-Shirt über den Kopf, packte mich, warf mich wie einen Mehlsack über die Schulter und rannte ins Wasser. Ich kreischte und strampelte, aber es nutzte nichts. Als er bis zu den Hüften drinstand, ließ er mich einfach fallen. Ich fiel platschend ins Wasser, kam prustend wieder hoch und sah in sein grinsendes Gesicht. „Na warte!“, rief ich und warf mich auf ihn, sodass er rücklings umkippte. Die nächsten zehn Minuten schwammen wir hintereinander her, tauchten uns unter und planschten wie kleine Kinder. Irgendwann gingen wir dann raus und konnten nicht mehr vor Lachen.
    „Und jetzt?“, fragte ich, als ich mich einigermaßen wieder beruhigt hatte.
    „Ich hab’ mein T-Shirt.“
    „Und was hilft uns das?“
    „Wir können uns ja die Nasen daran abtrocknen“, erwiderte er todernst und ich musste wieder losprusten.
    Wir setzten uns mit unseren nassen Hintern schließlich einfach ins Auto, was hätten wir sonst tun sollen? Dan schien das noch nicht mal was auszumachen, dass wir sein Auto in eine Pfütze verwandelten, ich wäre wahrscheinlich ausgerastet.
    Ich ging erstmal duschen, und dabei erinnerte ich mich wieder an Silas. Es war schon zehn Uhr und er war immer noch nicht da. Kein Wunder, er würde vor zwei Uhr sicher nicht da sein. Beim Abendbrottisch fragte Werner nach Silas und ich wiederholte meine Lüge, er sei mit einem Freund weg.
    Lydia schlief bei ihrer Freundin, so dass ich den Abend ausnahmsweise nicht mit Spielkarten in der Hand verbrachte. Dan fragte mich, ob ich mit ihm ein paar Fotos von Joana durchgehen wollte. Er hatte nämlich vor, auf der Hochzeit eine PowerPoint-Präsentation mit Fotos von ihr und Björn zu machen. Ich sollte zu Hause nach Björns Fotos sehen. Wir saßen lange vor den Alben, suchten die schönsten Bilder raus und lachten viel. Besonders bei dem, wo sie mit vielleicht drei Jahren die überdimensional große Brille ihrer Oma aufhatte und ihre Augen dahinter riesengroß aussahen. Unentbehrlich war auch das, auf dem sie, auch ungefähr im Alter von drei Jahren, den Mülleimer als Toilette benutzt.
    „Das ist ja goldig.“ Ich nahm ein Photo in die Hand, um es näher zu betrachten. Joana, in jedem Arm einen ihrer kleinen Babybrüder. Sie sah darauf unheimlich stolz aus und strahlte in die Kamera. Eines der Babys schrie aus Leibeskräften und das andere nuckelte zufrieden an seiner winzigen Faust.
    „Wer ist wer?“, fragte ich.
    „Der Schreihals ist Silas.“
    „Hab ich mir schon fast gedacht. Sein Gesichtsausdruck hat sich seither nicht viel verändert“, stellte ich fest und legte das Bild auf den Stapel der unbedingt brauchbaren Bilder. Ich fand noch viele Bilder, in denen das Mädchen zwischen ihren Brüdern stand und schützend die Arme um beide gelegt hatte. Auf einem putzte sie dem zweijährigen Daniel sogar die Zähne, wobei er ein sehr leidendes Gesicht machte.
    Irgendwann nach Mitternacht, wir hatten jegliches Zeitgefühl verloren, klingelte es an der Tür, und ich ließ vor Schreck einen Stapel Bilder fallen, die ich gerade am Durchsehen war.
    „Bestimmt Silas“, murmelte Dan und stand auf. Ich lief ihm voraus und öffnete die Tür.
    „Hoffentlich störe ich nicht.“ Nadine war rot angelaufen. Vor Wut, wie ich annahm. An ihrem Hals hing der stockbesoffene Silas. „Ich wollte nur dieses...dieses Geschöpf nach Hause bringen, da er alleine dazu nicht mehr in der Lage war. Könnte ich liebenswürdiger Weise mit dem echten Daniel reden?“ Ihre Augen funkelten mich wütend an und Daniel trat hinter mich.
    „Nadine, du? Was ist passiert.“
    Ich nahm Silas entgegen und stützte ihn bis ins Wohnzimmer. Shit, Shit, Shit, dachte ich nur noch und ich war stocksauer auf Silas. Konnte er sich nicht einmal beherrschen? Ich ließ ihn auf ein Sofa fallen und machte mich dann schleunigst aus dem Staub. Im Flur sah ich, dass Marion und Werner auch herbeigeeilt waren und Nadine wütend auf sie einredete. Ich rannte in mein Zimmer und schlug die Tür hinter mir zu. Tränen traten mir in die Augen, und ich wusste noch nicht mal richtig warum. Ich wusste nur, dass ich wütend war, wütend wie verrückt auf Silas, der immer alles kaputt machen musste. Jetzt würde Dan mich wahrscheinlich hassen, für den Fehler, den ich begangen hatte. Hätte Silas seine Tarnung nicht auffliegen lassen, wäre doch alles gut gegangen...Ich presste die Lippen wütend aufeinander und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich war überrascht, wie viel mir an Dans Meinung lag und wie sehr es mir leid tat, ihn enttäuscht zu haben. Der Tag war heute so schön gewesen, und jetzt war alles vermasselt. Wie erwartet klopfte es kurz darauf an die Tür. Jetzt würden sie mir den Kopf abreißen.
    „Darf ich reinkommen?“ Es war Marion.
    „Ja.“
    Sie trat ein, im Morgenmantel bekleidet. Sie waren anscheinend schon im Bett gewesen. Leise schloss sie die Tür hinter sich und ich war erleichtert, dass sie alleine war.
    „Du hast Silas also für Dan ausgegeben?“ In ihrer Stimme lag keine Spur von Vorwurf.
    „Ja. Und ich fürchte, das war ein Fehler.“
    „Ja, das war einer.“ Marion setzte sich neben mich. „Aber du konntest nicht wissen, dass Silas sich nicht zusammenreißen kann. Du wolltest einen einfachen Scherz daraus machen.“
    Ich war erstaunt, dass sie mir keine Moralpredigt hielt. „Mir ist erst später klar geworden, was ich angestellt habe und es tut mir leid...Daniel blamiert zu haben. Er hat einen guten Grund, sauer auf mich zu sein.“ Ich legte mein Kinn auf meine angewinkelten Knie und starrte geradeaus. Ich würde an Daniels Stelle denjenigen umbringen, der das mit mir getan hätte.
    „Ich denke nicht, dass er so sauer auf dich ist“, sagte Marion dann aber. Ich glaubte es ihr nicht wirklich. „Er wird dir auf jeden Fall verzeihen, wenn du dich bei ihm entschuldigen würdest.“ Sie sah meinen zweifelnden Blick und lachte herzhaft. „Er wird dir nicht den Kopf abreißen, Samira. Du guckst ja, als hätte ich gerade dein Todesurteil ausgesprochen.“
    Ich musste lächeln, aber in dem Moment wurde sie wieder ernst. „Ich fürchte Silas hat sich da ziemlich daneben benommen, so wie es Daniels Klassenkollegin geschildert hat.“ Sie seufzte und strich sich in einer müde wirkenden Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Er braucht Grenzen, weißt du, obwohl er schon erwachsen ist, braucht er einfach klare Richtlinien. Ich glaube, es ist einfach zu seinem Hobby geworden, diese Grenzen auszutesten, zu überschreiten, sie mutwillig zu missachten.“ Sie schüttelte traurig den Kopf. „Er kann gar nicht mehr anders. Ich hoffe nur, dass er irgendwann von sich aus merkt, dass er den falschen Weg eingeschlagen hat.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Wir haben da nicht mehr viel Macht, die Hoffnung liegt nur noch bei Gott.“ Sie erhob sich. „Schlaf jetzt erst mal, es ist schon sehr spät. Gute Nacht.“ Sie ging und ich überlegte, was als nächstes zu tun war. Ich konnte jetzt auf keinen Fall schon schlafen, deshalb beschloss ich, mich jetzt sofort bei Dan zu entschuldigen, und weil er nicht in seinem Zimmer war, nahm ich an, ihn im Hobbyraum vorfinden zu können. Dort stand nämlich seine beachtliche Ansammlung von allen möglichen Gitarrenarten. Tatsächlich saß er dort und zupfte gerade ein langsames Lied auf seiner E-Gitarre. Ich trat unbemerkt ein. „Dan?“
    Er sah kurz auf und dann wieder auf seine Finger, die ruhelos über die Metallseiten des Gitarrenhalses fuhren. Er war also doch ein bisschen sauer, machte aber einen höchst konzentrierten Eindruck, der ihm unglaublich gut stand, wie ich feststellen musste.
    „Hey, ich wollte mich bei dir entschuldigen“, begann ich und er hörte sofort auf mit dem Spielen.
    „Setz dich doch.“ Er schob mir einen Hocker zurecht und ich ließ mich darauf nieder. „Es war falsch, Silas den Vorschlag zu machen, sich für dich auszugeben, das ist mir auch klar geworden, aber da war’s schon zu spät.“
    Er sah mich wortlos an, als würde er eine Erklärung erwarten. Ich konnte ihm doch nie und nimmer die Wahrheit verraten, dann würde ich ja dastehen wie eine eifersüchtige Pute, aber ihn noch mal anzulügen würde ich noch weniger zustandebringen. „Ich mag diese komische Nadine nicht“, sagte ich deshalb einfach und starrte auf meine Hände.
    „Du hast eine ziemlich negative Einstellung gegenüber anderen Menschen, stimmt’s?“
    Ich sah alarmiert auf. Hatte mein herzallerliebstes Brüderchen mal wieder zu viel getratscht? „Ich...ich weiß eigentlich nicht...nein, das heißt...“, stotterte ich. Mir war das ziemlich peinlich. „Kann sein“, gab ich dann zu. Das meine Einstellung gegenüber anderen negativ war, war noch untertrieben. „Magst du etwa alle diese lästigen Tussen, die überall sind, wo du bist?“, rutschte es mir dummerweise heraus. Das war etwas härter ausgedrückt, als beabsichtigt.
    „Man kann nicht jeden Menschen mögen, aber man muss sie akzeptieren. Man kann sie zurückweisen, darf sie aber nicht verletzen. Man muss sie behandeln, wie man selber gern behandelt werden möchte.“
    „Autsch“, sagte ich.
    „Ich will dich nicht diskriminieren. Ich kann verstehen, dass du auf die Welt nicht besonders gut zu sprechen bist, aber lass sie das nicht spüren, okay?“
    Ich nickte. „Gut, ich versuch’s.“
    Er lächelte. „So ist’s brav. Und jetzt lass uns die Sache vergessen, in Ordnung?“
    Ich nickte und war froh, dass er die Sache damit für erledigt erklärte.



    Re: Geschichte!

    Ruth - 02.08.2008, 17:33


    ....so schön!!!!
    ich bin echt süchtig nach dieser geschichte!!! so schnell wie möglich weiter!!!



    Re: Geschichte!

    LillyRose - 02.08.2008, 21:13


    also ich finde die Geschichte sooo mega cool. ich komme nur nicht hinterher bin gerade erst bei Kapitel 10^^ aber ich lese jetzt kräftig weiter



    Re: Geschichte!

    Goldbärchen - 02.08.2008, 22:13


    Diese Geschichte ist einfach klasse !



    Re: Geschichte!

    LillyRose - 02.08.2008, 22:58


    toll!!!!!!!!!v Schnell weiter bitte :shock: :D



    Re: Geschichte!

    crossgirl14 - 02.08.2008, 23:21


    jaa..
    bitte, bitte, bitte schnell weiter =)

    *süchtig sei*



    Re: Geschichte!

    claudi - 03.08.2008, 13:04


    14. Kapitel

    „Würdest du, * noch mal deine Schrottmusik etwas leiser stellen, ja? Wenigstens so, dass mir nicht die Ohren wegfliegen, wenn ich hier reinkomme!“, schrie ich, um gegen die kreischende E-Gitarre und die Stimmen der Sänger anzukommen, wovon man nicht unterscheiden konnte, wer was war.
    Silas stellte seine Stereoanlage einen Millimeter leiser und grinste so provokant, dass ich wutentbrannt zu dem Ding ging und es so leise stellte, dass man es kaum hören konnte. „So ist’s schon besser. Mann, haben die Drogen schon dein Gehör angegriffen?“
    „Dreh die Anlage wieder auf und verpiss dich, kapiert?“
    Ich achtete nicht auf ihn und sah mich mit gerümpfter Nase in seinem Zimmer um, das dringend mal aufgeräumt und geputzt werden musste.
    „Schon mal was von Staubsauber oder Staublappen gehört?“, fragte ich und hob vom Boden mit spitzen Fingern einen schmutzigen Socken hoch. „Dem Geruch nach zu urteilen liegt der schon so lange hier, dass er bereits museumsreif ist“, kommentierte ich und hielt Silas den Strumpf vor die Nase. Er riss ihn mir aus der Hand. „Verpiss dich!“
    „Es sieht aus, als wärest du begeisterter Sammler von leeren Bierflaschen, wie nett. Wahrscheinlich sammelst du schon fleißig, seit du Bier trinkst, was? Und was haben wir da?“ Ich ging zu seinem Nachtischränkchen. „Eine Pringlesdose bei der das Mindesthaltbarkeitsdatum schon ganze vier Monate abgelaufen ist.“ Meine Stimme triefte vor Ironie. „Ist es denn so anstrengend, einfach mal den Mülleimer zu benutzen?“ Ich warf einen Blick unter seinen Schreibtisch. „Oh, da haben wir das Problem, der Mülleimer ist schon seit einem halben Jahr überfüllt, ja dann ist es ja verständlich. Den Müll auszuleeren ist für ein schmächtiges Kerlchen wie dich wirklich zu viel verlangt.“
    Er war aus seiner liegenden Position auf seinem schwarzen, sehr eleganten Ledersofa aufgesprungen und schleuderte mir eine seiner Hosen entgegen, von denen massenweise auf seiner Couch lagen und deren Eleganz verdeckten. Überhaupt war sein Zimmer ein Traum, vorausgesetzt jemand räumte es mal auf. Das einzige was sauber war, war das riesige Aquarium, dass das gesamte Zimmer in ein grünliches Licht tauchte und worin schillernde, riesige Salzwasserfische schwammen. Ich stellte mir den Luxus, diese Fische zu besitzen, nicht nur kompliziert, sondern auch schweineteuer vor.
    „Kapierst du das nicht? Ich brauch deine Kommentare nicht. Du nervst, dein Gelaber pisst mich an, also mach einfach die Fliege, ist das so schwer?“
    Ich warf seine Hose zurück. „Ein Vorschlag: Du fängst an, deine zahlreichen Klamotten erst mal in deinen Schrank zu räumen. Die Schmutzigen aber bitte in die Wäsche, okay?“
    Diesmal bekam ich die Hose mitten ins Gesicht.
    „Reden wir doch miteinander wie vernünftige Menschen“, schlug er vor und ich merkte, dass er vor Wut kochte.
    „Erstens hörst du dich an, wie mein altkluger Bruder und zweitens braucht es für ein vernünftiges Gespräch mindestens zwei vernünftige Menschen und außer mir sehe ich hier eigentlich keinen mehr der vernünftig ist, also?“
    Er lachte dreckig, wobei seine Stimme so unangenehm rau klang. „Du kannst mich nicht leiden und ich dich auch nicht, sehe ich das richtig?“
    „Vollkommen, schätze ich.“ Ich hob einen von seinen Socken hoch und schmiss ihn in den Mülleimer.
    „Feinde?“ Er streckte mir die Hand hin, wie man es machte, wenn man einem ein Freundschaftsangebot machte und ich schlug ein. „Feinde!“, vervollständigte ich den „Eid“.
    „Du wirst es bereuen, mich als Feind zu haben, Samira Schäfer“, sagte er noch, während wir uns die Hände schüttelten.
    „Und du ebenfalls, Silas Landau“, grinste ich.
    „Ich habe vielleicht einen unausstehlichen Gegner, aber du hast einen grausamen, der einen lange, lange leiden lässt, bevor er einen umbringt.“
    „Worauf du dich verlassen kannst.“ Wir hielten noch immer die Hände und in diesem Moment zog er mich mit einem Ruck zu sich und drehte mir blitzschnell den Arm schmerzlich auf den Rücken.
    „So verabschiedet man einen Feind.“ Er öffnete die Tür und trat mich förmlich aus seinem Zimmer.
    „Okay, eins zu null für dich Silas, aber das war erst Runde Nummer eins“, murmelte ich, als ich in mein Zimmer ging und mir meinen schmerzenden Arm rieb.

    Der nächste Tag fing sehr eintönig an. Ich saß in meinem Zimmer rum und langweilte mich. Dan war bei so einer Zeltlagermitarbeitervorbesprechung. Und ich wusste ganz genau, dass Lydia, sobald ich einen Schritt aus meinem Zimmer machte, mich überfallen würde und etwas mit mir spielen wollte. Also verbunkerte ich mich lieber und tat so, als würde ich noch schlafen. Ich dachte darüber nach, wie ich Silas eins auswischen konnte. Ich hatte mir nämlich geschworen, diesem personifizierten Ärger die Hölle gehörig heiß zu machen. Aber ich hatte mir auch vorgenommen, Dan da rauszuhalten. Ich wollte nicht, dass Silas die Familie noch einmal blamierte. Und schon gar nicht, dass ich daran Schuld war.
    Plötzlich hatte ich eine Blitzidee. Ich konnte nur hoffen, dass Lydia nicht draußen irgendwo auf mich lauerte. Nachdem ich mich angekleidet hatte, öffnete ich meine Zimmertür so leise wie möglich und spähte hinaus auf den Flur. Die Luft war rein. Auf Zehenspitzen schlich ich ins Bad, schloss die Tür ab und begann, in dem übergroßen Spiegelschrank nach einem Lippenstift zu suchen. Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern Ly jemals mit Lippenstift gesehen zu haben, mir war aber klar, dass sie so etwas, wenigstens aus irgend so einer Prinzessinnenzeitschrift oder so, besitzen musste. Ich wurde fündig. Begeistert sah ich auf den knallpinken Lippenstift in meinen Händen, der seine Arbeit sicherlich hervorragend machen würde, ließ ihn in meine Hosentasche gleiten, schlich zu Silas Zimmer und horchte an der Tür. Keine Musik. Das hieß, dass er entweder schlief oder tatsächlich nicht da war. Ich wagte einen Blick durch das Schlüsselloch und konnte nur hoffen, dass Silas nicht in diesem Augenblick die Tür öffnete. Er durfte nichts ahnen. Auch dieser Versuch ergab nichts neues. Silas war anscheinend wirklich nicht da. Langsam drückte ich die Klinke runter, öffnete die Tür einen spaltbreit und schlüpfte in das Zimmer. Mein Racheobjekt war das Allerheiligste von Silas, das Aquarium. Ich beschmierte mir die Lippen mit dem Stift und merkte, dass ich nicht besonders geschickt darin war. Anschließend versah ich die gesamte Scheibe des Aquariums mit rosaroten Küssen, wobei ich meine Lippen jedes dritte Mal nachfärbte. Ich besah stolz mein Werk. Die Scheibe war so beschmiert, dass man noch nicht mal mehr die Fische durch das Glas erkennen konnte, und ich konnte es nicht lassen, mit dem Stift an eine einigermaßen freie Stelle „Zuckersüße Grüße“ zu schreiben. Ich bekam einen Schock, als ich mich darauf im Spiegel betrachtete, denn nicht nur meine Lippen waren rosa, meine Nase, die Wangen und sogar die Stirn wiesen rosafarbene Flecken auf. Ein Betrachter musste den Anschein haben, ich sei zu blöd, mir die Lippen zu färben und ich musste bei der Vorstellung unwillkürlich grinsen. Ich konnte es nicht lassen, mir mit dem Stift noch eine Brille aufs Gesicht zu malen und einen Zigarettenstummel in den Mundwinkel. Ich schlich aus dem Zimmer, und schloss die Tür hinter mir. Plötzlich hörte ich von unten ein Klirren und dann wütende Stimmen. Perplex blieb ich stehen und überlegte einen Moment, was da los sein könnte, beschloss aber, mich genauer zu informieren, ging die Treppe runter, völlig vergessend, in was für einem Zustand sich mein Gesicht befand.
    „Du hast mir nichts zu sagen, okay? Ständig nörgelt ihr an mir rum. Tu dies nicht, tu das nicht, mach es so, mach es anders. Ich hab die Schnauze voll, klar?“
    „Silas bitte.“ Das Marion kurz vorm Heulen war, hörte ich ihr sofort an, und ich konnte es auch verstehen. Ich war wirklich kurz davor, in die Küche zu stürmen und ihm einfach mal ein Veilchen zu verpassen. Ich drehte mich um, und wollte gerade wieder hoch gehen, als es an der Tür klingelte. Da ich ja der offizielle Türöffner war, ging ich resigniert meiner Aufgabe nach, da der Besucher wahrscheinlich einfach vor der Tür stehen gelassen werden würde, wenn ich ihm nicht öffnete.
    Dan war schon zurück.
    „Hi! Sorry, hab meinen Schlüssel vergessen...“ Er stockte und sah mich mit gerunzelter Stirn an. „Was hast du denn gemacht?“
    Plötzlich wurde mir die Schmiere im Gesicht bewusst und ich errötete bis in die Haarwurzeln.
    „Ich ähm...ich spiele mit Ly Zirkus. Ich bin der Clown“, erklärte ich notdürftig. *, wie peinlich!
    Er lachte wie gewöhnlich amüsiert, wobei seine blauen Augen strahlten und sich dieses Grübchen in seiner rechten Wange bildete. Mir wurde bewusst, wie bescheuert und albern ich aussehen musste und entschuldigte mich schnell mit den Worten, das Zeug abwaschen zu müssen, und als ich an der Tür vorbei ging, die in den Ess-Wohn-Küchenraum führte, stürmte Silas wütend raus und ich sah, was da vorher geklirrt hatte. Die schöne Glasvase war zerbrochen, die immer auf der Kochinsel gestanden hatte und die Blumen darin über den Boden verstreut. Marion versuchte gerade, mit mechanischen Bewegungen wieder Ordnung zu schaffen. Ich hastete die Treppe hoch ins Bad und schrubbte mein Gesicht mit einem Waschlappen, bis der eben noch weiße Lappen eine rosa Farbe hatte und mein Gesicht vom Schrubben eine rote. Die Seife brannte mir in den Augen, aber ich merkte es kaum. Ich war so zornig auf Silas, eine unkontrollierbare Wut hatte mich gepackt, und indem ich mein Gesicht unbarmherzig bearbeitete, reagierte ich mich ein bisschen ab. Das nächste Mal würde es nicht bei Küsschen auf seinem Aquarium bleiben, nein, ich würde ihm seine sündhaft teuren Fische auf einem Silbertablett gebraten und gefüllt servieren.
    Als ich das Bad verließ, stürmte sofort Ly auf mich zu und überhäufte mich mit dem Klatsch, den ihre Freundinnen ihr übermittelt hatten und wovon wahrscheinlich nicht mal ein zehntel stimmte. Glücklicherweise rettete mich Dan aus den Klauen seiner Schwester, er wollte was mit mir besprechen. Ich folgte ihm in sein Zimmer und erfuhr einiges über das Zeltlager, das Dan nächste Woche zusammen mit noch zehn anderen Mitarbeitern führen sollte.
    „Ich hatte gedacht, dass du vielleicht Lust hättest mitzukommen. Du bist zwar kein ausgebildeter Betreuer, aber wir könnten noch ein paar Leute mehr gebrauchen, was meinst du?“
    „Ich wiederhole: zweiunddreißig zehn- bis vierzehnjährige Kinder wandern dreißig Kilometer durch den Wald an eine bestimmte Stelle, wo sie ein Lager errichten müssen. Alles was sie dabei haben sind Zelte, Streichhölzer, eine Karte, einen Kompass und einen Schlafsack. Die Kinder sind in zwei „verfeindete“ Gruppen eingeteilt, die in dieser Woche gegeneinander Olympiaden und diverse Spiele machen müssen, wobei am Ende die beste Gruppe irgendeinen Preis bekommt.“ Mir schwirrte der Kopf.
    „Ganz richtig.“ Daniel nickte. „Das wird total witzig. Letztes Jahr haben wir zwar kaum geschlafen, aber es war der Hammer, echt.“
    Was für tolle Aussichten, dachte ich zuerst, aber ich musste doch zugeben, dass es sich wirklich nach einem kleinen Abendteuer anhörte.
    „Klar mach ich mit.“
    „Cool. Es wird dir sicher gefallen.“ Er sah so aus, als freute er sich aufrichtig darüber, dass ich mich dafür entschieden hatte, und obwohl ich das nicht wirklich glauben konnte, dass er mich tatsächlich dabei haben wollte, freute ich mich über das Grübchen, das sich bei meiner Zustimmung in seine Wange gegraben hatte.
    „Morgen werden wir zu dem Platz fahren, an der wir unser Lager aufbauen werden und schon mal einiges vorbereiten für die Spiele und so, in Ordnung?“
    „In Ordnung. Wird Silas auch da sein?“
    „Er würde sich eher von der Brücke stürzen“, sagte Dan achselzuckend und ich runzelte die Stirn.
    „Das hat er gesagt?“
    „Er hat’s nicht so mit Kindern, mit Menschen im Allgemeinen. Er sitzt lieber vor seinem Aquarium und raucht sich die Lunge schwarz.“
    Ich hatte ihn tatsächlich noch nie gesehen, wie er sich mit Ly unterhielt. Außer dann, wenn sie ihm im Weg stand.
    „Also, wir treffen uns für die Vorbereitung um neun Uhr.“ Er warf einen kurzen Blick auf seine Uhr, als hätte er Angst, er könne sich jetzt schon verspäten. „Wir müssten dann schon um halb acht von hier weg, kannst du damit leben?“
    „Muss ich wohl.“ Ich schenkte ihm eines meiner eher seltenen Lächeln.

    Ich war absichtlich früher ins Bett gegangen. Erstens, um Ly nicht noch aus dem fünf Freunde Buch vorlesen zu müssen und zweitens um sicher zu sein, dass ich auch morgen schon so früh aufstehen konnte. Ich wollte nämlich nicht riskieren, aufzuwachen, wenn Dan gerade im Auto saß und losfahren wollte. Ich hatte mir von Marion so eine Liebesschnulze geliehen, die ich lesen wollte, mir verging der Spaß aber schon nach den ersten zwei Seiten. Ich musste mich in der Literatur wohl eher von Werner beraten lassen. Ich legte das Buch gerade beiseite, als mein Handy klingelte. Mein Handy klingelte eigentlich nie und wenn es klingelte, dann bedeutete das, dass entweder Björn oder Elm mich anrief. Da Björn nur anrief, wenn ich durchs Festnetz nicht erreichbar war, was ja im Moment nicht der Fall war, schloss ich, dass die unterdrückte Nummer Elm gehörte. Ich meldete mich deshalb schon gleich mit: „Na endlich.“
    „Sam, bist du das?“, schrie Elm in den Hörer.
    „Ja, aber du kannst ruhig leise reden, ich verstehe dich auch, wenn du nicht brüllst“, sagte ich und rieb mir das Ohr.
    „Du hattest mich angerufen?“
    „Ja, und das ist jetzt ungefähr zwei Wochen her“, nörgelte ich, obwohl ich ja verstehen konnte, dass er in Kalifornien besseres zu tun hatte, als mit mir am Telefon zu reden.
    „Ich hatte mein Handy ausgeschaltet“, verteidigte er sich, als ob ich das nicht wüsste.
    „Und wofür hast du dann bitteschön ein Handy, wenn es nie an ist?“ Ich ließ nicht locker.
    „Damit du dich darüber aufregst, wenn du mich erreichen willst und nicht kannst“, konterte er gereizt.
    „Okay, ist ja schon gut. Was läuft so in Kalifornien?“
    „Wir kommen grade von unserem Mittagsbüffet zurück.“
    „Toll. Ich lieg grad im Bett.“ Es schien, als fand Elm einfach immer die Zeit zum Essen. Jedes mal, wenn ich mit ihm sprach, war er grade am Essen, oder hatte vor kurzem gegessen, oder offenbarte mir, dass er gleich unbedingt etwas essen musste.
    „Du musst unbedingt noch mal mitkommen, Sam. Hier gibt’s die besten Büffets, die ich jemals gesehen habe.“
    Ich rollte die Augen. Als würde Kalifornien aus nichts anderem bestehen als aus Büffets. Es war doch immer dasselbe.
    Als hätte er meine Gedanken erraten, wechselte er plötzlich das Thema. „Und wie ist’s bei dir? Arg schlimm?“
    „Es ist cool hier“, antwortete ich.
    Ich erzählte ihm ein bisschen von den Dingen, die ich hier so erlebt hatte, von der Freizeit, die ich noch erleben und hoffentlich überleben würde, und automatisch kam ich auch auf Dan zu sprechen. Ich erzählte Elm ein bisschen von ihm, und als eine Pause herrschte, unterbrach er sie, indem er gedehnt sagte: „Sam, dich hat’s doch nicht erwischt?“
    Ich wollte verneinen, aber irgendwas hielt mich davon ab, und ich biss mir auf die Lippen.
    „Sam, bist du noch dran?“ Er klang fast verzweifelt.
    „Ja.“
    „Dann antworte mir!“
    „Elm, du...du müsstest ihn kennen lernen. Er ist nicht so wie du denkst, er...“
    „Sam der Typ ist, wenn ich das richtig verstanden habe, ein Backstreetboy-Klon, der auch noch gut erzogen ist. Seit wann stehst du auf solche Hier-bin-ich-mir-gehört-die-Welt-Typen, auf die alle Mädchen fliegen wie die Schmeißfliegen auf einen Kuhfladen?“
    „Mann, du kennst ihn doch noch nicht mal. So ist er nicht. Er kann doch nichts dafür, dass er gut aussieht. Er ist liebenswürdig, verstehst du das? Er hat einen Charakter, für den ich einmal die Welt umrunden würde. Und er hat ein unglaublich süßes Grübchen, wenn er lächelt und strahlend blaue Augen, die einen Effekt auf mich haben, wie die Sonne auf Schokolade. Mann Elm, du kannst dir das nicht vorstellen.“
    „Nein, ’tschuldige, kann ich beim allerbesten Willen nicht. Du hörst dich an wie Sandra, wenn sie von einem ihrer zukünftigen Ex-Freunde spricht. Wie verzweifelt musst du sein, Samira, um so tief zu sinken...“
    „Jetzt halt aber mal den Rand!“, fuhr ich ihn an. Ich war aus meinem Bett gesprungen und trat wütend gegen die Wand.
    „Du hast kein Recht, mich mit Sandra auf eine Stufe zu stellen, okay? Das ist eine Beleidigung, für die ich dir den Arm brechen würde, wenn du hier wärst. Daniel Landau ist das einzigste männliche Wesen, das nicht nur was auf dem Kopf sondern auch was drin hat. Und du kannst mir ja wohl nicht verbieten, mich in ihn zu verlieben.“
    „Aha, da. Jetzt hast du’s zugegeben“, rief Elm vom anderen Ende der Welt, als hätte er gerade ein Verbrechen aufgedeckt.
    „Na und? Hast du was dagegen? Ich bin vielleicht gerade dabei, Gefühle zu entwickeln, die normale Mädchen in meinem Alter haben. Und du regst dich auf, weil du Schiss hast, dass du keinen mehr hast, der dich verteidigen kann, wenn jemand dir dein Schokobrot wegnimmt. Weißt du was Elmar, hättest du auch nur einen halb so großartigen Charakter wie Daniel, würden die Mädels vielleicht ab und zu auch mal merken, dass du existierst.“ Wutentbrannt legte ich auf und schmiss mein Handy wütend auf meine Matratze. „Ja, ja, jetzt kriegst du Minderwertigkeitskomplexe, was?“ Mit einem wütenden Aufschrei warf ich mich aufs Bett. Jetzt war Elm auch noch gegen mich. Sollte er doch. Bildete er sich etwa ein, ich hätte seinen Rat nötig? Sollte er doch sehen, wo er blieb. Der Gedanke, ihm gezeigt zu haben, wo es lang geht, beruhigte mich etwas, aber trotzdem hatte ich ein ungutes Gefühl. Er war schließlich mein einziger Freund. Okay, er war auch ein guter Freund. Ich seufzte verzweifelt, vergrub mein Gesicht im Kissen und wollte mit aller Macht einschlafen, was mir irgendwann, Stunden später, auch gelang.

    15. Kapitel

    „Daniel, hast du mein Geld irgendwo gesehen?“
    „Dein Name stand nirgends dran.“
    „Daniel! Ich mein’s ernst.“ Marion ließ einen lauten Seufzer hören und sah bestimmt schon zum hundertsten Mal unter das Sofakissen.
    „Da ist es sicher nicht“, sagte Lydia, rollte mit den Augen und schob sich einen Löffel Cornflakes in den Mund.
    „Ich verstehe das nicht. Gestern Abend hab ich die achtzig Euro auf die Kochinsel neben die Palme gelegt“, murmelte Marion immer wieder, während sie jedes nur mögliche Versteck durchsuchte, in das sich das Geld eventuell verkrochen haben könnte.
    Ich saß mit Dan und Ly am Esstisch und frühstückte und mir wollte Silas einfach nicht aus dem Kopf gehen. Eigentlich ging mich das ja nicht wirklich was an, aber irgendwie kam mir die Sache komisch vor. Ich hatte am Abend selbst gesehen, wie Marion das Geld in die Küche getan hatte, um es nicht zu vergessen, wenn sie zu ihrer Schwester fuhr. Marion hatte jeden außer Silas gefragt, ob er die achtzig Euro gesehen hatte, aber jeder hatte verneint.
    „Frag doch mal Silas“, rutschte es mir raus und ich füllte mein Mund schnell mit Müsli, damit mir nicht noch irgendwas Dummes entfahren konnte.
    Marion sah mich fast geschockt an, so als hätte ich mein Misstrauen bereits geäußert, aber dann fuhr sie sich durchs Haar, griff nach ihrer Handtasche und sagte schnell: „Silas war gestern Abend gar nicht in der Küche.“ Als wollte sie ihren eigenen Verdacht vertuschen und beiseite schieben. „Was soll’s. Wahrscheinlich habe ich das Geld noch nicht mal da hin gelegt.“
    Ich wollte sagen, dass ich es gesehen hatte, aber irgendwas hielt mich davon ab.
    „Gut, ich gehe dann zu Heike. Lydia, du bist leider zu spät, sonst hätte ich dich ja mitgenommen.“
    Lydia verzog ihr Gesicht, als wollte sie gleich protestieren, aber da war Marion schon verschwunden.
    „Wir müssen auch los“, sagte Dan mit einem hektischen Blick auf seine Uhr. „Ich gebe dir zwanzig Minuten zum Fertigmachen“, sagte er mir und räumte die Teller ab. Ich hatte gemerkt, dass er einen peinliche genauen Sinn für Pünktlichkeit hatte, der einen dann dazu verdonnerte vor Ort noch zehn Minuten auf die Anderen zu warten.
    „Sehr großzügig, aber ich brauch nur drei“, gab ich grinsend zurück, und sein verdutzter Blick folgte mir bis zur Tür.
    Ich war tatsächlich schon lange fertig als er noch duschte, deshalb hatte ich noch genügend Zeit, mich am Süßigkeitenschrank zu vergreifen. Ich fand zu meinem Vergnügen Kaugummizigaretten. Ich steckte mir gerade eine in den Mundwinkel, um Dan damit zu schocken, als mir eine brillante Idee kam.
    Ich drückte langsam, um kein Geräusch zu verursachen, die Klinke zu Silas’ Zimmer runter und steckte meinen Kopf durch den Türspalt. Er schlief seelenruhig auf dem Bauch, beide Arme um das Kissen geschlungen. Sein Aquarium war tatsächlich sauber, kein einziger Knutschfleck war mehr zu sehen, und ich wunderte mich, dass er sich für meine Aktion nicht gerächt hatte. Außer einem tödlichen Blick hatte ich von ihm nichts bekommen.
    Okay Schätzchen, Zeit für Runde Zwei, dachte ich gehässig und fand auf den ersten Blick die Marlboroschachtel auf seinem Schreibtisch, der so vollbeladen war, dass sicherlich kein Krümel mehr darauf Platz gefunden hätte. Ich nahm die Zigaretten heraus und stopfte ihm die Kaugummistangen rein.
    Er konnte froh sein, dass sich jemand so um seine Gesundheit kümmerte. Kaugummi verursachte garantiert keine schwarze Lunge. Die echten Zigaretten schnippelte ich mit einer Schere klein, sodass sie unbrauchbar waren und schmiss sie in den Müll. Mal sehen, ob ihn das kalt lassen würde.

    Wir fuhren etwa eine viertel Stunde, bis wir zu einem Wald kamen, den wir auch noch mal so lange durchkreuzten, bis wir eine Lichtung erreichten, erstaunlich groß und hell. Ein kleiner Fluss rauschte ganz in der Nähe, die Natur schien hier unberührt. Natürlich waren wir die Ersten und ich musste mich zusammenreißen, um nicht einen Kommentar über Dans unbegründete Eile loszulassen.
    Während wir warteten, erklärte er mir, dass diese Lichtung, der „Gemeinschaftsort“ war, an dem wir uns tagsüber aufhalten würden. Der Schlafplatz, war mitten im Wald. Die beiden Gruppen würden an unterschiedlichen Orten campieren. Das machte das ganze übersichtlicher. Eine Gruppe setzte sich aus sechzehn Kindern zusammen, mit jeweils vier Betreuern. Die zwei anderen waren für das Essen zuständig und bewachten den „Gemeinschaftsort“.
    Die ersten Leute trafen ein, Dan begrüßte jeden einzelnen und stellte mich vor. Diese schienen froh, noch eine billige Arbeitskraft mehr zu haben, das stand ihnen in den Gesichtern geschrieben, so dass ich mich schon fragte, was für Schuftereien mich wohl erwarten würden. Sicher hatte ich die ganze Zeit am Fluss zu stehen und den Abwasch und die Wäsche zu machen. Worauf hatte ich mich nur eingelassen?
    Am Ende waren es ungefähr zwanzig Leute, die gekommen waren, und ich war happy, als ich Nico darunter fand.
    Wir setzten uns in einen Kreis, ich deutete auf den Platz neben mir, und Nico setzte sich schüchtern lächelnd hin.
    „Bist du einer von den Betreuern?“, flüsterte ich ihr zu, während ein Mann sich erhoben hatte und zu sprechen begann.
    „Ja, du auch?“
    Ich nickte lächelnd und sie lächelte zurück. Vielleicht würde es wirklich ganz nett werden. Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Sprecher zu.
    „Lasst uns zuerst beten“, sagte der gerade und sprach ein kurzes Gebet, in dem er für Gelingen des Zeltlagers bat. Er hatte eine seltsame Stimme, die so klang, als ob er sich die Nase zuhalten würde. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig.
    Wir besprachen lange, wobei der Kerl den Ton angab. Von Nico erfuhr ich, dass er Theo hieß und der Leiter der ganzen Sache war, außerdem hatte ich mich in seinem Alter gewaltig getäuscht, er war bereits zweiunddreißig. Er erklärte, wo welches Zelt zu stehen hatte und hatte dazu sogar einen Plan zur Hand. Es gab ein Kochzelt, ein Abwaschzelt, ein Zelt, wo gegessen wurde, ein Zelt, in dem Geräte abgestellt wurden und ein riesiges Gemeinschaftszelt, in dem diverse Aktionen bei Regen durchgeführt werden konnten.
    Er begann, die Namen der Mitarbeiter vorzulesen und sie den Gruppen zuzuteilen. „Marlena und Kim sind fürs Essen zuständig, daran hat sich nichts geändert. Sarah, Miri, Andi und Thomas sind der ersten Gruppe zugeteilt. Daniel, Nicolette, ich und...“, er stockte kurz, „Samira gehören zu der zweiten Gruppe. Ach genau, das war die Änderung“, murmelte er dann. „Jan, du hilfst dann noch den Mädels in der Küche, wir haben nämlich noch eine zusätzliche Person dazubekommen, die bei der Gruppenbetreuung dabei ist.“
    Ich sah zu Jan hinüber und bemerkte, dass er der Schlagzeuger aus Dans Band war. Daniel saß neben ihm. Er nickte nur, aber ich fühlte mich mies, obwohl ich erleichtert war, bei Dan in der Gruppe zu sein und nicht Mädchen für alles spielen zu müssen.
    „Muss der jetzt wegen mir aus der Gruppe?“, fragte ich Nico.
    „Er hat sich freiwillig gemeldet“, erklärte sie mir achselzuckend, aber das beruhigte mich nicht gerade.
    „Okay, alles andere wisst ihr, also können wir ja jetzt mit dem Aufbauen anfangen.“
    Wir machten uns an die Arbeit. Zusammen ging das Ganze ziemlich schnell voran. Ich baute mit Nico und noch zwei Kerlen an dem Küchenzelt, als Dan mir zurief: „Sam, wirf mir doch bitte eben mal die Heringe zu, die da vorn liegen!“
    Heringe? Wir waren mitten in der Arbeit und Dan dachte ans Essen?
    „Wo sind denn hier bitteschön Fische?“, rief ich zurück und das gesamte Team brach in Lachen aus.
    Nicolette drückte mir schnell ein Säckchen dieser langen Eisenstäbchen in die Hand, mit denen man die Zeltleinen am Boden befestigte. „Die nennt man Heringe“, flüsterte sie mir zu. Mir stieg die Hitze in den Kopf und ich warf sie Dan wütend zu. Er hatte nicht gelacht, sondern warf mir einen Ist-schon-in-Ordnung-Blick zu.
    „Nimm ihnen das nicht übel, sie meinen’s nicht böse“, sagte Nico und ich versuchte es. Vielleicht hatte ich wirklich eine zu schlechte Einstellung, sagte ich mir. Ich setzte ein Lächeln auf. So musste man durch die Welt gehen, wenn man wie Daniel sein wollte. Ich versuchte, meinen Stolz herunterzuschlucken und mich über meine Dummheit selbst zu amüsieren. Es gelang mir zwar nicht wirklich, aber vielleicht war das schon mal der Anfang.
    Als wir mit den Zelten fertig waren, zeigte Theo uns einen anderen Plan, auf dem die einzelnen Parcours bis ins Detail aufgeführt waren. Wir luden die Materialien, die dazu benötigt wurden aus einem Hänger und begannen mit der Arbeit. Es war kompliziert. Ständig kam Theo vorbei und korrigierte da und dort noch was, oder er sagte, dass es völlig falsch so war, und wir am besten noch mal von vorn anfangen sollten. Er war schrecklich kritisch, aber irgendwie fand ich ihn sympathisch, bei ihm wurden ganz bestimmt keine halben Sachen gemacht. Ich war mit Dan an einem Labyrinth beschäftigt, das mit Baustellen-Strassband in einem quadratischen Waldstück erstellt werden musste. Natürlich arbeiteten wir nicht nur. Dan spielte Winnetou und fesselte mich unter Kriegsgeheul mit dem Strassband an einen Baum, bis wir nicht mehr konnten vor Lachen. Jedes Mal, wenn wir meinten, es geschafft zu haben, kam Theo, begutachtete unser Gebilde und fand es entweder zu einfach oder zu schwer. Nach dem dritten mal, stöhnte Dan theatralisch auf und schlug mir vor auch mit Theo Winnetou zu spielen. Doch beim nächsten mal gab er sich tatsächlich zufrieden und Daniel vollführte einen Indianertanz, sodass ich mich vor Lachen kugelte.
    Nach der Arbeit, zündeten die Männer ein Lagerfeuer an, es gab ein bisschen was Gegrilltes und wir hielten eine Andacht. Nicht, dass mich das wirklich interessierte, aber es gefiel mir trotzdem. Ich mochte diese Leute um mich herum, sie lachten zwar über jedes Missgeschick, ich bemerkte aber sofort, dass sie es nicht persönlich meinten, und dass auch derjenige, der ins Fettnäpfchen getreten war, mitlachte. Es war ähnlich wie bei dem Familientreffen der Landaus, alles lief reibungslos und harmonisch. Ich fragte mich, wie es wohl ausgesehen hätte, wenn Silas dabei gewesen wäre. Er hätte allein durch seine Anwesenheit alles zerstört, soviel stand fest. Das war nämlich das Einzige, was er richtig konnte. Sollte er lieber bei seinen Fischen bleiben, die konnte er wenigstens nicht nerven.
    Ich betrachtete Daniels vom Feuer beleuchtetes Profil, als er sich eine Gitarre nahm und anfing, die Seiten leise zu zupfen. Ich beneidete ihn. So sehr wie noch nie jemanden zuvor. Wenn ich die Wahl hätte, mit einem Menschen tauschen zu können, würde ich nicht Bill Gates nehmen. Was brachte ihm sein Haufen Kohle? Ich würde auch nicht mit Anna Kurnikova tauschen, was brachte einem ein gutaussehender Ehepartner und eine großartige Karriere? Ich würde mit Daniel Landau tauschen, er besaß das, was alles ausmachte. Ich wusste nicht, was es war, aber ich wusste, dass ich das, was er hatte, auch wollte.

