Geschichte einer Vogelscheuche

Gasthaus am Ende der Welten
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    Re: Geschichte einer Vogelscheuche

    Sinja - 10.03.2006, 13:51

    Geschichte einer Vogelscheuche
    Hallo ihr Lieben,

    ich hatte eine kleine Anfrage auf meine Geschichte zu dem Bild mit dem Mädchen. Leider existiert hierfür keine. Aber ich habe eine andere Geschichte, die ihr vielleicht lesen wollt.
    Ich werde immer Kapitel für Kapitel die Story reinstellen.
    Ich hoffe sehr, sie gefällt. Es sind ergüsse aus meiner Jugendzeit, die ich vor 2 Jahren endlich auf Papier gebracht habe.

    So, dann... bitte schön...



    Re: Geschichte einer Vogelscheuche

    Sinja - 10.03.2006, 13:52


    Die Begegnung

    Vor zehn Jahren auf der Farm meiner Eltern hatte ich die seltsamste und unheimlichste Begegnung meines Lebens. Ich wollte es eigentlich niemandem erzählen, weil ich befürchtet hatte, man würde mich für verrückt erklären. Doch was habe ich schon schlimmes zu erwarten, außer dass man mit dem Finger auf mich zeigt und den Kopf schüttelt.

    Ich war neunzehn Jahre jung und hatte schon die Schnauze voll vom Landleben. Jeden Tag nach den Vorlesungen immer der gleiche Rhythmus: meiner Mutter in der Küche helfen, Lernen, das Vieh von der Weide holen und in den Stall bringen. Jeden gottverdammten Tag das gleiche. Manchmal musste ich sogar meine Vorlesungen sausen lassen um zu helfen.
    Ich hasste die Semesterferien, weil ich viel früher aufstehen und ackern musste.
    Es war Spätsommer als wir auf unseren Maisfeldern, wie jedes Jahr, die Vogelscheuchen aufstellten. Ich hasste diese leblosen Puppen mit ihrer zerfetzten Kleidung. Wir stellten immer dreizehn dieser ungemütlichen Kerle auf. Mein Vater meinte, die Zahl würde uns Glück bringen. Ich fand meinen Vater schon immer seltsam, aber irgendwie hatte er Recht. Seit wir diese Anzahl an Vogelscheuchen hatten, hatte sich unsere Maisernte fast verdoppelt. Ich habe nie verstanden warum.
    Eine dieser Puppen war der Anführer, wie mein Vater immer sagte. Meine Mutter hatte dem Anführer den Namen „Scarface“ gegeben. Er, bzw. es... wie auch immer, war der einzige, der kein Gesicht hatte. Lediglich eine grob zusammengenähte Stelle an seiner linken Wange. Alle anderen Vogelscheuchen hatten Knöpfe als Augen, eine Naht als Mund und sogar Ohren aus Stoffresten. Einige von ihnen hatten zwar keine Gliedmaßen aber das war ja nicht schlimm. Vogelscheuchen sollen schließlich unheimlich aussehen.
