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Bellow, Saul - Mann in der Schwebe




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Bellow, Saul - Mann in der Schwebe

Beitragvon chip » 03.03.2008, 09:57

Chicago, 1942. Es ist die Zeit der Helden und Hartgesottenen. Die propagandistische Bewerbung nach neuen Kriegern ist in den USA angelaufen und kühner Patriotismus wird in jenen Tagen groß geschrieben. Joseph gehört nicht zu den Kriegshelden, die eine ganze Epoche prägen werden.

"Sie sind in der inneren Einsicht nicht geübt und daher schlecht gerüstet, mit Gegnern fertig zu werden, die sie nicht wie Großwild niederschießen oder im Wagemut übertreffen können."

Seit sieben Monaten wartet Joseph nun schon auf seine Einberufung zum Militärdienst, doch die Steine der Bürokratie mahlen langsam. Seitdem baumelt er, ohne Arbeit, ohne Ziel, ohne Motivation, in einer kleinen Pension, zusammen mit seiner Frau Iva. Um die Zeit des Wartens auszufüllen führt er Tagebuch, notiert Gedanken und Eindrücke, beobachtet sich und seine Umgebung während dieser unsicheren Zeit.

“In einer Stadt, wo man fast sein ganzes Leben verbracht hat, wird man sich kaum jemals einsam fühlen, und doch bin ich in einem sehr realen Sinne genau das. Ich bin zehn Stunden täglich allein in einem einzigen Zimmer.“

Diese Aussage auf den ersten Seiten veranlasst mich dazu, in Joseph einen isolierten jungen Mann zu sehen und bin ein wenig enttäuscht, als diese Erwartungshaltung auf hinkendem Fuß steht, denn er ist in den kommenden Tagen und Wochen eigentlich nie zuhause. Lustlose Besuche bei Freunden, belanglose Gespräche in sehr einfach gestrickter Sprache werden in sein Tagebuch eingetragen. Und doch, beim Weiterlesen erkennt man sie, die Kritik, die verborgene Botschaft hinter der scheinbaren Bedeutungslosigkeit seiner Wortwahl. Die Isolation wird spürbar, und das in einem Umfang, der meine Erwartung in den Schatten stellt.

Es ist der Verhaltenskodex der Gesellschaft, der kritisiert wird. Immer dazu verleitet, die gleichen Pfade entlang zu laufen, auf ihre unreflektierte und ignorante Weise. Bohrenden Fragen auszuweichen und Dinge als gegeben hinzunehmen, statt sie zu prüfen. Es sind die Denkmuster des modernen Menschen, die Joseph anprangert, wenn sich gar 10jährige Kinder abfällig über seine Arbeitslosigkeit äußern. Er sucht nach dem Zweck ihres Daseins, versucht dem Menschen einen Sinn einzuverleiben. Einst in der Überzeugung, die Freiheit als höchstes Gut zu betrachten, wird sie nach seinen Überlegungen zum eigentlichen Fluch. Die Umwelt hat sich in Vorgänge und Routinen verhakt, wo Freiheit ihren Wert verliert. Der moderne Mensch muss sich den ungeschriebenen Gesetzen anpassen, sich ihnen unterwerfen, sonst scheitert er.

Joseph bittet um Beschleunigung seiner Einberufung, weil er sich einsam und ausgeschlossen fühlt. Er ist seiner Freiheit überdrüssig geworden, die doch nur Verwahrlosung zur Folge hat. Um Akzeptanz zu erlangen, nimmt er gar die Unterwerfung seines Geistes in Kauf.

“Das ist mein letzter Tag als Zivilist … Man kann mich nicht mehr für mich verantwortlich machen, dafür bin ich dankbar. Ich bin in anderen Händen, von der Selbstbestimmung erlöst, der Freiheit enthoben.
Ein Hoch dem geregelten Leben!
Und der Bevormundung des Geistes!
Lang lebe die straffe Ordnung!“

:stern: :stern: :stern: :stern: (:stern:)

Gruß,
chip

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chip
 

von Anzeige » 03.03.2008, 09:57

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Beitragvon tom » 03.03.2008, 10:15

Tolle Rezi und ein mich interessierendes Buch. Was fuer ein Thema! Den Namen von Bellow habe ich zwar schon oefters gehoert, doch erst durch diese Rezi kommt mal etwas Inhalt dazu! Danke!
tom
 

Beitragvon chip » 03.03.2008, 11:29

Danke tom!
Stimmt, schon erschreckend, wie wenig Material im Netz zu finden ist, wenn man die Genialität seines Schreibens berücksichtigt.
Dies ist sein Erstlingswerk, 1944 erschienen, was an sich schon bemerkenswert ist, das Thema in der wohl brisantesten Zeit zu veröffentlichen.

Noch ein paar Eckdaten der wikipedia entnommen:

Geboren 1915 in Kanada, gestorben 2005.
Bellow erhielt „für das menschliche Verständnis und die subtile Kulturanalyse, die in seinem Werk vereinigt sind“ 1976 den Nobelpreis für Literatur. Kurz zuvor wurde er für den Roman Humboldts Vermächtnis (engl. Humboldt’s Gift) mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Werke:
* 1944 Dangling Man (Der Mann in der Schwebe)
* 1947 The Victim (Das Opfer)
* 1953 The Adventures of Augie March (Die Abenteuer des Augie March)
* 1956 Seize the Day (Das Geschäft des Lebens)
* 1959 Henderson, the Rain King (Der Regenkönig)
* 1964 Herzog (Roman)
* 1965 The Last Analysis
* 1968 Mosby's Memoirs (Kurzgeschichten)
* 1970 Mr. Sammler's Planet (Mr. Sammlers Planet)
* 1975 Humboldt's Gift (Humboldts Vermächtnis)
* 1976 To Jerusalem And Back (non-fiction)
* 1982 The Dean's December (Der Dezember des Dekans)
* 1984 Him With His Foot In His Mouth (Der mit dem Fuß im Fettnäpfchen)
* 1987 More Die of Heartbreak (Mehr noch sterben an gebrochnem Herzen)
* 1989 A Theft (Ein Diebstahl)
* 1989 The Bellarosa Connection (Bellarosa Connection)
* 1991 Something To Remember Me By (Kurzgeschichten)
* 1994 It All Adds Up
* 1997 The Actual (Die einzig Wahre)
* 2000 Ravelstein (Ravelstein)

Gruß,
chip
chip
 

Beitragvon Pippilotta » 03.03.2008, 14:55

bei mir subt "Ravelstein" --- irgendwann einmal aus der Mängelkiste mitgenommen. Werde es mal näher begutachten ...
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Beitragvon Katia » 03.03.2008, 18:36

Ich habe vor nicht allzulange Zeit "Herzog" gelesen, dass mir zwar gefallen, aber mich gelangweit hat. Sprich: es war gute Literatur, aber ich hab' sie nicht gern gelesen. Deswegen ist meine Hemmschwelle ein weiteres Bellow-Buch zu lesen ziemlich hoch - Deine Rezi macht mir aber trotzdem Appetit - von "abgeschrieben" rutscht Bellow hiermit zu "vielleicht irgendwann wieder".

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