    Es war der Abend vor der Freizeit. Der Abend vor dem Morgen, an dem es beginnen würde. Ich sah dem schon mit Spannung entgegen und konnte nicht schlafen. Ich hatte der Predigt heute in der Gemeinde nur mit halbem Ohr zugehört und nicht wirklich verstanden, von was der Mann an der Kanzel da überhaupt geredet hatte. Bestimmt irgendwas über Gott und Jesus und so. Damit lag man sicher nie falsch. Ich glaube er hatte was über irgend einen Propheten gesagt. Johannes der Säufer? Nein so war’s nicht. Ich überlegte angestrengt, wie der Typ noch mal geheißen hatte. Der Täufer, genau, Johannes der Täufer. Muss wohl ein ziemlich starker Kerl gewesen sein, der Prediger hatte richtig von ihm geschwärmt. Was dieser Johannes wohl dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass man ihn so rühmte? Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich in die Geschichte eingehen würde und man mich in fünfhundert Jahren oder so immer noch in Erinnerung hätte. Die Kinder würden in der Schule über meine Ruhmtaten sprechen und mich bewundern und jedes gefundene Schriftstück von mir würde in Museen ausgestellt werden unter dickem Panzerglas, da es einen unschätzbaren Wert besäße. Ich stellte mir vor, wie meine benutzten Tempos bei Ebay für Millionen versteigert wurden. Kein schlechter Gedanke. Nur durch was könnte ich wohl Geschichte machen? „Sam, die Beschützerin des Vielfrasses“? Oder „Die mit den flinken Fäusten“? Das reichte gerade mal für die Aufmerksamkeit der Lehrer im negativen Sinne, man würde mich nach meiner Beerdigung sicher sofort vergessen. Samira Schäfer, wer war das noch mal? Da ich davon überzeugt war, niemals eine eigene Familie zu haben, würde wohl einzig und allein Björn sich noch an mich erinnern können, wenn er nicht schon vor mir starb.
    Mir wurde bewusst, mit was für dämlichen Dingen ich mich auseinandersetzte und ich zwang mich, einzuschlafen. Gerade hatte ich es geschafft, mich in den Halbschlaf einzuduseln, da riss mich die Klingel aus dem Schlummer. Ich kniff ein paar mal meine Augen zusammen, damit mein Blick klar wurde und schlich dann auf den Flur. Wer konnte so spät noch klingeln? Da fiel mir Silas ein. Er war ja noch gar nicht zu Hause.
    Marion und Werner waren schon an der Tür und ich hörte von unten eine Männerstimme, die ich nicht kannte. Ich wurde neugierig, schlich mich zu dem Treppengeländer und spähte nach unten.
    „Ich bin Eduart Maasern, von der Polizei. Ihr Sohn hat in der Discotek Wildwechsel eine Schlägerei angezettelt und dabei einem Jugendlichen die Nase gebrochen.“
    Ich hörte wie Marion erschrocken nach Luft schnappte.
    „Sie haben unter Umständen mit einer Anzeige zu rechnen, vor allem, da die Motive zu der Gewalttat Ihres Sohnes unbegründet sind. Ich bitte Sie, mit ihm zu reden. Vielleicht bekommen Sie mehr aus ihm heraus.“
    Ein anderer Polizist schob Silas an dem ersten vorbei und Werner griff seinem sturzbesoffenen Sohn unter die Arme und brachte ihn ins Wohnzimmer.
    „Passen Sie in Zukunft besser auf Ihren Sohn auf“, sagte der zweite Polizist und der Ton, in dem er das sagte brachte mich zur Weißglut. Es war anklagend, verachtend, als wären seine Eltern an seinem Zustand schuld. Die Idioten hatten ja keine Ahnung. Sollten die bloß nicht so protzig tun, nur weil sie eine Dienstmarke und eine Pistole besaßen.
    „Verpisst euch doch in eure Blaulichtwagen und locht noch ein paar Bösewichte ein, ihr Hosenscheißer“, murmelte ich leise vor mich hin und zog eine Fratze, als sie Marion wichtigtuerisch den Rücken zukehrten. Klasse habt ihr das hinbekommen, dachte ich spöttisch. Jetzt heftet euch doch noch ein Abzeichen an eure Ordenwand für eure tolle Tat.
    Ich konnte meine Wut auf die Polizisten auch nicht so richtig erklären. Wahrscheinlich war es der Hass auf Silas, den ich da an ihnen ausließ. Marion hatte ihr Gesicht in ihren Händen verborgen und weinte still vor sich hin. Ich konnte nicht anders und ging leise die Treppe hinunter.
    „Mach dir nicht so viel aus dem Gerede“, sagte ich leise und legte ihr die Hand auf den Arm.
    Erschrocken zuckte sie zusammen und sah mich aus tränennassen Augen an.
    „Was machst du hier, so spät?“, fragte sie und wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augenwinkeln.
    „Die Klingel hat mich geweckt.“
    „Geh schnell wieder ins Bett“, sagte sie und brachte ein gequältes Lächeln zustande.
    Ich hörte nicht auf sie, sondern ging ins Wohnzimmer, wo Silas auf dem Sofa lag, einen Kühlakku auf der Stirn. Werner stand neben ihm, die Arme verschränkt und ich konnte sogar im Dämmerlicht den dunklen Gesichtsausdruck erkennen.
    „Was sollte das wieder werden?“, fragte er kühl.
    „Regt euch nich’ so auf“, gab Silas undeutlich zurück. „Kann ich doch nich’s für, wenn der Arsch Monika so angafft.“
    „Nein dafür kannst du nichts, aber du kannst was dafür, dass ich dir jetzt Hausarrest gebe. Anscheinend muss man dich noch wie einen Zwölf-jährigen behandeln.“ Ich wunderte mich über die Beherrschtheit in Werners Stimme.
    „Was?“ Silas hob den Kopf und der Kühlakku rutschte von seiner Stirn auf den Boden. „Bis’ du verrückt?“
    „Das wollte ich dich gerade auch fragen. Was denkst du dir eigentlich dabei? Reicht es dir nicht schon, wegen Drogenkonsum ein dickes Minus in der Akte zu haben? Musst du alles immer auf die Spitze treiben? Nach dem Motto: Mal sehn, was ich noch alles anstellen kann, bis die mich einlochen.
    Ich seh’ da nicht mehr länger zu, Sohn. Nur weil du es geschafft hast, von den Drogen loszukommen, brauchst du dir nicht einzubilden, jetzt tun und lassen zu können, was dir passt. Abends um zehn ist für dich alles außerhalb des Hauses tabu, dass dir das klar ist.“
    Silas starrte ihn aus seinen glasigen Augen entsetzt an. „Ey, sogar Lydia darf danach noch raus, okay?“
    „Lydia weiß sich zu benehmen, im Gegensatz zu dir. Ich weiß, dass du versuchen wirst, dieses Gesetz zu missachten, aber das wird dann Folgen für dich haben, Folgen, gegen die du dich nicht mehr wehren kannst.“
    „Un’ das wär’?“
    „Geh nach zehn Uhr raus, besauf dich ordentlich, prügel einfach noch jemanden krankenhausreif und du wirst es erfahren.“ Er wollte gerade gehen, als ihm noch was einfiel: „Das Geld, das du deiner Mutter gestohlen hast, zahlst du auf den Cent wieder zurück.“
    Marion, die mir ins Wohnzimmer gefolgt war, zog erschrocken die Luft ein und starrte ihren Mann mit aufgerissenen Augen an.
    „Du kommst morgen früh mit mir mit in die Firma und bringst Ordnung in meine Aktenbibliothek“, fuhr Werner fort. „Zwei Euro pro Stunde. In vierzig Stunden, hast du das Geld zusammen.“ Damit ließ er seinen Sohn stehen und verließ mit einem „Lass uns ins Bett gehen, Schatz“, das Zimmer.
    Ich blieb noch stehen und starrte Silas an, der leise vor sich hinfluchte und seinen Eltern alles mögliche an den Kopf warf. Er hatte mich nicht bemerkt und ich verließ kurz danach ebenfalls das Zimmer. Gott, wie ich ihn hasste!

    Es gab ein großes Durcheinander am nächsten Tag auf dem Parkplatz der Gemeinde. Die Kinder waren in ausgelassener Stimmung, was unseren Bemühungen, Ordnung in das Tohuwabohu zu bekommen, nicht gerade entgegenkam.
    „Leute, ich bitte jetzt um Ruhe, Ruhe bitte!“, rief Theo so leise, dass es noch kein Schreien war aber so laut, dass es trotzdem jeder verstehen konnte.
    „Wenn ihr euch nicht entschließt, ruhig zu sein, können wir das Ganze ja auch bleiben lassen.“ Plötzliche Stille. Theo grinste, das hatte schon immer geholfen. Er begann, die Namen der Kinder in den beiden Gruppen vorzulesen und die Kinder gingen brav zu ihren jeweiligen Betreuern. Es gab ab und zu Gemotze, weil einer darauf bestand, mit seinem Freund oder seiner Freundin in einer Gruppe zu sein, aber Theo ließ sich nicht erweichen.
    Schließlich hatten wir vor uns sechzehn zehn bis vierzehnjährige Jungen und Mädchen, die wie mir schien, nur darauf warteten, uns in Stücke zu reißen. Für mich bestand zwischen dieser Bande und einer Horde Löwen kein großer Unterschied und ich fragte mich, ob ich Jan nicht vielleicht einen Gefallen getan hatte, indem ich ihm das Tellerschrubben überlassen hatte. Essen konnte nicht motzen und auch nicht beißen.
    Schließlich machten wir uns auf den Weg. Die beiden Gruppen gingen unterschiedliche Wege, damit wir die Übersicht nicht verloren. Es war wesentlich leichter, sechzehn Kinder unter Kontrolle zu halten als zweiunddreißig.
    Es dauerte nicht lange, bis wir aus der Stadt draußen im Feld und schließlich im Wald waren. Ich machte zusammen mit Nico den Abschluss und freute mich darauf, mich mit ihr ungestört unterhalten zu können, aber Pustekuchen- ständig waren irgendwelche Kinder da, die uns zulaberten und ich kam dabei kein einziges mal zu Wort. Nico schien das zu gefallen. Sie staunte über das, was die Kids sagten, freute sich mit ihnen oder verzog das Gesicht mitleidig, wenn es um was Trauriges ging. Ich nickte einfach immer nur zu allem und bald merkten auch die Kids, dass Nico die bessere Zuhörerin war und wandten ihre Aufmerksamkeit ganz ihr zu. Im Normalfall hätte mir das gefallen, aber irgendwie fuchste es mich doch, dass jeder der Mitarbeiter von einer Kinderschar umringt war, außer mir.
    Plötzlich spürte ich, wie jemand zaghaft an meinem T-Shirt zupfte. Ich drehte mich um und ein Junge, der mindestens zehn sein musste, aber erstaunlich klein für sein Alter war, sah mich an.
    „Ich muss dir was zeigen“, raunte er mir geheimnistuerisch zu. Er zog mich etwas abseits von der Gruppe in den Wald, kniete sich hin und zupfte sorgfältig an einer Stelle das Laub beiseite, bis ein stinknormaler Fliegenpilz zum Vorschein kam.
    „Ich hab ihn getarnt, damit niemand ihn kaputt treten kann“, sagte der Kleine und besah mit einem zärtlichen Blick in den Augen den roten, an einer Seite etwas angeknabberten Pilz. „Weißt du, die Fliegenpilze werden immer seltener“, erklärte er mir. „Deshalb muss man sie schützen so gut es geht.“
    Ich wusste erst nicht, was ich sagen sollte. Was erwartete der Kleine jetzt wohl von mir? Dass ich vor Freude, einen „seltenen“ Fliegenpilz vor mir zu haben, der in jedem Biologiebuch abgebildet war, einen Luftsprung machte?
    „Wow“, sagte ich dann, nachdem ich mir überlegt hatte, wie Nico wohl reagieren würde. „Der sieht toll aus mit den...weißen Pünktchen drauf.“
    „Aber Achtung, ist hochgiftig“, fügte der Kleine hinzu, als hätte ich das nicht schon im Kindergarten eingetrichtert bekommen, dass die roten Pilze mit den weißen Punkten bähbäh waren. Wir gingen zur Gruppe zurück und ich bekam heraus, dass der Kleine Kevin hieß. Er wich mir keinen Millimeter mehr von der Seite und laberte mich die gesamten zwanzig Kilometer mit irgendwelchen seltenen Pflanzen oder vom Aussterben bedrohten Tieren zu, wobei er mich zwischendurch immer wieder auf irgendwelche Vögel oder Kräuter am Wegrand aufmerksam machte.
    Als ich Nico einmal einen hilfesuchenden Blick zuwarf, lächelte sie nur und zuckte mit den Schultern. In diesen Stunden holte ich alle Biostunden über das Thema Ökosystem nach. Ich war nur froh, dass Kevin kein Mathefanatiker war.
    Der Hayk dauerte länger als wir vermutet hatten, weil die unfähigen Idioten von Führern sich verirrten und uns dann eine halbe Stunde im Kreis führten, bis Kevin auffiel, dass er die gleiche Anordnung von Holunderbüschen schon mal gesehen hatte. Wäre er nicht gewesen, wären wir wahrscheinlich so lange im Kreis gelaufen, bis sich ein Graben gebildet hätte. So wie in den Asterix Comics.
    Dann, als wir an der Stelle in der Nähe der Lichtung ankamen, an der wir Mitarbeiter uns schon mal getroffen haben, begann das Aufbauen der Zelte.
    Mittendrin begann es auch noch, zu nieseln. Wir hatten die aufkommenden Gewitterwolken gar nicht bemerkt. Als wären wir nicht schon genervt genug, begann es daraufhin, wie aus Eimern zu schütten.
    Daniel ordnete an, ins Gemeinschaftszelt zu gehen und alles mitzunehmen, bis auf die halb aufgebauten Zelte.
    Die andere Gruppe hatte genau die gleiche Idee gehabt, denn sie trafen alle kurz nach uns in dem Zelt ein, das zum Glück groß genug war, um alle zu beherbergen. Theo meinte, der Regen würde nicht lange andauern, da die Nachrichten nichts von schlechtem Wetter gesagt hatten. Doch er hielt zumindest so lange an, bis jeder einzelne völlig genervt und die Stimmung am Boden war. Er hörte nicht auf, als uns das Abendessen aufgetischt wurde und er hörte auch nicht auf, als Jan Vorschlug, ein Kennenlernspiel zu spielen. Es prasselte weiter, als Theo die Abendandacht hielt und rauschte noch immer ununterbrochen, als wir beschlossen, die Nacht alle im Gemeinschaftszelt zu verbringen und das Zelt in ein „Massenasyl“ verwandelten. Erst als wir alle in unsere Schlafsäcke eingehüllt waren, ließ das Rauschen des Regens nach und hörte schließlich ganz auf, aber die meisten nahmen das gar nicht mehr wahr. Und so begann die Woche, in der nichts so laufen würde, wie es sollte!

    Wir verbrachten den ganzen nächsten Morgen damit, die Zelte ganz aufzubauen und unser Lager zu tarnen, wobei sich jeder die größte Mühe gab, da es am Ende einen Preis für das bestgetarnte Zelt gab. Am Ende würden wir sicher draußen schlafen müssen, weil wir unsere Zelte nicht mehr wiederfanden.
    Heute stand Lagertag an, an dem die beiden Gruppen gegeneinander in verschiedenen Disziplinen antreten sollten.
    Die lange Mirjam, die ich garantiert für einen Jungen gehalten hätte, wenn ich’s nicht besser gewusst hätte, erklärte zusammen mit Andi die Regeln jedes einzelnen Spiels. Unser Labyrinth, das Dan und ich mühsam aufgebaut hatten, gehörte zu einem der Spiele. Man musste es mit einen riesigen Baumstamm passieren, bescheuerte Idee!
    Bei einem Spiel musste die ganze Gruppe mitmachen. Wir mussten versuchen, so viele Personen wie möglich auf einen Baumstumpf zu bekommen. Daniel nahm Kevin auf den Arm und ließ eines der Mädchen auf seine Schulter. So stellte er sich auf den Stamm und rief mir zu, mich neben ihn zu stellen. Theo folgte seinem Beispiel und nahm so viele Kinder wie möglich auf Arm und Schulter. Es wurde unglaublich eng auf dem kleinen Baumstumpf. Es war mir unangenehm, aber ich musste mich an Dan klammern, um nicht runterzufallen. Er lachte, legte den noch freien Arm um mich und forderte alle scherzhaft auf, auf einem Bein zu stehen, damit Platz gespart wurde. Schließlich waren wir tatsächlich zu zwölft auf dem Stamm, während die andere Gruppe gerade mal lächerliche sechs Personen auf den Stumpf befördert hatte.
    Das friedliche Treiben wurde dann irgendwann durch eine Prügelei unterbrochen. Ich bemerkte sie erst, als sich schon ein Ring Neugieriger um die Raufbolde gebildet hatte. Kim hatte es auch gemerkt und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Nach einer Zeit kam sie mit zerzausten Haaren wieder hervor und lief wutentbrannt zu Thomas, der etwas kräftiger war. Er verschwand darauf ebenfalls in der gaffenden Menge und kam kurz darauf mit einem sich heftig wehrenden Kind hervor. Groß, schlank, straßenköterblondes, schulterlanges Haar, ich schätzte sie auf dreizehn, vielleicht auch vierzehn.
    „Was ist denn mit der los?“, fragte ich Nico, die zufällig gerade neben mir stand. Ich hatte sie in meiner Gruppe zwar gesehen, aber nicht wirklich wahrgenommen.
    „Das ist Michelle. Sie ist ein ziemlich schwieriges Kind, glaub ich. Ihre Mutter schickt sie hier hin, damit sie lernt mit anderen umzugehen“, erklärte sie mir.
    „Ist die bescheuert? Die gehört in eine Psychiatrie und nicht in eine Freizeit, wo sie Kinder verletzen kann.“
    Thomas hatte das Mädchen auf den Boden gelegt und sich auf sie draufgesetzt, sodass sie keine Chance mehr hatte, sich zu wehren. Er redete auf sie ein, aber sie schrie nur hysterisch und versuchte immer noch, sich freizukämpfen. Sie tat mir leid. Ich hätte auch was dagegen, wenn ein hundert-Kilo-Typ auf mir draufsitzen würde.
    Ich merkte gar nicht, wie ich auf Thomas zuging und ihm befahl, sofort von ihr runterzugehen.
    „Anders hab ich sie aber nicht unter Kontrolle“, rechtfertigte er sich und ich kniete mich zu Michelle runter, damit sie mich sehen konnte.
    „Hi, ich bin Sam“, sagte ich, als wäre es das normalste auf der Welt mit jemandem zu kommunizieren, der wie ein Schwerverbrecher festgehalten wurde.
    „Ich weiß, ist scheiße wenn jemand so auf einem draufhockt, ich kenn das.“
    Sie sah mich völlig verwundert an, hielt mich bestimmt für einen Idioten, aber zumindest schrie sie nicht mehr.
    „Wir können uns ganz normal unterhalten“, redete ich weiter. „Wenn du versprichst ruhig zu bleiben, okay? Ich mein, mir ist das egal, du kannst von mir aus hier alles in Grund und Boden prügeln und dir dabei die Lunge aus dem Hals schrei’n, aber ich fürchte, wenn du das vorhast, geht der Kerl nicht mehr von dir runter. Kann ich ihm sagen, dass das in Ordnung geht?“
    Ihr Gesicht war schon rot angelaufen, ob vor Wut oder weil sie keine Luft mehr bekam, wusste ich nicht, aber sie nickte zumindest stumm.
    Thomas ließ von ihr ab und sie rappelte sich auf. Ich warf Nico einen beschwörerischen Blick zu und sie forderte die Neugierigen auf, zurück in ihre jeweilige Disziplin zu gehen.
    „So ist’s besser, stimmt’s?“ Ich lächelte sie an. Sie musterte mich nur finster und drehte sich dann wortlos um, um zu gehen.
    „Das hast du gut gemacht, Sam.“ Ich hatte nicht gemerkt, wie Daniel dazugetreten hast. „Du hast anscheinend Talent dazu, mit schwierigen Kindern umzugehen.“
    Das war mir eigentlich gar nicht aufgefallen. „Die hat glaub ich echt ein Problem.“
    „Ja hat sie. Ihr Vater war ein ziemlich mieser Typ. Hat getrunken und ihre Mutter misshandelt als sie noch ganz klein war. Ich schätze, das hat sie ziemlich geprägt.“
    „Kann ich verstehn“, nickte ich.
    „Ich glaube, deshalb kommst du so gut mit ihr zurecht.“
    Ich sah ihn verständnislos an.
    „Na du hast sie mit ein paar Sätzen zum Schweigen gebracht, weißt du wie das ausgeht, wenn einer von uns sie beruhigen will?“
    „Das liegt nicht daran, dass ich sie verstehe. Du verstehst sie bestimmt auch. Es liegt daran, dass ich mich mit ihr irgendwie identifizieren kann. Ich ticke ähnlich wie sie.“
    Daniel lächelte. „Zum Glück nur ähnlich und nicht gleich.“
    „Sie will Aufmerksamkeit. Schätze davon bekommt sie zu Hause nicht genug.“
    „Ihr Vater ist tot. Besoffen Auto gefahren und dabei ein Unfall gebaut.“
    „Shit“, sagte ich und biss mir auf die Unterlippe.
    „Tja.“ Er zuckte traurig mit den Achseln. „Wir wären dir auf jeden Fall alle dankbar, wenn du ein bisschen nach ihr sehen könntest, wäre das machbar? Das heißt, du musst nicht, nur wenn du...“
    „Nein, ist in Ordnung, mach ich gern“, unterbrach ich ihn und er nickte dankbar.
    „Dann lass uns mal zurück zu unserer Gruppe gehen. Wir müssen eine Markierung an einem Baum so hoch wie möglich anbringen. Ohne Hilfsmittel, versteht sich.“ Und bei diesen Worte blitzen seine blauen Augen auf, als hätte er schon eine Idee.



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 03.08.2008, 15:07


    hey, schreib nicht so schnell :'( bin erst bei chappi 1 -.- XD



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 03.08.2008, 21:09


    okay, du darfst weiter schnell schreiben =) Die geschichte ist ja echt voll krass... Ich konnte echt nimmer aufhören, zu lesen =*)

    Schreib bitte schnell weiter=)



    Re: Geschichte!

    Goldbärchen - 03.08.2008, 22:35


    Toll !
    Nur fehlt mir irgendwie der Anfang ?



    Re: Geschichte!

    girli - 04.08.2008, 13:05


    der anfang ist in dem topic neue idee ganz am schluss!



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 04.08.2008, 13:38


    Geschafft, durchzulesen =)

    Oh man... ich hab zwischendurch richtige Lachkrämpfe bekommen =D Echt jetzt... xD

    Zitat: Johannes der Säufer?

    Ich glaub, das war meine Lieblingsstelle =D


    Dan gefällt mir total gut, vom Chara her =) Ich glaub, ich könnt mich auch in den verlieben :roll:

    Und Silas ist voll das Ar*** xD Geschieht seinem Aquarium ganz recht :top: Ich hoffe, dass er die Zigaretten versucht hat, zu rauchen =)

    und bitte tu mir ein gefallen:

    SCHREIB GANZ SCHNELL WEITER *suchtiii*

    glg, teiger (ich hab mir das mit glg und den langen kommis, mit der 'bewertung' voll angewöhnt... :roll:)



    Re: Geschichte!

    claudi - 04.08.2008, 13:57


    16. Kapitel

    „Sam, wach auf!“
    Ich öffnete langsam meine Augen und weigerte mich, mich zu bewegen, weil ich erstens merkte, dass es noch mitten in der Nacht war und zweitens gerade in einer gemütlichen Stellung lag, soweit man es zu zweit in einem Zelt, wo meiner Meinung nach schon für eine Person zu wenig Platz war, gemütliche nennen konnte.
    „Sam, Ruth war voll schlecht und jetzt hat sie gekotzt.“
    Diese Worte machten mich wach. Ich rieb mir die Augen, blinzelte, kämpfte verzweifelt gegen die Müdigkeit an und rappelte mich leise stöhnend auf. Nico war auch schon wach und verließ nach mir das Zelt.
    Andrea führte uns zu einem von den beiden Mädchenzelten, das ich und Nico betreuten.
    „Hat Ruth ins Zelt gebrochen?“, fragte Nico und dabei klang sie, als würde sie gerade eine beiläufige Bemerkung zum Wetter machen.
    „Ja, das ist ja das Eklige“, antwortete die vierzehnjährige. „Ich glaub ihr ist schlecht geworden von dem Essen heute.“
    Das glaubte ich ihr aufs Wort und ich konnte es vollkommen nachempfinden. Wir hatten heute unseren „Kochtag“ gehabt. Die Kinder waren in den Wald gegangen und hatten alle möglichen essbaren Sachen gesammelt. Kevin hatten wir zum Oberkoch ernannt. Das Eingesammelte war seiner strengen Zensur unterlaufen. Aber trotz dieser Kontrolle, bei der sich herausgestellt hatte, dass die Hälfte unbrauchbar gewesen war, hatten die „Salate“ und „Desserts“ scheußlich geschmeckt. Das war zumindest die Meinung der Mehrheit gewesen. Daniel hatte es zum Beispiel mit großer Begeisterung verspeist und alle aufgemuntert, sich noch mehr zu nehmen. Ob es ihm wirklich geschmeckt hat, oder ob er uns nur zum Essen bewegen wollte, konnte ich nicht beurteilen, er hatte seine Sache jedenfalls gut gemacht. Aber Tatsache war, dass am Ende die Hälfte von uns Bauchschmerzen hatte. Giftig war allerdings nichts gewesen, das hatte Kevin hoch und heilig versprochen.
    Vor dem Mädchenzelt standen drei Mädels. Zwei davon waren in ihre Schlafsäcke eingewickelt, denn die Nacht war kühl.
    „Da rein gehen wir nicht mehr, da stinkt’s voll“, gab die eine unverblümt zu verstehen.
    Na toll, dachte ich, das hat uns ja gerade noch gefehlt!
    Nico war schon bei dem Mädchen ohne Schlafsack.
    „Sie hat auf ihren Schlafsack gespuckt“, flüstert Nico mir zu, nachdem sie ein paar Worte mit Ruth gewechselt hatte. „Ich putz das weg, geh du mit ihr zu Theo, der hat Medikamente.
    Ich lächelte ihr dankbar zu. Ich hätte sicher noch ne Pfütze daneben gekotzt, wenn ich das Zeug hätte wegputzen müssen.
    Ich ging mit Ruth im Schlepptau zu dem vierten Zelt im Halbkreis, das ungefähr in der Mitte stand.
    Theo gab ihr ein paar Tabletten mit, von denen sie erst mal eine nehmen sollte. Wenn die Übelkeit wiederkam, sollte sie eine zweite nehmen.
    Nico hatte in der Zwischenzeit das Zelt gesäubert und als ich zurückkam, unterhielt sie sich gerade mit den andern drei Mädchen.
    „Wir wollen da drin nicht schlafen, das ist voll eklig“, sagte Andrea gerade.
    „Bitte stellt euch nicht so an, okay? Ihr seid hier schließlich nicht in einer Kur auf einer Schönheitsfarm sondern in einem Lager im Wald. Und jetzt bitte keine Pingeligkeit vortäuschen“, sagte ich genervt.
    „Dann schlaf du doch da drin“, motzte eine von den anderen beiden.
    „Nico hat doch geputzt.“
    „Trotzdem stinkt’s noch.“
    Positiv denken, positiv denken, befahl ich mir, um nicht noch den Verstand zu verlieren.
    „Gut, also von mir aus könnt ihr auch vor dem Zelt schlafen“, konterte ich patzig.
    „Ist schon in Ordnung“, sagte Nico dann. „Schlaft ihr in unserem Zelt.“
    Das ließen sich die dummen Gören nicht zweimal sagen. Ehe ich noch was dagegen einwenden konnte, waren sie schon weg.
    „Bist du verrückt? Jetzt müssen sind wir die Loser.“
    „Ruth kann nichts dafür, dass ihr schlecht war. Ich hol unsere Schlafsäcke.“ Mit diesen Worten ließ sie mich vor dem „verseuchten“ Zelt zurück und ich fragte mich vergeblich, womit ich das nur verdient hatte.
    Aber ich sagte nichts mehr. Auch als Nico zurückkam nicht. Normalerweise war das nicht meine Art, kampflos aufzugeben, ich wusste auch nicht, was mit mir los war.

    Ich hatte diese Nacht wenig geschlafen. Ich schlief die ganze Woche wenig, aber diese Nacht war die schlimmste von allen gewesen. Es hatte in dem Zelt tatsächlich noch nach Erbrochenem gestunken, trotzdem wir die ganze Nacht mit offener „Tür“ geschlafen hatten.
    Doch das Leben hatte kein Erbarmen mit mir. Früh am nächsten Morgen wurde ich geweckt. Gut, so früh war es jetzt auch wieder nicht, aber wenn man bedenkt, dass ich nur wenige Stunden geschlafen hatte...
    Wir hatten den Olympiatag. Olympische Spiele im Wald! Keine Ahnung, wer auf dieses Idee gekommen ist, aber den Kindern gefiel’s.
    Irgendwann, als ich gerade das Ergebnis von zwei keuchenden Jungen beim Hindernislauf aufschrieb, wurde ich von Thomas angesprochen. „Hey, kannst du mal kurz mitkommen? Michelle hat wieder einen Wutanfall.“
    Ich folgte ihm zum Tannenzapfenweitwurfparcours, wo Michelle stand und brüllend gegen einen Baum trat und boxte.
    „Das macht sie jetzt schon seit fünf Minuten und nur, weil sie verloren hat.“
    Ich ging auf sie zu. „Hey, Michelle! Was wird denn das bitte, wenn’s fertig ist? Der Baum hat dir nichts getan, okay?“
    „Verpiss dich!“, brüllte sie.
    „Ist doch gut. Nicht so laut, ich hör dich auch wenn du normal redest.“
    Sie trat weiter gegen den Baum, aber mit nicht mehr so viel Elan.
    „Machst du Kungfu, oder so was?“
    Jetzt hörte sie auf und sah mich an, als wollte sie einschätzen, ob ich sie nur verarschen wollte oder ob ich es ernst meinte.
    „Ja, weißt du so wie Jacky Chan oder Bruce Lee.“ Ich vollführte ein paar armselige Sprünge.
    „Nein mach ich nicht“, sagte sie dann.
    „Echt nicht? Mann, wie du den Baum bearbeitet hast, könnte man das aber meinen. Ich wollt’ nicht mit dem Baum tauschen.“ Ich legte den Arm um ihre Schulter, als wäre es das normalste auf der Welt und zog sie mit mir aus dem Blickfeld der anderen. „Ich kann dir ein paar Griffe zeigen, mit denen du einen Sumoringer in die Knie zwingst“, offenbarte ich ihr leise, als ob es ein Geheimnis wäre. Ich griff ihr an die Schulter direkt über dem Schlüsselbein. „Hier diese Sehne. Wenn du fest genug zudrückst, fällt dein Opfer aus den Socken, ehrlich. Hab ich schon ein paar Mal ausprobiert.“
    „Du?“, fragte sie ungläubig.
    „Guck mich nicht so an, nur weil ich Betreuerin bin. Meine Lehrer könnten dir ’ne ganze Menge erzählen.“
    „Was denn?“
    „Ach, ist nicht so wichtig. Hab ein paar Mal meine Klassenkameraden übel zugerichtet. Denk jetzt nicht ich bin stolz darauf. Das ist voll asozial.“ Ich schüttelte voller Selbstverachtung den Kopf. „Weißt du, Gewalt ist keine Lösung, niemals! Merk dir das gut. Okay, ich bin zugegeben nicht das beste Beispiel, weil ich noch vor kurzem einem aus meiner Klasse ein Veilchen geschlagen hab. Aber irgendwie...nee, mach’s am besten nicht so wie ich. Hab ziemlich viele Probleme deswegen bekommen, weißt du, und im Endeffekt hat sich’s nicht gelohnt.“ Ich drehte um und zog sie mit mir zurück zu dem „Olympiaplatz“, wo die Spiele noch voll im Gange waren.
    „Willst du mir mit der Bewertung helfen?“, fragte ich sie dann, weil ich es für das Beste hielt, sie nicht mehr gegen andere antreten zu lassen.
    „Weiß nicht.“ Sie zuckte mit den Schultern.
    „Okay, dann geh da hinten zu den Zielpfeilern und gib das Startsignal!“

    Am Abend saßen wir alle ums Lagerfeuer und Theo hielt wie immer die Abendandacht. Michie, wie ich Michelle jetzt immer nannte, wich mir nicht mehr von der Seite und weil ich ein gutes Vorbild sein wollte, wollte ich so tun, als hörte ich zu. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich allerdings Dan, der Kevin auf seinem Schoß hielt und tatsächlich zuhörte. Ich schämte mich plötzlich, warum wusste ich auch nicht so genau. Auf jeden Fall hörte ich jetzt richtig zu, wie Theo von dem König sprach der seinem armen Untertanen hohe Schulden erließ. Und wie der egoistische Kerl dann zu seinem eigenen Schuldner ging, der ihm nur wenig schuldete und ihn ins Gefängnis werfen ließ, weil dieser nicht bezahlen konnte. Als der König das erfuhr, wurde er wütend und machte die Erlassung der Schulden des Mannes rückgängig. Die Moral bestand darin, dass wir alle unseren Mitmenschen vergeben sollen, weil Gott uns eine viel größere Schuld vergeben hat.
    Es wurde noch Fragen gestellt und Meinungen geäußert und danach leitete Dan die Gruppe weiter. Er holte seine Gitarre und allein der Anblick des Instrumentes begeisterte die Kinder und Teenager schon.
    Er brachtet uns Lieder bei und veranstaltete ein Wunschkonzert. Sogar Michie sang mit. Ich war mal wieder die einzige, die nicht mitmachte.
    „Warum singst du nicht?“, fragte Nico mich, die rechts neben mir saß.
    „Ich glaube nicht, dass ich das kann“, antwortete ich, entschlossen, mich nicht von ihr überreden zu lassen.
    „Du glaubst? Hast du’s etwa noch nie ausprobiert?“
    „Früher schon! Aber jetzt macht es mir einfach keinen Spaß mehr.“ Dämliche Ausrede. Aber wie Nico eben war, fragte sie nicht weiter und ich schätzte das an ihr.
    „Danny, singst du uns was vor?“, fragte Andrea. Sie war sicher hinter ihm her, wie alle pubertierenden Mädchen hier im Lager.
    Dan lachte. Er lachte viel, aber er hatte auch das schönste Lachen, das ich kannte und deshalb mochte ich es, wenn er lachte. „Wir sitzen doch hier, um zusammen zu singen.“
    „Bitte“, bettelte Andrea und die anderen fielen in ihr Bitten ein.
    „Okay, okay. Ihr seid der Boss, welches Lied denn?“
    Sie wollten „You are my king“ hören. Ich kannte es nicht, aber es würde mir sicherlich gefallen, solange Daniel es sang.
    Er stimmte kurz seine Gitarre nach und fing an zu spielen. Alle lauschten gebannt seiner unglaublichen Stimme.
    „Amazing love, how can it be
    that You my king
    would die for me?
    Amazing love, I know it’s true
    And it’s my joy to horner You”, sang er, und normalerweise hätte ich es verachtet, weil ich dabei an unseren heuchlerischen Pfarrer hätte denken müssen, aber aus Dans Mund klang das so ehrlich. Mir gefiel das Lied, und das nicht nur, weil Dan es sang, sondern weil es einen schöne Melodie hatte und weil mich der Text zum Nachdenken brachte. Ich kam zum Schluss, dass in Wirklichkeit wohl kein König für seinen Untertanen sterben würde. Aber wenn es Jesus wirklich gab, dann musste er ein unglaublicher König sein. Ein König, der gnädig und geduldig war, einem alle Schulden erließ. Ein König, der sein Leben für seine Leute opferte. Wenn ich mir sicher wäre, dass er wirklich existiert, dann wäre das mein Lieblingslied.