    Scarface allerdings war anders. Er hatte nichts weiter als einen Hut auf dem Kopf, der tief in seinem nichtvorhandenen Gesicht gezogen war. Seine Kleidung war schwarz und zerfetzt. Der lange Mantel schliff immer auf dem Boden, wenn mein Vater diese fast zwei Meter große Vogelscheuche zu ihrem Platz mitten auf dem Feld brachte. Sie war mit reichlich Stroh gefüllt. Aus ihren Ärmeln und dem Hemdkragen blitzten ab und zu Strohhalme raus, die mein Vater sogleich wieder entfernte. Mein Vater wollte, dass Scarface perfekt aussieht und nicht wie alle anderen Vogelscheuchen. Ich habe nie verstanden, warum er und meine Mutter so ein Theater um ihn machten. Ich hasste diese Puppe. (Habe ich eigentlich erwähnt, wie viele Dinge ich früher hasste?)
    Scarface wurde, wie alle anderen, an eine Holzkonstruktion gebunden. Sie sahen aus wie Jesusfiguren, die auf einem Feld aufgestellt waren. Meine Mutter fand diese Aussage zwar blasphemisch, aber ich fand, dass diese Vorstellung passte! Meine Mutter ist eine ziemlich gläubige Frau. Für meinen Geschmack etwas zu gläubig. Sie erledigt nichts im Hause ohne zuvor eine Art Ritual abzuhalten. Ich kann nicht sagen, dass ich mich zu den gläubigen Menschen zähle. Doch ich musste mich immer fügen und brav meine Gebete aufsagen und dämliche Rituale abhalten.
    Doch im inneren habe ich Gott schon lange vergessen. Er hatte es schließlich auch mit mir getan.
    Wie dem auch sei, in diesem Jahr war es ziemlich heiß und ich half meinem Vater mit kurzen Hosen und einem Tanktop, die Puppen auf ihre „Kreuze“ zu hängen.
    Es war wie eines der Rituale, die meine Eltern so liebten. Wir begannen immer mit der gleichen Vogelscheuche und endeten mit Scarface. Es jagte mir immer einen Schauer über den Rücken, wenn Vater dieses Monstrum von Puppe (ich weiß wie lächerlich das klingt; Monstrum von Puppe, aber es war so!) an ihr Kreuz band.
    Diesen Sommer fiel jedoch mein Vater von der Holzkonstruktion und kugelte sich den Arm aus. Er hatte geflucht und fürchterlich gejammert (Männer!). Ich hatte Mitleid mit ihm und sah verärgert zu dem Anführer der Vogelscheuchen auf (ich hasste diesen Kerl!)
    Die Sonne knallte uns auf die Köpfe und Scarface hing leblos an seinem „Kreuz“. Nur seine Fetzen am Mantel und sein Hut bewegten sich leicht.
    Dadurch, dass er so hoch hing und die Sonne von oben runter schien, hüllten die Schatten Scarface in völlige Dunkelheit...es war unheimlich in die Schwärze zu sehen, dort wo eigentlich sein Gesicht sein sollte.
    Ich hasste die Mittagszeit auf dem Feld. (Ich weiß, ich war ein ziemlich hasserfülltes Wesen)
    Zumindest hing schließlich der letzte verdammte Kerl und wir konnten endlich wieder nachhause.
    In der Abenddämmerung kam ein leichter Sturm auf und wehte über unsere Köpfe hinweg. Wenn etwas in unserer Farm schief lief, war der Schuldige meistens gleich zu stelle. Ich.