    Die Waldrallye. Den ganzen Tag quer durch den europäischen Dschungel, durch Flüsse, über Gräben in der schnellstmöglichen Zeit, denn es ging schließlich um Hauptgewinn oder Trostpreis.
    Vier Gruppen gegeneinander. Acht Kinder mit zwei Mitarbeitern. Wir mussten Pfeilen an den Bäumen folgen, die uns zeigten, wo wir langzugehen hatten, dabei waren uns immer wieder Hindernisse in den Weg gestellt, die wir überwinden mussten. Dans und meine Gruppe wurden eine halbe Stunde nach Thomas’ Gruppe in den Wald geschickt und dreißig Minuten später würde Nicos nachfolgen.
    Daniel kann zum grausamsten Sklaventreiber werden, das hätte ich nie gedacht, aber an diesem Freitag erfuhr ich es am eigenen Leib. Er hetzte uns durchs Dickicht wie ein Trupp Soldaten auf der Flucht vor den Feinden. Das erste Hindernis war ein Fluss. Daniel befahl uns, durch das hüfthohe Wasser zu waten. Als ich mich weigerte, weigerte sich auch die restliche Gruppe, sodass er beschloss, ein Floß zu bauen. Ein Floß!
    „Ein Floß?“, fragte ich, als hätte ich mich verhört. „Damit sind wir ja morgen noch nicht fertig.“
    Daniel grinste. „Sam, man merkt, dass du ein Greenhorn bist. Bei uns geht das in fünfzehn Minuten.“
    Gesagt getan. Die Kinder verstreuten sich und suchten nach geeigneten Stöcken, während ich daneben stand und perplex zusah, wie aus ein paar Hölzern und Seilen ein brauchbares Floß wurde und das tatsächlich in kürzester Zeit.
    Michelle weigerte sich zuerst, darauf zu gehen, aber wir redeten auf sie ein und als sie sah, dass alle heil über den Fluss gekommen waren, ließ sie sich umstimmen. Dan holte sie, das Floß mit einem langen, stabilen Stock lenkend, vom anderen Ufer ab, aber kaum befand sie sich auf dem wackeligen Ding, bekam sie eine hysterische Angst und fuchtelte mit den Armen, als wollte sie abheben und über den Fluss fliegen. Doch da hatte sie wohl nicht mit dem Gravitationsgesetz gerechnet. Das Boot fing an zu schwanken und Dans Rufe, sie solle sich beruhigen, es würde ihr ja nichts passieren, halfen nichts. Sie landeten beide im Wasser, das Floß schwamm davon und Michie klammerte sich in panischer Angst an Dan, wobei sie immer wieder schrie, sie könne nicht schwimmen.
    Dan trug sie dann ans Ufer mit einem düsteren Gesichtsausdruck. Konnte ich verstehen. Er war wegen ihrer Dämlichkeit von Kopf bis Fuß nass.
    Die restliche Gruppe war krampfhaft damit beschäftigt, sich das Lachen zu verkneifen. Michie fluchte und motzte, ihr wäre kalt und alles nur wegen dem verdammten Floß. Daniel zog sich einfach wortlos das T-Shirt über den Kopf, wrang es aus und stopfte es in seinen Rucksack, den er glücklicherweise nicht mit auf dem Floß gehabt hatte, als es gekentert war. Ich merkte, dass er sich zusammenreißen musste, um Michelle nicht anzuschreien, sie solle wenigstens den Mund halten und ich bewunderte ihn wegen seiner enormen Selbstbeherrschung. Es ging weiter.
    „Ich hab keinen Bock mehr“, jammerte Michelle schon nach kurzer Zeit. „Ich hasse den Wald. Das macht keinen Spaß und außerdem ist mein Rucksack schon so schwer. Sam, können wir keine Pause machen?“
    „Wir sind doch noch nicht lang gelaufen“, versuchte ich so freundlich wie möglich zu erwidern, obwohl mir stark danach war, ihr an Ort und Stelle den Hals umzudrehen.
    „Toll, du bist ja auch nicht nass“, gab sie schnippisch zurück.
    „Ich konnte mich auch auf dem Floß still verhalten.“ Kevin, der neben mir lief, kicherte leise. Michelle bemerkte das und trat ihm wütend ans Schienbein. Dabei stolperte er und fiel der Länge nach hin.
    Jetzt reichte es. „Hey, jetzt lass deine Scheißlaunen nicht an anderen aus, okay? Du bist selbst daran schuld, dass du nass bist, verflucht! Jetzt halt wenigstens den Rand und belaste uns nicht mit deinem Gemotze“, brüllte ich und half Kevin hoch. „Hast du dir weh getan?“, fragte ich ihn und klopfte ihm den Dreck von den Hosen. Er schüttelte betreten den Kopf, aber ich sah die Schürfwunde an seinem Knie. „Siehst du das?“, fragte ich, an Michie gewandt, während ich auf die Wunde zeigte. „Du entschuldigst dich jetzt bei ihm!“
    „Ich denk nicht dran!“, schrie sie und ich begann, rot zu sehen. Wäre Daniel nicht gekommen und hätte gefragt, was los sei, hätte ich die Entschuldigung zweifellos aus ihr herausgeprügelt.
    „Ich hasse euch alle“, brüllte sie und lief weg. Dan rannte ihn hinterher und packte sie am Arm. „Ist doch in Ordnung, Michelle. Ganz ruhig! Niemand will dir hier was Schlechtes, gut? Ich schlage vor, du beruhigst dich jetzt und denkst mal in Ruhe über dein Verhalten nach und wir gehen weiter.“
    „Ich laufe weg, das schwöre ich euch. Ich halt’s nämlich keine Sekunde hier mehr aus. Ihr seid alle Scheißkerle!“
    „Mach doch was du willst“, schrie ich zurück. „Lauf doch, keiner hindert dich daran. Du bist ja fähig, dich alleine zurechtzufinden, nehme ich an.“ Dan sah mich an und schüttelte kurz, kaum merklich mit dem Kopf und ich schluckte die Worte, die mir noch auf der Zunge lagen, herunter.
    „Lasst uns weitergehen“, rief Dan dann der gaffenden Menge zu und wir trotteten weiter, lang nicht mehr so schnell wie vorher, aber zumindest ging es voran. Ich bemerkte die hasserfüllten Blicke von Michelle, ignorierte sie aber einfach.

    Wir wurden mit Holunderbeersaft und Blaubeerkuchen auf der Lichtung empfangen, die die Köche gezaubert hatten, während wir weg waren. Meine schlechte Laune war wie weggeblasen, als sich ein paar Kinder aus der ersten Gruppe um mich scharten und mir von ihren Erlebnissen während der Rallye erzählten. Dabei erfuhr ich, dass wir nicht die einzige Gruppe waren, dessen Leute Opfer des Flusses geworden waren. Thomas hatte seine Leute tatsächlich durch den Fluss waten lassen.
    Andi und Miri kamen als nächstes mit ihrer Bande und erzählten, sie hätten die Gruppe von Theo und Nico schon am Fluss eingeholt. Auf der Suche nach einer Furt hatten sie nämlich unser Floß gefunden, dass sich am Ufer im Gestrüpp verfangen hatte.
    Als dann auch die Letzten eintrafen, die mit tosendem Applaus empfangen wurden, begann der ruhigere Teil des Tages. Ester und Kim hatten im Gemeinschaftszelt Dinge zum Basteln vorbereitet und die Kids ließen ihre mehr oder weniger künstlerischen Talente an den Naturmaterialien aus. Wir anderen Mitarbeiter bereiteten den Grill vor. Ich sah abwechselnd nach den Würsten und den Kindern, die mich riefen, weil sie meine Hilfe brauchten, brachte zwei Streithähne auseinander und verarztete deren Wunden, die sie sich zugefügt hatten, rannte ins Materialienzelt, um Papierbögen und Kohlestifte zu holen, wurde kurz darauf noch mal hingeschickt, um mehr Kohle fürs Feuer zu holen, wurde von Ester gebeten, einen Jungen zu verarzten, der sich beim Schnitzen in den Finger geschnitten hatte und musste noch Mal ins Materialienzelt, weil die Pflaster ausgegangen waren. Als wäre ich heute nicht schon genug gelaufen. Ich setzte mich schließlich mit einem Glas Holunderbeersaft zu Lydia und hörte ihr zu, wie sie mir ihr abstraktes Bild aus Blättern erklärte. Abstrakte Kunst hatte für mich noch nie einen Sinn gemacht, aber Lys Bild war nicht nur sinnlos, es war auch noch scheußlich. Ich gab ihr den Tipp, weniger Flüssigkleber zu benutzen, damit sich die Blätter nicht so wellten, aber sie behauptete, dass sie anders nicht halten würden.
    Als ich am Abend in meinem Zelt lag, spürte ich jeden einzelnen Knochen und Muskel meines Körpers. Ich hörte Nico zwar zu, wie sie mir von Theos Flucht vor einer Wespe erzählte, aber ich hätte ihren Bericht sicherlich nicht wiedergeben können. Als sie mir schließlich eine gute Nacht wünschte, dauerte es keine fünf Minuten mehr, bis ich ihre regelmäßigen Atemzüge hörte. Ich war ebenfalls totmüde, aber irgendwas hielt mich vom Einschlafen ab. Ich zählte in meiner Verzweiflung Schäfchen, aber als ich bei fünfhundertsiebenunddreißig angekommen war, gab ich es auf. Ich ließ mir den ganzen Tag noch mal durch den Kopf gehen und merkte, das irgendwas nicht stimmte. Ich fühlte es, tief in mir drinnen, fand aber einfach keinen Grund für meine Unruhe. Als ich schon dachte, dass ich langsam verrückt wurde, fiel mir ganz plötzlich Michelle ein. Ich runzelte die Stirn und sah angestrengt in die Dunkelheit. Ich dachte an den Streit mit ihr und...Moment! Plötzlich war ich hellwach. Mir war eingefallen, dass ich sie, seitdem wir im Lager wieder angekommen waren, nicht mehr gesehen hatte. Streng deinen Kopf an Sam, befahl ich mir und überlegte angestrengt, ob ich sie nicht doch vielleicht irgendwo bemerkt hatte. Aber nein, das Letzte, was ich von ihr gesehen hatte war ihr wütender Blick kurz bevor wir das Lager erreicht hatten, ja, das war mir noch aufgefallen. Aber das konnte doch nicht stimmen, nein, das machte keinen Sinn. Ihre Abwesenheit wäre doch sicher jemandem aufgefallen, bestimmt. Ich konnte mich jedoch nicht beruhigen, so sehr ich es auch versuchte und kroch schließlich aus dem Zelt, um nachzusehen, ob Michelle auf ihrem Platz schlief. Leise, um keinen zu wecken, suchte ich das Mädchenzelt unter Dans und Theos Betreuung auf, in welchem eine Taschenlampe brannte, was mir verriet, dass die Mädels noch nicht schliefen.
    „Hey, ist Michelle bei euch?“, fragte ich leise. Der Redeschwall, der aus dem Zelt drang, brach ab und jemand zog von innen den Reißverschluss der Zelttür auf. „Nee warum? Is’ sie nich’ irgendwo bei euch?“, fragte das Mädchen, dass dahinter zum Vorschein kam und mir sackte das Herz in die Hosen. „Sie ist nicht bei euch und ihr habt das nicht gemeldet?“, fragte ich wütend, aber das half ja jetzt auch keinem mehr.
    „Wir dachten...“, begann das Mädchen wieder, aber ich winkte energisch ab. „Ist jetzt egal. Habt ihr sie heute Nachmittag irgendwo gesehn?“, fragte ich weiter. Die Mädchen schüttelten die Köpfe, nachdem sie kurz überlegt hatten.
    Ich kaute wieder auf meiner Unterlippe und strengte noch mal meinen Kopf an, um zu überlegen, was ich tun sollte. „Ich gehe sie suchen“, sagte ich dann entschlossen. „Wenn ich in ein paar Stunden noch nicht da bin, sagt Daniel bescheid.“ Sie nickten alle pflichtbewusst und ich verlangte nach ihrer Taschenlampe, die sie mir ohne Einwände gaben. Sie hatten wohl ein schlechtes Gewissen, dass sie Michelles Abwesenheit nicht gemeldet hatten. Wie konnte man bitte nur so dämlich sein?
    Um den Weg nachher auch wieder zurückzufinden, musste ich die Bäume mit Kreide markieren. Zum Glück gab es welche, nur leider auf der Lichtung und nicht hier. Ich holte mir schnell einen warmen Fleecepullie, weil es ziemlich kalt war und hechtete zur Lichtung ins Materialienzelt, indem ich mich ja mittlerweile auskannte, wie in meiner Westentasche. Ich fand Kreide und stopfte mir die Taschen meiner Jogginghose voll. Dann lief ich in die Richtung, aus der wir von der Rallye gekommen waren in den Wald, wobei ich jeden Baum markierte, an dem ich vorbeikam. Ich rief nach Michelle, lief, markierte und rief wieder, bis ich heiser war. Aber ich hatte große Angst und diese Angst führte mich weiter und weiter in den Wald. Angst um Michelle, dass ihr etwas zugestoßen war, denn ich fühlte mich für ihr Verschwinden verantwortlich. Sie hatte ja damit gedroht, dass sie weglaufen würde und ich hatte gedacht, sie wollte damit nur wieder Aufmerksamkeit auf sich lenken. Ich hatte sie dann auch noch so fertiggemacht. Ich bin daran schuld, dachte ich immer wieder und lief schneller, schrie lauter nach ihr. Mich ergriff Panik. Was, wenn sie sich aus lauter Verzweiflung irgendwo runtergestürzt hatte und jetzt verletzt irgendwo lag, wenn nicht sogar schon tot... Mein überreiztes Gedächtnis malte sich die schlimmsten Bilder aus, an denen ich schuld sein würde. Ich stolperte, riss mir meine gute Nikehose auf, verletzte mich an spitzem, dornigem Gestrüpp und merkte es nicht einmal. Ich rappelte mich immer wieder auf und ging weiter den Weg, den mir der Lichtkegel der Taschenlampe zeigte. Dabei merkte ich nicht, wie dieser immer schwächer wurde.
    „Michelle, bist du da irgendwo? Antworte doch!“, schrie ich mit aller Kraft, bevor ich in die Knie sank und anfing zu schluchzen. Es war hoffnungslos, wie sollte ich sie in diesem riesigen Wald nur finden? Ich war wütend auf Michie, auf mich selbst, hasste mich dafür, dass ich keine Kontrolle über mich und über das, was ich sagte, hatte und brüllte immer wieder Michelles Namen. Nach einer Zeit wurde ich still und plötzlich vernahm ich ein Geräusch. Ganz leise, weit entfernt, trug der Wind mir eine Stimme zu. „Hilfe, Hilfe!“, hörte ich. Ein neuer Adrenalinschuss strömte in meinen Adern, ich rappelte mich auf und lief der Stimme nach, wobei ich sie immer wieder ermutigte, weiterzurufen. Ich vergaß ganz die Kreidemarkierungen an den Bäumen anzubringen und rannte einfach in die Richtung, aus der die Stimme kam. Nach kurzer Zeit fand ich Michie am Boden kauernd mit verheultem Gesicht. Ich sank neben ihr nieder und nahm sie voller Erleichterung in die Arme. „Gott sei Dank hab ich dich gefunden“, keuchte ich. „Warum bist du weggelaufen?“
    „Ich...ich war wütend auf dich“, schluchzte sie und klammerte sich an mich. Sie zitterte am ganzen Leib und ihre Kleidung war klamm. Kein Wunder, sie hatte schließlich keine Gelegenheit dazu gehabt, ihre nassen Sachen von heute Mittag zu wechseln. Ihre Zähne klapperten unkontrolliert aufeinander, als sie sagte: „Mir ist so kalt.“
    Ohne lange zu überlegen zog ich meinen warmen Pulli aus und half ihr, ihn anzuziehen. Mich fröstelte sofort, da ich nur ein dünnes T-Shirt und nichts drunter trug, aber noch war es auszuhalten, weil ich aufgewärmt war.
    „Ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte ich und sie nickte nur leicht.
    „Aber ich hab den Weg nicht mehr gefunden.“
    „Welchen Weg? Da war nichts außer Bäumen, Sträuchern und Laub. Ich weiß, dass du müde und bestimmt hungrig bist, aber wir müssen zurück, okay? Sonst holen wir uns noch eine Lungenentzündung oder so.“ Wie albern das aus meinem Mund klang. Fürsorge passte einfach nicht zu mir. Michie nickte auf meine Worte hin und ließ sich von mir hoch helfen. Ich nahm die Taschenlampe und wollte sie anschalten, als ich merkte, dass sie schon eingeschaltet war, jedoch nicht leuchtete. „Scheiße“, rief ich und Angst kroch in mir hoch. Es war stockdunkel, ohne Licht erkannte man kaum die Hand vor den Augen, geschweige denn Kreidestriche an den Bäumen, die wahrscheinlich zudem in meiner Eile völlig undeutlich gesetzt worden waren. Panik ergriff mich. Ich zog Michie hinter mir her in die Richtung, aus der ich gekommen war und suchte Verzweifelt die Stämme ab, aber ich fand nichts. Ich Idiot hatte die Markierungen ja auch nicht bis an die Stelle, wo Michie gehockt hatte, fortgeführt. Scheiße, dachte ich wieder und versuchte vergebens, gegen die Verzweiflung anzukämpfen, die in mir hochsteigen wollte. Ich fror jetzt schon erbärmlich, wollte aber die Hoffnung nicht so schnell aufgeben, rannte weiter, suchte nach Markierungen und sank irgendwann erschöpft und am ganzen Leib zitternd an einem Baum zu Boden. Michelle setzte sich neben mich und lange herrschte Stille. Ich hauchte gegen meine Hände und rieb sie aneinander, um sie zu wärmen, es brachte aber nicht viel. Warum hatte ich nicht an einen zweiten Pulli gedacht? Ich rückte enger an Michie und hakte mich bei ihr unter, um ein bisschen von ihrer Körperwärme abzubekommen. Wenigstens hatte sie es warm und meckerte mir nicht die Ohren voll. Sie lehnte sich gegen mich und ich spürte an meinem Hals, dass ihre Wangen ganz nass waren. Sie hatte die ganze Zeit geheult, aber leise. Anscheinend hatte sie gemerkt, dass ich ihr Geheule im Moment nicht gebrauchen konnte.
    „Sam, es tut mir ja so leid“, schluchzte sie. „Glaubst du, wir müssen sterben?“
    „Quatsch! Sobald es heller wird, finden wir die Markierungen schon.“ Ich versuchte, meiner Stimme einen festen, überzeugten Klang zu verleihen, was mir allerdings kaum gelang. Lange saßen wir so, bis Michie leise Schnarchlaute von sich gab. Ich war nun praktisch ganz allein, nur meine Gedanken und ich. Ich hatte Angst, große Angst! Ich fror und konnte mich nicht vor dem Wind schützten. Das Laub der Bäume rauschte im Wind und es kam mir vor wie Schreie, laut und durchdringend, die an meinen Nerven sägten und mich folterten. Bei jeden Rascheln in der Nähe zuckte ich zusammen, merkte wie mein Herz ein wildes Trommelspiel veranstaltete. Ich musste die Zähne fest aufeinanderbeißen, um ihr Klappern zu verhindern.
    „Gott wenn es dich gibt, dann hilf uns!“, betete ich leise, dann lehnte ich mich an Michelle und fiel tatsächlich irgendwann erschöpft in den Schlaf.

    „Sam, Michelle! Antwortet, seid ihr da?“ Rufe, aufgeregte Stimmen. Wie durch Nebel ein Licht, das irgendwo weit weg umherirrte, wie ein Glühwürmchen. Tanzte, schwirrte umher, rief nach mir, wurde lauter, heller, verschwamm, verschwand, kam wieder. „Sam, Michelle, antwortet!“ Laut, besorgt, wurde leise, dann noch leiser. Das Glühwürmchen verschwand und seine Rufe auch.
    Seltsamer Traum, dachte ich im Halbschlaf. Ein sprechendes Glühwürmchen...
    Plötzlich ein Rascheln, direkt neben mir. Ich sprang erschrocken auf und sah ein kleines, dunkles Etwas an mir vorbeihuschen. Ich war verwirrt, blinzelte in die Dämmerung, blickte auf Michelle neben mir, die durch meine plötzliche Bewegung aufgewacht war und sich die Augen rieb. Mir ging mein komischer Traum durch den Kopf. Seltsam, er schien so real, die Stimmen klangen mir noch im Kopf nach. Ich brauchte noch eine Weile, bis mein Gehirn wieder völlig klar arbeitete und da wurde es mir plötzlich klar.
    „Hilfe! Helft uns, hier sind wir!“, schrie ich aus Leibeskräften und meine eigene Stimme kam mir plötzlich so fremd vor. So müde und rau.
    Michelle, die zwar nicht wusste, um was es ging, aber wusste, dass sie hier so schnell wie möglich wegwollte, fiel in mein Schreien ein und tatsächlich hörten wir bald näherkommende Rufe und dann Lichter von Taschenlampen. Ich war unglaublich erleichtert, als mich das Licht erfasste und sackte in einem plötzlichen Anfall von Erschöpfung in mich zusammen. Jemand legte mir eine Decke über die Schultern und kniete sich neben mich. „Ihr habt uns vielleicht einen Schrecken eingejagt.“ Dan. Noch nie war ich so froh, seine Stimme zu hören. Ich sank gegen ihn und empfand seine Körperwärme als unglaublich angenehm. Er rieb in schnellen Bewegungen mit der flachen Hand über meinen Rücken und legte seine warme Hand auf meine Wange. „Du bist total ausgekühlt“, stellte er entsetzt fest und drückte mich fest an sich, um mich zu wärmen. Tatsächlich wurde mir augenblicklich warm, aber es war eine Wärme, die sich von innen ausbreitete und nicht von außen kam. Ich fühlte mich geborgen. Danke Gott!, dachte ich nur noch, bevor mich die Müdigkeit förmlich umhaute. Irgendwie schaffte ich es, mich den ganzen Weg ins Lager zurückzuschleppen, aber ich fürchte, ich wurde mehr getragen, als das ich aus eigener Kraft ging.

    Ich wachte erst auf, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Ich lag alleine im Zelt, trug einen Pulli, der mir viel zu groß war und war in ein halbes duzend Decken gewickelt, aus denen ich mich wie eine Zwiebel schälen musste. Jetzt erst spürte ich die vielen Schürfwunden, die ich mir auf der Suche nach Michelle geholt hatte.
    Michelle! Hoffentlich ging es ihr gut. Ich setzte mich auf und jeder Muskel, der dabei in Aktion trat schmerzte höllisch. Am liebsten wäre ich noch liegengeblieben, aber mein brennender Durst zwang mich hinaus. Bei den Zelten war niemand mehr, kein Wunder, es war ja auch schon Mittag und heute war bunter Abend. Der letzte Tag! Mir wurde bewusst, wie unglaublich schnell diese Woche vergangen war. Bald konnte ich wieder unter normalen Umständen in einem normalen Bett schlafen. Ich freute mich jetzt schon drauf. Ich schlurfte, leise über meine Schmerzen fluchend, zur Lichtung, wo es wie auf einem Ameisenhaufen wimmelte.
    „Hey, warum habt ihr ohne mich angefangen?“, rief ich. Alle drehten sich nach mir um und gafften, als wäre ich aussätzig. Ich sah an mir runter und jetzt erst wurde mir bewusst, wie ich aussehen musste. Ein überdimensional großer Pulli, der mir bis auf die Knie reichte, jedoch den Blick gerade noch auf die Löcher in meiner Jogginghose freigab. Meine Haare standen sicherlich nach allen Seiten ab, als hätte ich an die Hochspannungsleitung gepackt und mein Gesicht war auch nicht das sauberste.
    Am besten machte ich mich so schnell es ging aus dem Staub.
    Ich hatte mich gerade fertig gemacht, als Dan unser Lager betrat. „Hey Sam. Alles okay bei dir?“
    Ich nickte. „Dank euch, fürchte ich. Wie habt ihr uns gefunden?“
    „Christina hat mich und Theo mitten in der Nacht geweckt und gesagt, du wärest Michelle suchen gegangen und jetzt schon seit mehreren Stunden weg.“
    Wenigstens hatten die Gören darin gute Arbeit geleistet.
    „Also haben wir uns auf die Suche gemacht und die Markierungen an den Stämmen gefunden. Die haben uns dann zu euch geführt. Allerdings hörten sie ganz plötzlich auf.“
    „Als ich Michelle rufen hörte, hab ich gar nicht mehr daran gedacht, Markierungen anzubringen“, erklärte ich und ärgerte mich noch immer bei dem Gedanken. „Aber danke, ich hatte ziemlich Angst“, gab ich zu und dann erzählte ich ihm, wie es zu der Suche nach Michelle gekommen war.
    „Du bist echt clever“, stellte er anerkennend fest. „Und du hast sie gefunden, Hut ab. Aber es war trotzdem leichtsinnig, alleine loszugehen. Es hätte auch anders ausgehen können. Tu das am besten nie wieder.“
    Ich fühlte mich dämlicher wie Hein Blöd und nickte betreten. „Sorry, aber in dem Moment hatte ich einfach nur Schiss und wollte Michelle unbedingt finden.“
    Er nickte vergebend. Ich bildete mir ein, in seinen Augen Besorgnis erkennen zu können. Er hatte sicher auch Angst gehabt. Aber vielleicht bildete ich mir das wirklich nur ein,
    „Lass uns zurückgehen. Ich musste mich nur kurz in Schale werfen, immerhin kommen heute die Eltern und wir müssen ja so tun, als sei alles nach bester Ordnung gelaufen.“
    Er lachte, boxte mir leicht in die Seite und wir gingen zusammen zur Lichtung.

    „Das war das tollste Zeltlager, auf dem ich je war.“
    „Echt?“ Ich lächelte zu Kevin hinunter und nahm seine kleine Hand, die er mir entgegenstreckte. „Ich hoffe ich seh’ dich bald wieder, Sam.“
    „Klar, ganz bestimmt. So groß ist die Welt auch wieder nicht.“ Ich zwinkerte ihm zu und er lächelte verlegen.
    „Kevin, bist du fertig? Ich hab gleich ein wichtiges Meeting.“ Die Mutter des Jungen sah hektisch auf die Uhr und trommelte nervös mit ihren langen Fingernägeln auf das Dach ihres Mercedes. Ich hatte mir seine Mutter irgendwie anders vorgestellt. Mehr wie so ein Ökofreak.
    „Okay, dann mach’s gut Kevin. Du bist übrigens der großartigste Waldspezialist den ich kenne“, sagte ich noch und er strahlte bei diesem Lob mit der untergehenden Sonne um die Wette. Dann lief er zu seiner Mutter, die schon ungeduldig die Hintertür für ihn geöffnet hatte. Ich winkte ihm noch nach, dann ging ich seufzend zu den anderen zurück, um beim Abbauen zu helfen. Ein paar Eltern waren noch geblieben, die uns dabei halfen und so ging es wesentlich schneller als das Aufbauen. Wir waren fast fertig, als Michie auf mich zukam.
    „Ich muss jetzt leider auch gehen“, sagte sie leise und sah dabei auf ihre
    Fußspitzen. „Also...ich, ich wollte dir noch mal Danke sagen, dass du mich gesucht hast.“
    „Ist schon in Ordnung“, erwiderte ich. „Ich schätze ich muss mich bei dir für meine Worte entschuldigen, die ich dir während der Rallye an den Kopf geworfen habe.“
    Sie nickte. „Hab ich schon vergessen.“ Dann umarmte sie mich ganz plötzlich und so heftig, dass ich überrascht ein paar Schritte zurücktaumelte.
    „Tschüss“, hauchte sie nur noch, bevor sie mich losließ und fluchtartig die Lichtung verließ.
    Ich sah ihr nach und musste grinsen. Wie anders sie doch war, wenn sie nicht brüllend um sich schlug.
    Ich sah mich nach Dan um, um in Erfahrung zu bringen, wann wir fahren würden.
    Marion und Werner waren zu Lys Enttäuschung nicht gekommen und ich wunderte mich auch darüber, aber sie hatten sicher einen Grund dafür.
    Etwas weiter weg, bei dem Wrack des Küchenzeltes, stand er und unterhielt sich mit Andrea. Sogar von dieser Entfernung sah ich, wie sich die Vierzehnjährige ins Zeug legte, um ihn mit ihrer „Weiblichkeit“ zu betören. Ich rollte genervt mit den Augen, als sie sich in einer hingebungsvollen Geste durchs Haar strich und den Kopf schief legte, so dass ihr Pony ihr in die Augen fiel. Ich beschloss, Dan von ihr zu erlösen und machte mich auf den Weg zu ihm, als Andrea schließlich nah an ihn herantrat, sich auf die Zehenspitzen stellte und ihre Arme um seinen Nacken schlang. Er hob sie einmal kurz spielerisch hoch und lachte. Ich spürte einen plötzlichen Stich der Eifersucht und ärgerte mich darüber.
    „Tut mir leid, dass ich störe, aber ich wollte mich mal schlau machen, wann wir fahren.“ Der Ton in dem ich das sagte war bissiger, als ich beabsichtigt hatte, aber wenigstens nahm sie die Arme von seinem Nacken.
    „Wir sind hier so weit fertig, also denke ich, können wir sofort fahren, wenn du das willst.“ Wenn er meine seltsame Stimmung bemerkt hatte, ließ er sich auf jeden Fall nichts anmerken.
    Wir verabschiedeten uns und fuhren los. Der Abend war glücklicherweise ohne größere Zwischenfälle abgelaufen. Wir hatten Preise und Ehrungen erhalten und den Eltern von der Woche berichtet. Ich war zufrieden und Dan war das auch. Nur Ly schmollte noch vor sich hin, weil sie mit ihrem abstrakten Bild keinen Preis gewonnen hatte.

    „Wie hat’s dir gefallen?“, fragte Dan und schaltete das Radio aus.
    „Es lief alles schief, aber...“ Ich musste lächeln, „irgendwie war’s trotzdem cool. Ich werde diese Woche auf jeden Fall nicht so schnell vergessen.“
    „Eigentlich läuft es nie so wie es soll“, erwiderte er. „Ich mach das jetzt schon seit drei Jahren und jedes Mal ist es drunter und drüber gelaufen, aber so extrem wie dieses Jahr...“ Er grinste und sah mich kurz an. „Das muss wohl an dir liegen.“
    „Wo ich bin herrscht Chaos, meinst du?“
    „Ja, scheint so.“
    „Das höre ich nicht das erste Mal. Frag Björn.“ Als ich seinen Namen erwähnte, merkte ich, wie ich meinen Bruder vermisste und dann kam wieder die Wut auf Joana, weil sie sich jetzt irgendwo mit ihm amüsierte und ihm mit ihren langen Beinen den Kopf verdrehte. Ich fühlte mich schlecht, weil ich immer noch so wütend auf sie war. Wie konnte ich, nachdem ich die Landaus richtig kennen gelernt hatte und sie schon in mein Herz geschlossen hatte. Joana gehörte für mich einfach nicht dazu, stellte ich fest. Sie war zwar eine Landau, aber das änderte nichts, rein gar nichts. Ich schüttelte diese Gedanken ab und freute mich einfach, wieder nach Hause zu kommen. Ich wunderte mich darüber, dass ich das Haus der Landaus schon im Gedächtnis als mein zu Hause bezeichnete. Draußen hatte es angefangen zu regnen und ich war froh, jetzt nicht mehr draußen schlafen zu müssen.

    Mama!“, Ly umarmte ihre Mutter stürmisch und küsste sie. Sogar Daniel drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und lächelte warm.
    Meine Stirn hatte sich in Falten gelegt, als ich Marion gesehen hatte. Sie sah, meiner Meinung nach, nicht gut aus. Ich hatte es zwar gehasst, wenn irgend jemand zu mir sagte: „Kind, du siehst ja gar nicht gut aus.“ Ich fand, dass ich immer gleich aussah. Doch als ich Marion jetzt sah, merkte ich was es hieß, nicht gut auszusehen. Ihr Lächeln war gezwungen, obwohl ich sicher war, dass sie sich über unser Kommen freute, ihre Augen waren müde und irgendwie traurig und sie war so blass. Ich umarmte sie und fragte, ob es ihr nicht gut ginge.
    „Doch, wie kommst du darauf?“, fragte sie verwundert. Wahrscheinlich hatte sie diese Veränderung an sich selbst gar nicht bemerkt, und ich wollte sie nicht darauf aufmerksam machen.
    „Naja, ich dachte nur, weil du und Werner nicht gekommen seid...“
    „Genau, warum seid ihr nicht da gewesen?“, unterbrach Ly mich und sah ihre Mutter vorwurfsvoll an. „Alle Eltern waren da, nur ihr nicht. Euch interessiert überhaupt nicht, was wir da erlebt haben.“
    „Nein, Lydia...ich...“,wollte Marion erklären, da brach sie plötzlich in Tränen aus.
    „Mama, was ist los?“ Erschrocken sah Daniel mich an. „Das hat Lydia doch nicht so gemeint.“
    „Ist schon gut...ich...entschuldigt mich bitte.“ Sie drehte sich um und eilte die Treppen hoch.
    „Lydia, was sollte das?“, wütend wandte Dan sich an seine Schwester. „Musst du dich immer gleich so anstellen?“
    „Ich wollte das doch nicht.“ Lydia war genauso erschrocken über die Reaktion ihrer Mutter und ihre Unterlippe zitterte verdächtig. „Sonst ist sie doch auch nicht so.“
    Ich nahm Ly in den Arm. „Nein, ist schon in Ordnung. Das ist nicht deine Schuld.“ Und an Dan gewandt sagte ich: „Da stimmt was nicht. Eure Mutter ist total fertig, das habe ich ihr sofort angesehen.“
    Daniel nickte. „Ich frage mal Papa.“ Und schon war er im Wohnzimmer verschwunden.
    Lydia klammerte sich an mich und heulte wie ein Schlosshund. „Ich wollte das nicht, Sam, ehrlich.“
    „Pscht, ich weiß doch.“ Ich trug sie die Treppen hoch, brachte sie keuchend in ihr Zimmer und setzte sie auf ihrem Bett ab. „Schlaf jetzt okay? Die Woche war sehr anstrengend.“ Ich strich ihr die Haare aus dem tränennassen Gesicht und sie nickte schniefend.
    Ich hastete die Treppen wieder runter und wollte gerade ins Wohnzimmer, als Dan mir entgegenstürmte und mich fast über den Haufen rannte. „Ist Silas oben?“, fragte er unnötig laut und der Ausdruck in seinen Augen machte mir Angst, so kannte ich ihn gar nicht. Ich schüttelte langsam den Kopf. Seine Zimmertür war offen gewesen, aber ich hatte ihn darin nicht gesehen. „Wieso, was ist mit ihm, Dan?“
    Er sah mich an, aber er sah durch mich hindurch. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt und zwischen zusammengepressten Zähnen bracht er hervor. „Meine Mutter...sie geht zu einem Psychiater.“ Er lief an mir vorbei auf die Terrasse. Er hatte mir nichts mehr erklären müssen, ich wusste was los war. Silas war dabei, seine Mutter psychisch zu zerstören. Ich schloss die Augen und folgte Dan nach kurzem Zögern auf die Terrasse. „Daniel, was hast du vor?“ Ich rannte hinter ihm her hinaus in den Garten, in den strömenden Regen.
    Da stand Silas bei den Fliederbüschen und rauchte. Die Zigarettenspitze glühte in der Dunkelheit. Jetzt hatte er uns bemerkt und grinste zynisch. „Da kommen ja die Kindergärtner“, bemerkte er und zog an seiner Marlboro, dass sich seine Wangen eindellten.
    „Halt dein Maul!“, brüllte Dan.
    „Hey, was ist denn mit meinem liebenswürdigen Bruder passiert, auf den die Frauen so abfahren? Diese Seite kennen sie bestimmt nicht von dir.“
    „Ich zeig dir noch eine ganz andere Seite, du Schwein.“ Er trat an seinen Bruder, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. „Was hast du mit unserer Mutter gemacht, du versoffenes Arschloch, was?“
    „Jetzt reg dich ab, klar?“ Silas wollte sich aus Dans Griff befreien, aber er ließ nicht los.
    „Ich soll mich abregen?“, schrie Dan, so dass sich seine Stimme überschlug. „Du machst meine Eltern kaputt und sagst mir, dass ich mich abregen soll?“ Er stieß ihn zu Boden. „Ist das der Dank für das, was sie für dich getan haben? Kennst du keine Dankbarkeit, oder Reue, vielleicht ein kleines Stück Liebe? Wann hast du das letzte Mal mit Lydia ein Spiel gespielt, wann Mama ein Kompliment gemacht wegen ihres Essens? Hast du auch nur einmal Papa im Garten geholfen, nur ein einziges Mal? Hast du nicht, stimmt’s? Du pumpst dich lieber mit Drogen und Alkohol voll und kümmerst dich nicht darum, was deine Familie eventuell wegen dir alles durchmachen muss. Sie lieben dich, Silas, kapierst du das nicht, wir alle lieben dich, weiß Gott warum. Unsere Eltern bezahlen deine Schulden, verzeihen dir alles, sind bereit, dir eine zweite Chance zu geben, weil sie dich lieben. Und du kommst zurück und das einzige, was dir einfällt für ihre Geduld, ist ihre Nerven auf die Probe zu stellen, ihre Gesetze zu brechen, sie fertig machen, ihnen deine Verachtung ins Gesicht zu schleudern.“ Daniels Atem ging schnell und heftig. So aufgewühlt hatte ich ihn noch nie erlebt. Silas hatte sich aufgerappelt und kam langsam auf seinen Bruder zu. „Naja, weißt du. In einer Familie muss es immer einen Engel und einen Teufel geben. Du bist der Engel, der brave Mustersohn, den sich Papi wünscht, was blieb mir noch anderes übrig? Aber ich hätte mich sowieso nicht für die Rolle des Arschkriechers entschieden.“
    Mit Entsetzten sah ich, wie Daniel sich auf seinen Bruder stürzte, so dass er zu Boden fiel. Und dann prügelten sie sich wie dumme Schuljungen im strömenden Regen.
    „Daniel, Silas, lasst das bitte!“, rief ich vergeblich. Sie bemerkten mich nicht mal. „Hört auf, sofort!“, brüllte ich wieder, ohne Erfolg. Ich griff Dans Arm und wollte ihn wegzerren, aber er schüttelte mich ab. Sie standen sich jetzt wutschnaubend gegenüber. Silas stürzte sich auf Dan und verpasste ihm einen Schlag in die Magengegend, so dass er aufkeuchend in die Knie sank.
    „Misch dich nicht in mein Leben ein!“, brüllte Silas und ging ins Haus.
    Ich hockte mich neben Dan. Er ließ seinen Kopf auf seine Hände sinken und seine Schultern zuckten verdächtig.
    Ich wusste nicht, was ich tun sollte und legte einfach meine Arme um ihn. „Das bringt doch nichts, Dan“, sagte ich leise. „Du wirst ihn nicht ändern können.“ Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter und weinte mit ihm. Ich wusste selbst nicht wieso.


    17. Kapitel

    Der nächste Tag war grausam. Nach dem Gottesdienst, den ich diesmal absichtlich verschlafen hatte, kam Dan den ganzen Tag nicht aus seinem Zimmer raus, Silas war schon seit gestern Nacht nicht da, wahrscheinlich zog er wieder gegen den Willen seiner Eltern um die Häuser mit seinen bekifften Drogenkumpanen, und Marion lief durchs Haus, arbeitete wie besessen, aber schien das nur zu tun, weil sie dringend Ablenkung brauchte. Lydia sah ihre Mutter immer mit ängstlichem Blick an und traute sich nicht, ein Wort zu sagen, und als ich ihr anbot ein Spiel mit ihr zu spielen, schüttelte sie den Kopf und sagte, dass sie lieber ein Buch lesen wollte. Ich schien die einzige normale Person in diesem Haus zu sein, versuchte ständig, die Leute aufzumuntern, mit ihnen zu reden, aber meine Bemühungen waren umsonst. Es war furchtbar. Alle litten und ich litt unweigerlich mit ihnen. Schließlich konnte ich die geisterhafte Stille im Haus nicht mehr ertragen. Ich holte mir aus Werners Arbeitszimmer ein Buch, irgendeines, es war ja auch egal. Ich las und las, zwanzig Seiten, fünfzig, hundert und kein einziger Satz blieb hängen. Auf Seite hundertdrei legte ich das Buch beiseite und hatte keine Ahnung, worum es darin ging. Ich brauchte frische Luft.
    Draußen war es kühler geworden, trotzdem es noch Mitte August war. Es schien jetzt mit großen Schritten auf den Herbst zuzugehen. Mir gefiel der Gedanke nicht. Ich hatte noch keine Lust auf den Herbst. Der Sommer war zu kurz gewesen. Graue Wolken ballten sich über der Stadt zusammen, aber ich bemerkte sie kaum. Ich ging und ging einfach immer geradeaus, der Straße folgend. Irgendwann kam ich bei einem Spielplatz an, setzte mich auf eine Schaukel und sah den kleinen Kindern zu, die im Sandkasten spielten. Mein Kopf war leer, meine Gedanken suchten nach einem logischen Grund, womit die Landaus jemanden wie Silas verdienen konnten. Ich fand nichts. Gott, wie kannst du eine Familie so zerstören? Eine Familie wie die Landaus, die immer tun, was du willst?, fragte ich in Gedanken und sah hoch zum grauen Himmel. Tu doch was!
    Irgendwann gegen Abend ging ich wieder zurück, schlüpfte leise durch die Tür und ging an den Kühlschrank, um was zu essen, obwohl ich keinen Hunger hatte. Ich musste einfach irgendwas tun. Ich fand einen Stratiatellajoghurt und wollte ihn gerade verschlingen, als Dan kam. Ich sah ihn nicht, hörte nur wie er sagte: „Sam, kommst du mal bitte mit?“ Ich drehte mich erschrocken um und sah ihn im Türrahmen stehen. Den Mund voller Joghurt nickte ich und warf den Rest davon in den Müll. Ich würde noch kotzen, wenn ich ein Krümel mehr essen würde. Dann folgte ich ihm und zu meinem Erstaunen führte er mich in seinen Musikkeller.
    „Ich hab ein bisschen nachgedacht“, sagte er leise und setzte sich auf einen Schemel, inmitten einem Meer von zerknüllten Papieren. „Dann hab ich gebetet, dann wieder nachgedacht. Und dann hab ich was Verrücktes gemacht, das absolut nicht zur Situation passt, aber ich musste mich irgendwie ablenken, weißt du?“
    Ich nickte. Das konnte ich gut verstehen.
    Er bückte sich und hob ein Papier auf, das nicht zerknittert war. Ich sah, dass es vollgekritzelt war und erkannte unter dem Gekrakel auch ein paar Noten. Er bemerkte meinen neugierigen Blick und lachte leise und müde. „So sieht das aus, wenn ich ein Lied schreibe.“
    „Ein Lied?“ Ich setzte mich auf den Schemel neben ihm.
    „Ein Lied für Björn und Joanas Hochzeit“, nickte er.
    Ich sah ihn perplex an.
    „Ideen für Lieder kommen bei mir in den unglaublichsten Momenten, glaub mir.“ Er kaute auf seiner Unterlippe herum und überlegte, wie er es ausdrücken sollte. „Also, ich hab das Lied für uns beide geschrieben. Ich will es mit dir singen.“
    Ich schnappte nach Luft. „Du willst...mit mir?“
    „Sieh es dir an!“ Er hielt mir das Papier hin.

    We are amazed
    How great is God’s grace
    He has created you for each other
    A friend became a lover.

    Our God above
    Gave you this love.
    Now live within it.
    The fire was lit.

    We wish you God’s grace
    Till you’ll see him face to face.
    Honor him with your life
    And don’t look twice
    We all know it’s true
    He will surely bless you!

    We will miss you as siblings
    And we say goodbye with greetings
    You both now start a new period of life
    You will be husband and wife.
    Surely it’s different
    And it’ll be not always easy
    But He will always be by your side
    With his kindness, so great, so strong, so wide.

    „Wow, das ist...das hast du in dieser kurzer Zeit geschrieben?“
    „Es ist noch nicht ganz fertig. Ich muss noch mal drübergehen und werde sicher noch einiges ändern, aber ja, das ist unser Hochzeitslied für unsere Geschwister.“ Er sah mich erwartungsvoll an, und ich merkte, wie mein Herz zum zerspringen schlug. Ich sollte mit Daniel Landau singen. Das war ein Traum, das konnte nicht wahr sein. Ich konnte es kaum glauben. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, mit ihm singen zu können, das war ein Privileg für mich, eine Ehre. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie ich mit ihm auf der Bühne stehen würde, wie unsere Stimmen sich vermischen würden, in einer wundervollen Harmonie wieder auseinandergehen würden und wie die Augen aller Anwesenden feucht werden würden, weil wir ein so wundervolles Paar abgaben, nicht nur musikalisch...
    „Du weißt ja noch gar nicht, auf was du dich da einlässt. Ich werde dir es mal vorsingen, so wie ich mir das überlegt hatte. Wenn du einen Verbesserungsvorschlag hast, sag ihn mir.“
    Ich nickte, besessen darauf, seine Stimme zu hören. Er nahm die Gitarre und sang und in seinem Mund nahmen die Wörter, die Sätze Gestalt an. Ohne Probleme glitten sie über seine Lippen, wurden zu einem wundervollen Einklang. Jetzt erst begann ich das Lied überhaupt zu verstehen und zu begreifen, was er damit ausdrücken wollte.
    „Glaubst du, es ist so okay? Ich hatte gedacht, dass meine Band es spielt, während wir...“
    „Singen“, beendete ich den Satz. Singen, singen, singen, fuhr es mir durch den Kopf. „Nein“, sagte ich plötzlich etwas lauter als beabsichtigt. „Nein, das...das geht leider nicht.“ Ich schüttelte entschlossen den Kopf.
    „Gefällt es dir nicht?“, fragte er verwundert.
    „Doch, natürlich. Es ist total super, aber ich glaube du musst es alleine singen.“
    „Aber ich möchte...“
    „Daniel, ich singe nicht!“
    Er sah enttäuscht zu Boden und es tat mir weh, ihn enttäuschen zu müssen, aber es ging nun mal nicht anders.
    „Ich wusste, dass du nicht singst, aber ich dachte, du würdest es vielleicht für die Hochzeit deines Bruders tun.“
    „ Ich kann nicht singen.“
    „Woher weißt du das wenn du es nicht ausprobierst? Sing mir was vor und wenn es gar nicht geht, dann lassen wir es halt.“
    Ich schüttelte wieder entschlossen den Kopf. Der bloße Gedanke ans Singen löste Panik in mir aus.
    „Es hat einen anderen Grund, hab ich recht?“, mutmaßte er. „Es ist nicht so dass du denkst, nicht singen zu können. Das ist nur eine Ausrede.“
    Ich war erschrocken darüber, dass er mich so treffend ertappt hatte. Ich sank zurück auf den Schemel, von dem ich aufgesprungen war und begann, ihm alles zu erzählen. Wie oft ich früher gesungen hatte, um meine Mutter glücklich zu machen, und wie sehr ich mich dagegen sträubte, seit ihrem Tod wieder einen Ton herauszubringen.
    Lange war er still und überlegte, was er darauf erwidern sollte. „Und würdest du es nicht mal für deinen Bruder tun, an dem wichtigsten Tag seines Lebens?“
    „Er wird es sicher nicht vermissen, er hat meine Stimme noch nie vermisst“, argumentierte ich.
    „Dann Samira, dann tu es doch für mich. Ohne dich singe ich nicht.“ Er sah mich aus seinen wunderbar blauen Augen flehend an und ich wollte ihm sagen, wie gerne ich ihm etwas Gutes tun wollte, wie sehr ich ihn liebte...
    „Es tut mir Leid Daniel, ich kann einfach nicht.“
    „Manchmal muss man über seinen eigenen Schatten springen.“ Er blieb hartnäckig.
    „Dan!“ Ich bat ihn mit meinem Blick, nicht weiterzusprechen, stand auf und ging, weil ich es nicht länger ertragen konnte. Ich würde einfach nie mehr singen, so sollte es sein. Ich wollte mir gut zureden, um das schlechte Gewissen zu verdrängen, das in mir aufkam, aber es ließ sich nicht einfach wegschieben. Wie feige ich war. Ich konnte es, das wusste ich. Ich konnte singen, ich wollte es nur nicht. Ich hatte Angst, dass wieder all die Erinnerungen hochkommen würden, die ich so erfolgreich verdrängt hatte.
    Mama hätte es gewollt, fuhr es mir durch den Kopf. Sie hätte es sich von ganzem Herzen gewünscht. Das wusste ich. Mama hätte es sich gewünscht und Dan wünscht es sich. Sam bist du bescheuert? Daniel will mit dir singen und du enttäuscht ihn? Bist du wahnsinnig geworden? Du liebst ihn doch, dann tu auch was für ihn! Lass Vergangenheit Vergangenheit bleiben und sieh nach vorn!
    Ich wusste nicht wie mir geschah, aber plötzlich gab etwas in mir nach. Ich drehte mich ruckartig um und rannte die Kellertreppe wieder herunter in das Musikzimmer, wo Dan gerade das Papierchaos beseitigte. Er sah verwundert auf.
    „Ich...ich hab’s mir anders überlegt“, stammelte ich und spürte, wie die Angst mich in genau dem Moment packen wollte, in denen ich die Worte ausgeprochen hatte.
    Aber das Lachen seiner Augen sagte mir, dass ich das Richtige tat. „Ich wusste das du stark bist, Sam. Ich wusste es.“ Er nahm seine Gitarre und schlug einen Ton an. „Sing mir was vor, irgendwas!“
    Ich nickte und presste die Lippen aufeinander. Was sollte ich nur singen? Ich kannte alle Radiolieder auswendig, aber in diesem Moment fiel mir kein einziges ein. „Because Of You”. Ja, das passte irgendwie und es gefiel mir. Ich merkte, wie meine Hände schweißnass wurden und zu zittern begannen.
    „Bist du bereit?“, fragte er und ich nickte hektisch. „Sam, du kannst es“, sagte er dann noch und drückte meine Hand.
    Ich holte tief Luft und begann zu singen. Die Töne kamen mir unglaublich fremd vor. War ich das, die da sang? Erst zaghaft und leise und dann erinnerte ich mich an den Ausdruck in der Stimme von Kelly Clarkson und versuchte es ebenso zu singen. Ich konnte es tatsächlich noch. Klar flossen die Töne aus meinem Mund. Ich wagte ein Blick auf Dan. Er starrte mich gebannt an. Seine Augen hingen an meinen Lippen. Und dann konnte ich nicht mehr. Ich brach ab und die Tränen schossen mir in die Augen. Ich hatte gesungen, das konnte ich immer noch nicht fassen.
    „Sam, du...“, begann Dan, schüttelte dann entgeistert den Kopf. „Deine Stimme ist...ich hab noch nie jemanden so singen hören. Ich glaub’ das nicht. Du könntest damit Karriere machen und deine Mutter hat das erkannt.“ Er blickte mich an, als sähe er mich zum ersten Mal richtig.
    Irgendwie war es, als wäre eine Last von meinen Schultern gefallen. Eine Last, die ich schon jahrelang mit mir herumtrug und mir selbst aufgewuchtet hatte.
    Er schlug noch einmal den Ton an seiner Gitarre an, den er am Anfang angeschlagen hatte. Ich hatte ihn perfekt gehalten.
    Wir übten den ganzen nächsten Tag an unserem Lied. Dan sang eine andere Stimme und ich übte hartnäckig, bis ich meine bis ins Detail konnte. Wir nahmen noch ein paar Änderungen in der Melodie und im Text vor und am Ende des Tages hatten wir ein zufriedenstellendes Ergebnis.
    „Wir können uns hören lassen“, untertrieb Dan grinsend.
    „Daniel, ich muss dir danken. Dafür, dass du mich dazu gebracht hast, wieder zu singen. Es...“ Ich musste plötzlich lachen. „Es macht mir großen Spaß.“
    „Wenn man so singt wie du...“
    „Ach komm, tu nicht so, als ob du es schlechter könntest.“
    Marion rief uns zum Tisch und ich hatte dieses seltene, befriedigende Gefühl, etwas Sinnvolles getan zu haben. Ich war jetzt zwar heiser, aber das störte mich nicht weiter.
    Werner saß schon am Tisch und sah ungeduldig auf, als wir eintraten. „Na endlich! Wo ist denn unsere Prinzessin?“
    „Bin schon da, Paps“, rief sie aus dem Flur und eilte auf ihren Platz.
    Marion hantierte noch in der Küche und kam kurz darauf mit einer Käseplatte heraus. „Sei nicht so ungeduldig, Schatz“, tadelte sie ihren Mann spielerisch und küsste ihn auf die Wange. „Weiß jemand, wo Silas ist?“, fragte sie dann zögernd.
    Allgemeines Köpfeschütteln.
    „Werner, er ist jetzt schon zwei Tage weg.“ Die Angst in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Ich konnte sie nicht verstehen. Ihr Sohn trieb sie in den Wahnsinn und sie hatte trotz allem Angst um ihn. Ich würde mich an ihrer Stelle freuen, wenn er so lange wie möglich wegbleiben würde.
    „Mach dir keine Sorgen Marion.“ Werner sprach ein kurzes Gebet, worin er auch Silas erwähnte.
    „Ich soll mir keine Sorgen machen? Bei Silas?“ Ihre Stimme klang jetzt hoch, fast ein wenig panisch. Sie schnitt ein winziges Stück von ihrem Salamibrot ab und kaute übertrieben lange daran, während ihre Augen starr geradeaus blickten. „Irgendwas muss vorgefallen sein vorgestern Abend, bevor er aus dem Haus ging.“
    Daniel trank in hastigen Zügen das Glas aus und stellte es etwas zu laut ab. „’Tschuldigung.“
    „Daniel hat sich mit Silas geprügelt“, verriet Lydia in gleichgültigem Ton, als wäre es das normalste auf der Welt.
    Marion sah alarmiert auf. „Daniel?“
    „Ja hab ich“, gab er missmutig zu.
    „Warum?“, wollte Werner nur wissen und seufzte tief.
    „Wir...hatten uns gestritten“, sagte er schnell und lenkte dann ab. „Ihr hattet ihm doch verboten nach zehn rauszugehen.“
    „Ja, aber was soll ich machen?“, entgegnete Werner. „Ihn an den Ohren ziehen und Taschengeld abziehen? Dafür ist es zu spät. Gott alleine kann ihn jetzt noch zur Vernunft bringen.“ Er lehnte sich zurück und blickte starr auf die Tischdekoration.
    „Werner, vielleicht sollten wir die Polizei wegen Silas’ Verschwinden benachrichtigen. Ich hab Angst, dass er sich wieder mit diesen Leuten trifft, die mit den Drogen...“, begann Marion wieder bedrückt und faltete ihre Serviette umständlich zusammen.
    „Liebling, Silas ist nicht dumm. Er hat sich durch diesen Entzug durchgebissen, weißt du, was das heißt? Es muss die Hölle auf Erden gewesen sein, aber unser Sohn hat es irgendwie geschafft. Er ist klug genug, um das in Zukunft zu vermeiden, das weißt du genauso gut wie ich. Ich schlage deshalb vor, dass du jetzt einfach auf den Geburtstag von deiner Freundin gehst und wenigstens für einen Abend deine Sorgen vergisst, in Ordnung? Wenn er morgen noch nicht da ist, sollten wir vielleicht Maßnahmen ergreifen. Aber versprich mir, dass du dich heute Abend uneingeschränkt amüsierst!“
    Marion nickte und drückte dankbar die Hand ihres Mannes. Jetzt erkannte ich auch, dass sie auffällig chic angezogen war. Sie trug ein dunkelgraues Kostüm mit einem Rock, der knapp die Knie bedeckte und einer rosa Bluse, die gut zu ihrem blonden Haar und der glänzenden Perlenkette um ihren Hals passte. Sie sah noch immer gut aus, trotzdem sie schon älter war.
    „Könntet ihr bitte den Tisch heute abdecken?“, fragte sie an uns gewandt. „Ich bin schon ein bisschen spät.“ Sie warf einen Blick auf die Uhr, lächelte uns dann kurz zu und verschwand durch die Tür. Ihre Absätze klackten auf den Fließen im Flur.
    Wir machten uns ans Abräumen und Lydia konnte es nicht lassen, einen Stapel Teller auf ihrem Kopf zu balancieren. „Guckt mal, ich bin eine afrikanische...“ Es klirrte so laut, dass ich erschrocken zusammenzuckte.
    „Lydia!“, rief Daniel genervt. „Jetzt kannst du den Schlamassel wegputzen.“
    Lydia sah erschrocken auf die Scherben und hielt die Hand vor den Mund. Ich sammelte die noch heilen Teller ein und räumte sie in den Schrank, als plötzlich wieder das Klackern von Marions Pumps zu hören war, es hörte sich an, als würde sie laufen. Da stürmte sie auch schon in die Küche, Panik im Blick. „Werner!“, rief sie und begann hysterisch zu weinen.
    Werner war zu ihr gelaufen und nahm sie in den Arm. Alles spannte sich in mir an. Was war jetzt wieder passiert?
    „Werner, mein Auto. Es ist weg!“
    In diesem Moment, was für eine Ironie, klingelte es an der Tür.
    „Ich mach auf“, riefen Dan, Ly und ich wie aus einem Mund und wir hetzten alle an die Tür. Daniel hatte sie als erster erreicht und riss sie auf. Ich konnte es nicht fassen, draußen standen zwei Polizisten.
    „Was ist passiert?“ Daniel sah panisch von einem zum anderen.
    „Sind ihre Eltern...“, begann der eine von den beiden und in dem Moment kamen Werner und Marion auch noch dazu. In ihren Augen konnte ich diese grenzenlose Angst erkennen, die ich im Moment auch verspürte, keine Ahnung warum.
    „Es geht um ihren Sohn“, sagte der zweite Polizist verwundert über den Ansturm von Menschen, an der Tür.
    „Was ist mit Silas?“, schrie Marion.
    „Ihr Sohn hatte einen Autounfall und liegt zur Zeit auf der Intensivstation in Marburg. Näheres wissen wir nicht.“
    Marion schrie laut auf, ein Schrei der durch Mark und Bein ging und sackte Werner ohnmächtig in die Arme. Ly fing wie auf Kommando an zu weinen, aber der Polizist ließ sich dadurch nicht beirren. „Ihr Sohn saß nur auf dem Beifahrersitz, gefahren ist eine gewisse Monika Obitz und zwar in einem Mercedes, der auf den Namen Marion Landau eingeschrieben ist.“
    „Das ist der Wagen meiner Frau“, sagte Werner heiser, nur um etwas zu sagen. „Wie geht es ihm?“
    Der Polizist schüttelte den Kopf. „Sie sollten sich direkt an die Klinik wenden, um näheres zu erfahren.“
    „Und die Fahrerin?“
    Die Polizisten wechselten einen kurzen Blick. „Wir dürfen leider nicht...“
    „Ich bitte Sie. Hier geht es um meinen Sohn“, sagte Werner flehentlich.
    Der zweite Polizist gab nach: „Die Fahrerin ist tödlich verunglückt.“
    Ich riss meine Hand vor den Mund, um nicht ebenfalls zu schreien.
    „Mehr können wir ihnen nicht sagen, Herr Landau. Es tut uns leid.“ Ihre Entschuldigung klang einstudiert, nicht aufrichtig.
    „Vielen Dank“, sagte Werner mechanisch und die Polizisten gingen. Er trug Marion auf ein Sofa, setzte sich neben sie und stützte seinen Kopf in seine Hände. Es war furchtbar. Lydia heulte wie wild und klammerte sich an mich, als könnte sie damit das Schreckliche rückgängig machen.
    Daniel stand wie gelähmt neben mir und blickte mit angstgeweiteten Augen ins Nichts. Ich hielt es nicht mehr aus, wollte losheulen. Ich spürte den gleichen Schmerz wie die Landaus, der alles in mir zuschnürte, obwohl Silas noch nicht mal mit mir verwandt war. Ich brachte Ly in ihr Zimmer, zog ihr den Pyjama an und legte sie so ins Bett. „Sam, ich hab solche Angst“, jammerte sie. „Ich hab so Angst, das Silas tot ist. Weißt du, früher, früher, als Silas noch normal war, da war alles so schön. Ich kann mich nicht mehr so viel daran erinnern, aber ich weiß, dass er so war wie Daniel. Vielleicht ein bisschen anders, aber nicht viel. Er konnte so gut zeichnen. Er hat mir immer alles gezeichnet was ich wollte. Pferde und Katzen und einmal hat er sogar mich gezeichnet. Und dann...“ Sie schniefte geräuschvoll. „Dann hat es angefangen so schlecht mit ihm zu gehen. Er hat sich immer nur noch mit allen gestritten und hat immer so viel geschrieen, dass ich es sogar abends in meinem Bett noch hören konnte, und dann hatte ich immer Angst vor ihm. Manchmal kam er dann so komisch nach Hause und hat so seltsame Dinge gesagt und getan und war irgendwie so anders als sonst. Daniel sagt, dass das die Drogen gemacht haben. Und dann hat Mama immer so viel geweint, weil sie auch Angst hatte. Das hat sie gesagt, dass sie Angst um ihren Sohn hat. Silas war oft so wütend. Er hat immer gebrüllt und alles kaputt gemacht und alle geschlagen, sogar einmal mich.“ Ihre Unterlippe zitterte und ich war geschockt von dem, was sie mir da erzählte. Ich ließ mir davon jedoch nichts anmerken, sondern streichelte ihr tröstend über die weichen Haare während sie leise schluchzte. „Dann hat ihn die Polizei in so ein Heim gebracht, wo man ihm helfen sollte, von den Drogen wegzukommen. Sam, ich glaube, es ist meine Schuld, dass Silas jetzt vielleicht stirbt.“ Sie fing plötzlich wieder an zu weinen.
    „So ein Unsinn. Dafür kannst du überhaupt nichts, Ly, ehrlich.“
    „Aber ich habe mir manchmal ganz arg gewünscht...“ Sie sah mich schuldbewusst aus ihren tränennassen Augen an. „Ich habe so oft gehofft, dass er stirbt“, vollendete sie den Satz und heulte laut auf. „Das hab ich doch aber nicht so gemeint“, schluchzte sie. „Das wollte ich doch nicht.“
    Ich streichelte ihren Kopf. „Das weiß ich doch, Ly. Niemand will so was wirklich. Mach dir keine Sorgen. Du wirst schon sehn, es wird alles wieder gut“, flüsterte ich. Doch ich war davon überzeugt, dass nichts gut werden würde, rein gar nichts.

    Silas hatte eine mittelschwere Gehirnerschütterung. Drei Rippen waren geprellt, wovon eine in die Lunge drückte und sie fast zerrissen hatte. Sein linkes Bein war gebrochen. Sein Gesicht musste nach Werners und Marions Beschreibungen schrecklich aussehen. Schürfwunden, Prellungen und Schrammen am ganzen Körper.
    „Sie sind mit 100 km/h in einen Baum gefahren“, hatte Werner mit nassen Augen erzählt. „Der Baum hat die Fahrerin voll erwisch



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 04.08.2008, 15:51


    wars das oder kommt am schluss noch was, weil da so plötzlich schluss ist und es schickt ja nich weiter, wenn die mindest länge erreicht ist :lol: Wenn das nicht alles war, dann bitte ich dich, den schluss reinzustellen =D


    Ach mensch ist das süüüüüüüüüüüüß ♥_♥ Dan gefällt mir immer mehr =)

    Ich glaube, der Unfall wird Silas verändern... hab ich recht oder hab ich recht?! xD

    tja, bleibt mir nurnoch eins zu sagen:

    WEITER und zwar SCHNELL sonst STERBE ich und mache dann DICH dafür verantwortlich =D

    glg, teiger



    Re: Geschichte!

    claudi - 04.08.2008, 15:53


    ok ich stell weiter rein aber erst mrogen!!! hahaha :twisted: :twisted:
    es geht bis kapitel 22 und das letze ist echt lang!!!
    also du hast.... nicht recht... oder doch? naja das wird nochnicht verraten....
    also dann bis morgen!! :twisted:



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 04.08.2008, 16:07


    neiiiiiiiiiiiiiiiin... bitte nicht =( was kann ich machen, damit dus doch noch reinstellst? Darf ich Beta.Leserin sein?! =D



    Re: Geschichte!

    claudi - 04.08.2008, 18:23


    bet-leserin???? aufjeden fall nein!!!!!!!!!!!!!!!!!11



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 04.08.2008, 19:27


    Och mennooo =(

    küssen die sich mal? =D :lol:

    stellst aba morgen 2 chappis rein, oder?!

    Hättest du wohl dann noch die Güte, das erste chappi auch in DIESES topic reinzumachne?! xD Ich hab erst jez kapiert, wos steht -.-"



    Re: Geschichte!

    Goldbärchen - 04.08.2008, 19:27


    Wirklich schön. Habe Dank des Regenwetters jetzt alles durch.
    Kommt der Rest noch bis Samstag ? Da fahren wir in Urlaub ...



    Re: Geschichte!

    crossgirl14 - 05.08.2008, 00:14


    @ Goldbärchen: boah, hast dus gut.. ich muss montag schon wieder zur schule.. -.-



    @all: ich find' die geschichte immer ncoh mega... :ja: einfach unbeschreiblich....

    bitte bitte bitte schnell weiter reinstellen, ja? =)



    Re: Geschichte!

    LillyRose - 05.08.2008, 00:24


    och ich komm nicht hinter her jetzt ist es schon soooo spät und ich bin erst bei kapitel 17



    Re: Geschichte!

    LillyRose - 05.08.2008, 10:07


    oh wie toll!!!! Ich liebe diese Geschichte.
    Ich bin aber ab Freitag weg und kann nicht weiter lesen :(



    Re: Geschichte!

    claudi - 05.08.2008, 13:27


    ich stell jetzt den rest rein! its aber eigentlich noch zu viel! nur das letzte kapitel kommt morgen! aber ich glaub ihr seid erstmal beschäftigt! ;)



    18. Kapitel

    Ich wachte um neun Uhr auf. Mein Kopf brummte. Irgendwas musste mit mir nicht stimmen, wenn ich so früh erwachte, ohne dass mich jemand weckte. Es musste wohl einfach das erhöhte Stresshormon sein, das meinen Kreislauf so durcheinander brachte. Ein anderer Grund zur Sorge war, dass ich das Bedürfnis hatte, heiß zu duschen. Ich sollte vielleicht mal meinen Puls messen, und ein paar Aspirin nehmen. Nein besser waren zwei duzend Aspirin. Warum nicht gleich ein Fläschchen Antibiotikum, wenn man schon mal dabei war?
    Ich stand eine halbe Stunde unter dem heißen Regen, bis ein dichter Dunstnebel im ganzen Raum hing und zog mir ein Shirt mit einer Kapuze an, unter der ich mich verstecken könnte, falls mir irgendjemand über den Weg lief. Ich lief durchs Haus, als wäre ich auf der Flucht, versteckte mich hinter jeder Ecke und spähte erst Mal, ob die Luft auch rein war. Ich wollte mir am liebsten die Ohren zustopfen, damit ich keine schlechte Nachricht mehr hören musste. Am liebsten würde ich mir auch die Augen verbinden, damit ich die Angst in den Blicken der anderen nicht mehr sehen musste. Vor allem aber versteckte ich mich vor Daniel. Ich hatte panische Angst er könnte sehen, was sein Kuss in mir bewirkt hatte. Ich hatte Angst davor, er könnte an meinem Gesicht ablesen, dass ich in ihn verliebt war. Er durfte das nicht wissen, auf keinen Fall, sonst würde er wohlmöglich so abblocken, wie bei Nadine und den anderen Mädels.
    Ich schlich mich also in die Küche, um nach was Essbarem zu stöbern, das ziemlich rar war, seit Marion den ganzen Tag im Krankenhaus war. Auf der Kochinsel stand ein Körbchen mit aufgebackenen Brötchen, die aber schon wieder kalt waren. Ich beschmierte eins davon mit Nutella und wollte gerade wieder in mein Zimmer, als Ly mir über den Weg lief.
    „Fahren wir Inliner?“, fragte sie und ich wollte gerade verneinen, als mir Dans Worte einfielen. Er hatte gesagt, dass meine Anwesenheit Ly half. Aber wohl kaum, wenn ich ihr aus dem Weg ging. Ich sagte ihr also, dass ich kommen würde, sobald ich gegessen hatte.
    Meine Tarnung und mein Wunsch, Augen und Ohren zu verschließen, halfen natürlich nichts. Die nächste schlechte Nachricht kam trotzdem, als Marion aus dem Krankenhaus kam, weil der Arzt ihr geraten hatte, sich einmal richtig auszuschlafen und zu versuchen, sich nicht zu viele Sorgen zu machen. Sie kam mit rotgeränderten Augen, leichenblass und mit einer Verzweiflung in den Augen zurück, die mich misstrauisch machte.
    „Was ist passiert?“, fragte ich sie, als sie in die Küche kam, während ich mein Nutellabrötchen verschlang. Ly saß neben mir.
    „Silas“, begann sie dann und stützte ihren Kopf schwer in ihre Hände. „Die Ärzte haben an seinen Halswirbeln Verletzungen gefunden, sie haben es so gut es ging korrigiert, nehmen aber an...“ Sie schluchzte kurz auf, „dass er eine Tetraplegie hat.“
    Ich starrte sie nur an. Starrte und starrte und fragte mich, wie Gott nur so grausam sein konnte. Tetraplegie. Die Lähmung aller vier Gliedmaßen! Ich schloss die Augen. Das war schlimmer als der Tod.
    „Sam, was ist eine Tetraplegie?“, fragte Ly leise und erschrocken, weil meine und die Reaktion ihrer Mutter sie geschockt hatte.
    Ich sah sie an und schüttelte nur den Kopf. „Das ist...mach dir keine Sorgen, noch ist nichts sicher.“
    „Aber ich will wissen, was Silas hat!“, protestierte sie und ihre Unterlippe begannen zu zittern. Ich zog sie in meine Arme.
    „Ly, wir wissen nicht, ob das wirklich stimmt, okay? Vielleicht ist er ganz gesund.“ Meine Worte kamen mir so unglaublich trostlos vor. Vielleicht war es deshalb so, weil ich ihnen selbst nicht glaubte. So langsam hoffte ich auf nichts Positives mehr. Da erhob sich Marion und begann mit mechanischen Bewegungen, meinen Teller abzuräumen.
    „Nein, ich mach das schon“, sagte ich und wollte ihr den Teller aus der Hand nehmen.
    „Ist schon gut, ich hab euch hier genug alleine gelassen.“
    Ich räumte schnell den Rest weg, damit sie nicht wegen mir noch zusätzlich Arbeit hatte.
    „Ich gehe ins Bett. Wenn jemand für mich anruft, entschuldigt mich.“ Und schon war sie weg.
    Ich setzte mich betreten zurück auf meinen Stuhl und starrte auf die Krümel vor mir, bis Daniel kam. Ich hatte ganz vergessen, dass ich mich ja eigentlich vor ihm verstecken wollte.
    „Danny, was ist eine Tetraplegie?“, fragte Ly ihren Bruder.
    „Lydia, ich sagte doch...“, dann brach ich ab und sah in Daniels Augen.
    „Was...was ist passiert?“
    „Die Ärzte vermuten...“ Ich konnte nicht weitersprechen und ihm nicht mehr in die Augen sehen.
    „Die denken, Silas hat eine Tetraplegie“, kam Ly mir zuvor.
    Er stand wie angewachsen da, ohne sich zu rühren. „Sam?“, sagte er dann und seine Stimme zitterte. „Stimmt...stimmt das?“
    Ich konnte ihn nicht ansehen, als ich langsam nickte.
    „Nein...nein, das kann nicht...die irren sich bestimmt“, versuchte er sich dann selbst zu beruhigen und als ich ihn ansah, hatte ich Tränen in den Augen.
    „Bestimmt irren sie sich.“ Ich versuchte, überzeugt zu nicken, aber irgendwie passten meine Tränen nicht so ganz dazu.
    „Oh, Gott!“ Er schluchzte und hielt sich die Hand vor die Augen.
    „Was ist eine Tetraplegie?“, fragte Ly wieder und fing jetzt auch an zu weinen, da sie gemerkt hatte, dass es anscheinend etwas sehr Schlimmes sein musste.
    Dan hatte sich aufs Sofa gesetzt, mit gesenktem Kopf und zuckenden Schultern.
    „Komm Ly“, sagte ich leise und schob sie vor mir aus der Tür, weil ich es nicht mehr länger ertragen konnte, ihn so leiden zu sehen.

    Ich betete jetzt jeden Abend für Silas, auch wenn ich glaubte, damit rein gar nichts bewirken zu können. Es schadete schließlich nicht. Vor kurzem hatte ich ihm noch das Schlimmste gewünscht und jetzt, wo sein Leben schlimmer zu werden schien als der Tod, betete ich ständig für ihn. Joana und Björn hatten wir nichts davon gesagt. Werner meinte, wir würden ihnen nur den Urlaub versalzen. Er meinte, wir sollten ihnen so lange Sorgen ersparen, wie es nur ging.
    Was Silas’ Zustand anging, hielten die Ärzte ihn für einigermaßen stabil, so dass er bald aus dem künstlichen Koma aufgeweckt werden konnte. Erst dann konnte man feststellen, wie groß seine bleibenden Schäden tatsächlich waren. Das heißt, er könnte auch noch viel schlimmer dran sein, als wir befürchteten. So lange blieben wir in der grausamen Ungewissheit und hatten somit genug Zeit uns die schlimmsten Dinge auszumalen.

    Dann kam der Tag, an dem die Ärzte Silas aus dem Koma aufwachen lassen wollten. Sie hatten den Tropf abgestellt, von dem das Zeug, das ihn ins Koma versetzte, in sein Blut floss. Er würde jetzt bald aufwachen. Werner sagte zuerst, er würde mit Marion alleine fahren, aber Daniel protestierte, bis sein Vater nachgab. Er schlug vor, zuerst zu beten und Silas Zustand und seine Zukunft Gott in die Hand zu legen, wie er das nannte.
    Was soll das schon bringen?, dachte ich jedoch bei mir. Sie beten doch ständig für ihn und es wird nur schlimmer.
    Wir fuhren ins Krankenhaus. Ich hielt Lys kalte Hand und drückte sie fest. Die ganze Fahrt sagte keiner ein Wort. Als wir dann auf der Marburger Intensivstation ankamen, führte Marion uns zielstrebig in den dritten Stock, wo überall Krankenschwestern in ihren weißen, sterilen Kitteln rumliefen, wie Bienen, die Honig gerochen hatten. Aber statt nach Honig roch alles nach Desinfektionsmittel und aus einem Raum drang das Gesumme von irgend einem Apparat anstatt das von fleißigen Bienen.
    Wir meldeten uns an und eine Krankenschwester teilte uns Kittel aus, die die Patienten vor Krankheitserregern schützen sollen.
    Ein Arzt kam mit wehendem Arbeitskittel auf uns zugeeilt, lächelte warm und schüttelte uns der Reihe nach die Hände.
    „Ich bin Dr. Baumeier“, stellte er sich vor. „Sie kennen mich ja bereits, Frau Landau.“ Er legte ihr in einer tröstenden Geste kurz die Hand auf die Schulter. Anscheinend hatte sie hier den gleichen Eindruck wie zu Hause hinterlassen.
    „Wir haben die Medikamente jetzt vollkommen abgestellt, er wird bald beginnen, selbstständig zu atmen. Es kann sein, dass er Sie nicht erkennen wird. Machen Sie sich dann bitte keine Sorgen, das ist vollkommen normal. Es hängt mit den Medikamenten zusammen, die ja immer noch in seinem Blut sind. Wir hoffen nur das Beste.“ Der letzte Satz war meiner Meinung nach überflüssig. Ärzte hofften immer das Beste, logischer Weise. Ich fand ihn vielmehr beängstigend, denn wenn ein Arzt nur noch hoffen, und nichts mit Sicherheit sagen konnte, musste es ernst sein.
    Dr. Baumeier ging uns voran zum Zimmer 127, öffnete uns die schwere Tür und trat dann als letztes in den Raum.
    Ich sah Silas nicht, da ich als vorletzte das Zimmer betrat und die anderen mir die Sicht versperrten. Ich sah nur diesen grauenhaft sterilen Raum, der nichts mit den freundlichen Krankenhauszimmern zu tun hatten, die ich in Erinnerung hatte. Keine Blumen, keine Bilder an den Wänden, nur Apparate, die unheimlich piepsten und surrten. Ich spähte Dan über die Schulter und zog erschrocken die Luft ein. Silas Gesicht war vollkommen entstellt. Über und über mit Flecken in allen schillernden Farben versehen, sodass man ihn nicht mehr wiedererkannte. Über seinem linken Auge war alles rot geschwollen, sodass er das Auge sicher nicht würde öffnen können. Ein Bein guckte unter der Bettdecke hervor. Es war bis übers Knie in Gips gelegt. Seine Haare waren gnadenlos abrasiert. Doch das war nicht das Schlimme. Er war vollkommen verschlaucht. In Nasenlöcher und Mund steckten dünne Schläuche. Unter seinem weißen Nachthemd guckten Röhren hervor, die zu irgendwelchen Geräten führten und an seinem rechten Handgelenk war eine Manschette angebracht, die mich an den Blutdruckmesser meines Opas erinnerte. Das Teil, das einem den Arm einquetschte, wenn man es mit Luft vollpumpte. In seinen anderen Arm hatten sie zwei verkabelte Nadeln gestochen. Eins in die Armbeuge und ein anderes in das Handgelenk. Neben seinem Bett stand unter anderem ein Computermonitor, der die Herzfrequenzen zeigte, so wie ich es schon immer in den Arztserien auf Sat1 gesehen hatte. Meistens, wenn ein Patient starb, dann wurden nämlich die Auf- und Abschwingungen der Linie zu einem geraden Strich und ein andauerndes Piepsen machte zusätzlich deutlich, dass das Herz aufgehört hatte zu schlagen. Mir lief ein Schauder über den Rücken und ich stellte mir Erleichterung fest, dass Silas’ Linie völlig gleichmäßig auf- und abschwang. Ich fand es jedoch beängstigend, dass er nicht atmete. Seine Brust hob- und senkte sich weder, noch rührte er sich. Er lag wie tot auf dem Rücken in seinem Bett, in einer ordentlichen Position, die völlig ungemütlich wirkte. So könnte ich nicht schlafen. Marion saß neben ihm auf der Bettkante und streichelte ihm ganz zart die Wange, wobei sie mit ihm sprach, als wäre er wach. Da erinnerte ich mich daran, irgendwo einmal gelesen zu haben, dass Menschen im Koma alles in ihrer Umgebung mitbekamen.
    „Es kann sich nur noch um Augenblicke handeln, bis er aufwacht“, sagte der Doktor hinter mir, den ich schon völlig vergessen hatte. „Sobald er von alleine atmet, stellen wir die künstliche Beatmung ab. Wenn er aufwacht, rufen sie mich bitte.“
    Werner nickte ihm dankbar zu. Wir standen betreten um das Bett, starrten auf die lebende Leiche darin und hofften, alles würde in Ordnung sein.
    Dann, nach kurzer Zeit, flackerten seine Lider leicht. Marion stieß einen leisen Schrei aus und beugte sich sofort über ihren Sohn.
    „Silas, Liebling kannst du mich hören? Geht es dir gut?“ Sie streichelte seine Hand, was er, wenn er tatsächlich gelähmt wäre, jedoch nicht spüren würde, stellte ich fest und starrte auf seine Finger, wartete auf eine Bewegung, die Lähmung ausschließen würde, doch seine Hände blieben ruhig.
    Sein Gesicht zuckte kurz, er versuchte verzweifelt die Augen zu öffnen und schaffte es nach kurzer Zeit. Das heißt, das eine Auge, das andere war, wie ich vermutet hatte, vollkommen zugeschwollen. Daniel war losgegangen, um den Arzt zu holen.
    Silas blickte Marion aus seinem trüben, müden Auge direkt an. Gut, blind war er schon mal nicht.
    „Silas, geht es dir gut? Erkennst du mich? Liebes, würdest du...würdest du kurz mit dem linken Zeigefinger wackeln, wenn du mich hörst?“ Sie hatte Angst, große Angst und starrte auf seine Hand. Nichts. Ich drückte Ly an mich, alles in mir war angespannt. Bitte, bitte Gott, lass ihn mit dem Finger zucken.
    Nichts. Das EKG-Gerät piepste und mit jedem Piepser wurde meine Angst größer.
    „Bitte Silas, bitte beweg nur ganz leicht deinen Zeigefinger“, flehte Marion mit zitternder Stimme.
    Piep-nichts-piep-nichts-piep-bitte, Gott!
    „Silas, bitte!“, weinte Marion und plötzlich sah ich, wie sich sein Finger kaum merklich bewegte. Ganz leicht, als wäre es nur ein Versehen. Im ersten Moment dachte ich, ich hätte mir das nur eingebildet, aber als Marion, Werner und Ly zugleich leise aufschrieen und erleichtert aufseufzten, fiel mir ein Stein vom Herzen. Danke, Gott! Danke, danke, danke!
    „Gut, mein Sohn, mein liebes Herz, alles wird gut. Du wirst wieder gesund.“ Jetzt weinte Marion wieder, aber dieses Mal aus Freude. Werner beugte sich über sie und nahm sie in den einen Arm. Den anderen schlang er um Ly, die sich mit glücklicher Miene an ihren Vater klammerte. Sie wusste zwar nicht, was Tetraplegie war, aber sie sah die Erleichterung und das sagte ihr, dass keine Gefahr mehr bestand.
    In dem Moment traten Dan und Dr. Baumeier ein und als Daniel die Szene sah, blickte er mich fragend mit Hoffnung im Blick an.
    „Er hat seinen Finger bewegt“, sagte ich ihm und sein Gesicht strahlte augenblicklich. Er sah seinen Bruder an, der das Ganze mit einer scheinbaren Teilnahmslosigkeit beobachtete. Man merkte nur an seinem geöffneten Auge, dass er wach war.
    Der Doktor beugte sich über ihn und zwickte ihm leicht in den Arm. „Spürst du das?“, fragte er und zwickte wieder. „Wenn du es spürst, brauchst du nur einmal kurz die Augen zu schließen.“ Er zwickte noch mal.
    Silas schloss deutlich die Augen und öffnete sie wieder. Das gleiche wiederholte der Doktor an seinem nicht eingegipsten Unterschenkel und wieder schloss Silas die Augen. Über das Gesicht des Arztes huschte ein Lächeln, dann schüttelte er ungläubig den Kopf. „Das ist...das ist ein Wunder. Wir waren uns zu fünfundneunzig Prozent sicher, dass er bleibende Schäden erlitten hat und seine Gliedmaßen gelähmt sind. Ich verstehe nicht, warum dieser Junge nichts hat. Er kann sehen, hören und er kann sich bewegen. “
    Werner schüttelte ihm dankbar lächelnd die Hand. „Das ist ein Wunder, da bin ich mir sicher. Gott sei Dank!“
    „Er ist noch sehr erschöpft“, sagte der Doktor da. „Ich würde vorschlagen, sie gehen jetzt nach Hause und freuen sich, dass ihr Sohn überhaupt noch lebt. Die Fahrerin war völlig zertrümmert und ihr Sohn wird wieder gesund ohne irgendwelche Schäden.“ Er schüttelte, verwundert über dieses skurril erscheinende Tatsache, den Kopf und seine müden Augen strahlten.