    Meine Eltern waren der Meinung, ich würde mich nicht genug bemühen und so würden sie nur Schaden davon tragen und Gott würde seinen Zorn an uns auslassen.
    An diesem Abend hatte sich mein Vater einige Flaschen Bier genehmigt, trotz Proteste meiner Mutter. Er hatte nämlich zuvor Schmerztabletten zu sich genommen. Zum Arzt ging er ja nicht. Er war der Meinung eine Schlinge und sein Glauben würde seinen Arm schon kurieren. (Männer! Ich weiß, dass hatten wir schon.)
    Er saß also auf der Terrasse und blickte nun auf das Feld hinaus. Sein Blick fiel sofort auf das Kreuz in mitten unseres Maisfeldes. An ihm hing niemand. Mein Vater rief lallend ins Haus, meine Mutter solle doch bitte den guten alten Scarface wieder aufhängen. Doch Mutter war mit meiner Nervensäge von Schwester beschäftigt.
    Das kleine vierjährige Biest konnte wirklich die ganze Familie auf Trapp halten. Das Biest hatte an dem Morgen die Küche unter Wasser gesetzt indem sie meinen Teddy in den Abflußschredder stopfte und das Wasser laufen ließ.
    Zu guter Letzt blieb die Arbeit doch an mir hängen. Zunächst musste ich aber die Küche wieder in Ordnung bringen. Schließlich war es mein Teddy gewesen, der den Abfluss verstopfte. (das war Sarkasmus!)
    Dann beeilte ich mich aufs Feld zu kommen, bevor die letzten Sonnenstrahlen auch noch verschwanden. Eine Taschenlampe hatte ich trotzdem dabei.
    Der Mais war bereits schon zwei Köpfe größer als ich. Zunächst lief ich auf dem Traktorweg in Richtung Mitte des Feldes. Dann bog ich in das dichte Gestrüpp der Pflanzen. Praktisch blind lief ich auf die Stelle zu, wo nun unser leeres Kreuz stand.
    Mein Vater rief mir noch zu und wollte wissen, ob ich es alleine schaffe. Ich antwortete ihm patzig, dass ich doch kein kleines Kind sei. Doch innerlich war ich froh, seine Stimme noch zu hören, auch wenn ich ziemlich weit draußen auf dem Feld war.
    Schließlich erreichte ich das Kreuz und leuchtete mit der Taschenlampe um die Holzkonstruktion herum. Kein lebloser Körper lag auf dem Boden. Ich blinzelte und leuchtete mit einer 360° Drehung um mich. Nichts.
    Ein plötzlicher Windstoß bewegte die Maispflanzen. Ich erschrak leicht und leuchtete wieder um mich (ich hasste das Maisfeld). Mit einem tiefen Atemzug besann ich mich wieder und grinste. Irgendwie war ich froh, dass dieser Mistkerl endlich fort war. Er jagte mir schon immer eine Heidenangst ein. Ich rief laut in Richtung Haus, dass ich ihn nicht finden könne und morgen nach ihm suchen werde. Bevor ich wieder in Richtung Haus aufbrach, lauschte ich nach einer Antwort von meinem Vater. Doch er antwortete nicht.
    Mit einem flauen Gefühl im Magen blickte ich mich wieder um. Lächelte dann wieder verlegen und sagte laut zu mir „Der Alte ist bestimmt eingepennt. So besoffen wie der war.“
    Nun begann ich mich von dem Kreuz zu entfernen.
    Wie aus dem Nichts huschte plötzlich ein Schatten links an mir vorbei und ich leuchtete in diese Richtung. Ich konnte gerade noch erkennen, dass es Stoffetzen waren, die im Dunkel der Maispflanzen verschwanden.
    Mein Herz machte einen Sprung und ich hatte das Gefühl, dass es für Sekunden aufgehört hatte zu schlagen.
    Ich rief wieder laut in Richtung Haus nach meinen Vater. Doch wieder erntete ich nur Schweigen. (was hätte ich auch anderes erwartet... ich hatte schließlich genug Horrorfilme gesehen)
    Ohne auch nur einen Gedanken zu verschwenden, ging ich mit schnellen Schritten wieder in Richtung Haus. Der Lichtkegel der Taschenlampe tanzte auf dem Boden und ich bahnte mir meinen Weg zurück. Die rauen Blätter peitschten dabei auf meine nackten Arme und Beine. Sie hinterließen dort schmerzhafte, rote Striemen (ich revidiere meine Aussage: ich hasse die Blätter noch mehr als den Mais).
    Doch auf der Hälfte des Weges, schoss wieder der Schatten an mir vorbei. Der Schatten kam, keine zwei Meter von mir entfernt, zum Stillstand. Vor mir stand nun die Gestalt eines Mannes; eines Mannes mit einem zerfetzten schwarzen Mantel und einem Hut auf dem Kopf, der tief ins Gesicht gezogen war.
    Die Sonne war bereits untergegangen und meine Taschenlampe leuchtete die unheimliche Gestalt an. Eigentlich wusste ich wer da vor mir stand. Aber mein Verstand wollte es nicht wahr haben.
    Da machte die Vogelscheuche einen Schritt auf mich zu. Ich wich zurück und hob die Taschenlampe wie ein Schwert (mir ist auch bewusst wie lächerlich das war aber was erwartet ihr?).
    Ein leises Grunzen kam aus ihrer Richtung. Es höre sich an, als ob sie lachen würde. Ich war verwirrt und umklammerte meine Lampe mit beiden Händen. Wieder ein Grunzen. So langsam aber sicher machte mich das leicht wütend (auch wenn ich in diesem Augenblick ziemlich Schiss hatte, ich wollte dem Kerl eine reinhauen für seine Lache).
    Scarface hob plötzlich seine Hand und schob langsam seinen Hut etwas in die Höhe. Sein leeres Gesicht wurde freigelegt. Er starrte, sofern das ohne Augen geht, mich an. Plötzlich hörte ich ein leichtes Zerren und Reißen. Der Stoff, der seinen Kopf umhüllte riss an zwei stellen auf. Zwei Schlitze bildeten unerwartet ein Augenpaar. Ein weiteres lautes Reißen zeichnete dann seinen Mund ab. Sein Gesicht war nun nicht mehr leer. An Stelle seiner Augen waren zwei Schlitze und das Stroh schaute aus den Lidern raus. Dies galt auch für seinen Mund. Der Stoff war an dieser Stelle aufgeplatzt und bildete zerfetzte Lippen die mich angrinsten.
    Meine Augen traten in diesem Moment bestimmt aus den Augenhöhlen. Ich stand wie angewurzelt da und überlegte ob ich schreien, weglaufen oder tot umfallen sollte.
    Da sagte Scarface mit einer tiefen und kalten Stimme „Tot nützt du mir nichts.“
    Eine weitere Welle der Furcht durchfuhr mich und ich trat einen Schritt zurück. Sein Grinsen wurde breiter.
    „Weglaufen nützt dir auch nicht. Ich bin schneller als du, Kleines.“
    Ängstlich schaute ich Richtung Haus, auch wenn ich es nicht sehen konnte, begann ich langsam tief Luft zu holen.
    „Nicht doch, sie werden dich auch nicht hören. Dein Vater schläft seinen Rausch aus und deine Mutter plagt sich mit dem kleinen Biest ab.“
    Mir war alles egal, ich schrie so laut ich konnte und rannte in einem kleinen Bogen um die Vogelscheuche herum. Meine Füße schienen den Boden gar nicht zu berühren. Das Licht der Lampe tanzte wie wild vor mir und ich folgte ihm blindlings.
    Plötzlich riss mich etwas an der Schulter nach hinten und ich landete auf dem Rücken. Mit einem dumpfen Schlag krachte mein Kopf auf die weiche Erde (muss wohl weiche Erde gewesen sein, schließlich ist was aus mir geworden). Die Lampe wurde aus meiner Hand geschleudert und landete einige Meter weiter weg im dichten Gestrüpp der Pflanzen. Nur ein schwaches Licht durchdrang die Stämme des Mais´.
    Dann war er über mir. Mit seinen Armen hielt er mich auf den Boden gedrückt und starrte mich mit den leblosen, leeren Augenhöhlen an. Diesen Anblick werde ich nie vergessen. Vereinzelte Strohhalme blitzen aus den Augenschlitzen hervor, sein Mundwinkel war zu einem Grinsen gebildet und die „Narbe“ an seiner Wange verzog sich seltsam nach oben. Seine zerfetzten Lippen begannen nun langsam und deutlich zu sprechen.
    „Warum hörst du nicht auf mich. Ich sagte doch, dass das alles nichts nützt.“