    Ab dem Tag änderte sich die Stimmung. Marion war nicht mehr so lange bei Silas, sondern kümmerte sich wieder voll um den Haushalt, es gab wieder geregelte Essenszeiten, und sie summte sogar bei der Arbeit. Ihre neugewonnene Fröhlichkeit sprang auch auf ihre Tochter über. Ly war wieder ganz die Alte, wollte den ganzen Tag spielen und ging mir wieder auf die Nerven. Ich war richtig erleichtert über diese Tatsache.
    Dan und ich probten mit der Band das Hochzeitslied, wobei ich sorgsam darauf achtete, Jan aus dem Weg zu gehen. Vielleicht war das nicht ganz fair, aber ich wusste es nun mal nicht anders. Ich hatte keine Erfahrungen, was das Abwimmeln von Jungs betrifft, genauso wenig wie das Anbaggern.
    Björn rief an und sagte, dass sie vorhatten, am Montag wieder in Deutschland zu sein. Bei dieser Gelegenheit erzählte Werner auch von Silas’ Unfall, erwähnte aber mit keinem Wort, dass die Ärzte Ganzkörperlähmung vermutet hatten.
    Am Sonntag dann gingen wir in die Gemeinde und dieses Mal verschlief ich ausnahmsweise nicht. Ich hörte sogar zu, weil ich fand, das Gott schuldig zu sein, nachdem er mir und den Landaus den Wunsch erfüllt hatte, Silas in Ordnung zu bringen.
    Ich hätte ja nie ahnen können, dass mich diese Predigt dermaßen mitreißen und erschüttern würde. Der Prediger war jung und er erzählte eine einfache, erfundene Geschichte, die ich niemals vergessen werde.
    „Ich möchte jetzt zu denen sprechen, die zwar von dem Opfer gehört haben, das Gott für uns Menschen gebracht hat, aber noch nie richtig begriffen haben, was es eigentlich wirklich bedeutete, ein solches Opfer zu bringen.“ Und dann begann er von einer Seuche zu erzählen, die um sich griff. Der erste Mensch starb daran und die Ärzte konnten nicht herausfinden, was es für eine Krankheit war. Dann starben mehr Menschen. Zuerst nur die, die direkten Kontakt zum ersten Opfer hatten, aber dann breitete sie sich langsam aus und forderte mehr und mehr Leben. Die Ärzte wussten nicht, was sie tun sollten, fanden keine Lösung für diese unbekannte Krankheit, die sich langsam aber sicher verbreitete. Schließlich starben die ersten Menschen in anderen Ländern mit den gleichen Symptomen. Eine Panik brach aus. Es schien, als könnte man sie nicht mehr aufhalten. Würde diese Seuche noch die gesamte Bevölkerung wegraffen? Da fand ein Arzt die Lösung. Er meinte, ein wirksames Gegenmittel herstellen zu können, wenn er eine bestimmte Sorte von Blut eines gesunden Menschen hätte. Man rief alle noch nicht Infizierten in die Krankenhäuser zur Blutentnahme auf der Suche nach dem richtigen, perfekten Blut. Man suchte und suchte, fand dieses besondere Blut aber bei keinem. Ein Mann war mit seinem kleinen Sohn anwesend und wartete, dass sie beide drankommen würden. Es war ein kluger Mann, der genau wusste, was für Auswirkungen diese Seuche haben würde, wenn man nicht bald dieses Gegenmittel entwickeln konnte. Als er mit seinem Sohn an der Reihe war, stellten die Ärzte verwundert fest, dass der kleine Junge tatsächlich diese lang gesuchte, seltene Sorte von Blut hatte, die für das Gegenmittel benötigt wurde. Man rief den Vater zu sich.
    „Wir haben herausgestellt, dass ihr Sohn genau das Blut hat, das wir brauchen“, erzählte man ihm und der Vater war glücklich, dass sein kleiner Sohn dazu beitragen konnte, die Bevölkerung zu retten. Doch als ihm die Ärzte sagten, dass sie das gesamte Blut seines Sohnes brauchen würden, war er geschockt und versucht, die Erlaubnis für die Blutabnahme seines Sohnes nicht zu geben. Doch man überredete ihn und teilte ihm mit, wie dringend das Leben des Sohnes geopferte werden müsse und wie sehr die Welt ihm dafür danken würde.
    Der Vater willigte schweren Herzens ein, opferte seinen kleinen, einzigen Sohn, den er mehr als alles andere liebte.
    „Was machen die mit mir, Papa?“, fragte der Kleine, als die Ärzte ihn zur Blutentnahme vorbereiteten. Doch der Vater konnte dieses Grauen nicht länger mit ansehen und wandte sich schmerzlich von seinem Sohn ab, um nach Hause zu gehen und zu versuchen, den Schmerz irgendwie zu verkraften.
    „Warum gehst du weg, Papa?“, hörte er die Stimme seines Sohnes. „Warum lässt du mich alleine? Ich hab Angst, bleib bei mir!“
    Der Vater konnte es nicht ertragen, lief aus dem Krankenhaus und vergoss Stunden später bittere Tränen, als man ihm mitteilte, dass die Ärzte das Blut seines Sohnes hatten.
    Er beerdigte den Kleinen Tage später und war geschockt, als außer ein paar Wenigen keiner Anteilnahme zu empfinden schien. Kein Dank, nichts kam über die Lippen der Menschen. Schon nach wenigen Tagen hatte man völlig vergessen, wer dafür verantwortlich war, dass die Menschheit außer Gefahr war.
    „Wollt ihr denn nicht mit mir um ihn trauern und euch daran erinnern, wie mein Sohn für euch gestorben ist?“, rief er, aber keiner beachtete ihn. Man war ganz einfach zu beschäftigt. Mit den eigenen Problemen, mit dem eigenen Ich.
    „Willst du das auch so machen?“, fragte der junge Prediger am Ende. „Willst du das, was Gott für dich geopfert hat, mit Füßen treten und missachten, wie diese Menschen. Willst du deinem Egoismus Vortritt geben? Diese Geschichte ist erfunden, aber sie macht es ein wenig besser greifbar für unseren menschlichen Verstand, was Gott damals getan hat, als er seinen einzigen, unfehlbaren Sohn geopfert hat. In Wirklichkeit hat Gott noch viel, viel mehr gegeben. Nicht nur das Leben auf dieser bemitleidenswürdigen Erde, sondern auch das Leben in der Unendlichkeit mit Ihm. Danke Gott dafür und nimm Sein Geschenk an!“
    Ich saß wie vom Donner gerührt da, brachte es nicht zustande, diese Geschichte aus meinem Hirn zu löschen. Ich konnte das Gefühl um einiges mehr verstehen, als noch vor fünf Wochen. Ich dachte an Silas und wie es Marion zugesetzt hatte, als ihr Taugenichts von Sohn in Lebensgefahr geschwebt hatte. Sie wäre zu einem psychischen Wrack geworden, wenn er gestorben wäre. Das freiwillig zu geben, konnte ich nicht verstehen. Marion würde das sicher nicht mal tun, wenn sie damit die Welt retten könnte und ich genauso wenig. Und dann dachte ich an diese undankbaren Menschen und konnte den Gedanken nicht ertragen, einer von ihnen zu sein.
    Gott, es tut mir so leid. So, so leid, betete ich, während ein Lied angestimmt wurde. Ich habe mein ganzes Leben lang nur Mist gebaut und darauf gespuckt, was du für mich getan hast. Ich habe deine Macht und deine Entgegenkommen missbraucht, als ich in kritischen Situationen gebetet habe und mich ansonsten einen Dreck um dich geschert habe. Ich will das nie wieder tun, ehrlich. Aber du musst mir helfen, ein neues Leben zu beginnen, weil ich es allein niemals schaffe. Ich will so werden wie Dan. So hilfsbereit, so dankbar. Bitte hilf mir! Eine Träne rann mir die Wange herunter, weil mir bewusst wurde, was für eine dummes, dummes Miststück ich gewesen war. Ich musste mich ändern. Ich wollte mich ändern.
    Daniel, der neben mir saß, sah meine Träne und begriff, was eben in mir vorgegangen war. Er lächelte erfreut und drückte mir zustimmend die Hand. Ich hatte mich noch nie in meinem Leben so erleichtert gefühlt. Es war ähnlich wie damals, als ich die hellen Strahlen der Taschenlampe in dem dunklen, gefährlichen Wald gesehen hatte, nur noch viel, viel besser!
    „You are my king“, war seitdem mein Lieblingslied.

    19. Kapitel

    „Björn, Joana! Wie schön, euch wieder bei uns zu haben.“ Marion schloss ihre Tochter und ihren angehenden Schwiegersohn in die Arme. Ich hatte diese Begrüßung zufälliger Weise mitbekommen, als ich gerade mit Ly die Treppe runter in den Flur gekommen war, um mit ihr den Schokopudding zu machen, der für das festliche Abendessen heute gedacht war. Ich stürmte mit einem erfreuten Aufschrei auf meinen braungebrannten Bruder zu und er wirbelte mich lachend herum, dann kniff er mich spielerisch in die Seite und meinte, dass ich mindestens zehn Kilo zugenommen haben musste.
    Darauf hob ich sein Shirt an und machte eine Bemerkung zu der nicht vorhandenen Speckfalte, die ich vorgab vor dem Urlaub noch nicht gesehen zu haben.
    Joana gab ich nur distanziert die Hand und brachte ein halbherziges „Hallo“ zustande. Ich wusste irgendwie, dass Gott von mir erwartete, sie zu mögen, aber ich konnte es nun mal nicht. Ihr hübsches Gesicht erinnerte mich ständig daran, dass mein Bruder nicht genug Stärke besaß, ihr zu widerstehen.
    Auch der Rest der Familie begrüßte sie herzlich und dann wurden wir aufgefordert, etwas zu Silas’ Zustand zu sagen.
    „Er ist aus dem Schlimmsten raus“, erklärte Werner. „Sobald seine Knochenbrüche verheilt sind, wird er wohl wieder auf den Beinen sein.“
    „Wir hatten gedacht, die Hochzeit zu verschieben, wenn es nötig ist“, sagte Joana mit einem kurzen Blick auf Björn, der zustimmend nickte.
    „Ich denke nicht, dass das sein muss“, stritt Marion ab. „Bis dahin wird er laut Ärzten im Stande sein, das Bett zu verlassen. Es kann sein, dass er nicht die ganze Zeit dabei sein kann, aber ich sehe nicht ein, warum ihr eure Pläne deswegen ändern solltet.“ Marion, die jetzt aus der Phase heraus war, in der sie sich ständig Gedanken um ihren Sohn machte, verhielt sich wieder wie die strenge Mutter, die das als angemessene Bestrafung für die Dummheit ihres Sohnes sah.
    „Können wir ihn vielleicht kurz besuchen?“, fragte Björn.
    „Wenn ihr wollt. Aber in zwei Stunden sind die Besucherzeiten schon rum und bis ihr in Marburg seid...“, erklärte Dan und warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr.
    „Naja, morgen ist ja auch noch ein Tag“, sagte Joana und nachdem Björn zustimmend genickt hatte, fragte sie Marion, ob sie etwas helfen könnte.
    Wir hatten den Tisch wunderschön gedeckt. Ein romantischer Kerzenleuchter mit sechzehn Kerzen prangte in der Mitte des Tisches.
    Björn pfiff durch die Zähne, als er das sah. „Wow, Schatz. Ich freu mich schon wieder unglaublich auf das deutsche Essen.“ Sie lächelte ihn zärtlich an und küsste ihn flüchtig. Ich konnte das nicht mit ansehen und versuchte, einfach wegzugucken. Irgendwie hatte ich eine innere Abneigung gegen Flirten. Es war mir sicher angeboren, ich hatte es noch nie gemocht, nicht mal bei Verheirateten und ganz besonders nicht bei meinem Bruder. Er benahm sich so albern wie ein aufgeblasener Pfau beim Balztanz um seine Angebetete.
    Ich hatte auf einmal keinen Appetit mehr auf das saftige Steak, den Hackbraten und den Thunfischsalat.
    Nach dem Essen baute Dan den Beamer im Wohnzimmer auf, um die Urlaubsbilder aus Griechenland in Übergröße an die Wand zu werfen, aber mir verging auch darauf die Lust, nach dem schon auf den ersten drei Bildern mein Bruder eng umschlungen mit Joana dastand, als wären sie aneinandergewachsen. Da es dunkel war, merkte keiner, wie ich mich leise aus dem Raum stahl. Ich hörte ihr Lachen noch draußen auf der Terrasse, als ich mich in die Hollywoodschaukel fallen ließ und ein bisschen hin- und herschwang. Ich musste jetzt erst mal alleine sein und darüber nachdenken, wie ich weiter vorgehen sollte. Ich konnte Joana schlecht mein ganzes Leben lang verachten, denn es war nun mal nicht mehr möglich, sie aus meinem Leben auszuklammern. Sie würde immer ein Teil meines Daseins sein, ganz einfach deshalb, wie sie ein Teil meines Bruders werden würde. Ich wollte mich mit aller Macht dazu zwingen, sie zu mögen, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr hasste ich sie.
    „Hey Kleines!“
    Ich hatte Björn nicht kommen hören und stieß mit dem Ellebogen an die Eisenstange der Schaukel, als ich mich erschrocken umdrehen wollte. Ich jaulte auf wie ein Hund, dem man auf den Schwanz getreten ist.
    „Der Musiknerv?“, fragte er grinsend, als er sich neben mich setzte.
    Ich nickte mit zusammengebissenen Zähnen als ich versuchte, den kribbelnden Nervschmerz in meinem ganzen Arm durch Massieren zu mindern.
    „Warum bist du weggegangen? Interessieren dich meine Erlebnisse nicht?“ Er legte den Arm um meine Schultern und ich lehnte mich seufzend an ihn.
    „Schon...“, sagte ich zögernd. „Es war nur so heiß da drin, und ich...ich musste raus.“
    „Verstehe.“ Er sah nicht aus, als ob er verstand. „Noch immer Joana?“
    „Hör zu, gib mir Zeit, ja? Gib mir etwas mehr Zeit. Ich kann sie nicht auf Kommando mögen.“
    „Ist in Ordnung, Sam.“ Er drückte mich leicht. „Vielleicht hilft es dir ja zu wissen, dass dein Bruder sie über alles liebt und dir versichern kann, dass sie das auf jeden Fall wert ist.“
    Das half mir allerdings gar nichts und ich lächelte grimmig in die Dunkelheit. „Das ist ja die Hauptsache. Ich muss schließlich nicht mit ihr das Bett teilen und bei ihr bleiben bis an mein Lebensende.“
    Er puffte mich spielerisch in den Oberarm. „Du hast dein freches Mundwerk also noch immer nicht verloren. Und ich hatte schon gehofft...“
    „Was? Das sich deine Chaos-Schwester über Nacht in ein braves, stilles Mauerblümchen verwandelt? Das glaubst du doch selbst nicht!“
    „Über Nacht nicht, aber sechs Wochen sind ’ne Menge und ich dachte, unter dem Einfluss von den Landaus...“
    „Ach, sind die jetzt meine Babysitter oder wie?“ Ich sah ihn gespielt beleidigt an, fuhr dann aber, als mein Scherz bei ihm nicht anschlug, ernst fort: „Ich mag die Landaus Björn, sehr. Das hätte ich nie gedacht, aber man kann nicht anders als sie zu mögen, und ich glaube schon, dass ich mich verändert habe. Vielleicht ist das nicht so direkt sichtbar, aber innerlich“, ich klopfte mir auf die Brust, an die Stelle wo mein Herz lag, „merk ich’s. Hätte ich mich nicht verändert, würde ich mich jetzt noch nicht mal bemühen, Joana zu mögen.“
    Er lächelte zufrieden und wir saßen noch eine Weile da und sahen uns den Sternenhimmel an, bis wir schließlich wieder ins Haus gingen. Ich entschuldigte mich dann und legte mich schon früher als die anderen ins Bett.

    „Ich mach mal ’ne kleine Tour mit dem Fahrrad, okay?“, rief ich Björn im Wohnzimmer zu, als ich mir meine Jacke anzog und gleichzeitig den Fahrradschuppenschlüssel aus dem Schlüsselkasten raussuchte.
    Weder Dan noch Ly waren da (es sind ja bekanntlich vielbeschäftigte Leute) und so hatte ich mich entschlossen, zu Silas ins Krankenhaus zu fahren. Er war jetzt ins Limburger Krankenhaus verlegt worden, da sein Zustand sich drastisch verbessert hatte, und er nicht mehr in Gefahr schwebte. Trotzdem er noch nicht das Bett verlassen konnte, war er in der Lage, normal mit jemandem zu kommunizieren. Außer bei diesem einen Mal, als er aufgewacht war, war ich nicht mehr bei ihm gewesen. Ich wollte allerdings nicht, dass jemand von meinem Ausflug zum Krankenhaus erfuhr. Den Grund wusste ich selbst nicht so genau.
    Ich fuhr davor jedoch zu Nico. Wenigstens einen brauchte ich zur seelischen Unterstützung.
    „Ist Nicolette da?“, fragte ich, als eine hübsche Frau mit Louis auf dem Arm auf mein Klingeln öffnete.
    „Moment, ich rufe sie“, erwiderte sie freundlich mit dem typisch französischen Akzent, der mich unangenehmer Weise an die Schule erinnerte. Ich winkte dem kleinen Jungen hinterher, der mich mit großen Augen anstarrte.
    „Sam?“, Nico war anscheinend überrascht, mich zu sehen. „Woher weißt du, wo ich wohne?“
    „Och, hab bloß Marion ein bisschen ausgequetscht. Hast du vielleicht Lust, mit mir zum Krankenhaus zu fahren?“
    „Willst du zu Silas?“
    Ich musste über die seltsame Betonung lächeln, mit dem sie seinen Namen aussprach. „Ja“, antwortete ich ihr. „Aber nicht unbedingt ganz alleine.“
    „Wenn du willst, warum nicht? Einen Moment, ich sag nur schnell bescheid.“ Kurz darauf kam sie zurück, holte sich aus der Garage ihr Rad und wir fuhren los. Wir hielten nur kurz an einer Apotheke an, und ich kaufte ihm sündhaft teure Drops, weil ich mich nicht traute, ihm irgendwelche ungesunden Bonbons aus dem Schlecker oder so mitzubringen. Für einen Kranken konnte aus der Apotheke ja nichts falsch sein.
    Beim Krankenhaus angekommen, suchten wir zehn Minuten nach dem richtigen Zimmer und liefen ein paar mal hin und her, bevor wir die Nummer fanden, die ich mir gemerkt hatte, als man sie uns telefonisch mitgeteilt hatte.
    „Geh du lieber alleine rein“, sagte Nico, als wir unschlüssig vor den Tür standen.
    „Wieso?“
    „Ich glaub es ist besser so“, erwiderte sie bestimmt und ich nickte. „Okay.“ Ich klopfte leise und öffnete die Tür.
    Drinnen war es ziemlich still. Nur der Fernseher, der an der Decke angebracht war, lief leise. Alle drei Betten waren besetzt und ich entdeckte Silas in dem letzten. Er runzelte die Stirn, als er mich sah.
    „Hi“, sagte ich nur lächelnd und nahm seine Hand, um sie leicht zu schütteln, aber nur leicht, denn vielleicht brach ich ihm ja noch was. Irgendwie hatte ich schon immer das Gefühl gehabt, die Leute im Krankenhaus wie Porzellan behandeln zu müssen.
    „Was machst du hier?“, fragte er immer noch verblüfft.
    „Oh, na ja, ich wollte mal ein bisschen Fernseher gucken“, sagte ich scherzhaft. Er lächelte schief. Die Schwellung über seinem einen Auge war schon so weit zurückgegangen, dass er es halb öffnen konnte.
    „Warum besuchst du mich?“
    „Weiß auch nicht. Das macht man nun eben mal so.“ Ich kramte in meinem Rucksack. „Hab dir ein bisschen was mitgebracht.“ Ich holte die Drops hervor und legte sie neben mich auf eine Ablage, wo schon ein netter Blumenstrauß prangte. „Wer hat dir denn den geschenkt?“, fragte ich. Wie konnte man nur so jemandem wie Silas Blumen schenken?
    „Björn und Joana“, antwortete er lächelnd und ich verzog das Gesicht. „Das ist ja mal wieder völlig typisch. Frisch Verliebte denken einfach immer romantisch, egal in welcher Situation.“ Ich beförderte meinen Ipod aus dem Rucksack. „Hier, der ist, damit dir nicht langweilig wird. Sind Worshiplieder drauf. Dein Metallica-Mist wollte ich nicht unbedingt nehmen. Schließlich musst du ja klaren Kopf bewahren. Dann hab ich noch ein Photo. Damit du nie vergisst, wer alles auf der Welt für dich tun würde.“ Ich stellte, verfolgt von seinem verwunderten Blick, einen Rahmen mit einem Photo seiner Familie auf das Tischchen neben seinem Bett. Die Landaus strahlten einem von da entgegen und mein Blick blieb einen Moment darauf hängen. „Ich würde für so ’ne Familie morden.“
    Er sah verlegen zur Seite. In der kurzen Zeit, die er jetzt im Krankenhaus lag, hatten ihn fast schon alle Familienangehörigen, von der Uroma bis zum jüngsten Großcousin, besucht. Ich hielt ihm eine Bibel entgegen. „Damit du was vernünftiges zum Lesen hast, wenn dir trotz den Liedern langweilig wird.“
    „Danke“, erwiderte er zu meinem Erstaunen, als er die Bibel nahm. „Das hättest du nicht machen müssen.“
    „Ich weiß. Wie geht’s dir?“, fragte ich dann und setzte mich auf einen Stuhl neben dem Bett.
    „Hör zu Sam. Ich...es tut mir unglaublich Leid, was ich gemacht habe. Das mit Nadine. Dass ich ihr gesagt habe, sie soll diese Dinge über dich verbreiten.“ Er blickte auf seine Hände und wartete auf meine Antwort.
    „Ich hätte es dir normalerweise nie verziehen. Aber ich hab mal so ’ne Geschichte gehört von einem König, der seinem Schuldner... Naja, ist ja auch egal, auf jeden Fall hat es mich dazu gebracht, anders zu denken. Die Dinge aus einer andren Perspektive zu sehn. Ich hab’s praktisch schon vergessen.“
    Er sah mich an als käme ich vom Mars, dann lächelte er. „Wollen wir nicht vielleicht unser Kriegsbeil vergraben? Sind wir wieder Freunde?“ Er reichte mir seine Hand und ich schüttelte sie mit ernster Miene. „Okay, da wir jetzt wieder Kameraden sind, kann ich dir ja sagen, dass deine Fische eine echte Delikatesse waren.“
    Er lachte amüsiert und ich stellte fest, dass er Daniel wirklich unglaublich ähnlich war. Selbst jetzt, wo er noch vollkommen entstellt aussah.
    „Ich hatte gehofft, dass durch meine Dummheit wenigstens ein bisschen was Gutes rausgekommen ist, und Daniel begriffen hat, dass ihr zueinander gehört.“
    Ich puffte ihm in die Schulter und schüttelte den Kopf. „Fehlanzeige. Er hat Nadine kein Wort geglaubt, auch nicht das mit dem Telefonat.“
    Silas schlug verzweifelt die Hände vor das Gesicht. „Mein Bruder ist ja wirklich selten dämlich. Er sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.“
    „Hey, ich will, dass das auch so bleibt, klar? Er soll es nie erfahren.“
    „Wenn du das willst.“ Er zuckte mit den Schultern, aber ich sah das Bedauern in seinen Augen.
    „Wie ist es zu dem Unfall gekommen?“, fragte ich dann unvermittelt. Diese Erklärung war er mir schuldig, fand ich. Außerdem brauchte ich dringend ein Themawechsel.
    Er seufzte, erzählte dann aber: „Nachdem ich mich mit Daniel geprügelt hatte, bin ich weg zu einer Freundin. Wir haben gefeiert und ich hab mich bis zum Anschlag vollaufen lassen. Dabei hab ich meinen Hass immer mehr aufgebaut, bis ich schließlich Monika, meiner Freundin, vorschlug, abzuhauen. Ich sagte, ich könne die Autoschlüssel besorgen und so. Naja, sie war auch besoffen und fand die Idee gut. Ich hab mir nachts die Schlüssel geholt und wir sind mit dem Mercedes weg. Es war dunkel und sie ist Slalom gefahren, aber wir haben’s irgendwie bis zur Landstraße und raus aus Limburg geschafft, und dann war da der verdammte Baum. Ich hab ihn kommen sehn und das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist ein Schrei neben mir und dann Stille. Ich hab viel geträumt und in meinem Kopf war so ein Durcheinander, das kannst du dir nicht vorstellen. Gedankenfetzen, kreuz und quer, die irgend ein wirres Zeug zusammen ergaben...“ Er schüttelte den Kopf bei den Gedanken. „Das nächste, an das ich mich erinnere, sind die Stimmen von euch um mich rum. Dann Mama.“ Mir fiel auf, dass er nicht Marion sondern Mama sagte. Seine Augen wanderten auf das Photo auf seinem Tischchen und sein Blick war voller Reue. „Ich erinnere mich, dass sie immer wieder das Selbe sagte, aber ich hab es irgendwie nicht verstanden. Ich hab zwar die Worte gehört, aber nicht gewusst, was sie bedeuten. Bis ich dann erst mal kapiert habe, dass ich meinen Finger bewegen sollte und bis ich registriert habe, welchen.“
    „Wir hatten so einen Schiss, als du nicht reagiertest.“
    Er sah melancholisch aus dem Fenster. „Ich hätte tot sein sollen“, murmelte er dann. „Medizinisch, logisch und gerechter Weise hätte ich tot sein sollen. Da gibt es aber anscheinend noch was anderes...“
    Ich wusste was er meinte. Es gab etwas, was weder auf Logik noch auf Medizin oder Gerechtigkeit basierte. Etwas Höheres.
    „Ich hab so viel Scheiße in meinem Leben gebaut. Warum lebe ich noch? Monika ist tot, wegen mir, meine Mutter ist kaputt, wegen mir. Alles wegen mir. Es wäre so eine perfekte Familie ohne mich.“ Er sah wieder auf das Photo, auf dem er nicht drauf war. Ich hatte kein neueres Photo gefunden, wo er mit dabei war.
    „Das hab ich zuerst auch gedacht“, gab ich offen zu und er sah mich verwundert an. „Ich hab mir überlegt, was für eine vollkommene Familie sie nur ohne dich wären. Aber es gibt in einer Familie immer Dinge, die Probleme auslösen, und wenn du das nicht gewesen wärst, dann wäre diese Familie nicht so zusammengewachsen. Ich glaub’, sie halten wegen dir so zusammen, Silas. Die Probleme haben sie aneinander geklebt und ich glaub’, du kannst dich noch dazukleben. Ich bin fast auch dabei. Aber ich bin nun mal kein richtiges Familienmitglied.“
    „Das kannst du ganz einfach werden, wenn du meinen Bruder heiratest...“ Er lächelte jetzt wieder. „Er wird seine erste Freundin sicher heiraten. Er hat nämlich öfter betont, dass er nur einmal in seinem Leben eine Frau lieben wird. Und er würde sicher keine Beziehung eingehen, von der er nicht wüsste, dass sie hält. Also los, schnapp ihn dir!“
    Ich war verwundert über das, was ich soeben hörte und mir wurde schwindelig bei dem Gedanken, dass Dan mich bis ans Lebensende lieben würde, aber das war einfach nicht realistisch. „Ach komm, hör schon auf. Du bist ja albern.“
    „Hey, demnächst bekommst du eine Landau in die Familie, jetzt brauchen wir einen Ausgleich dafür. Landaus geben niemals etwas, ohne eine Entschädigung dafür zu bekommen.“
    „Das glaube ich dir nicht. Ich hab’ deine Familie gut genug kennen gelernt.“
    Es herrschte eine lange Pause, und ich betrachtete die Personen, die in den anderen Betten lagen. Sie starrten alle mit Teilnahmslosigkeit auf den Bildschirm des Fernsehers, wo gerade irgend ein deutscher Film gezeigt wurde. Es war jedoch so leise gestellt, dass man nicht verstand, was die Schauspieler sagten. Ich bemitleidete sie plötzlich alle. „Silas, was machst du jetzt eigentlich?“, fragte ich plötzlich.
    „Du meinst, wenn ich hier raus bin?“
    Ich nickte.
    „Ich werd’s noch mal mit Schule versuchen. Ich hab viel nachgedacht, weißt du. Wenn man so viel Zeit hat...Naja, ich hab mir überlegt, meinen Traum zu realisieren, den ich schon hatte, als ich fünf war. Ich möchte in der medizinischen Forschung arbeiten. Medikamente entwickeln, sie prüfen und so weiter. Es gibt so viele Menschen die sterben, nur weil es keine Medikament gegen ihre Krankheit gibt. Aids, Krebs, Lepra und so weiter.“
    Bei seinen Worten war mir der Unterkiefer heruntergeklappt. „Mo-moment mal! Du willst…“ Ich musste erst mal einen tiefen Atemzug tun. „Dafür muss man beim Medizin- und Biologiestudium perfekt abschneiden, soviel ich weiß.“
    Er grinste. „Sieh mich nicht so an. Nur weil ich drogenabhängig war und es nicht lassen konnte, mich unter den Tisch zu saufen, heißt das noch lange nicht, dass ich dumm bin.“
    „Das heißt?“
    „Ich war immer der Jahrgangsbeste auf dem Gymnasium“, sagte er schulterzuckend, als wäre das völlig normal. „Auch wenn sich das jetzt unglaubwürdig anhört, ich war ein glatter Einserschüler. Ich hab’...ich hab’ mich nur irgendwann schleifen lassen, mir hing das einfach zum Hals raus. Es war nicht so, dass ich viel gelernt habe, ich hab’ den Stoff ohne Probleme kapiert, aber ich war nie einverstanden damit. Lange Zeit nicht. Dann hab ich Leute kennen gelernt, die falschen Leute, und ab dann hab ich extra meine Noten in den Keller sinken lassen und mich gleich mit.“
    Ich war nicht fähig, ein Wort zu sagen. Silas und ein Streber? Dazwischen lagen Welten, nein mehr noch, ganze Sonnensysteme, mindestens, wenn nicht sogar Galaxien...
    „Naja, ist ja auch unwichtig. Wichtig ist, dass ich mir jetzt wieder Mühe geben werde.“
    Ich nickte einfach nur und schluckte ein paar Mal. „Das...das ist wirklich, wirklich bewundernswert.“ Mehr ging nicht.
    „Danke für alles Sam, okay? War echt nett von dir, mich zu besuchen, du hast bei mir noch was gut“, wechselte er dann plötzlich das Thema.
    „Keine Ursache.“ Ich merkte erst jetzt, wie müde er auf einmal aussah. Ich hatte ganz vergessen, dass er ja noch nicht ganz bei Kräften war. „Ich geh’ dann jetzt lieber, gute Besserung noch.“ Ich drückte seine Hand und verließ das Zimmer, wobei ich das Gefühl hatte, jemand hätte mein Hirn angebohrt und alles hinausfließen lassen. Ich wusste einfach nicht, was ich denken sollte. Prof. Dr. Silas Landau. Ich schüttelte verwirrt den Kopf, um wieder klar zu werden. Draußen wartete noch immer Nico.
    „Und wie war’s?“
    „Besser, als ich es jemals gehofft hatte. Ich glaube, er wird sich ändern.“ Das war die Untertreibung des Jahres. Gott, jetzt verstehe ich, was das sollte. Jetzt verstehe ich, warum du uns so leiden gelassen hast. Ich musste bei dieser unglaublichen Erkenntnis laut lachen, so dass Nico mich erstaunt ansah. Das, was mich vorher so wütend und verzweifelt, was das Familienglück beinahe zerstört hatte, war das Einzige gewesen, was Silas noch retten und verändern konnte. Wie unglaublich raffiniert!

    „Ich hatte an einen roten Rosenstrauß gedacht. Und der Blumenschmuck in dem Festsaal sollte natürlich dazu passen, vielleicht noch mit cremefarbenen Rosen. Als Hochzeitsauto wünschen wir uns einen alten, weißen VW-Käfer. Ich habe schon einen hervorragenden Floristen, Mama, er wird dir gefallen.“ Joana redete ohne Pause, als sie den Teig für die Spinattaschen auswalkte. Ihre Haare hatte sie locker im Nacken zusammengebunden und einige Strähnen hatten sich aus der Frisur gelöst. Ich spülte die Schüsseln, die sie und Marion fürs Kochen benutzt hatten und war gezwungen, mir ihren Redeschwall anzuhören. Wenn sie immer so viel redet, schoss es mir durch den Kopf, dann kann es ja heiter werden. Schließlich musste ich mit ihr unter einem Dach wohnen.
    „Ich habe mich in Griechenland schon nach Hochzeitskleidern umgesehen, aber irgendwie sind die da alle so einfallslos. Nicht, dass ich jetzt an ein Kleid mit Schleifchen und Röschen gedacht hätte“, sie lachte, bei der Vorstellung, in so einem Kleid zu heiraten, heiter auf, „aber ich habe eine andere Vorstellung von einem traumhaften Kleid als die Griechen. Meinst du, ich sollte es mit bei einem Schneider versuchen, Mama?“
    Marion, die den Spinat zubereitete, schmunzelte über die Ereiferung ihrer Tochter. „Du hast eine Figur, mit der dir jedes Kleid passen würde. Warum siehst du dich nicht mal hier in der Nähe um?“
    „Ach und Mama, wir hatten schon den Sitzplan aufgestellt“, kam sie schon zum nächste Thema, ohne auf die Bemerkung ihrer Mutter weiter einzugehen. „Würdest du ihn dir bitte noch mal ansehen, vielleicht kannst du ja noch Änderungen vornehmen. Die Druckaufträge für die Einladungen und die Tischkärtchen sind auch schon aufgegeben und die Sachen müssten jeden Tag kommen. Ach und wir haben jetzt übrigens das perfekte Hochzeitslied. Weißt du, ich hatte daran gedacht, ein schönes Lied spielen zu lassen, wozu wir tanzen werden. Was haltet ihr von „When you say nothing at all“ von Ronan Keating?“ Sie fragte zwar, aber ich wusste, dass sie es sowieso nehmen würde, egal was wir dazu sagen würden.
    „Ich schmelze bei diesem Lied jedes Mal dahin und es hat so eine wundervolle Melodie.“ Sie summte leise und wiegte ihren schlanken Körper im Takt hin- und her. „Ich hatte dabei so an Daniels Band gedacht, und wenn er dazu singen könnte...Das wäre ein Traum! Ich würde mir das von Danny unbedingt wünschen. Er hat genau die richtige, mitreißende Stimme dafür.“
    Darin musste ich ihr allerdings Recht geben, und ich wurde wieder daran erinnert, dass ich mit ihm auf dieser Hochzeit vor knapp hundertfünfzig Leuten stehen, von denen ich vielleicht gerade Mal ein viertel kannte, und mit ihm singen würde. Bei dieser Vorstellung begann mein Herz jetzt schon wie wild zu schlagen.
    Die Hochzeitsvorbereitungen liefen jetzt schon auf Hochtouren, da mein Bruder natürlich völlig überstürzt heiraten musste und zwar unbedingt. Wir hatten uns im Laufe der Woche schon mehrere Saale angesehen, aber immer hatte Joana daran etwas auszusetzen gehabt. Warum mietete sie sich nicht gleich das Weiße Haus oder wie wär’s mit dem Opera House? Wie auch immer, sie hatte sich dann doch für das erste Angebot entschieden. Für den Festsaal eines Restaurants. Was wollte sie mehr? Der Raum war traumhaft. Fenster vom Boden bis zur Decke, eine Bühne und riesige Kronleuchter. Sie hatte es doch tatsächlich als zu übertrieben bezeichnet, aber wir hatten sie umgestimmt, es zu nehmen, und ihr war nichts anderes übrig geblieben, so viele Saale gab es in Limburg auch wieder nicht. Sie hatte eine ganze Kolonne von Floristen und Kellnern engagiert, die sich um die Hauptsachen kümmerten. Liebe Zeit, wir hatten doch noch gute vier Wochen Zeit.
    Und dann kam der letzte Tag der Ferien. Nach dem Gottesdienst gingen wir essen. Wir aßen griechisch und ich stellte fest, dass es fast so gut war wie chinesisch. Mir steckte ein dicker Kloß im Hals, als ich daran dachte, dass ich von hier weg und zurück in die Schule musste. Ich erinnerte mich, wie sehr ich mich dagegen gesträubt hatte, herzukommen, und jetzt waren es die schönsten Ferien meines Lebens geworden. Ich hatte vielleicht nicht großartig viel unternommen, aber es war trotzdem einmalig gewesen. Ich dachte, gleich heulen zu müssen, als ich mich von allen verabschiedete und sie mich der Reihe nach in den Arm nahmen.
    „Ich werde dich vermissen“, sagte Ly und machte ein trauriges Gesicht. Da wurde mir klar, wie sehr ich sie ebenfalls vermissen würde. Sie hatte mich sechs Wochen am laufenden Band genervt, aber sie würde mir trotzdem fehlen.
    „Hey, vielleicht kommst du mal in den nächsten Ferien zu uns, wenn unsere Geschwister verheiratet sind, dann spiel ich mit dir was du willst, okay?“
    Sie nickte und umarmte mich. Dan flüsterte mir ins Ohr, dass er mich abholen würde, wenn wir noch mal proben mussten, und erinnerte mich, dass ich nach Bildern von Björn suchen sollte, die sich gut für seine Photopräsentation eigneten.
    Dann fuhren wir. Sie standen alle auf der Straße und winkten uns hinterher, und ich hing mit dem ganzen Oberkörper aus dem Fenster und winkte zurück, bis ich sie nicht mehr sehen konnte. Ich plumpste erschöpft in meinen Sitz zurück und starrte draußen auf die Straße, die von den Laternen hell erleuchtet wurde.
    Lange sagte keiner ein Wort. Ich musste nur an die vergangene sechs Wochen denken und konnte meine Gefühle im Moment nicht in Worte fassen. In mir war spürbar eine Veränderung vorgegangen. Diese sechs Wochen hatten mich so sehr verändert, wie es die letzten sechs Jahre nicht geschafft hatten. Ich fühlte mich nicht mehr einsam. Es war so, wie Dan gesagt hatte, mit Gott war man nicht alleine, aber ich beneidete Björn jetzt trotzdem. Er würde in seinem Leben immer jemanden haben, einen Menschen. Und er hatte Glück mit seiner Verlobten, dass musste ich auch zugeben. Ich war mir sicher, nie jemanden zu heiraten, wer würde mich schon wollen? Ich war ärgerlich über das Selbstmitleid, das mich so plötzlich überfiel, aber meine Stimmung war im Moment so seltsam melancholisch.
    „Björn meinst du...meinst du, ich hab eines Tages auch mal so ein Glück wie du?“
    Björn sah mich an, verwundert über meine seltsame Frage. „Inwiefern?“
    „Dein Gesicht, du strahlst nur noch, am laufenden Band. Das muss doch ein unglaubliches Gefühl sein, oder?“
    „Na, ich denke du kennst das Gefühl auch, oder?“ Er grinste plötzlich so spitzbübisch.
    „Häh, was meinst du?“
    „Das Gefühl, dass einem zum Lächeln bringt. Ich hab diesen Gesichtsausdruck auch an dir bemerkt, in ganz bestimmten Momenten.“
    „Und die wären?“ Ich sah ihn scharf an.
    „Och.“ Er zuckte mit den Schultern. „Kann sein, dass ich mich auch getäuscht hab.“ Plötzlich wechselte er das Thema: „Daniel ist ein netter Kerl, stimmt’s?“
    Plötzlich begriff ich und ich musste laut loslachen. „Björn du bist so ein kleiner, dämlicher, hinterhältiger...“
    „Was?“
    „...verliebter Blindfisch. Wie willst gerade du so was behaupten? Das einzige was du siehst, ist höchsten das rosarote Wölkchen sieben, okay? Also sag du mir nichts von wegen gesehen zu haben, dass ich verliebt bin.“
    „Hey, unterschätz mich nicht, ja? Ich hab dich doch ganz genau beobachtet Schwesterherz, du kannst mir absolut gar nichts vormachen.“ Er lachte schadenfroh, als wäre er stolz darauf, mich entlarvt zu haben.
    „Ach ja Schätzchen, wie gefällt es dir übrigens, dass ich deinen zukünftigen Schwiegereltern von deinem Badehosenflop erzählt habe?“
    Er schnappte entsetzt nach Luft und wäre fast in die Leitplanke gefahren. „Nein, du hast ihnen nicht von dem Badehosenflop erzählt!“
    „Oh doch, verlass dich drauf. Das vergess’ ich nie, niemals, als du nach dem Kopfsprung vom Fünfmeterbrett wieder aufgetaucht bist und neben dir deine Badehose schwamm.“ Ich konnte nicht mehr vor lachen.
    „Sam, ich bring dich um, gleich bring ich dich um, du Miststück. Warte nur bis wir zu Hause sind...“