    Mit jedem Wort, das er aussprach, hörte ich das Stroh in seinem Mund rascheln. Ich starrte fasziniert und doch voller Angst auf seinen Mund. Plötzlich kniff er seine Lippen zusammen und schloss die Augen. Ich hörte in seinem Inneren ein leises, dumpfes Schlürfen, Schmatzen und erneutes Reißen. Unter seiner „Leinenhaut“ bewegte sich etwas. Es sah aus, als ob sich Dutzende Würmer unter der Oberfläche bewegen würden. Mir wurde ganz anders in der Magengegend herum. Der Stoff, der das Stroh zusammenhielt, begann sich langsam aufzulösen. Eine andere, glibberige Masse überzog seinen Kopf und es bildete sich tatsächlich menschliche Haut auf seinem Gesicht. Über seinen Lidern wuchsen Augenbrauen, seine Lippen formten sich zu einem ansehnlichen Mund. Seine Wangenknochen und das Kinn kamen leicht zum Vorschein, so dass er nicht mehr aussah wie eines der Puppen aus der Muppet Show.
    Als er seine Lider öffnete war ich eigentlich auf Augen gefasst, doch in den Augenhöhlen waren keine zu sehen. Sie waren nach wie vor leer (nur ohne Stroh eben).
    „Gefalle ich dir so besser?“ kam es aus seinem neugebildetem Mund. (was jetzt kommt wird euch vermutlich dazu bringen mit voller Wucht die Hand gegen die Stirn zu schlagen) Ich schüttelte den Kopf. „Nein“ sagte ich kleinlaut.
    Seine rechte Augenbraue hob sich leicht und er sah mich leicht verwundert an „ Willst du wieder das andere Gesicht?“
    Ich schüttelte abermals den Kopf, diesmal heftiger. Er schmunzelte leicht und nickte zufrieden.
    Seine Arme hielten mich noch immer an den Boden gedrückt. Seine Hände waren in Handschuhe gehüllt und ich konnte nicht erkennen, ob diese nun aus Stroh waren, oder ob sich nun sein ganzer Körper in etwas...Menschliches verwandelt hatte. Ich wollte unbedingt wissen, wie er es geschafft hatte, Stoff in Haut zu verwandeln. (In Anbetracht dessen, was ich in diesem Moment erlebt habe, war ich wirklich sehr rational und ruhig. Wer sonst würde sich solche dämlichen Fragen überlegen, während eine eigentlich leblose Vogelscheuche sich auf einem bequem macht?)
    „Was willst du von mir?“ fragte ich ganz naiv.
    „Willst du mich umbringen?“
    Scarface hob beide Augenbrauen und blickte kurz genervt zur Seite.
    „Sag mal Liebes, hast du mir nicht zugehört? Ich sagte dir doch, tot nützt du mir nichts.“
    Ich schluckte und starrte ihn ängstlich an.
    „Was zur Hölle willst du dann?“ sagte ich mit leicht zittriger Stimme. Diese Puppe..... Mann...... Ding schmunzelte plötzlich und kam mit seinem toten Gesicht meinem gefährlich nahe.
    „Ein Versprechen.“ hauchte er. Sein Atem fühlte sich eiskalt an und ich bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. (es war wirklich kalt!)
    „W..wwas für ein Versprechen?“ stotterte ich und schaute zum ersten mal von seinem Gesicht weg. Ich registrierte, dass er immer noch auf mir lag. Ich fühlte mich wie ein Beutetier unter einer Raubkatze, das jeden Augenblick den tödlichen Biss zu erwarten hatte. (was hätte ich tun sollen? Ihn fragen: „Bevor du weiterquatschst, kannst du bitte
    runter von mir? Auch wenn du nur aus Stroh bestehst, du bist ziemlich schwer.“?) Ich hielt also still und regte mich keinen Zentimeter. Er schien zu merken, dass er doch etwas zu schwer war für mich und rutschte runter von mir. Seine rechte Hand hielt jedoch weiterhin mein Arm fest. Er gestattete mir mich ebenfalls zu setzen. (ich dachte nur:
    Cool, Picknick, mitten in der Nacht mit einer lebendig gewordenen Vogelscheuche...wie romantisch)
    „Weißt du eigentlich warum ich hier bin?“ fragte er mich ruhig und fixierte merkwürdigerweise einen Punkt hinter mir.
    Ich nickte „Klar... du hängst hier rum und erschreckst arme Vögel.“ (ich hatte schon immer Schwierigkeiten die richtigen Worte zu finde...... na ja, ich sollte jetzt auch aufhören derartig triviale Sprüche von mir zu geben. Ich halte jetzt meine Klappe und erzähle die Geschichte, wie sie passiert ist).