    20. Kapitel

    „Fehlt jemand?“ Frau Gröschlers Augen blickten prüfend über den Rand ihrer Lesebrille und blieben an mir hängen. „Sogar Samira da. Wie kommt das?“, bemerkte sie spitz.
    „Entschuldigen Sie, aber wie kommen Sie zu der Annahme, dass ich fehlen sollte?“, gab ich zurück und gab mir Mühe, verwundert auszusehen.
    „Reine Intuition“, sagte sie und ihr Mund verzog sich zynisch.
    „Liege ich richtig in der Mutmaßung, dass Ihren Intuitionen Vorurteile vorausgehen, Frau Gröschler, oder irre ich mich da?“
    Ihre Lippen wurden schmal. So kannte sie Samira Schäfer gar nicht. „Na ich denke, ich habe da so meine Gründe.“
    „Würde ich Ihre Gründe zunichte machen, wenn ich Sie um eine zweite Chance bitten würde?“
    Sie starrte mich an, als käme ich vom Mond und eigentlich fühlte ich mich auch so. Aber ich würde es wohl bei ihr für immer verschissen haben, wenn ich nicht was unternahm.
    „Nun, einen Versuch ist es sicher wert.“ Ihr Gesicht glättete sich, als sie mich mit einem seltsamen Erstaunen musterte. „Fang doch mal mit der Widerholung der letzten Stunde vor den Ferien an.“ Sie sah mich herausfordernd an „Erzähl mir etwas über die Restauration, den sozialen Wandel und die Revolution in Deutschland im Jahr 1815.“
    Jetzt dachte sie wohl, sie hätte mich in die Enge getrieben. Ich überlegte kurz, brauchte aber nicht lange, um mich wieder zu erinnern. Dann leierte ich ihr von A bis Z alles über das Thema herunter und bei jedem Satz wurden ihre Augen größer. Ich hörte das Getuschel hinter mir, achtete jedoch nicht im Geringsten darauf. Als ich fertig war, hatte sie ihre Brille abgenommen und sah mich perplex an. „Das... ähm, das war gar nicht schlecht.“
    Ich wusste, dass es gut war. Ich hatte die Daten im Kopf gespeichert wie auf einer Computerfestplatte und hatte sie einfach wieder abgerufen. Ich war selbst erstaunt, dass ich mich an alles noch so gut erinnerte.
    Frau Gröschler fing sich wieder und fuhr mit dem Unterricht fort, aber ich spürte fast die ganze Stunde lang ihren Blick auf mir.
    In der Pause ging ich zu Elm rüber, der ganz allein auf einer Bank saß und hoffte, dass sein Brötchen nicht die Aufmerksamkeit seiner Klassenkameraden auf sich zog. Er war anscheinend immer noch wütend auf mich.
    „Hey, Elm“, rief ich ihm schon von weitem zu und ließ mich dann neben ihn fallen. „Puh, ich hab dich überall gesucht.“
    „Warum denn? Jetzt wo du einen Freund hast, brauchst du mich doch nicht mehr“, gab er brummig zurück, wobei er mich nicht mal ansah.
    „Bist du bescheuert? Wer sagt denn was von einem Freund? Hör auf dich selbst zu bemitleiden. Es tut mir ja auch leid, dass ich dich damals so zusammengeschissen hab.“
    Er sah mich plötzlich neugierig an. „Sam, was ist mit dir nicht in Ordnung? In Geschichte und Chemie hast du voll abgestaubt. Ist das Intelligenzpflänzchen in deinem Hirn aufgekeimt oder was?“
    Ich sagte nichts, zuckte mit den Schultern und sah auf meine von den Pfützen nassen Schuhspitzen.
    Plötzlich änderte sich sein fragender Blick in Entsetzen. „Nee, Sam das glaub ich jetzt nicht. Sag bloß, du hast uns alle die ganze Zeit über mit deiner Dummheit verarscht.“
    Ich sagte immer noch nichts.
    „Ey, bist du wahnsinnig geworden?“
    „Mathe kann ich aber echt nicht“, verteidigte ich mich kleinlaut.
    „Wow, das ist ja echt ein toller Trost. Mann, ich glaub’s nicht. Die ganze Welt hält dich für so’n Idiot, der grad so am Abgrund balanciert und es nur knapp schafft und in Wirklichkeit schlummert in dir ein Genie.“
    „Jetzt übertreib’s nicht. Ich bin selbst erstaunt, dass ich das alles kann. Ich glaube, dass ich’s schon immer gekonnt hätte, wenn ich es gewollt hätte.“ Ich merkte in diesem Augenblick, dass Silas und ich gar nicht so verschieden waren.
    „Du wolltest schlecht sein?“
    Ich zuckte mit den Schultern. „Ich wollte mich nicht anstrengen.“
    „Nur in den Kursen, wo wir Frau Kaiser haben. In Bio und Physik.“ Er nickte verstehend. „Und was hat dich umgestimmt, dir auch in den anderen Fächern Mühe zu geben?“ Er wartete auf eine Antwort und als ich nichts sagte, kam er von selbst drauf: „Der Typ, stimmt’s?“
    „Er hat mich höchstens überzeugt, aber ändern konnte er mich nicht. Geändert wurde nämlich was tief in mir drinnen.“
    Er biss von seinem Brot ab, ohne den Blick von mir zu nehmen. „Naja, wenigstens muss ich dir keine Nachhilfestunden mehr geben.“ Er hielt im Kauen inne. „Warte mal! Ich hab dir ja nie Nachhilfe gegeben, außer in Mathe.“ Es gongte zur Stunde und er folgte mir, kopfschüttelnd über seine Dummheit, mein Spielchen erst jetzt bemerkt zu haben, ins Klassenzimmer.

    Das erste, was ich zu Hause machte, war aufräumen. Ich sagte unserer Putzhilfe ab und machte alles selbst. Ich schmiss alles aus meinem Zimmer, was ich sowieso nicht brauchen würde und saugte das ganze Haus. Sogar die Räume, die nie benutzt wurden, wie Mamas und Papas Schlafzimmer. Ich kramte Mamas alten Schmuck hervor, den wir behalten hatten, lächelte still vor mich hin, als Erinnerungen wieder hochkamen und wunderte mich, dass ich dabei nicht heulen musste. Mama, dachte ich, du wärst jetzt sicher glücklich wenn du mich sehen könntest.
    Dann ging ich sogar raus und mähte den Rasen. Das machte ich normalerweise nur, wenn Björn mich zwang. Ich wusste selbst nicht so genau, was in mich gefahren war, ich hatte einfach das dringende Gefühl, etwas sinnvolles tun zu müssen.
    Ich machte Björn Spagetti und ging in mein Zimmer zurück, um mir noch ein paar Dinge anzusehen, die ich in der Schule nicht verstanden hatte. Ich war schon mit allem fertig, als Björn immer noch nicht da war. Anscheinend machte er Überstunden. Mal ganz ehrlich, das hätte ich auch von ihm erwartet, wenn ich sein
    Chef wäre. Schließlich hatte er sechs Wochen Urlaub am Stück gemacht.
    Ich sah auf das schnurlose Telefon, das auf meinem Bett lag, griff danach und sah es einige Zeit lang an. Okay, jetzt hatte ich nicht nur in mir, sondern auch in meinem Zimmer Ordnung gemacht, aber da gab es noch was, was ich dringend bereinigen sollte.
    Es klingelte fünfmal, bis endlich jemand abnahm.
    „Oma?“
    An der andren Leitung herrschte einen Moment Stille. Meine Großmutter überlegte wohl gerade fieberhaft, welche Person sie anrufen konnte, die sie mit Oma ansprach. Ich und Björn waren ihre einzigen Enkel, aber ich hatte noch nie ein richtiges Gespräch mit ihr geführt.
    „Samira?“, fragte sie dann ungläubig.
    „Ja, hi ich bin’s. Ich ähm, wollte dich fragen, wie’s dir geht.“
    Wieder Stille. Sie musste sich wohl erst Mal von ihrem Schock erholen und sich hinsetzten.
    „Gut“, antwortete sie dann zögernd. „Und selbst?“
    „Oh, na ja, ich habe gerade großartige Ferien bei der zukünftigen Familie von Björn verbracht. Also bei der Familie seiner Verlobten, Joana. Das heißt, sie selbst war nicht da, sie war nämlich gerade mit ihm in Griechenland, aber sie hat noch zwei...ähm drei Geschwister zwei Brüder, die Zwillinge sind und eine kleinere Schwester, natürlich auch Eltern und...“ Ich musste erst mal Luft holen, aber als ich weiter sprechen wollte, hatte ich den Faden verloren. „Naja, ist vielleicht nicht so interessant“, sagte ich dann kleinlaut und biss mir auf die Lippe, weil mir bewusst wurde, wie albern ich mich gerade benahm. Sie musste denken, ich wäre zurückgeblieben.
    „Ja ich...ich habe Björns Verlobung mitbekommen. Ich habe ja die Hochzeitsanzeige bekommen.“
    „Und wirst du kommen?“, fragte ich gespannt.
    „Naja, ehrlich gesagt hielt ich es für besser, nicht zu erscheinen.“
    „Warum nicht? Ich meine, es wäre doch sicher schön und...na ja immerhin heiratet dein einziger Enkel. Ich will dir keine Vorwürfe machen, aber ich... wir würden uns unheimlich freuen, und es würde uns viel bedeuten, wenn wir...“ Ich kniff die Augen zusammen und suchte verzweifelt nach dem richtigen Ausdruck. „Wenn wir diesen sinnlosen Streit vergraben könnten. Bei Landaus, also der Familie von Björns Verlobten, da hab ich nämlich richtig begriffen, was es bedeutet, eine Familie zu sein. Man geht durch Freude und Leiden und...und nimmt die Hürden des Lebens gemeinsam, dann sind sie nämlich viel einfacher zu überwinden. Weißt du, die Landaus haben eine riesige Familie und jeder mag jeden, Streit gibt es bei denen praktisch gar nicht.“ Ich machte wieder eine kurze Pause, um zu überlegen, was ich als nächstes sagen sollte, da es am anderen Ende ruhig blieb. „Ich glaube die Landaufamilie sind fast drei viertel der Hochzeitsgäste. Ich hatte gedacht, da es auf unser Seite sowieso so wenige Familienangehörige gibt, könnten vielleicht alle kommen, dann würde...es würde so schön sein.“
    Lange Pause.
    „Ich und dein Großvater werden darüber nachdenken“, sagte sie dann leise und ihre Stimme klang so müde. Vielleicht hatte es mit diesem endlosen Streit zu tun, der diesen Eindruck bei ihr hinterließ.
    Ich wiederholte dieses Gespräch bei allen meinen Tanten und wenn niemand ans Telefon ging, sprach ich auf den Anrufbeantworter. Das Ergebnis war nicht gerade erfreulich. Keine hatte mir richtig zugesagt. Alle hatten entweder was anderes vor oder redeten sich heraus, in dem sie sich über die Entfernung beklagten, die zwischen uns lag. Aber zum Glück hatte auch niemand direkt abgesagt. Ich wollte das Björn nicht antun, dass auf seiner Hochzeit keine seiner Verwandten erschienen. Es sollte der schönste Tag seines Lebens werden. Ich wollte nicht, dass er das Gefühl haben musste, er sei seinem eigenen Fleisch und Blut egal.

    „Sam, was machst du denn hier?“ Elm stand in seiner kugeligen Gestalt, die den Türrahmen ausfüllte, vor mir und schien verwundert über meinen unerwarteten Besuch. Ich rief ihn vorher normalerweise immer erst an, aber dieses Mal erforderte die Situation ganz bestimmte Umstände.
    „Kann ich erst mal rein?“
    „Klar.“ Er trat einen Schritt von der Tür weg und ich schlüpfte durch den freigewordenen Spalt. „Wo ist denn Irmgard?“, fragte ich, als ich mich in dem Foyer umsah.
    „Was weiß ich. Schätze, sie putzt gerade irgendwas.“
    „Wahrscheinlich. Bei deinen Gewohnheiten, während dem Essen zu krümmeln wie ein Weltmeister, wird sie sicher nie arbeitslos“, stichelte ich ihn und er zog eine Grimasse.
    „Hör zu, ich bin hier, weil...“ Shit, wie sollte ich das nur vernünftig ausdrücken, ohne dass er mich für wahnsinnig hielt? „Du weißt ja, das Björn in drei Wochen heiratet.“ Er nickte misstrauisch. „Ja und?“
    „Tja und du weißt ja auch sicher, dass man auf Hochzeiten tanzt und so was...“
    „Ja.“ Er dehnte es wie Kaugummi. Ich wartete darauf, dass es bei ihm klick machte, aber er sagte nur. „Und weiter?“
    „Ach komm schon Elm, du weißt genau, was ich will.“
    „Nee, ich hab nicht die leiseste Ahnung.“ Es gefiel ihm anscheinend, mich zu foltern.
    „Ich kann nicht tanzen“, sagte ich kleinlaut und er nickte. „Ja, hab ich mir fast schon gedacht. Und was is’ jetzt?“
    „Mann, bist du blöd oder was? Du sollst es mir natürlich beibringen.“ Als wüsste er das nicht.
    „Und woher weißt du, dass ich’s kann?“ Er stellte sich mit verschränkten Armen vor mich.
    „Weil deine Mutter doch Wert auf so’n Zeugs legt. Bitte, Elm. Tu einmal auch was für mich.“
    Er rollte mit den Augen. „Schon mal aufgefallen, Sam, dass ich ständig nur dran bin, was für dich zu tun?“ Er kramte aus seiner Hosentasche eine Tafel Schokolade, packte sie sorgfältig aus und biss davon ab. „Willst du was?“
    „Elmar, ich bin nicht hier, um mir den Bauch vollzuschlagen. Also was ist jetzt, bringst du’s mir bei oder nicht?“ Ich sah nervös auf meine Armbanduhr. Schon halb fünf.
    „Okay okay, ich geb’ mich geschlagen, aber ich warn dich schon mal im Voraus. Wenn ich dir auf den Fuß trete, ist der Matsch.“
    „Ist schon okay. Das Risiko gehe ich ein.“ Ich grinste und folgte ihm in den Hobbyraum, wo genügend Platz für unser Vorhaben war. Er hatte bereits die ganze Tafel verschlungen und wischte seine schmierigen Finger einfach an seinem Pullover ab. Noch ein Grund, warum Irmgard nie arbeitslos sein würde.
    „Gut fangen wir an: Ausgangsposition.“ Er legte eine Hand an meine Taille und mit der anderen griff er nach meiner Hand. Meine freie Hand legte ich an seine Taille.
    „Mann Sam. Sag bloß, du kannst dich noch nicht mal in Ausgangsposition stellen. Deine Hand kommt auf meine Schulter.“
    „Oh sorry. Ich hab ja gesagt, dass ich’s nicht kann.“
    Er zeigte mir, wann ich welchen Fuß wohin setzen musste, wobei ich ihm in die Augen gucken musste. Ich war allerdings diejenige, die auf seine Füße trat und nicht umgekehrt. Irgendwann kam die alte Irmgard, um im Hobbyraum Staub zu wischen, kam aber nicht zu ihrer Arbeit, weil sie voll damit beschäftigt war, uns zu korrigieren und Tipps zu geben. Sie meinte, ich solle leichtfüßiger sein, weil es beim Tanzen immer so aussehen musste, als schwebe man. Sie tänzelte dann mit einem imaginären Partner durch den Raum und summte einen Walzer vor sich hin. Dann sagte sie, dass man unmöglich ohne Musik tanzen konnte und sie schaltete die Stereoanlage an. Man müsse mit der Musik verschmelzen, eins werden, sie spüren und sich dementsprechend bewegen. Ich fragte mich insgeheim, wie viele Nächte sie wohl in ihrer Jugend durchgetanzt hatte und versuchte, die Musik zu „spüren“. Was ich spürte, waren meine schmerzenden Füße und Elms Schweißhände.
    Wir übten alle möglichen Drehungen, bis spät in den Abend hinein, bis ich schließlich beschloss, zu gehen.
    „Kommt gar nicht in Frage“, sagte Elms Mutter. „Du kannst doch nicht jetzt im Dunkeln alleine nach Hause laufen. Gerade als Mädchen ist das sehr gefährlich. Ich fahr dich.“ Ich fand es zwar übertrieben, hatte aber nichts dagegen, gefahren zu werden, der Weg war nicht ungedingt ein Katzensprung.
    „Das war echt nett von dir, Elm und bist nicht mal so’n schlechter Tänzer.“
    „Sam, du hast bis jetzt in deinem Leben nur mit einer Person getanzt und das war ich, wie willst du das also behaupten?“
    Meine Gedanken schweiften. Dan war sicher ein besserer Tänzer als Elm und jetzt hatte ich auch nicht mehr so großen Schiss total blamiert zu werden. Es war mein Traum, mit ihm über die Tanzfläche zu schweben und ihm dabei tief in seine blauen Augen sehen zu können...Ich riss mich aus meinen Gedanken, weil ich Elm ja noch eine Erwiderung schuldig war. „Tja kann schon sein, aber ich find’s trotzdem klasse von dir. Ich bin dir was schuldig.“
    „Oh, Sam. Wenn du das alles einlösen müsstest, was du mir schuldig bist, dann hättest du für den Rest deines Lebens was zu tun.“
    Die Digitaluhr im Auto zeigte einundzwanzig Uhr und zwei



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 05.08.2008, 14:31


    Ich glaub, da fehlt wsas, stell nochma das letzte chappi rein, du stellst glaub immer zu viel rein, deshalb verschwindet der ltzte teil :shock: :o :cry:



    Re: Geschichte!

    Goldbärchen - 05.08.2008, 15:22


    Danke, das war wieder toll. Bin schon auf den Rest gespannt.
    Ich hätte das Buch auf alle Fälle gekauft !



    Re: Geschichte!

    Melanie - 05.08.2008, 17:17


    Die Geschichte ist suuuuuuper :) Allerdings hab ich irgendwie nicht die texe gefunden,wo Sam und Dan sich küssen oder so.. und nicht die Stelle,wo Silas i-was über Sam erzählt ? Ich hab keine Ahnung ^^ Hab ich das irgendwie "überlesen" oder wo steht das?Liebe Grüße,melli :-*



    Re: Geschichte!

    claudi - 05.08.2008, 20:34


    das letze cappi komt mrogen



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 05.08.2008, 20:36


    Melanie hat folgendes geschrieben: Die Geschichte ist suuuuuuper :) Allerdings hab ich irgendwie nicht die texe gefunden,wo Sam und Dan sich küssen oder so.. und nicht die Stelle,wo Silas i-was über Sam erzählt ? Ich hab keine Ahnung ^^ Hab ich das irgendwie "überlesen" oder wo steht das?Liebe Grüße,melli :-*

    Ich habs ihr schon gesagt, aber sie ignoriert mich einfach! :evil: :evil: :evil:


    AUFRUF AN CLAUDI:

    Bitte poste nicht mehr alle Chappis in einer Post, sondern imme rnacheinander, sonst verschwinden Teile!!!!

    Und wenn du mir nicht zuhörst, dann hab ich noch ganz andere Methoden, um dich zum zuhören zu zwingen :twisted:



    Re: Geschichte!

    claudi - 05.08.2008, 20:40


    lietzes kapitel!

    @teiger!
    es sind echt alle kapitel da!
    das erste ist in NEUE IDEE und der rest ist echt so nacheinander da!!! echt!

    so das letze kapitel... chillt n bisschen und sagt wenn ihr geheult habt oder so!
    hat bis jetzt noch keiner geweint??? :cry:















    22. Kapitel

    Ich hatte keinen einzigen Gedanken von einem meiner Lehrer am heutigen Tag mitverfolgt. Ich saß wie auf heißen Kohlen, konnte meine Gedanken nicht dazu bringen, an etwas anderes zu denken als an die morgen anstehende Hochzeit. Ich war wie in Trance, eine unangenehme und gleichzeitig angenehme Mischung aus Vorfreude, Angst und Lampenfieber. Nun mal nicht definierbar. Ich hatte den morgigen Tag, einen Freitag, schulfrei bekommen und Björn hatte sich schon Donnerstag freigenommen. Langsam fragte ich mich, was er eigentlich für einen großzügigen Chef hatte, der ihm sechs Wochen am Stück gab, danach noch einen Tag vor der Hochzeit und zusätzlich noch bezahlten Flitterwochenurlaub. Björn war schon vorgestern nach der Arbeit in Limburg geblieben, hatte bei den letzten Vorbereitungen geholfen und wahrscheinlich vierundzwanzig Stunden lang nur an die Hochzeitsnacht gedacht.
    Ich packte nach dem Gong, der den Schulschluss verkündete, langsam und methodisch meine Bücher zusammen.
    „Sam, beeil dich, der Bus wartet nicht“, riet Elm mir, der sich jetzt für den Glücklichsten der Glücklichen hielt, weil er noch ein paar Beschützer mehr dazubekommen hatte, seit der Sache mit dem Einbruch.
    „Ich laufe“, murmelte ich und zog den Reißverschluss von meinem Eastpak zu.
    „Sag mal bist du auf Drogen, du willst fünfundvierzig Minuten laufen, wenn du ’ne Fahrmöglichkeit hast?“
    „Ich laufe“, wiederholte ich diesmal etwas deutlicher und er verließ schulterzuckend das Klassenzimmer. Kurz darauf tauchte er wieder auf. „Hab ganz vergessen, dir ’ne schöne Hochzeit zu wünschen. Und tret’ dem Kerl...wie heißt er noch gleicht...Daniel nicht die Füße blau beim Tanzen.“
    „Danke.“ Und schon war er wieder weg. Er war damals von Dan vollkommen begeistert gewesen, er hatte sich die ganze Fahrt köstlich mit ihm amüsiert und daraufhin hatte er mir sein Einverständnis gegeben. „Wenn du dir den nicht angelst, bist du selbst dran dumm“, hatte er gemeint und ich hätte ihm am liebsten einen Arm ausgekugelt.
    Ich war die Letzte und wollte gerade das Klassenzimmer verlassen, als mich Frau Kaiser noch mal zurückrief. „Kann ich bitte kurz mit dir reden, wenn du schon nicht mit dem Bus fährst?“
    „Klar.“ Ich rückte mir einen Stuhl vor das Pult und nahm darauf Platz. Allerdings befürchtete ich, dass ich am Ende sowieso nicht mehr wissen würde, von was sie gesprochen hatte.
    „Es geht um deine schulischen Leistungen.“ Sie lächelte. „Ich glaube du weißt selbst, wie krass das seit den Ferien bergauf gegangen ist mit dir.“
    Ich nickte. Ja, das wusste ich. Ich stand in fast allen Fächern in mündlich auf einer zwei und die Arbeiten waren auch zufriedenstellend verlaufen.
    „Ich bewundere dich, Samira, ehrlich.“
    „Warum? Weil ich erst in der Zehnten gecheckt hab, wie man aufpasst?“
    „Weil du innerhalb kurzer Zeit die Kraft aufwenden konntest und wolltest, die du brauchtest, um aus dir einen neuen Menschen zu machen. Zu dem, der du wirklich bist. Es gibt wenige Menschen, die das geschafft haben, die sich aufraffen konnten, aus sich selbst das Bestmöglichste zu machen. Ich kann dir deine Zeit, in der du nichts getan hast, nicht verübeln. Du hast schlimme Dinge erleben müssen, aber du hast es geschafft, dich auf einen gewissen Punkt hochzuarbeiten und das Selbstmitleid zu überwinden.“
    „Danke“, sagte ich leise. Ich war froh, dass sie zufrieden war. Und ich war verwundert, dass sie die Ganze Sache so punktgenau definieren konnte.
    „Ich wünsche dir eine wundervolle Hochzeit, Sam. Und sei ganz du selbst, denk dran.“
    Ich ging langsam nach Hause, hatte keine Eile. Während der ganzen halben Stunde, die ich brauchte, musste ich an Frau Kaisers Worte denken. „Sei ganz du selbst.“ Die Zeit des Versteckspielens war vorbei, ich musste Samira Schäfer sein und dazu stehen, dafür stand mir nur noch eine einzige Sache im Weg...Ich lächelte still in mich hinein, wissend, was zu tun war.

    Morgens früh, fünf Uhr zweiunddreißig. Ich starrte auf den Wecker und wartete, dass die bescheuerte Zeit endlich vorbeiging. Fünf Uhr zweiundvierzig. Das hatte keinen Zweck. Ich stand auf, tappte ins Bad und duschte eine halbe Stunde lang abwechselnd heiß und kalt. Dann machte ich mir eine Schüssel Müsli zurecht, schnippelte gesunde Apfel- und Bananenstückchen hinein und verspeiste es zwangsmäßig. Wenn es nach meinem Bauch gegangen wäre, hätte ich kein einziges Haferflöckchen gegessen, aber mein Kopf sagte mir, dass es notwendig war, etwas in den Magen zu bekommen, denn heute würde ein verflucht langer Tag werden. Ich zog frische Klamotten an und warf die anderen ins Wäscherohr. Zufrieden stellte ich fest, dass es an der Zeit war, loszugehen. Ich nahm meinen Geldbeutel, mein Handy und ein Photo von mir mit, sonst nichts. Schließlich nahm ich den sechs Uhr fünfziger Bus in Richtung Marburger Zentrum. Von der Haltestation waren es nur noch zwei Minuten bis zum „Happy Hair“, dem besten Friseursalon in ganz Marburg. Ich stand noch ein paar Momente unschlüssig vor den Schaufenstern und gaffte die Photos an, die irgendwelche Leute mit stylischen Frisuren zeigten, bis ich mich überwand und reinging. Ich musste das jetzt durchziehen.
    Ich sagte der Frau an der Rezeption, dass ich für sieben Uhr einen Termin hatte und sie lächelte freundlich. „Du warst diejenige, bei der es schnell gehen musste, richtig?“
    Ich nickte. Ich musste zwar ein bisschen mehr zahlen, dafür aber nicht warten.
    „Okay, dann setzt dich auf den Stuhl, der frei ist.“
    Ich nickte und verneinte, als sie mich fragte, ob ich etwas trinken wollte. Ich betrat den eleganten Salon, mit den großen, hohen Fenstern und den Ledersesseln, die in einem Kreis angeordnet waren. Kaum hatte ich mich gesetzt, da kam auch schon eine junge Frau mit einem grellgrünen Iro und bestimmt einem halben duzend Piercings im Gesicht.
    „Was darf’s denn bitte sein?“, fragte sie und ich sah sie durch den großen Spiegel vor mir an, als ich diesen einen Satz sagte, der mich unglaublich viel Überwindung kostete: „Ich hätte gern meine Naturhaarfarbe zurück.“
    „Schwierig. Ich müsste das Braun überfärben, aber man sieht deinen Ansatz so gut wie gar nicht und ich kann nicht feststellen, was für ein Farbton deine Naturhaarfarbe hat.“
    Ich zog das Photo aus meiner Gesäßtasche, das mich in der achten Klasse zeigte, kurz bevor ich meine Haare dauerbraun gefärbt hatte.
    „Wow, sicher, dass das deine Naturhaarfarbe ist? Das ist ja echt krass blond.“ Ich nickte stumm.
    „Okay, dann such ich mal den richtigen Ton raus. Möchtest du sonst noch was?“
    „Mein Bruder heiratet heute. Mach mir bitte noch Locken rein, aber nur ab den Ohren.“
    „Geht klar. Ich mach dich garantiert zu der zweiten Braut, wart’s ab.“
    Sie brachte ein paar Haarsträhnen in verschiedenen Blondtönen und suchte anhand des Photos und meiner Hilfe die echteste Farbe heraus. Dann wollte sie mir noch ein paar Low-Lights, also Strähnchen in verschiedenen Blondtönen setzen, um es natürlicher aussehen zu lassen.
    „Ich muss die Blondierung in verschiedenen Stufen vornehmen“, erklärte sie, „weil ich nicht mit einem Mal die dunkle Farbe überdecken kann. Es wird also ein bisschen länger dauern, aber keine Angst, du verpasst die Hochzeit schon nicht.“
    „Ähm, bevor du anfängst, kannst du vielleicht den Spiegel irgendwie verdecken?“
    Sie schien völlig verblüfft. „Warum denn das?“
    „Ich würde gerne, dass es eine Überraschung wird.“ Ich konnte ihr ja nicht sagen, was für einen Schiss ich hatte, und dass ich vor allem befürchtete, einen Rückzieher zu machen, sobald ich sah, wie sie meinem Haar Schritt für Schritt sein Barbiepuppenblond zurückgeben würde.
    Die Friseurin drehte meinen Sessel einfach um, sodass ich jetzt auf die Rücken der anderen Friseure sah. Ich nahm mir eine Klatschzeitschrift zur Hand, und verbrachte die ganze Zeit mit dem Lesen der Skandale der Stars, was mich allerdings nicht im Geringsten interessierte. Ich war nah dran, die Friseurin, die gerade konzentriert mit meinem Haar beschäftigt war, nach einer Autozeitschrift zu fragen, ließ es dann aber doch, sonst hätte sie mich noch für komplett verrückt gehalten. Sie laberte mich die ganze Zeit zu, fragte mich über meinen Bruder und dessen Braut aus und erzählte mir von den peinlichen Dingen, die ihr auf Hochzeiten passiert waren. Ich fragte mich schon, ob sie sich das nur ausdachte, um mich zu unterhalten. Ich ließ mich jedoch auf die Unterhaltung ein, weil ich gerade nichts Besseres zu tun hatte und dringend eine Ablenkung brauchte. Nach fast einer Stunde sagte sie mir, dass sie mit dem Färben fertig war und wollte wissen, ob ich mich erst mal betrachten wollte, bevor sie mit den Locken begann.
    „Nein, nein, mach lieber erst die Locken.“
    „Aber du musst doch wissen, wie’s aussieht, vielleicht gefällt’s dir ja gar nicht.“
    „Sag du einfach, wie du’s findest und vergleich es mit dem Photo. Wenn es ähnlich sieht, dann ist’s schon in Ordnung.“
    Sie stellte sich mit dem Photo vor mich und schüttelte verwundert den Kopf. „Echt geil, ich hab mich mal wieder selbst übertroffen. Man wird den nachwachsenden Ansatz gar nicht bemerken.“
    Ich nickte ein bisschen nervös. „Dann fang jetzt bitte mit den Locken an.“ Ich sah auf die Uhr, die im Raum hing. Um halb zehn würde ich abgeholt werden. Hoffentlich schaffte ich das überhaupt.
    Die Frau machte meine Haare nass, knetete Berge von Schaumfestiger hinein, wickelte dann die einzelnen Strähnen um Lockewickler und besprühte das Ganze mit irgendwas. Dann musste ich fünf Minuten unter die Trockenhaube und sie wickelte die Dinger wieder raus. Anschließend besprühte sie die Haare noch mal mit Haarspray, zupfte ein paar Strähnen in die richtige Position und entfernte sich einige, um ihr Werk zu betrachten. „Du siehst so rattenscharf aus. Wow, die Männer werden Schlange stehen, um einen Tanz mit dir zu bekommen. Ich dreh dich jetzt um, damit du’s sehn kannst.“ Sie griff die Lehne meines Stuhles und drehte ihn um hundertachzig Grad. Ich starrte mit aufgerissenen Augen in mein Spiegelbild. Wer war das? Doch nie im Leben ich! Ich sah aus wie eine Puppe, nein, wie ein Engel.
    „Und, was sagst du?“, fragte mich die Iro-Tussie ungeduldig.
    „Ich...ich bin sprachlos.“ Ich hätte es unter normalen Umständen abscheulich gefunden, aber wenn ich mir überlegte, dass es nun mal meine natürliche Haarfarbe war, fand ich es okay. Ja, das war wieder ich, Samira Schäfer. „Du hast die Farbe echt gut hinbekommen“, sagte ich dann und befühlte zögernd eine von den großen Locken. Dann nickte ich. „Es sieht...super aus, vielen Dank.“
    „Möchtest du vielleicht noch unser einmaliges Angebot für diese Woche nutzen und dich kostenlos von einem professionellen Visagisten schminken lassen?“, fragte sie, aber ich schüttelte den Kopf. „Nein.“ Ich würde ganz sicher nichts mehr an mir verändern, sonst würde ich nachher auf der Hochzeit erscheinen und keiner würde mich erkennen.
    Ich bezahlte hundertfünfzig Euro und verließ das Zentrum zufrieden mit dem acht Uhr dreißig Bus. Eine Stunde würde mir auf jeden Fall reichen, um mich fertig zu machen.
    Als ich nach Hause kam, blinkte das rote Lämpchen am Telefon und ich hörte den Anrufbeantworter ab. Björn teilte mir darauf mit, dass Dan mich doch um Neun abholen würde, da die standesamtliche Trauung kurzfristig vorverlegt worden war. Ich erschrak, weil ich nur noch zwanzig Minuten Zeit hatte, entspannte mich dann aber wieder, da ich feststellte, dass ich höchstens noch fünf Minuten brauchen würde um mich fertigzumachen. In meinem Zimmer lag, noch unausgepackt, das geänderte Kleid, das ich tragen sollte. Ich hatte es nicht mal anprobiert, als es mir zugeschickt worden war, es würde schon passen. Irgendwie hatte ich es mir für heute aufbewahren wollen und ich zog überwältigt die Luft ein, als ich den cremefarbenen, fließenden Stoff in den Händen hielt. Es war wunderschön. Ich kleidete mich langsam ein, holte dann die Schuhe unter dem Bett hervor, die ich mir extra gekauft hatte und streifte sie mir über die Füße. Es waren zum Kleid passende Seidenballerinas. Ich hatte mich nicht für Pumps entscheiden können. Damit hatte ich eine schlechte Erfahrung, die ich ganz sicher nicht wiederholen wollte. Schließlich betrachtete ich mich lange im Spiegel. Das war unglaublich. Vor mir stand ein völlig anderer Mensch, nicht nur äußerlich. Ich ging ein paar mal auf und ab, weil mir das Rascheln des Rockes so gut gefiel, dann zog ich den Blazer drüber und befingerte die Perlenknöpfe. Dabei fielen mir die Ohrenstecker ein, die ich früher von meiner Mutter bekommen hatte und nur ein einziges Mal bei einer Aufführung im Gesangsunterricht getragen hatte. Ich kramte sie aus irgend einer Schublade hervor und steckte mir die kleinen Perlen an die Ohren. Man würde sie sowieso nicht sehen, weil meine Haare sie verdeckten, aber ich würde zumindest das Gefühl haben, ein Stück von meiner Mutter bei mir zu haben, denn ich wusste, wie sehr sie sich darüber gefreut hätte. Dann ging ich ins Bad und starrte eine zeitlang die Schminkutensilien an, die noch völlig unbenutzt waren. Aber es blieb dabei, ich würde nicht mal Make-up auftragen. Ich spritzte mir nur ein bisschen von dem Parfum auf den Hals, das ich mal von meiner Tante aus Amerika zugeschickt bekommen hatte. Ich mochte den Duft.
    Ich hatte noch nie in meinem Leben so viel Zeit für mein Äußeres verschwendet, aber ich fand, dass es der heutige Tag wert war.
    Dann, pünktlich um neun Uhr, klingelte es an der Haustür. Mein Herz begann zu rasen. Ich hatte ganz vergessen, dass Dan mich ja abholen würde. Er klingelte noch einmal stürmisch und ich eilte zur Tür.
    „Sam, na end...“ Mitten im Satz brach er ab und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Samira, was...?“ Er schüttelte ungläubig den Kopf und fasste sich an die Haare, als wollte er damit auf meine veränderte Frisur hindeuten.
    „Meine Naturhaarfarbe“, sagte ich lächelnd. „Hast du gar nicht gewusst, was?“
    „Braun ist nicht deine Naturfarbe?“ Er lachte plötzlich. „Oh Mann, das haut mich ja direkt um.“
    „Ich hatte gedacht, dass ich endlich wieder ganz die Alte werden sollte. Außerdem hat mich das Ansatznachfärben langsam genervt.“
    „Du...du siehst umwerfend aus.“
    Ich biss mir verlegen auf die Unterlippe und sah auf meine Schuhspitzen. „Danke“, murmelte ich. Ich hatte noch nie von einem Jungen ein Kompliment wegen meines Aussehens bekommen. Dann hob ich den Kopf und betrachtete ihn. „Du bist aber auch nicht von schlechten Eltern.“ Er hatte einen Seitenscheitel, der ihn wie einen Herzensbrecher aussehen ließ, und das war er auch zweifellos, trug einen gut sitzenden dunkelgrauen Anzug, woran eine cremefarbene Rose geheftet war, mit einem hellblauen Hemd und der dazu passenden Krawatte. Er lächelte und seine Augen schienen die gleiche Farbe zu haben, wie das Hemd. „Danke“, sagte er dann auch leise und reichte mir den Arm. Ich schloss die Tür ab und hakte mich lachend bei ihm unter.
    Wir stiegen ins Auto und er nahm vom Armaturenbrett einen kleinen Rosenstrauß, ebenfalls cremefarben, und reichte ihn mir. Jetzt konnten wir direkt als Hochzeitspaar durchgehen. „Ich bin Trauzeuge und du bist Brautjungfer“, erklärte er dann und sah mich einen Moment länger als nötig an, bevor er losfuhr.

    Die Überraschung kam dann. Ich dachte, mich trifft der Schlag, als bei den Landaus alle meine vier Tanten zugleich auf mich zugestürmt kamen.
    „Samira, oh Gott, seht euch an, wie groß das Mädchen geworden ist.“
    „Und wie hübsch. Du bist deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.“
    „Komm her und lass dich umarmen.“ Sie taten so, als wären wir beste Freunde. Dass ich mich nicht daran erinnern konnte, jemals persönlich mit ihnen gesprochen zu haben, daran dachten sie nicht mal. Aber ich dachte im Moment auch nicht daran, ich war einfach glücklich, dass sie alle da waren.
    „Schön euch zu sehen“, sagte ich aufrichtig und umarmte eine nach der anderen. „Ich freu mich, dass ihr euch Zeit genommen habt, zu kommen.“
    „Aber Schätzchen, das war doch selbstverständlich“, sagte Eveline, die, weil sie in Australien lebte, den weitesten Weg gehabt hatte.
    „Sam!“ Björn bahnte sich einen Weg zu mir durch und stutzte, als er mich sah. „Wow, das sieht toll aus. Endlich wieder das Schäfer-Blond?“
    Ich nickte und umarmte ihn. „Du siehst übrigens super aus.“ Er trug einen Nadelstreifenanzug mit weißem Hemd und weißer Seidenkrawatte. „Ich hab den Anzug mit Daniel gekauft“, erklärte er stolz.
    „Na das erklärt ja alles. Hast du Joana noch nicht gesehen?“
    Er schüttelte den Kopf und sah nervös zur Treppe. „Mann Schwesterchen, ich halt’s nicht mehr lange aus.“ Er war wie ein kleiner Junge an Weihnachten.
    „Björn, ist...ist Oma da?“, fragte ich dann zögernd und war enttäuscht, als er den Kopf schüttelte.
    „Sam.“ Ly kam auf mich zugestürzt und umarmte mich stürmisch. Sie fand, dass ich wie ein sehr schönes Christkind aussah. Sie selbst hatte ein elfenhaftes, fliederfarbenes Kleid an. „Joana ruft dich, sie ist in ihrem Zimmer und um sie rum sind lauter Leute.“ Ich raffte meinen Rock und hechtete die Treppen hoch. Meine Tanten hatten sich im Haus verstreut. Wahrscheinlich baggerten sie gerade die Floristen an, die dabei waren, das Haus und den Garten in ein Blumenparadies zu verwandeln, denn hier sollte der Empfang stattfinden. Ich klopfte an die Tür und trat ein. Mein Kommen war unbemerkt geblieben, und ich sah ehrfürchtig zu, wie eine Friseurin Joanas Haare zu einer traumhaften Frisur drapierte und gleichzeitig ein Visagist ihr ein dezentes Make-up auftrug.
    Marion bemerkte mich und winkte mich zu ihr. Sie trug ein weinrotes Kostüm und sah wieder besser aus. Anscheinend hatte sie sich von dem Schlag mit Silas wieder vollkommen erholt. Sie machte mir auch noch ein paar Komplimente und flüsterte mir dann zu: „Ist sie nicht eine wunderschöne Braut?“
    „Wart’s ab bis sie erst mal ihr Kleid anhat“, sagte ich geheimnisvoll. Zur standesamtlichen Trauung trug sie ein weißes Kostüm. Da bemerkte sie mich. „Oh, hallo, Sam. Wow, deine Frisur ist ja klasse.” Sie lächelte und der Visagist mahnte sie, still zu halten.
    „Ich guck mal, was unten noch zu machen ist“, sagte ich und war schon wieder draußen. Da fiel mir Silas ein. Ich ging zu seinem Zimmer und öffnete leise die Tür. Er lag in seinem Bett und schlief seelenruhig. Wahrscheinlich, damit er genug Kraft für den langen Tag hatte, der noch vor uns lag.
    Zuerst stand die standesamtliche Trauung an, die etwa eine dreiviertel Stunde dauern würde. Dann hatte das Brautpaar den Phototermin, der sicher gut laufen würde, da heute das Wetter strahlend schön war. Es war ein herrlicher frühherbstlicher Tag, wie Goethe das sicher ausgedrückt hätte. Danach war die kirchliche Trauung an der Reihe, die eine Stunde lang dauern würde und in der Gemeinde vonstatten ging. Anschließend war Empfang hier im Landauscher Haus, mit jeder Menge Kuchen und einem kalten Büffet, das gerade geliefert wurde. Um fünf Uhr begann dann die Feier und ich hatte jetzt schon das Gefühl, mich übergeben zu müssen, wenn ich daran dachte, dass ich dort singen würde. Es würde wie gesagt ein unglaublicher, endlos langer Tag werden.