    Re: Geschichte einer Vogelscheuche

    Sinja - 10.03.2006, 15:53


    Die Offenbarung

    Die Vogelscheuche... der Mann legte den Kopf zur Seite und schnalzte mit der Zunge. „Weißt du, dass du eine verzogene, arrogante und dumme Göre bist? Anstatt mich mit deinen ach so geistreichen Kommentaren zu belustigen, solltest du mir jetzt lieber zuhören!“
    Auch wenn sein Einwand amüsant war, überlegte ich es mir zweimal ihm etwas entgegen zu bringen. Also schwieg ich.
    „Ich sehe, du verstehst mich. Und jetzt steh auf!“
    Er erhob sich und streckte mir seine Hand entgegen. Nur zögernd ergriff ich sie und ließ mir auf die Beine helfen. Er war mehr als einen Kopf größer als ich und ich musste meinen Kopf in den Nacken werfen um in sein Gesicht zu schauen. Wobei ich es gleich wieder bereut habe, als ich seine leeren Augenhöhlen sah.
    „Glaub mir, ich würde dich gern mit meinen eigenen Augen sehen.“ sagte er mit einer merkwürdig traurigen Stimme. Dann räusperte er sich erzählte mir etwas, was ich mein Leben lang nicht vergessen werde.
    „Auch wenn du es nicht glauben kannst, ich war einmal ein lebender, atmender und fühlender Mensch. Mein Name war Jareth. Ich kam auf die Farm deiner Eltern vor vielen Jahren. Ich suchte nach einer Arbeit, nur für kurze Zeit. Ich wollte eigentlich nach einigen Wochen wieder meinen Weg fortsetzten. Vagabunden wie ich einer bin, halten es nie lange an einem Ort aus.“
    Scarface.......nein, Jareth lächelt leicht und schien kurz in der Vergangenheit zu schwelgen. Dann fuhr er mit einer eisigen Stimme fort.
    „Doch deine Eltern ließen mich nicht gehen. Statt dessen töteten sie mich.“
    Das traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich starrte ihn einfach nur an und sagte für mindestens 2 Minuten nichts. Dann schüttelte ich den Kopf und brachte nur ein leises Röcheln hervor das soviel wie „nein“ heißen sollte. Doch Jareth fuhr fort.
    „Ich war das erste Opfer. Das Erste von Dreizehn.“. Er machte eine ausholende Geste und zeigte in die Richtungen, in denen die restlichen Vogelscheuchen hingen.
    „Du lügst!“ schrie ich hinaus und trat einen Schritt zurück. Daraufhin lächelte er nur müde und trat mir entgegen. Nur langsam schüttelte er den Kopf und gab mir damit zu verstehen, dass ich nicht fliehen sollte.
    „Du lügst!“ sagte ich noch einmal. „Auch wenn meine Eltern keine perfekten Menschen sind, sie sind keine Mörder. Ja, sie sind schräg und fanatisch, was ihren Glauben angeht, aber sie töten doch nicht! Wenn in dieser Farm so viele Menschen getötet wurden, warum habe ich nichts gemerkt? Warum gab es nie irgendwelche Untersuchungen von der Polizei?“ sprudelte ich hervor, holte tief Luft und fügte hinzu „Außerdem habe ich den ganzen Mist hier erledigt. Ich habe nie einen Arbeiter hier gesehen. Ich musste auf der Farm schuften. Wo ward ihr dann? Hä?“
    Ich war wütend, zitterte am ganzen Körper. Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte. Ich wollte es auch ehrlich gesagt nicht glauben.
    Doch die menschgewordene Vogelscheuche stand einfach nur da und schien mich mitleidig anzulächeln. Sie kam wieder einige Schritte auf mich zu und kniete sich vor mich. Langsam zog Jareth seine Handschuhe aus und tastete vorsichtig meine Beine entlang hinunter an meine Knie. Knapp unterhalb des Knies berührte er eine Narbe. Ich runzelte die Stirn. Es hatte den Anschein, als ob Jareth nicht sehen konnte. Doch diesen Gedanken wischte ich schnell beiseite. Schließlich konnte er mich mühelos quer über das Maisfeld verfolgen und fangen.
    „Woher hast du diese Narbe?“ fragte er mich.
    Ich sah an mir herab und zuckte leicht zusammen.
    „Ich.. ich, was hat das mit meinen Eltern zu tun?“ stotterte ich.
    Er schaute mich mit seinen leeren Augenhöhlen an „Ich mag keine Gegenfragen.“ antwortete er kühl.
    „Ein Unfall. Ich bin gestürzt. Ich glaube, ich fiel von meiner Schaukel.“
    Ich versuchte mich daran zu erinnern, doch die Bilder waren verschwommen. Das einzige, woran ich mich genau erinnern konnte, war ein weißes Tuch, das um mein Knie gebunden wurde. Ich kann in meinen Gedanken noch immer deutlich erkennen, wie das reine Weiß, durch das Blut, rot getränkt wurde.
    Jareth lächelte zufrieden, als ob er meine Gedanken erraten hätte. Er griff in seine innere Manteltasche.
    „Wer glaubst du, hat dir damals die Wunde verbunden, Kleines?“
    Langsam zog er ein weißes Halstuch hervor. Es war blutbefleckt. Mit zitternden Händen nahm ich das Tuch und betrachtete es mit großen Augen.
    „Du... du warst es?“
    Ich konnte nicht fassen, was ich da in meinen Händen hielt. Meine Gedanken überschlugen sich. Mitten in der Nacht stand ich mit einer lebendig gewordenen Vogelscheuche auf einem Maisfeld und redete über meine Vergangenheit. Noch dazu wollte mir diese Vogelscheuche weiß machen, dass meine Eltern Mörder waren.
    Plötzlich sah ich mich in meinen Gedanken als kleines Kind wieder. Das kleine Mädchen langweilte sich und lief umher. Es schlich sich leise hinter die Farm zum Eingang der Scheune. Das Tor der Scheune stand nur einen spaltbreit offen. Es schaute neugierig in die Scheune. Zunächst konnte es nicht erkennen, was sich im Zwielicht abspielte. Der Vater des Mädchens stand mit dem Rücken zum Tor und war leicht nach vorne gebeugt. In seiner Hand hielt er einen glänzenden langen Gegenstand. Vor ihm lag etwas... jemand. Gefesselt und geknebelt wand sich die Gestalt auf dem niedrigen Tisch. Der Vater richtete nun den langen, spitzen Gegenstand auf das Gesicht des Mannes, der auf dem Tisch lag. Das Mädchen erkannte den Mann. Es war der nette Onkel, der seine Wunde verbunden hatte. In seiner Hand hielt er krampfhaft das Halstuch fest.
    Wie gebannt schaute das Mädchen dem Treiben seines Vaters zu.
    Das Messer begann sich langsam zu senken, direkt in die Augen des netten Onkels...
    Das alles war zuviel. Ich tat etwas, was jeder normale Mensch in dieser Situation getan hätte. Mit Mühe und Not reichte ich ihm sein Halstuch zurück und übergab mich kurzerhand.
    Während sich mein Mageninhalt entleerte, fühlte ich, wie Jareth mir meine Haare aus dem Gesicht strich und sie festhielt.
    Als sich endlich mein Magen beruhigt hatte, richtete ich mich auf. Mit geballten Fäusten stand ich da, starrte auf den Boden und wagte es nicht aufzublicken.