    Die Trauung war rührend. Ich musste unwillkürlich heulen, als Björn „Ja, ich will!“ mit so einem Elan sagte, das die Standesbeamtin zusammenzuckte. Dann das Ringe austauschen und der Kuss, die Heulerei um mich herum, das drückte unweigerlich auf die Tränendrüsen. Jetzt war mein Brüderchen, der größte Nichtsnutz aller Zeiten, tatsächlich unter der Haube. Ich konnte es irgendwie nicht glauben. Er war doch noch ein Kind...Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Wangen, um die Tränen wegzuwischen und sah Silas vorwurfsvoll an, der nicht mal feuchte Augen bekommen hatte. Dan zwinkerte mir von vorne zu. Er hatte auf dem Eheformular, oder was auch immer das war, unterschreiben müssen, weil er zusammen mit der besten Freundin von Joana als Trauzeuge fungierte.
    Draußen beglückwünschten wir das Brautpaar und sie stiegen ins Hochzeitsauto, das nach Joanas Wunsch ein alter, weißer VW-Käfer war und wo Dan auch noch den Chauffeur spielte und fuhren wieder zurück. Jetzt würde Joana das Brautkleid anziehen und sie wollte niemanden dabei haben außer mir.
    Ich half ihr mit Freuden in das schöne Kleidungsstück, und obwohl ich es ja schon gesehen hatte, warf mich der Anblick fast um. Die Friseurin kam dann noch dazu, befestigte den Schleier kunstvoll an der Frisur und verzierte ihr Haar mit zwei roten Rosen. Der Visagist zauberte auf ihre Wangen einen Hauch von Röte und ich übergab ihr feierlich den Rosenstrauß.
    „Ich hab noch nie eine hübschere Braut gesehn“, sagte ich dann und ich meinte es ernst.
    „Komm her“, sie zog mich in die Arme und drückte mich fest. „Wir sind jetzt Schwägerinnen, Sam“, sagte sie dann. „Aber ich will mehr als das für dich sein. Ich möchte deine Schwester sein.“
    Ich nickte und ihr Gesicht verschwamm plötzlich vor meinen Augen. Ich hatte mir schon mein Leben lang insgeheim eine große Schwester gewünscht und ich schluckte die Tränen, die mir vor Rührung drohten auszubrechen, tapfer hinunter. Jetzt wurde ich auch noch sentimental. „Komm, lassen wir sie nicht länger warten, mein Bruder kriegt sonst einen Anfall.“
    Sie nickte und ging mir voran aus dem Zimmer. Das Treppengeländer war mit Rosen geschmückt und alle hatten sich vor der Treppe versammelt. Ein Raunen ging durch die Menge, als Joana herunterschritt. Ich beobachtete lächelnd, wie Björn wie ein Honigkuchen strahlte, dann ging er zu seiner Braut und zog sie in die Arme. Begeistertes Klatschen und verzückte Ausrufe. Ich hatte gewusst, dass es ihnen gefiel, Joana musste einem einfach gefallen.

    „Ein Getränk gefällig?“ Der Kellner im Anzug beugte sich leicht vor und bot mir die Gläser auf seinem Tablett an. „Reiner Sekt, mit Orangensaft gemischter Sekt, reiner Orangensaft und Rotwein“, leierte er runter und ich griff gedankenverloren nach irgendeinem von den Gläsern, während ich „Danke“, murmelte.
    Ich war jetzt hin- und her gegangen, hatte ein paar Leute begrüßt, die ich kannte, die meisten von der Landau-Familienfeier damals, und sah zu, wie sich der Foyer immer mehr mit hereinströmenden Menschen füllte. Björn und Joana, die brav nebeneinanderstehend die Glückwünsche entgegennahmen, und zwar schon seit einer Stunde, konnte ich durch das Getümmel schon gar nicht mehr sehen. Ich merkte, dass ich unbedingt frische Luft brauchte und quetschte mich zwischen Menschen und Büffettisch vorbei, in Richtung doppelflügiger Glastür, die ins Freie führte. Dummerweise wurde ich von hinten versehentlich angestoßen, das Glas Rotwein in meiner Hand schwappte über, direkt auf das blütenweiße Hemd des Mannes dicht vor mir. „Mist!“, rief ich entsetzt, als ich den dunkelroten Fleck auf dem teuer aussehenden Hemd sah.
    „Oh“, sagte der Mann nur und blickte an sich herab. „So ein Pech aber auch.“
    „Das tut mir so unglaublich leid, ich hätte besser aufpassen sollen, bei dem Gedränge...“
    „Nein, dafür kannst du ja nichts“, wehrte er ab, aber ich wusste einfach, dass er sich in Wirklichkeit zu Tode ärgern musste, und fasste ihn am Arm. „Kommen Sie mit, ich versuch’ wenigstens das Gröbste wegzubekommen.“
    „Nein, ist schon in Ordnung...“, protestierte er, folgte mir aber in Richtung Gäste WC, wovor schon eine Menschenschlange stand. Ich stöhnte verärgert auf und zog ihn einfach mit mir die Treppen hoch ins obere Bad.
    „Könnten Sie vielleicht ihr Hemd ausziehen, damit ich es reinigen kann?“
    Er machte ein ziemlich verdutztes Gesicht, sah aber, dass er keine andere Wahl hatte, entledigte sich seines Sakkos, lockerte dann seine Krawatte und reichte mir schließlich sein Hemd.
    Ich sprühte alles mögliche auf den Fleck und schrubbte mit einem
    Ha-ra-Lappen daran herum, bis er ziemlich ausgebleicht war. „Das kriegt man schon wieder raus“, sagte ich aufmunternd und lächelte verlegen. Ich kam mir unglaublich dämlich vor. Der Mann saß oben ohne mit verschränkten Armen auf dem Badewannenrand und beobachtete amüsiert meine Bemühungen.
    „Tut mir schrecklich leid, aber ich fürchte, das bekomm’ ich jetzt nicht ganz sauber.“ Ich hielt ihm das Hemd mit dem blassrosafarbenen, riesigen Flecken auf der Brust vor die Nase und überlegte fieberhaft, was ich jetzt tun sollte.
    „Aber ich denke, Werner könnte Ihnen eins leihen. Kommen Sie mit, wir suchen ein passendes.“
    „Moment mal junge Dame. Ich kann doch nicht halbnackt da rumlaufen.“
    Ich riss kurzentschlossen Lys pinken Bademantel von einem Haken und gab ihn dem Mann. „Ziehen Sie den an, ist ja nur für den Weg von hier bis ins Schlafzimmer.“
    Er schmunzelte erheitert, obwohl ich wirklich nichts Lustiges an dieser bescheuerten Situation sah, während er sich in den viel zu kleinen Bademantel zwängte. Seine Arme guckten unter den Ärmeln weit hervor und der Saum reichte ihm gerade mal bis in die Kniekehlen.
    Ich spähte heraus und als keiner zu sehen war, machte ich ihm Zeichen, mir zu folgen. Ich lief voran ins Schlafzimmer von Marion und Werner und schloss schnell die Tür hinter uns. Dann ging ich an Werners Schrank und durchwühlte ihn auf der Suche nach einem weißen Hemd. Ich fand eins, zog es heraus und reichte es dem Mann, der in dem pinken Bademantel zum Schießen aussah. Er probierte das Hemd an. Es war ihm zu groß, aber schließlich trug er ja noch das Sakko drüber.
    „Bist du dir auch sicher, dass Werner das erlaubt?“
    „Och, bestimmt“, beteuerte ich, aber ganz so sicher war ich mir ehrlich gesagt nicht.
    „Vielen Dank für deine Mühe“, sagte er dann und streckte mir lächelnd seine Hand hin. „Ich bin Micha Landau, der jüngste Bruder von Werner. Du kannst mich übrigens duzen.“
    Ich nahm verwirrt seine Hand. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er ein Landau war. „Warum kenne ich dich nicht? Warst du nicht auf der Familienfeier damals, vor ungefähr zwei Monaten?“
    „Ach so, du meinst die bei Lydias Geburtstag. Nein, leider nicht. Ich war zu der Zeit auf der Mission in Südamerika, ich weiß nicht, ob du davon gehört hast.“
    „Du arbeitest in der Landau-Mission?“, fragte ich begeistert, wie ein Fan, der seinen Lieblingsstar erblickt hatte. Das erklärte auch, warum er so braun war.
    „Und mit wem habe ich es zu tun?“
    „Oh, entschuldige, ich bin die Schwester vom Bräutigam.“
    „Sehr erfreut.“
    Ich lächelte, als er mir einen angedeuteten Handkuss gab. Er hatte auch solche unglaublich leuchtenden Augen wie Dan. Er war zweifellos einer von den Männern, die mit fünfundsiebzig, wenn andere an ihrer Gehhilfe hingen, im schnittigen Cabrio von blutjungen Blondinen umringt Martini tranken. Oder, wenn man’s genau nahm, er würde wohl eher von halbnackten Wilden umringt sein, die um ihn herum ihren Ugah-ugah-Tanz tanzen. Wir gingen zurück ins Gewühle und ich blieb einen Moment auf dem Treppenabsatz stehen, um die Menge nach jemand Bekanntem überblicken zu können. Plötzlich sah ich, wie zwei ältere Leute gerade durch die Eingangstür kamen und sich unschlüssig umsahen. Ich hatte meine Großeltern nur selten gesehen und sie hatten sich auch mächtig verändert seit dem letzten Mal, aber ich erkannte sie trotzdem und wühlte mich zu ihnen durch.
    „Oma?“ Zögernd stand ich vor ihnen.
    „Samira!“, erwiderte sie völlig erstaunt. Sie hatte mich sicher komplett anders in Erinnerung. Ich hatte sie seit ungefähr sechs Jahren nicht mehr gesehen. Wegen dieser Tatsache hatte ich beschlossen, lieber auf Distanz zu bleiben, aber als ich sie jetzt leibhaftig vor mir sah, fielen alle Mauern und ich umarmte sie stürmisch vor Freude, dass sie tatsächlich gekommen waren. Jetzt war auch unsere Familie komplett.
    Mein Großvater hatte Tränen in den Augen, als er Björn neben Joana stehen sah, der noch immer damit beschäftigt war, die Gäste zu begrüßen und meine Oma strich mir leicht über die Wange. „Du bist hübsch geworden“, sagte sie leise, so dass ich es kaum verstehen konnte. „So wie deine Mutter es war.“ Ich war überglücklich, als sie diese Worte sagte, denn sie zeigten mir, dass sie uns, meinen Eltern, Björn und mir, endlich verziehen hatte.

    Ich hatte gedacht, dass der Tag sich unendlich lange ziehen würde, aber ich hatte mich geirrt. Er verging wie im Flug. Die Feier war wunderschön. Der Saal, in dem sie stattfand, war mit Rosengestecken auf den Tischen geschmückt. In der Mitte war genug Platz frei, um tanzen zu können. Am vorderen Ende waren die Büffets und eine Bar, wo man sich unendlich viele Getränke bestellen konnte. Chick gekleidete Kellner und Kellnerinnen liefen zwischen den Tischen herum und schenkten Getränke nach. Ich saß mit den restlichen Jugendlichen an einem Tisch. Unter denen, die ich kannte, waren die Jungs aus Dans Band sowie Cousins und Cousinen von Joana, wie zum Beispiel den rothaarigen Kevin, der wie ein Wasserfall redete. Ich saß zwischen Silas und einem Mädchen, das ich nicht kannte. Das Essen war köstlich, die Unterhaltung auch. Fast jeder steuerte etwas dazu bei. Sketsche, Anspiele, Lieder, Gedichte, das Programm war voll. Am besten gefiel mir ein Sketsch, bei dem sich Arbeitskollegen von Björn und Joana zusammengetan hatten. Sie spielten „Liebe im Büro“ und stellten das Brautpaar, wie es sich kennen gelernt hatte, mit soviel Witz dar, dass sich sämtliche Personen kaum mehr auf den Stühlen halten konnten. Auch die Photoreportage von Dan und mir kam gut an. Dan kommentierte die Bilder so gekonnt und brachte die Späße so trocken rüber, dass ich mich vor Lachen krümmte, obwohl ich sie schon kannte.
    Und dann, dann kam das, vor dem ich schon seit Wochen Schiss hatte und auf das ich mich gleichzeitig die ganze Zeit gefreut hatte. Aber als Dan mir Zeichen machte, es wäre so weit, überwog eindeutig die Angst.
    „Ich kann nicht“, flüsterte ich ihm zu, doch er lächelte mir nur aufmunternd zu. „Natürlich kannst du, das ist doch ein Kinderspiel.“ Er nahm meine Hand und zog mich hinter die Bühne, wo es so stockdunkel war, dass ich nichts sah. „Daniel, ich mach mir in die Hosen“, jammerte ich und spürte, wie meine Hände schweißnass wurden.
    „Du hast gar keine Hosen an“, bemerkte er und ich wusste genau, dass er dabei lächelte.
    „Und wenn ich mich versinge?“
    „Du konntest es bei den Proben perfekt und wenn du was falsch machst, dann ist es nicht schlimm. Pass auf, wir gehen jetzt ganz entspannt da hoch und du sagst ein paar Worte, wir wir’s besprochen hatten, okay? Sam, das ist eine Kleinigkeit für dich.“ Er nahm mich kurz in den Arm und es war, als würde Energie von ihm auf mich überspringen. Ich nahm wie durch einen Nebel wahr, wie der Hochzeitsmanager uns durch das Mikrofon ankündigte. Dan schob mich sanft auf die Bühne und ich legte einfach ein Dauerlächeln auf und fragte mich, wie ich es mit meinen zitternden Beinen nur bis zum Mikrofon schaffen sollte. Die Band hatte schon Stellung eingenommen und ich räusperte mich leise und erschrak, weil es sich durch die Verstärker so unglaublich laut anhörte. Ich versuchte, mich zu konzentrieren und an den Text zu denken, den ich mir sorgfältig zurechtgelegt hatte, aber schon als ich anfing zu sprechen, wusste ich, dass ich keinen Satz davon gebrauchen würde.
    „Ich bin kein besonders guter Redner, darüber beklagen sich meine Deutschlehrer schon seit der ersten Klasse, ich neige dazu, zu übertreiben, tut mir leid. Ich werde versuchen, mich zurückzuhalten.“ Ich hörte leises Lachen, aber es kam nicht wirklich bei mir an. „Ich kann’s eigentlich immer noch nicht fassen, dass mein Bruder tatsächlich geheiratet hat, aber ich bin unglaublich froh darüber...“ Ich machte eine kurze Pause, „...denn jetzt muss ich ihm keinen Thunfischnudelauflauf mehr kochen.“ Lautes Lachen. „Man sagt ja, dass eine gute Ehe nur zwischen einer blinden Frau und einem tauben Mann entstehen kann“, fuhr ich fort, „aber ich glaube, nein ich weiß, dass Gott eine gute Ehe ausmacht, wir wünschen euch nur das Beste und wollen euch mit diesem Lied zeigen, wie sehr wir euch lieben, auch wenn wir weder taub noch blind sind.“
    Die Band begann leise zu spielen, und ich merkte nicht mal, wie ich einsetzte, wie Dan dazu sang, ich sah nicht mal die Tränen in den Augen der Leute, nicht die in den Augen meines Bruders, es war, als wäre ich ein Schmetterling, der von weit oben dem Ganzen zusieht. Ich legte alles in dieses Lied, meine Angst, meine Freude, sogar den anfänglichen Schmerz, den ich verspürt hatte, als ich erfahren hatte, dass Björn mich „verraten“ hatte. Ich wusste, dass ich diesmal besser sang, als auf allen Proben vorher. Ich sang und sang, bis alles aus mir draußen war, bis zum letzten Ton war meine Stimme voll und klar, aber als es ausklang, als sich eine Stille über den Raum legte und als dann tosender Applaus ausbrach, wusste ich, dass ich keinen einzigen Ton länger ausgehalten hätte. Meine Brust hob und senkte sich so stark, als hätte ich gerade einen Marathon hinter mir und ich ließ das Mikrofon in den Ständer zurückgleiten, weil ich Angst hatte, dass es meinen zitternden Händen entgleiten könnte. Es war wieder still geworden und jetzt erst bemerkte ich, das Björn vor die Bühne getreten war.
    Seine Lippen formten einen stummen Satz, den ich seltsamerweise sofort verstand. „Sam, ich liebe dich“, sagte er und ich ließ mich von dem Absatz der Bühne in seine Arme gleiten. Wieder begeisterter Applaus, der dann rhythmisch wurde und eine Zugabe forderte.
    „Tut mir Leid, das war’s“, hörte ich Dan sagen, aber ich hing nur weinend an Björns Hals und alles andere war mir völlig gleichgültig.

    Mitternacht war vorbei und das Programm noch immer am Laufen. Die Kinder spielten draußen, es wurde ihnen drinnen zu langweilig.
    „Sam, gehen wir ein bisschen raus? Hier drinnen ist es so heiß“, raunte Dan mir zu und ich nickte dankbar und zog mir meinen Blazer an.
    Ich ging mit ihm Richtung Tür und als ich einen Blick zurück warf, sah ich Silas, der uns grinsend hinterher sah und mir zuzwinkerte. Ich zog eine Grimasse.
    „Schon viel besser“, seufzte Dan, als ein Windstoß seine Haare zauste. Sein Jackett war offen und seine Krawatte gelockert.
    Es war wie in einem kitschigen Liebesfilm. Ich und er alleine in einem schön angelegten Garten. Er legte spielerisch den Arm um mich. „Findest du nicht, dass wir aussehen wie ein Brautpaar?“
    Ich sah zu ihm hoch und lächelte schwach. Der Weg war mit Kies bestreut, der bei jedem Schritt unter den Füßen knirschte.
    „Du hast einmalig gesungen Sam, aber ich denke, dass du das weißt.“
    „Ich hab mir halt heute am meisten Mühe gegeben.“
    „Du hast dir immer Mühe gegeben, aber heute...Es war einzigartig.“
    Am Wegrand war eine Parkbank und wir setzten uns darauf. Er nahm meine Hand und drückte sie sanft. Ich zitterte plötzlich leicht, obwohl mir nicht im geringsten kalt war. „Weißt du schon, dass ich vorhabe, nach der Schule Medizin zu studieren?“, wechselte er unvermittelt das Thema.
    „Echt?“, ich war baff, wahrscheinlich hatte ich vermutet, er studiert Musik und macht was aus seiner Begabung. Er könnte damit sicher großen Erfolg haben. Aber anscheinend hatten die Landau-Jungs eine Schwäche für Medizin.
    „Ich möchte danach für ein paar Jahre in die Mission nach Südafrika. Da gibt’s viel zu wenige Ärzte, weißt du. Die brauchen dringend ausgebildete Mediziner.“
    Ich nickte verständig, aber es gab mir ein Stich ins Herz, wenn ich daran dachte, dass ich ihn dann ein paar Jahre nicht sehen würde. Der einzige Trost war, dass es bis dahin noch gut sechs Jahre waren.
    „Ich werde in Marburg studieren“, sagte er dann und meine Stimmung heiterte sich augenblicklich auf. „Cool. Dann bist du öfters bei uns?“
    „Eher gesagt immer. Ich habe vor, für das Studium zu euch nach Ronhausen zu ziehen. Das heißt, nur wenn du nichts dagegen hast. Björn und Joana sind einverstanden.“
    Ich hätte am liebsten vor lauter Freude aufgeschrieen, aber es blieb bei einem zufriedenen Lachen. „Das ist ja echt der Hammer. Natürlich hab ich nichts dagegen.“
    Er nickte lächelnd. „Dann wäre das ja schon mal geklärt.“ Er machte eine Pause und sah mich dann eine Zeit einfach nur an, so dass mein Herz wie wild hämmerte. „Naja, da...da wäre noch was anderes...“ Er biss sich auf die Lippen und schaute auf meine Hand, die in seiner lag. „Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Es kam irgendwie so plötzlich...“ Er lachte nervös.
    „Was denn?“, flüsterte ich und hoffte, er würde schnell weiterreden.
    Er sah hoch und mir direkt in die Augen. Das Mondlicht spiegelt sich darin und ich musste die Luft anhalten. Seine Augen schimmerten in diesem Moment so unnatürlich blau, als wären sie nicht von dieser Welt. Vielleicht bewirkte das auch dieser neue Ausdruck, den ich noch nie vorher bei ihm bemerkt hatte. Ich wusste nicht, was er zu bedeuten hatte, aber meine Knie waren weich wie Butter.
    Er setzte gerade an, um weiterzusprechen, als wir plötzlich einen lauten, durchdringenden Schrei hörten. Wir sprangen wie von der Tarantel gestochen auf und rannten in die Richtung, aus der die Schreie kamen. „Lydia!“, rief Dan erschrocken. Er hatte die Stimme seiner Schwester sofort erkannt und da kam sie auch schon heulend auf uns zugelaufen.
    Ich wäre vor Schrecken fast in Ohnmacht gefallen, als ich ihr blutüberströmtes Gesicht sah.
    „Was ist passiert?“, rief Dan und war schon bei dem schreienden Kind. „Sam, sie hat eine Kopfwunde!“, rief er mit Angst in der Stimme. „Sie muss sofort ins Krankenhaus.“ Ich hörte ihn kaum, weil Ly so laut schrie. Mein Gesicht muss kreidebleich gewesen sein, als Dan sie hochnahm und mit ihr zum Parkplatz lief, ich hinterher.
    „Scheiße, ich hab nur die Hochzeitsautoschlüssel“, rief er verzweifelt, als ich neben ihm herlief. „Nimm sie aus meiner rechten Sakkotasche und schließ auf, beeil dich!“
    Ich nahm den Schlüssel, rannte vor zum Hochzeitsauto und öffnete die hinterste, wo Dan die schreiende Ly hineinlegte. Er sprang ans Steuer und ich schaffte es gerade noch, mich neben Ly zu werfen und die Tür hinter mir zuzureißen, bevor er mit Vollgas losbrauste.
    „Sie blutet wie verrückt. Versuch, die Blutung irgendwie zu stoppen“, schrie er, um gegen Lydia anzukommen. Ich war wie gelähmt als ich das viele Blut sah, das aus ihrem Hinterkopf herausgepocht kam und in Sekundenschnelle die hellen Ledersitze dunkelrot färbte. Kurzentschlossen zog ich meinen Blazer aus, band die Ärmel um ihren Kopf und presste meine Hände auf die Stelle, die verletzt war, in der Hoffnung, es würde irgendwas nützen, aber der helle Stoff war in kürzester Zeit blutdurchtränkt, genau wie meine Hände. Ich hielt Ly fest an mich gedrückt und spürte, wie das dunkle, warme Blut an meinen Armen herunterlief. Es war mir völlig egal. Ich hatte unglaubliche Angst. „Bitte, Jesus, bitte hilf, das wir es schaffen!“, betete ich im Stillen, aber diesmal aus der Überzeugung, dass Gott mich hören würde.
    Blut, überall Blut, alles war voll. Ihr ganzes Gesicht und Körper, meine Hande, die Sitze.
    Daniel brauste bei Rot über die Ampeln, schnitt Vorfahrten und hupte die ganze Zeit, damit die Autos ihm rechtzeitig Platz machen konnten.
    „Blutet’s noch immer?“, fragte er panisch und ich bejahte. Daraufhin legte er noch mal zehn km/h drauf und ich hatte plötzlich Angst um unser aller Leben. Dan war verrückt vor Angst, er würde sicher jeden Passanten überfahren, der ihm jetzt in die Quere kam. Ich streichelte Ly’s blutige Wange beruhigend, aber ich hätte es genauso gut lassen können, sie schrie weiter wie am Spieß und krallte sich an mir fest.
    Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis wir endlich den Krankenhausparkplatz erreichten. Dan machte sich noch nicht mal die Mühe auf einem vernünftigen Parkplatz zu parken, sondern ließ das Auto einfach irgendwo in der Mitte stehen, sprang heraus, nahm Ly wieder auf die Arme und rannte mit ihr ins Krankenhaus. Ich schloss das Auto vorsichtshalber ab, bevor ich hinter ihm herhastete. Er war trotz des Gewichtes, das er trug, unglaublich schnell, der Adrenalinschuss in seinen Adern bewirkte wahre Wunder. Wir rannten durch die Tür und die Frau an der Rezeption, die solche Situationen gewohnt war, erklärte in Seelenruhe mit einem kurzen Blick auf Ly: „Zweite Tür rechts, dritte Etage, da wird jemand sein.“
    Dan hatte nicht mal auf das Ende des Satzes gewartet und hastete schon mit Ly die Treppen hoch, als trug er keine fünfunddreißig Kilo. Ich hatte Mühe ihm zu folgen, mein Atem ging stoßweise und mein Herz raste, aber das hatte nicht nur mit der Anstrengung zu tun. Alle Gliedmaßen zitterten und ich hatte das Gefühl, einen epileptischen Anfall zu bekommen, als ich die Blutspur bemerkte, die wir hinterließen.
    Wir kamen in den zweiten Stock und dank Lys Schreien kamen gleich mehrere Schwestern auf uns zu, die in Sekundenschnelle von irgendwoher eine Liege gebracht hatten, worauf Ly gelegt und weggebracht wurde.
    „Wir werden sofort nähen“, erklärte uns eine Krankenschwester, die uns danach von Kopf bis Fuß musterte. „Haben Sie gerade geheiratet?“, fragte sie neugierig und ich schüttelte müde den Kopf. Normalerweise hätte mich diese Bemerkung amüsiert, aber im Moment amüsierte mich gar nichts mehr. Dan hatte sich schon auf einen Stuhl im Flur niedergelassen, den Kopf an die Wand gelehnt. Seine Kräfte hatten ihn vollkommen verlassen. Ich kniete mich neben ihn und drückte ihm die Hand. „Es wird schon alles wieder gut. Du hast unglaublich schnell gehandelt.“ Aber er schien mich kaum zu bemerken, so sehr war er damit beschäftigt, nach Atem zu ringen.
    „Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?“, wollte die Krankenschwester wissen, und ich bestellte dankend zweimal Kaffee. Kaum war sie weg, kam eine andere Schwester. „Das Mädchen hat eine Kopfwunde. Es sieht so aus, als wäre sie auf etwas Hartes gefallen. Machen Sie sich keine Sorgen. Kopfwunden bluten immer furchtbar und sind nur halb so schlimm. Sie wird in zwanzig Minuten schon genäht sein.“
    Ich nickte beruhigt und sie zeigte uns den Weg zu den WC’s, wo ich mir erst mal die blutigen Arme und das Gesicht so gut es ging reinigte. Das Wasser färbte sich dabei rot und ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Sogar in meinen Haaren war Blut. Wie auch immer es dahin gekommen war. Mein schönes, weißes Kleid war nicht mehr zu retten, am Schoß war es blutdurchtränkt.
    Danach setzten wir uns wieder in den Flur und hielten uns die Hände. Dan stand noch völlig unter Schock und ich drückte tröstend seine Hand, worauf er jedoch nicht reagierte. Er hielt meine nur fest und drückte zu wie ein Schraubstock, aber ich ließ es stumm über mich ergehen, weil ich das Gefühl hatte, dass er das im Moment dringend brauchte. Die Krankenschwester kam mit dem Kaffee und ich drängte Dan, etwas zu trinken. Er tat es mechanisch und als er die Tasse in einem Zug gelehrt hatte, sah er mich endlich wieder einigermaßen normal an. „Wir müssen Bescheid sagen, was passiert ist, sonst machen sie sich noch Sorgen.“ Er reichte mir sein Handy und ich wählte Marions Nummer. Sie meldete sich nach kurzer Zeit. Bestimmt hatte sie schon auf so etwas Ähnliches gewartet.
    „Lydia ist beim Spielen anscheinend hingefallen“, erklärte ich so ruhig wie möglich. „Sie hat sich eine Wunde zugezogen, die genäht werden muss, aber es ist nichts Schlimmes, sagen die Ärzte.“
    Marion stöhnte erschrocken auf und ich hörte Stimmen um sie herum.
    „Macht euch keine Sorgen, es ist alles in Ordnung. Wir werden jetzt hier warten, bis sie genäht ist und dann sehen wir weiter.“
    „Wir kommen sofort“, sagte Marion dann und ihre Stimme klang gequält und angstvoll. Sie tat mir unglaublich leid.
    „Ich weiß, dass das am vernünftigsten klingt, aber ich denke, ihr solltet trotzdem da bleiben und versuchen, die Hochzeit zu genießen. Hier ist alles in Ordnung, ehrlich. Wir kommen zurecht. Wenn sie aufwacht, sind wir bei ihr und sobald sie nach euch ruft, sagen wir Bescheid. Aber hier könnt ihr im Moment auch nichts ausrichten. Also bitte, versaut euch nicht den Tag und erzählt Björn und Joana nichts davon, in Ordnung?“
    „Bist du sicher, Samira?“
    „Hundertprozentig, Marion. Feiert schön.“ Ich legte auf und setzte mich zurück auf meinen Stuhl.
    „Hast du sie beruhigen können?“, fragte Daniel und seine Stimme zitterte noch immer ein bisschen.
    „Ja, hab’ ich.“
    Er nahm wieder meine Hand und starrte die gegenüberliegende Wand des Flurs an, als hinge dort ein interessantes Kunstwerk, was seine Sinne ganz in Anspruch nahm, aber ich ließ ihn in Ruhe.
    Nach einer halben Stunde kam wieder eine Schwester, die uns mitteilte, in welches Zimmer Lydia gebracht worden war. Sie führte uns hin und wir standen ein paar Minuten vor ihrem Bett und sahen in ihr blasses, schmales Gesicht, das halb von dem weißen Verband verdeckt wurde. Dan starrte sie mit ausdruckslosem Blick an, und ich meinte zu wissen, woran er gerade dachte. An Silas, wie er genauso in weißen Laken gelegen hatte, am Abgrund des Lebens, der steil in den Tod hinabfiel. Deshalb war er jetzt auch so geschockt, alle Ängste waren hochgekommen, obwohl es bei Ly bloß eine „harmlose“ Kopfwunde war. Die Krankenschwester führte uns in ein Wartezimmer in der Nähe von Lys Zimmer und sagte uns, dass es nur wenige Stunden dauern würde, bis Lydia aufwachen würde.
    „Gehen Sie so lange nach Hause“, riet sie uns mit mitleidiger Stimme. „Wir melden uns bei Ihnen, wenn sie aufwacht.
    „Sam, lass dich abholen, ich bleibe“, sagte Dan daraufhin.
    „Wenn du bleibst, bleib ich auch“, entschied ich entschlossen.
    „Nein, du musst wirklich nicht...“
    „Ich möchte aber.“ Er sah mich verwundert und dankbar zugleich an und noch irgendetwas lag in seinem Blick. Anerkennung. Echte Anerkennung. Wir saßen wieder lange schweigend nebeneinander und ich merkte, wie mich irgendwann die Müdigkeit überrollte. Mein Kopf sackte irgendwann wie ein nasser Sack auf seine Schultern und ich schlief, als läge ich zu Hause im Bett.

    Mir taten alle Knochen weh, als ich erwachte. Ich lag ausgestreckt auf der unbequemen Stuhlreihe, und das erste Mal wusste ich, was es hieß, wenn unsere alte Nachbarin sich über ihr Kreuz beklagte. Ich setzte mich leise stöhnend auf und dabei rutschte Dans Sakko von meinen Schultern, womit ich zugedeckt gewesen war. Ich sah auf die silberne Funkuhr an der Wand des Wartezimmers, rieb mir die Augen, um das Ziffernblatt deutlicher erkennen zu können und stellte fest, dass es schon kurz nach vier Uhr morgens war. Ich fragte mich, wo Dan war und dachte mir, dass er wohl in Lys Zimmer war. Ich schleppte mich hinaus in den Gang und fand nach kurzer Zeit die WCs, wo ich mir erst mal ordentlich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Entsetzt sah ich in mein Spiegelbild. Meine Augen waren müde und blutunterlaufen, mein Blick stumpf und mein Gesicht käseweiß. Meine schönen Engelslocken waren zerdrückt und hingen strähnig um meinen Kopf. Ich versuchte, wenigstens ein bisschen Ordnung mit den Fingern hineinzubekommen, ließ es aber schließlich, weil es nichts brachte. Es war ja eigentlich auch völlig egal. Das Blut an meinem Kleid war getrocknet und der Stoff war an den Stellen total steif. Ich setzte mich zurück ins Wartezimmer und zog mir wieder das Sakko über die nackten Schultern, weil mir kalt war. Mein blutiger Blazer lag sicher irgendwo im Krankenhausmüll. Ich seufzte resigniert. Schade um das schöne Kleidungsstück. Ich lehnte meinen Kopf müde und kraftlos gegen die Wand hinter mir und schloss die Augen.
    „Guten Morgen! Gut geschlafen?“ Ich schrak auf. Dan balancierte gerade ein Tablett mit Frühstück und einer wunderbar duftenden Tasse Kaffe herein.
    „Daniel, du bist ein Schatz“, rief ich entzückt und machte mich heißhungrig über das Essen her, aber nicht, bevor ich ein dankbares Gebet gesprochen hatte. Dankbar, weil alles so gut ausgegangen war.
    „Hab’ mir doch gedacht, dass du hungrig bist“, sagte er, als er lächelnd beobachtete, wie ich das Brötchen in mich reinstopfte. „Ly war übrigens wach. Ich war kurz bei ihr, es geht ihr ziemlich gut. Jetzt schläft sie wieder wie ein Stein.“
    „Oh“, brachte ich nur zwischen dem Croissant und dem Schluck Kaffee hervor und er lachte amüsiert. „Bei über fünf Gramm wird’s undeutlich.“
    Ich schluckte runter und fragte ihn, ob er nichts wollte.
    „Ich hab’ schon was gehabt. Im Gegensatz zu dir hab ich nämlich kein Auge zugetan.“
    „Sorry, ich war halb tot vor Müdigkeit“, sagte ich kleinlaut und fühlte mich schuldig. Wenn ich schlief, brachte ich auch nichts.
    „Ist schon in Ordnung, sonst hätte ich mir noch Vorwürfe gemacht. Fühl’ dich ruhig wie zu Hause.“
    „Die Stühle waren grausam unbequem“, sagte ich gequält und rieb meinen Rücken. Ich trank den Kaffee aus und stellte das Tablett auf einen Stuhl neben mich. Irgendwo lief ein Radio und erfüllte den Raum mit leiser Musik.
    Er ließ sich neben mich auf einen Stuhl gleiten und schloss für einen Moment die Augen. „Sam, wir wurden bei unserem Gespräch im Garten unterbrochen“, sagte er dann und mir wurde plötzlich warm. „Ich...Silas hat sich bei mir für die Sache mit Nadine entschuldigt.“ Er sah mich plötzlich gerade an. „Zumindest für die Geschichte mit dem Schwangerschaftstest. Er behauptet...das mit dem Telefonat sei wahr gewesen.“
    Mir schoss die Hitze in den Kopf und ich wurde bestimmt Tomatenrot.
    „Stimmt das?“
    Ich nickte leicht, ohne ihn anzusehen.
    „Du hast das echt gesagt, also das alles über mich...?“
    „Es tut mir leid“, entfuhr es mir dann.
    „Warum?“
    „Ich wollte nicht aufdringlich sein. Ich wollte nicht so sein, wie all die anderen Mädchen...es tut mir leid.“ Meine Hände verknoteten sich und alle Muskeln in meinem Körper waren verkrampft. Das war wie in meinen schlimmsten Alpträumen. Warum konnte Silas nicht einfach mal seine Klappe halten?
    „Du bist nicht wie die anderen Mädchen, nicht ein kleines Bisschen“, sagte er dann und ich sah ihn verwundert an. Meine Verkrampfung löste sich ein bisschen. „Du bist anders, Samira, vollkommen anders. Kein Mädchen hätte uns so zur Seite gestanden in dieser schweren Zeit während Silas’ Unfall. Kein Mädchen hätte sich mit meiner unglaublich nervigen Schwester so viel beschäftigt wie du es getan hast und so viel Geduld aufgebracht. Keines von den Mädchen hätte mich in dieses Zeltlager begleitet und sich mitten in der Nacht auf die Suche nach einem verirrten Kind gemacht. Kein Mädchen wäre bei Bewusstsein geblieben, als Lydia sich verletzt hat und keines hätte die Hochzeit absichtlich verpasst, um mit mir die Nacht in diesem grauenvollen Krankenhaus zu verbringen.“
    Ich wollte ihm gerade widersprechen, als er etwas sagte, was ich niemals vergessen werde. „Sam, du bist das ungewöhnlichste und liebenswürdigste Mädchen, das ich jemals kennen gelernt habe.“
    Und dann beugte er sich über mich, und ehe ich wusste, was überhaupt geschah, küsste er mich sanft auf den Mund, sodass mir schwindelig und heiß zugleich wurde und ich das Gefühl hatte, vor Freude und Glück gleich zu platzen.
    Als sich seine Lippen von meinen lösten, hatte ich noch immer den Eindruck, im Traumland zu schweben. Er lächelte etwas verlegen und ich berührte, ohne dass ich wusste, was ich überhaupt tat, mit dem Zeigefinger leicht das Grübchen in seiner Wange. „Das hat Silas nicht“, sagte ich leise und dann schlang ich meine Arme um seinem Hals und umarmte ihn fest.
    Plötzlich stutzte ich und ließ ihn los. Im Radio lief gerade der Anfang von einem Lied, das mir seltsam bekannt vorkam und dann setzte Ronan Keating ein: „It’s amazing how you can speak right to my heart...“
    Er lachte amüsiert, als er das Lied auch bemerkte, stellte sich vor mich und machte einen Knicks. „Meine Dame, Ihr schuldet mir noch einen verpassten Tanz.“
    Ich lachte und nahm seine dargebotene Hand. „Mit dem größten Vergnügen, werter Herr.“
    Er zog mich hinaus auf den Flur und wir tanzten zu der romantischen Melodie des Liedes „When you say nothing at all“. Die Krankenschwestern, die vorbeikamen, warfen uns verwunderte Blicke zu, und bald hatte sich eine kleine Schar versammelt, die uns alle lächelnd zusahen und jemand hatte die Musik lauter gedreht. Wir gaben zweifellos ein seltsames Bild ab, Dan und ich. Er mit seine verknitterten Krawatte und dem blutigen Hemd und ich mit meinem ehemals weißen Kleid, dass jetzt mehr rot als sonst war etwas, aber das alles bemerkte ich gar nicht. Und es war mir auch so egal wie das Loch in meiner Lieblingsjeans und der Ketchupfleck auf meinem Lieblingssweatshirt. Da waren nur ich und er und die Musik.



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 05.08.2008, 20:50


    hab noch ne frage: ist der kuss in i-einem Kapitel vorher erwähnt worden? kann man den nachlesen?! :lol:



    Re: Geschichte!

    LillyRose - 05.08.2008, 21:13


    ja das frag ich mich grad auch. Habe gerade die ersten Zeilen gelesen...
    cool ich habe gerade 444beiträge :D



    Re: Geschichte!

    Melanie - 05.08.2008, 21:29


    Schööööööööööööööööööön :)
    Aber was ist das mit dem Schwangerschaftstest? Irgendwie komm ich da nicht mit ??



    Re: Geschichte!

    LillyRose - 05.08.2008, 23:33


    ja wirklich total süßßßßßßßßßßßß ♥♥♥♥
    @Melanie: ja das ist mir auch aufgefallen 8) irgentwie haben wir da was nicht mitbekommen^^



    Re: Geschichte!

    Melanie - 06.08.2008, 11:55


    Okay :) Gut das ich nicht die einzige bin ^^



    Re: Geschichte!

    Goldbärchen - 06.08.2008, 13:50


    Die Geschichte ist echt super. Aber ich hab auch so ein paar "Lücken". Der Kuss und der Schwangerschaftstest sind mir irgendwie entgangen? Und warum hatte Sam keinen Kontakt zu den Großeltern ?
    Vielleicht hab ich auch was übersehen, denn ich finde es furchtbar anstrengend so einen langen Text am Bildschirm zu lesen.
    Ich denke aber, dass die Geschichte schon ein Buch werden soll. Nicht aufgeben ! Unklarheiten kann man beseitigen und auch nochmal alles überarbeiten.



    Re: Geschichte!

    claudi - 06.08.2008, 15:02


    geht halt nicth!
    also der schwangertest war doch gelogen von silas weil sam und er sind ja feine gewesen... und
    sam und dan küsssen sich NUR am ende...



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 06.08.2008, 16:19


    Zitat: Vor allem aber versteckte ich mich vor Daniel. Ich hatte panische Angst er könnte sehen, was sein Kuss in mir bewirkt hatte.

    Und was ist das?!?! :evil: Stell wenigstens noch kapirtel 21 rein! :x Sonst bin ich ganz und gar nich zufrieden!



    Re: Geschichte!

    Goldbärchen - 06.08.2008, 17:44


    Stimmt, Kapitel 21 fehlt. Oder habe ich mich verzählt ?



    Re: Geschichte!

    LillyRose - 06.08.2008, 18:16


    claudi hat folgendes geschrieben: geht halt nicth!
    also der schwangertest war doch gelogen von silas weil sam und er sind ja feine gewesen... und
    sam und dan küsssen sich NUR am ende...

    also das mit dem Schwangerschafttest kann ich gar nicht finden :roll: schade



    Re: Geschichte!

    crossgirl14 - 06.08.2008, 23:24


    hm.. also, wie gesagt, wunderschöne geschichte, allerdings hab ich auch das gefühl, da fehlt iwie immer wieder was.. meinst du nich, du könntest nochmal genau nachgucken?
    also ich mein, dass es vllt. zu viele zeichen waren..
    weil - weder ein kuss vor dem am ende noch ein schwangerschaftstest noch ein paar anderes dinge kommen mir bekannt vor... hab ich nirgendswo gelesen und auch nochmal nachgeguckt *ratlos sei*

    find' ich schade, das lässt einen iwie den faden verlieren, obw. so schön war...

    guck bitte nochmal nach, claudi, ja? :roll:



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 07.08.2008, 14:25


    @crossgirl: das ist die stelle mit dem kuss am ende (den rest hab ich auch nich gefunden o.o)

    Zitat: Und dann beugte er sich über mich, und ehe ich wusste, was überhaupt geschah, küsste er mich sanft auf den Mund, sodass mir schwindelig und heiß zugleich wurde und ich das Gefühl hatte, vor Freude und Glück gleich zu platzen.
    Als sich seine Lippen von meinen lösten, hatte ich noch immer den Eindruck, im Traumland zu schweben. Er lächelte etwas verlegen und ich berührte, ohne dass ich wusste, was ich überhaupt tat, mit dem Zeigefinger leicht das Grübchen in seiner Wange. „Das hat Silas nicht“, sagte ich leise und dann schlang ich meine Arme um seinem Hals und umarmte ihn fest.

    tjaaa... eindeutig meine Lieblingsstelle=)



    Re: Geschichte!

    claudi - 07.08.2008, 15:50


    genau nuuur der kuss am ende!!!
    jaaa ich schau mir das alles noch mal an!



    Re: Geschichte!

    claudi - 07.08.2008, 15:53


    stiiimt ich hab cappi 21 vergessen scheiße!dabei ist es ja sooo wichtig!!! :wink:

    21. Kapitel

    Es war wie verhext! Am Montag in der dritten Woche nach den Ferien klingelte das Telefon am laufenden Band. Alle wollten Björn, Björn, Björn. Am liebsten hätte ich ja einen Anrufbeantworter eingestellt, der jedem Anrufer nach einem Mal klingeln mittelte, dass Björn leider noch bei der Arbeit war.
    Es war der alte Schulkollege, der die Hochzeitsanzeige bekommen hatte und sich jetzt fragte, wann der Junggesellenabschied stattfinden sollte, dann war es einmal Marion, die sich nach dem noch nicht vorhandenen Hochzeitsanzug erkundigen wollte, kurz darauf rief der Florist an und wollte wissen, ob die Rosen für die Dekoration zur Not auch weiß statt cremefarben sein konnten, dann ein Kerl vom Reisebüro, der darüber informieren wollte, welches Flugzeug für die Flitterwochen in Ägypten gebucht war, es schien einfach kein Ende zu nehmen. Ich wollte doch einfach nur ganz normal meine Hausaufgaben machen!
    Nach dem zigsten Mal hob ich schon nach dem ersten Klingeln ab, weil das Telefon direkt neben mir auf dem Schreibtisch lag und meldete mich zerknirscht mit: „Björn ist leider nicht da!“
    „Samira?“ Ich erkannte sofort Joanas Stimme und rollte mit den Augen. Wenigstens sie sollte doch wissen, wann Björn Feierabend hatte. Ich wiederholte mein Verschen darum noch mal: „Björn ist noch bei der Arbeit, aber ich sag ihm, dass er dich zurückrufen soll.“
    „Das ist nett, aber ich wollte eigentlich dich sprechen.“ Mich? Ich dachte zuerst, ich hätte mich verhört, aber dann fuhr sie fort: „Ich glaube, wir hatten noch nicht so wirklich Zeit, uns kennen zu lernen. Und dabei sollten wir uns vielleicht schon mal aneinander gewöhnen, schließlich wohnen wir bald unter einem Dach.“ Als wüsste ich das nicht! „Naja, ich hatte gedacht, du könntest mich beim Einkaufen begleiten, ich hab nämlich noch kein Hochzeitskleid.“
    Mir wäre fast der Hörer aus der Hand gefallen. „Du willst, dass...ich soll mit dir dein Hochzeitskleid aussuchen gehen?“ Ich musste mich irgendwie verhört haben.
    „Mama werde ich garantiert nicht mitnehmen, für sie soll das eine Überraschung werden, ich hatte eben so an dich gedacht. Wenn du auch noch nichts für die Hochzeit hast, können wir ja auch nach was chicem für dich gucken.“
    Eigentlich war Joana die letzte, mit der ich Hochzeitsklamotten kaufen gehen wollte, aber was hätte ich sagen sollen, ich war kurz gesagt sprachlos. „Ähm, an welchen Tag hattest du denn gedacht?“
    „Genau das ist ein bisschen problematisch. Ich bin normalerweise ein Mensch, der nichts überstürzt, aber es sind schließlich nur noch zwei Wochen bis zur Hochzeit. Würde es dir morgen passen?“
    „Schon morgen?“ Das wurde ja immer besser!
    „Passt dir das nicht in deinen Terminplan?“ Ich und Terminplan! „Ich würde dich ansonsten direkt nach der Schule abholen.“
    „Und kommt noch jemand mit?“, fragte ich. Sie konnte doch nicht wirklich mit mir alleine den wichtigsten Einkauf ihres Lebens machen wollen.
    „Nein, sonst keiner. Mir ist aufgefallen, dass ich mir noch gar keine Zeit für dich genommen habe, und ich fühl mich echt mies deswegen.“ Sie lachte leise, aber es klang ehrlich.
    Ich hatte mich für die Musical-AG in der Siebten und Achten eingetragen und das war am Dienstag, aber ich konnte sicher einmal fehlen.
    „Dienstag passt bei mir“, sagte ich und nickte, als ob sie es durch das Telefon sehen könnte.
    „Prima. Und wann hast du dann morgen genau aus?“
    „Um Ein Uhr.“ Ich hörte, wie sie es aufschrieb.
    „Gut, sagen wir also bis dann.“
    „Okay, bis dann.“ Ich legte auf und starrte das Telefon bestimmt zehn Minuten einfach nur an. Ich war von meinem „Erzfeind“ geradezu überrumpelt worden. Aber wenn man von seinem Gegner aufgefordert wurde, durfte man nicht kneifen. Ich musste mich wohl auf die „Schlacht“ vorbereiten!

    Die Klimaanlage blies leise und Joana hatte eine Enya-CD eingelegt. Es war plötzlich wieder wärmer geworden, so als wolle uns das Wetter die kalten Tage im August wieder gut machen und jetzt kletterten die Temperaturen auf bis zu achtundzwanzig Grad. Ich hatte die Augen halb geschlossen und lehnte meinen Kopf gegen die Scheibe. Joana schwieg rücksichtsvoll und ich war eigentlich dankbar dafür, was hätte ich mit ihr schon reden sollen?
    „Möchtest du ein bisschen schlafen? Ich kann gern die Musik ausmachen. Du kannst übrigens auch deinen Sitz nach hinten senken.“
    „Ist schon gut so.“ Ihre übertrieben fürsorgliche Art hatte mich schon ganz am Anfang genervt, aber anscheinend gehörte es zu ihrem Charakter. Sie drehte die Musik trotzdem noch leiser und rückte ihre Gucci-Sonnenbrille zurecht.
    Wir waren auf dem Weg nach Frankfurt, wo Joana ein gutes Brautmodengeschäft kannte, das Freundinnen ihr empfohlen hatten. Ich musste noch immer grinsen wenn ich an Björns Reaktion dachte, als ich ihm erzählt hatte, dass ich mit Joana Brautkleidkaufen gehen würde. Er hatte es mir zuerst nicht geglaubt.
    „Ich hoffe nur, dass wir was finden, sonst wird’s ein bisschen eng.“ Sie schmunzelte bei diesen Worten, so als dachte sie gerade darüber nach, wie lustig es doch wäre, die Hochzeit abzublasen, weil das Kleid fehlte. „Ich kann’s mir ja zur Not noch schnell schneidern lassen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Verrückt oder? Alles läuft auf Hochtouren, an alles ist gedacht, nur nicht an das Brautkleid.“
    „Was hast du dir denn vorgestellt, ich meine vom Stil des Kleides her?“, fragte ich dann, weil ich dringend was sagen musste, und am besten informierte ich mich über ihren Geschmack, ich wollte ihr schließlich wirklich helfen.
    „Oh na ja, ich hatte an was schlichtes gedacht. Ohne viel Schickschnack. Und dann so ein toller, klassischer Schleier, den man auch über das Gesicht schlagen kann. Das Problem ist nur, dass es für den Winter nicht so schöne Auswahl gibt. Ich hatte eigentlich immer gedacht, im Sommer zu heiraten...“ Sie seufzte, „aber es kommt ja meistens sowieso anders, als man es sich vorstellt.“
    Sie fuhr schnell, in einer Durchschnittsgeschwindigkeit von hundertfünfzig km/h, deshalb kamen wir auch relativ früh an. Schon als kleines Kind hatte ich es geliebt, nach Frankfurt zu fahren, denn wenn man näher kam, flog ein Flugzeug nach dem anderen über einem hinweg, und manchmal schienen sie zum Greifen nah zu sein. Wir fuhren in das Zentrum, und ich stellte fest, dass Joana einen angenehmen Fahrstil hatte. Sie war weder aggressiv, noch legte sie unnötige Vollbremsungen hin. Sie fuhr in eines dieser grausamen, riesigen Parkhäuser und fand erst in der dritten Etage einen Platz für ihren Audi A3.
    „Hast du Hunger?“, fragte sie mich, als sie sich abschnallte und ihre Sonnenbrille abnahm.
    „Nein, noch nicht. Hatte genug in der Schule mit.“
    „Na gut, dann essen wir nach dem Einkauf, hältst du’s bis dahin aus?“
    Ich nickte und folgte ihr durch die Straßen von Frankfurt. Sie bewegte sich zielstrebig und ich merkte, dass sich die Männer ständig nach ihr umsahen. Das sich mein Bruder einen Hingucker geangelt hatte, war mir eigentlich schon von Anfang an klar gewesen, trotzdem fühlte ich mich komisch neben ihr. Sie hatte eine weiße Bluse und einen knielangen, beigen Rock an und trug ihr glänzendes, braunes Haar offen. Ich wurde fast ein bisschen eifersüchtig, aber mir wurde klar, dass die Landaus alle Blickfänger waren...naja, bis auf Ly vielleicht. Joana schien sich jedenfalls nicht von den Blicken beeindrucken zu lassen, ging mit straffen Schultern, erhobenem Kopf, es sah fast ein bisschen arrogant aus, aber ich schätzte, dass es eben einfach ihre Haltung war. Und dann kamen wir zu dem riesigen Geschäft, das nicht nur Brautmode, sondern auch Abendmode führte. Es war ein superteurer Laden mit ausschließlich Designerklamotten. Eine Verkäuferin mit fingerdickem, aber perfekt aufgetragenem Make-up kam auf uns zugetrippelt und fragte uns mit honigsüßer Singsangstimme, ob sie uns helfen könnte. Joana verneinte und sagte, dass sie sich erst mal umsehen wollte.
    „Ich kann es nicht haben, wenn mir ständig so eine wandelnde Parfümwolke über die Schultern guckt“, raunte sie mir zu und ich musste grinsen. Das konnte ich gut verstehen.
    Ich ging nach rechts und sie nach links. Ich sollte sie holen, sobald ich etwas Schönes gefunden hatte. Das ich und sie unter „schön“ etwas anderes verstehen konnten, daran dachte sie gar nicht erst. Sie schien mir blind zu vertrauen, aber ich stellte fest, dass sie einen ähnlichen Geschmack hatte wie ich. Wir fanden etwa ein halbes duzend in Frage kommender Kleider und die „Duftwolke“ half uns, sie zu den Umkleidekabinen zu bringen. Joana verschwand darin und kam kurz darauf mit einem chicen Kleid im englischen Stil heraus. Es war eng geschnitten und der Rock fiel nicht wie bei den meisten klassischen Hochzeitskleidern weit, sondern verlief erst ab den Knien glockig.
    „Und?“, fragte sie erwartungsvoll, während sie sich vor dem großen Spiegel mit verschnörkeltem Goldrahmen drehte.
    „Zu luftig“, entschied ich kopfschüttelnd. Sie nickte bedauernd. „Ich glaube, dass ist bei den meisten der Kleider der Fall.“ Sie verschwand wieder in der Umkleide und probierte ein Kleid nach dem anderen an. Jedes Mal, wenn Joana herauskam, war die Verkäuferin entzückt und meinte, dass es genau das Richtige wäre, aber Joana und ich fanden an jedem einen Makel und ich stellte schmunzelnd fest, dass sie irgendwann mit ihrem Urteil wartete, bis wir etwas dazu gesagt hatten und uns dann zustimmte. Gab es hier keine Verkäufer mit eigener Meinung?
    Nachdem Joana mit dem letzten Kleid auch noch nicht zufrieden war, seufzte sie enttäuscht. „Das gibt’s doch nicht, es wird doch wohl was zu finden sein.“
    „Ich guck noch mal genauer“, sagte ich und bat die Verkäuferin, mir bei der Suche behilflich zu sein. Als ich alle ihre Vorschläge abschlug, holte sie noch eine weitere Kollegin, die mit zig Katalogen ankam und sie vor mich auf einen Tisch legte. „Da finden Sie sicher eins. Wir können es Ihnen dann bestellen, wenn Sie uns Ihre Größen durchgeben.“
    „Ich bin nicht die Braut“, sagte ich grinsend. „Ich bin nur die zukünftige Schwägerin.“
    Als Joana hörte, dass die Bestellung drei Wochen dauerte, war sie am Rand der Verzweiflung. „Ich heirate schon in zwei Wochen.“ Die Verkäuferinnen, es hatten sich inzwischen noch zwei dazugesellt, machten erschrockene Gesichter. „Na da wird sich ja wohl was finden lassen“, sagte eine von ihnen und stakste auf ihren sieben-Zentimeter-Pfennigabsätzen weg. In der Zeit notierten sich die anderen die genauen Vorstellungen von Joana und dann schwärmten sie auch aus.
    „Machen Sie sich nur keine Sorgen, das kriegen wir schon hin“, versicherten sie, doch sie kamen alle erfolglos wieder zurück, am Boden zerstört, der jungen Braut nicht weiterhelfen zu können.
    „Na so ein Pech aber auch“, sagte die „Duftwolke“ und seufzte, als wäre sie diejenige, die für ihre Hochzeit kein Kleid hatte.
    „Moment!“, sagte eine von ihnen dann und ihr Gesicht begann zu strahlen. „Ich hab da noch ein As im Ärmel.“ Sie eilte davon und kam kurz darauf mit einem eingepackten Kleidungsstück zurück, befreite es aus der Schutzhülle und stellte sich damit vor uns. „Na, wie gefällt Ihnen das?“
    Joana und ich zogen beide begeistert die Luft ein. „Wow“, sagte ich nur und Joana hielt sich die Hand vor den Mund, während sie auf das traumhafteste Kleid sah, das ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Es war cremefarben, das Korsett war mit verschlungenen Mustern bestickt, an Ausschnitt, Saum und Rock hatte es zarte Spitzen.
    Die Verkäuferinnen quittierten unsere Reaktion mit strahlenden Gesichtern.
    „Jetzt muss es Ihnen nur noch passen, wir haben das gute Stück nämlich nur einmal und auch mehr zufällig. Ein Unikat von einer jungen Designerin, praktisch ein Newcomer.“
    Es passte tatsächlich wie angegossen, nur war es zu frei, um es im Winter anzuziehen, da es keine Ärmel besaß.
    „Das haben wir gleich“, sagte eine Verkäuferin, eilte weg und kam kurz darauf mit einem Sortiment von Jäckchen zurück, die alle dazu passen könnten. Joana entschied sich für ein kurzes, seidenes Bolerojäckchen mit Dreiviertelärmeln und kurzem Stehkragen. Zusätzlich nahm sie noch einen feinen Schleier, der hinten an der Frisur befestigt werden musste.
    „Wunderschön, traumhaft, einfach himmlisch“, schwärmten die Frauen und die Wette und Joana nickte ihrem Spiegelbild lächelnd zu. Sie wandte sich zu mir um. „Samira, haben wir’s geschafft?“
    Ich nickte ihr grinsend zu. Ich hätte niemals gedacht, dass das so kompliziert sein konnte.
    „Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Hilfe“, wandte sich Joana an die Frauen, die sie noch immer betrachteten als wäre sie eine Fee, aber verübeln konnte ich es ihnen nicht. „Würden sie uns jetzt bitte bei einem Kleid für meine Schwägerin helfen?“
    „Natürlich, wie sollte es denn sein?“
    „Es soll cremefarben sein“, sagte Joana dann wie aus der Pistole geschossen.
    „Was? Aber dein Kleid ist doch cremefarben“, protestierte ich.
    „Na und?“
    „Joana, ich kann doch nicht die gleiche Farbe tragen wie du.“
    „,Ich möchte es so. Du und Lydia, ihr sollt meine Brautjungfern sein. Und indem wir beide die gleiche Farbe tragen, zeigen wir, dass wir Björn teilen wollen.“
    Ich sah sie völlig verständnislos an.
    „Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich nicht vorhabe, dir deinen Bruder wegzunehmen. Ich wünsche mir, dass du die gleiche Farbe wie ich trägst.“
    „Und...und was ist mit den Gästen? Die...die werden denken...“, stotterte ich.
    „Es ist egal, was die denken. Ich möchte es so. Tust du mir den Gefallen?“
    Ich nickte und schluckte schwer.
    „Okay, so gefällt’s mir. Geh mit und such dir eines aus, achte nicht auf den Preis, die Kleider der Brautjungfern bezahlt die Braut.“ Sie schmunzelte und verschwand in der Kabine, um sich wieder umzuziehen.
    Ich sah einen Moment sprachlos auf die Stelle, wo sie eben noch gestanden hatte, dann bat mich die „Duftwolke“, ihr zu folgen und das ganze Drama ging von vorn los. Ich war allerdings jetzt nicht mehr so wählerisch und suchte mir das einfachste aus, was es an weißen Abendkleidern gab. Wenn ich schon weiß trug, würde ich einen unauffälligen Schnitt nehmen ohne irgendwelchen Schnickschnack. Ich nahm ein schlichtes, aber trotzdem schönes Kleid mit dünnen Spaghettiträgern und weicher, raschelnder Seide, das Schönste, das ich jemals besessen hatte. Dazu kaufte ich einen Seidenblazer in exakt der selben Farbe, mit kleinen Perlenknöpfen.
    „Wunderschön“, kommentierte Joana, „nur passt es dir nicht perfekt.“ Sie begutachtete mich von allen Seiten darin. „Nehmen sie an der Taille noch eine Änderung vor“, bat sie eine Angestellte und fuhr mit dem Finger über die Stelle, an dem der Stoff etwas weit fiel. „Und lassen sie an der Brust noch ein bisschen raus. Meine Güte, du kannst ja kaum darin atmen. Dann bemerkte sie lächelnd: „Du hast zweifellos eine zu gute Figur für dieses Kleid“ Ich starrte in mein Spiegelbild. Ich sah aus wie eine Prinzessin, nein schlimmer noch, ich würde wie die Braut aussehen! Mir fehlte nur noch der Schleier...und der Bräutigam.
    Die Angestellte nahm noch meine genauen Maße, wobei sie schmeichelnd feststellte, dass sie nah an den Modelmaßen lagen. Ob das stimme, konnte ich jedoch nicht beurteilen.
    Sie versprachen uns, das Kleid so schnell wie möglich fertig zu bekommen, und Joana bezahlte die riesige Summe beider Kleider für sage und schreibe rund fünftausend Euro mit der Karte und ich war unglaublich erleichtert, als wir das Geschäft verließen.
    „Ich finde, wir haben uns was zum Essen verdient“, seufzte Joana und führte mich in ein französisches Restaurant, wo ich mir mit den traditionellen Crêpes den Hunger stillte.
    „Ich bin so erleichtert, dass wir das hinter uns haben. Danke, dass du das mitgemacht hast, es hat mir Spaß gemacht. Und wir haben gefunden, was wir gesucht haben, dass ist das Wichtigste“, stellte sie zufrieden fest, als wir wieder nach Hause fuhren und die Flugzeuge schon im Rücken hatten.
    Ich schlief die ganze Fahrt, bis Joana mich weckte. „Wir sind da.“
    Ich rieb mir müde die Augen und richtete mich aus meiner zusammengesunkenen Position auf. „Oh, schon?“
    „Also mach’s gut, Samira.“
    „Du kannst Sam zu mir sagen“, sagte ich dann, nachdem ich diese dunkle Stimme in meinem Inneren verdrängt hatte, was schon ein bisschen Überwindung gekostet hatte.
    Sie lächelte, beugte sich zu mir rüber und umarmte mich herzlich. „Bis bald Sam. Und gib Björn einen Kuss von mir.“
    „Ich...ich bin froh, dass er dich gefunden hat“, sagte ich dann, bevor ich ausstieg, meinen Ranzen auf den Rücken schwang und ins Haus ging.
    Auch diese Schlacht war geschlagen. Es gab keinen Feind mehr, irgendwie war mir das fast etwas langweilig, aber ich hatte auch das Gefühl, dass es so richtig war. Ich wusste, dass Gott das von mir verlangte und dass es das Beste war.



    Re: Geschichte!

    claudi - 07.08.2008, 15:54


    sorry echt ne? :cry: :lol: dummer fehler!



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 07.08.2008, 16:17


    ach joo... :lol: jetzt bin ich ENDLICH zufrieden (obwohl ich den ganzen kram mit dem schwangerschafttest usw noch nich kapiert hab o.o das kannste deiner schwester sagen (die hat doch die geschichte geschrieben?!))

    Warum geht das nich noch weiter :cry: Ich bin soooo süchtig=D



    Re: Geschichte!

    crossgirl14 - 07.08.2008, 16:28


    jo, danke..
    aber stimmt.. das mit dem schwangerschaftstest versteh ich auch noch nich so wirklich..

    @Teiger:
    danke, aber den kuss meinte ich nicht, sondern die Stelle hier.. ->
    Zitat:
    Vor allem aber versteckte ich mich vor Daniel. Ich hatte panische Angst er könnte sehen, was sein Kuss in mir bewirkt hatte.


    könnte es nich doch sein, dass manche teil nicht ganz gepostet wurden, weil sie zu lang waren... ? :?


    tut mir leid, aber ich bin einfach nich zufrieden bis ich das gefühl hab, die geschichte ist komplet.t.... :D
    aber die ist halt so schön :roll: :)



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 07.08.2008, 17:24


    ja, das hab ich auch schonmal erwähnt... vielleicht hat sie ja auch Blick gemeint :roll:

    Außerdem: Das mit dem Besuch und dem Kennenlernen zwischen Daniel und Elm hätte sie ruhig auch schreiben können -.-"



    Re: Geschichte!

    crossgirl14 - 07.08.2008, 21:02


    jo, stimmt..

    :?



    Re: Geschichte!

    LillyRose - 07.08.2008, 22:26


    ja klar man hätte alles noch ausführlicher machen können. Aber ich finde die story nach wie vor total schön auch wenn es ein paar Lücken giebt :D



    Re: Geschichte!

    crossgirl14 - 07.08.2008, 22:36


    claudi hat folgendes geschrieben:
    Dan und ich probten mit der Band das Hochzeitslied, wobei ich sorgsam darauf achtete, Jan aus dem Weg zu gehen. Vielleicht war das nicht ganz fair, aber ich wusste es nun mal nicht anders. Ich hatte keine Erfahrungen, was das Abwimmeln von Jungs betrifft, genauso wenig wie das Anbaggern.


    was war da mit jan ... ?
    *neugierig sei*
    oder hab ich iwas überlesen... ?:oops:


    @LilllyRose: jojo, stimmt schon..

    aber wenn man diese lücken füllt -> vllt. gibts dann ja doch noch ne chance, dass zu veröffentlichen.. also, als buch rauszubringen.. =)



    Re: Geschichte!

    LillyRose - 07.08.2008, 23:35


    ja meine ich auch. Das man das ganze nochmal überarbeiten müsste damit es gedruckt werden könnte
    das heißt nicht das ich die geschichte nicht mag. Ich finde die Geschichte wirklich super toll!!!



    Re: Geschichte!

    claudi - 08.08.2008, 18:28


    xXxTeigerxXx hat folgendes geschrieben: ja, das hab ich auch schonmal erwähnt... vielleicht hat sie ja auch Blick gemeint :roll:

    Außerdem: Das mit dem Besuch und dem Kennenlernen zwischen Daniel und Elm hätte sie ruhig auch schreiben können -.-"

    häää? das ist doch drinn das kennenlernen...
    ey leute ich denk auch bald ich hab nicht ganz alles... also nur teile von kapiteln.... check ichnicht... aber egal... ihr könnt euch doch den rest denken

    UND JETZT FÜR ALLE!
    DER SCHWANGERSCHAFTSTEST WRA ERFUNDEN VON SILAS ALS RACHE FÜR SAMS KÜSSMÜNDER!!!♥ GECHEKCT???



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 08.08.2008, 20:29


    du kannst vllt nochmal alle Kapitel reinstellen, aber nicht alles in einer Post, sonder für jedes Kapitel eine Post :roll: vielleicht klärt sichs ja dann :roll:



    Re: Geschichte!

    Ruth - 08.08.2008, 23:01


    hey, diese geschichte ist einfach hammer!!!!

    und das mit den fehlenden teilen, wäre schon noch cool, wenn du alle kapitel einzel einfügen könntest :lol:



    Re: Geschichte!

    crossgirl14 - 08.08.2008, 23:25


    jo, das wär echt nett von dir... :? :)



    Re: Geschichte!

    claudi - 09.08.2008, 12:27


    uuuuffff neee leute sorry aber ich hab grad nchgesehn!
    es fehlt doch nihts was seeehr wichgi ist!
    keine panik!
    erzählt sie doch mal nach die geschichte.
    also z.B.
    Sam ist 16 jahre alt und der bruder björn sagt ihr dann dass er..... :wink: das würde mir helfen



    Re: Geschichte!

    Ruth - 09.08.2008, 13:54


    ooooch, biiiiitte!!!!!!
    Ich fänds mega schade, wenn wir dass verpassen...!!!! das mit dem kuss und der verarsche, also dem schwangerschaftstest, und so steht wirklich nirgends, aber ich würde es so gerne lesen!!!
    Tus für uns!!!!!!*ganzliebguck*



    Re: Geschichte!

    claudi - 09.08.2008, 17:17


    der kuss ist doch draaaaauf kapitel 22



    Re: Geschichte!

    Ruth - 10.08.2008, 13:05


    was ist das denn in kapitel 18?!?!



    Re: Geschichte!

    claudi - 11.08.2008, 13:57


    markier mal die szene wo sie sich angeblich küssen?
    kopier mal!



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 11.08.2008, 14:41


    Zitat: Vor allem aber versteckte ich mich vor Daniel. Ich hatte panische Angst er könnte sehen, was sein Kuss in mir bewirkt hatte.

    Sie küssen sich nicht, aber die sagt, dass sie sich geküsst ahebn :roll: :evil: :evil: :evil: :evil:



    Re: Geschichte!

    claudi - 11.08.2008, 19:52


    auf die wagne!



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 14.08.2008, 19:31


    ahhhsooo xD xD

    okii... sag deina sis, die soll sofort weiterchreiben (wenn sie das noch net gemacht hat) un dem verlag geh ich mal was sagen-.-" Einfach diegeschichte net annehem, geht ja niich :nein: is voll gemeiin =( :!:



    Re: Geschichte!

    claudi - 15.08.2008, 14:59


    jta ist so!
    übrigens hat sie gesagt wie sie sich die geschicthe weiter vorstellt aber sie hat gesagt das wird sie nieee aufschreiben...

    ich sags euch lieber nnicth denn es ist apsolut schieße wies "weitergeht" nachd er fantasie meiner schwester!
    neee müsst ihr nicht umbedingt hörn!!! :roll: totaaaaaal dooof!!!!!



    Re: Geschichte!

    Ruth - 15.08.2008, 20:58


    aaach so ist das mit dem kuss*lichtaufgeh*
    ooooch, bitte sag uns wies weitergeht, ich will es so gerne wissen!!!!!!!!*ganzliebguck*
    wenn wirs nicht gut finden können wir es uns ja selbst anders denken....



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 16.08.2008, 12:49


    ahhhhjaa xD



    Re: Geschichte!

    claudi - 24.08.2008, 14:19


    dan stirbt!
    er färht nämlcih in die mission und da stirbt er halt
    sam verliebt sich in silas denn er sit total vernünftig geworden.... der färht auch in die mission als artz (das hat er gelerntmitlerweile)
    samis tsauer und verlobt sich mit ieinem... dan kommt silas kurzfristig zurück und sam merkt sie kann den typi da nicht heiraten..... silas fliegt wieder zurück in die mission und sam fliegt ihm nach.... dann heiraten sie da (sam ist 26 mitlerweile)


    scheiße ne?



    Re: Geschichte!

    Ruth - 24.08.2008, 16:01


    ja, das ist scheisse!!!! dan kann doch nicht einfach sterben!!!! da denke ich mir lieber die geschichte selbst weiter.... :D



    Re: Geschichte!

    claudi - 26.08.2008, 15:29


    ja siehtste!!!! :D



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 30.08.2008, 10:34


    der kann doch nich einfach sterebn ö.Ö

    aber lesen würd ichs schon ganz gerne xD



    Re: Geschichte!

    claudi - 30.08.2008, 13:14


    jaaa ich auch... will ja noch überreden :D



    Re: Geschichte!

    claudi - 09.09.2008, 14:16


    das buch hieß übrigens (un ) vollkommen perfekt :lol:



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 13.09.2008, 17:17


    dann überred sie schnell :lol: :roll:



    Re: Geschichte!

    claudi - 14.09.2008, 12:38


    ufff unschaffbar

    vllt soltl ich mir das zum gebby wünschen!????



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 14.09.2008, 16:41


    mach das :lol:



    Re: Geschichte!

    claudi - 15.09.2008, 15:41


    genau das mach ich dann echt

    oder das wird sie ja eh nich machen... daher wünsch ich mir enfahc nen e-pilog.. :D



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 18.09.2008, 15:01


    gnaz genau!^^ so machstes jez xD



    Re: Geschichte!

    claudi - 19.09.2008, 14:00


    ja und den stell ichdan aber ncih ins forum :D
    hihi



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 08.10.2008, 16:41


    och menno-.-



    Re: Geschichte!

    claudi - 09.10.2008, 13:16


    ich hab nen e-pilog... bekommen .. ich stell ihn rein :D



    Re: Geschichte!

    claudi - 09.10.2008, 13:18


    hier... oohman dabei ises immer noch nich n perfektes ende!!! hehe



    Epilog

    „Schwesterchen, komm her!“ Björn kam mit strahlendem Gesicht auf mich zu und nahm mich fest in die Arme. „Herzlichen Glückwunsch, Kleines.“ Er sah mich an, wie ein stolzer Vater seine Tochter ansieht. „Das Abi mit einem glänzenden Durchschnitt von 2,1.“ Er schüttelte erstaunt den Kopf. „Das hätte ich dir jetzt nicht zugetraut.“
    Ich lachte und boxte ihm in die Rippe, sodass er aufkeuchte. Joana lachte amüsiert und gab mir einen herzlichen Kuss auf die Wange. Umarmen ging bei ihr nicht mehr so gut, denn ihr im achten Monat schwangerer Bauch war dabei sehr hinderlich. „Wir sind ja so stolz auf dich, Sam. Du siehst übrigens toll aus.“ Sie sah an meinem perfekt sitzenden Kostüm herunter, dass ich zusammen mit ihr ausgesucht hatte. Seit ich mit Joana einkaufen ging, hatte sich mein Klamottenstil drastisch verändert, was jedoch nicht hieß, dass ich im Tally Weijl „Totally Sexy“ Ramsch kaufte.
    Wir kamen an einer Traube weiterer Abiturienten vorbei, die alle dabei waren, aus dem Schulgebäude zu strömen und wir gratulierten uns gegenseitig. Ich vermisste Elmer plötzlich extrem aber er hatte sich für ein Abitur im Ausland entschieden und ich war fest davon überzeugt, dass er mit seinen Eltern in Kalifornien gerade sein Nummerus-Klausus mit einem Festessen feierte. Der gute alte Elm. Frau Kaiser nahm mich strahlend in die Arme und als sie mich ansah, waren ihre Augen feucht. „Ich wusste es, Sam. Von Anfang an habe ich an dich geglaubt.“ Ich konnte gar nicht die Dankbarkeit dafür ausdrücken, deshalb nickte ich nur lächelnd und gab mir alle Mühe nicht zu heulen. Scheiße, was würde ich sie vermissen, was würde ich diese ganze Zeit vermissen...
    „Sam, kommst du?“, rief Björn mir von weitem zu. Ich verabschiedete mich von meinen heulenden Klassenkameraden und sprintete zu ihm herüber. Zu Hause warteten Gäste auf uns, die ich auf keinen Fall warten lassen wollte.
    Ich wurde wie der Präsident höstpersönlich empfangen. Sie standen alle im Flur und sangen: „Hoch soll sie leben...“, mit einem solchen Elan, dass mir jetzt unweigerlich die Tränen in die Augen schossen. Die erste, die mir in die Arme fiel, war Ly, dann folgten meine Großeltern und schließlich Werner und Marion. Sogar Nico war gekommen und nahm mich gratulierend in Empfang. Silas kam gerade in den Flur mit einer riesigen Eistorte, worin lauter Wunderkerzen steckten. Er trug einen albernen Papierhut und hatte sich in Luftschlangen eingewickelt. „Sammy, lass dich drücken“, er schob die Eistorte in Omas Hände und umarmte mich fest. „Wie siehst du denn aus?“, fragte ich entsetzt, als er seinen Papierhut abnahm und ihn mir aufsetzte. „Meine neue Friesur, wie findest du sie? Geil, he?“ Er strich sich über seinen blondierten Iro und ich konnte mich nicht mehr halten vor lachen. „Du siehst aus wie ein Hahn“, prustete ich und er quittierte es mit einem beleidigten Schulterzucken. „Du hast doch keine Ahnung was geil ist. Ich meine, du bist schließlich mit meinem Bruder zusammen...“ Er duckte sich lachend, als ich ihm einen Klaps auf den Hinterkopf verpassen wollte.
    Ja, Dan. Er fehlte nur noch zu meinem Glück. Er konnte erst später kommen, weil er heute eine wichtige Klausur hatte. Er war im vierten Semester seines Medizinstudiums, was ihn sehr in Anspruch nahm. Er hatte ein total schlechtes Gewissen gehabt, dass er meine Zeugnisvergabe verpassen würde, aber ich hatte ihn beruhigt. Er sollte sich heute ganz auf seine Klausur konzentrieren können. Ich zählte schon die Minuten, bis er endlich kam.
    Wir saßen noch lange bei Kaffee und Kuchen und es klingelte erst an der Tür, als alle schon gegangen waren. Ich hatte mich umgezogen und trug jetzt eine bequeme Jeans und ein Sweatshirt. Ich rannte zur Tür, riss sie auf und taumelte zurück, als mir ein überdimensionaler Rosenstrauß entgegenkam, hinter dem man den Überbringer gar nicht sehen konnte. Dan lugte grinsend dahinter hervor. „Herzlichen Glückwunsch, Zuckerschneckchen“, sagte er, und ich lachte auf, weil er genau wusste, dass ich es hasste, wenn er mich so nannte. „Was soll das werden, ein Heiratsantrag?“
    „So ähnlich“, kommentierte er und ich half ihm, den Strauß einigermaßen heil durch die Tür zu befördern. Weil ich keine so große Vase ausfindig machen konnte, teilte ich den Strauß in vier und steckte ihn in vier Vasen. Als wir beide die Hände frei hatten, küssten wir uns lange. „Ich bin stolz auf dich Sam“, flüsterte er mir zwischendurch ins Ohr, bevor er mich wieder küsste. „Ich hab das heute schon ungefähr eine dreitausend mal gehört, aber von dir hört es sich definitiv am besten an. Wie war deine Klausur?“
    Er lächtelte. „Soweit man eine Klausur über vier Zeitstunden gut nennen kann, war sie gut. Aber lass uns nicht davon reden. Heute ist dein großer Tag.“
    „Und was machen wir jetzt?“
    Er zwinkerte verschwörerisch. „Komm mit!“ Er führte mich in sein Auto und wir fuhren zu unserem Lieblinsplatz, einem Wiesenstück am Ufer eines Sees. „Und jetzt?“, fragte ich verwundert und wollte eine ironische Bemerkung über diese seltsame Spritztour machen, aber ich kam nicht mehr dazu, weil er seine Lippen auf meine drückte. Das war immer noch das beste Argument. Er stieg aus und holte aus seinem Kofferraum einen CD- Player, eine Decke und einen Picknickkorb mit Kerzen, Sekt und Knabbersachen mit.
    Ich freute mich riesig über die romantische Idee und die Mühe, die er sich dabei gemacht hatte. Er arrangierte alles schön auf der Wiese, zog mich zu sich auf die Decke und schüttete mir den Sekt ein, wärend im Hintergrund leise Schnulzenmusik dudelte. „Stoßen wir an“, sagte er feierlich, „auf dich und auf uns.“ Wir prosteten uns zu und genossen den Sekt in der Abenddämmerung.
    „Langsam glaub ich echt daran, dass du mir gleich einen Heiratsantrag machst“, kicherte ich und kuschelte mich in seine Arme. „Naja, warum eigentlich nicht? Dann muss ich mir wenigstens nur einmal die Mühe mit dem Strauß machen. Du hast ja keine Ahnung was für eine Tortur das war, das Ding ins Auto zu kriegen.“
    Ich setzte mich auf und sah ihm tief in seine wunderschönen blauen Augen, die damals mein Herz für einen Moment lang haben aussetzten lassen, als ich zum ersten mal hineingesehen hatte. Ich glaube, ich liebte ihn damals schon, nur es war mir noch nicht so bewusst. Ich wusste, dass ich ihn immer lieben würde, komme was wolle. Ich war mit meinem Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. „Ich liebe dich...“ weiter kam ich nicht, denn ein Geräusch ließ uns beide zusammenzucken. Dans Auto war dabei gemächlich die Böschung auf das Ufer zuzurollen.
    Ich konnte nicht anders, als lauthals anzufangen zu lachen. „Du hast doch nicht wirklich vergessen die Handbremse zu ziehen...“, rief ich ihm hinterher, als er seinem hinabrollenden Auto hinterherrannte.











    wie war er?



    Re: Geschichte!

    xXxTeigerxXx - 09.10.2008, 14:18


    Wie lol^^ Ich musste so anfangen zu lachen ey^^ ich lach immernoch xD *hahahaha* man eyyy^^ Das Auto, wie geil xD xD

    Wie alt ist sam jetzt?



    Re: Geschichte!

    claudi - 10.10.2008, 10:06


    ich glaub... 19.... ka



    Re: Geschichte!

    Schnuffi - 10.10.2008, 14:12


    wieso kann ich das 1.kapitel auf der seite 1 nicht sehen?



    Re: Geschichte!

    Schnuffi - 10.10.2008, 18:16


    ah jetzt kapier ich es glaub ich :D



    Re: Geschichte!

    claudi - 11.10.2008, 20:16


    ja es is inem andrem topic... hehe



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