    Jareth, der vor mir stand, legte seine Hand auf meine Schulter und sprach leise auf mich ein.
    „Es ist nicht deine Schuld. Deine Eltern haben die Taten begangen. Du hattest keine Ahnung...“.
    Ich hörte nicht mehr zu. Wie konnte ich nur diese schrecklichen Bilder vergessen? Wie konnte ich all die Jahre mit meinen Eltern leben?
    „Deine Eltern haben dir deine Gedanken vernebelt. Du konntest dich gar nicht daran erinnern.“ Erklärte Jareth mir ohne ihn gefragt zu haben.
    „Verdammt noch mal, hör´ auf meine Gedanken zu lesen!“ schrie ich ihn an. Ich war verwirrt und wütend. Er lächelte nur.
    „Ich kann dich verstehen. Glaub mir, ich würde nicht anders reagieren. Doch was ich dir erzählt habe ist die Wahrheit. Deine Eltern sind selbst Marionetten. Werkzeuge für eine höhere Macht.“. Jareth ging einen Schritt zurück und betrachtete mich. Doch irgendwie schien er nicht richtig in meine Richtung zu „sehen“.
    „Du kannst mich nicht sehen... Habe ich Recht?“ fragte ich ihn frech und trotzig. In diesem Augenblick wollte ich mich rächen, auch wenn diese Frage nur schwach meine Wut lindern konnte.
    Langes Schweigen. Dann drehte er sich um.
    „Und? Was macht das schon?“
    „Du bist blind. Du kannst mich gar nicht sehen. Ich könnte jetzt leise abhauen und du könntest gar nichts tun.“.
    Ich blieb weiterhin stehen und machte keine Anstalten zu fliehen. Ich schaute ihn lange an und fragte ihn schließlich „Was für ein Versprechen willst du, dass ich einlöse?“.
    Sichtlich verwundert drehte sich Jareth um und „schaute“ mich an.
    „Du würdest mir das Versprechen geben?“ fragte er.
    „Es bleibt mir wohl keine andere Wahl.“ erwiderte ich.
    “Sicher, du kannst es ablehnen. Ich werde dich nicht zwingen.“ hörte ich ihn leise sagen. Denn mittlerweile hatte er sich wieder mit dem Rücken zu mir umgedreht.
    Ich überlegte nur einen kurzen Moment. Atmete tief ein. „Ich werde dir helfen. Schließlich hast du dem kleinen Mädchen damals auch geholfen. Ich schulde dir etwas.“
    Da wirbelte er herum und war mit schnellen Schritten bei mir. Er hielt ein langes glänzendes Messer in der Hand. Mit kalter Stimme sagte er „Versprich mir, dass du mich erlösen wirst. Versprich mir, dass ich in Frieden einschlafen kann. Versprich mir, dass du mir mein Augenlicht wieder gibst, damit ich im Himmel Wunder sehen kann.“ Er machte eine lange Pause und sprach dann „Versprich mir, dass du deine Eltern und das Böse in eurem Haus vernichtest!“
    Wie vom Donner gerührt stand ich da. Das Messer glänzte im Mondschein vor meinem Gesicht.
    Ich konnte mir keine Vorstellung davon machen, was mich noch in dieser Nacht alles erwartete.



    Re: Geschichte einer Vogelscheuche

    Sinja - 10.03.2006, 16:10


    Ein beschwerlicher Weg

    „Wir müssen los.“ befahl Jareth knapp und lief auf dem geebneten Traktorweg Richtung Farm.
    Das Messer in der Hand, trottete ich ihm langsam hinterher. Ich war wie in Trance und mein Kopf war leer. Ich folgte einfach der großen schwarzen Gestalt. Sein zerrissener Mantel wehte unheimlich hinter ihm her. Die Fetzen tanzten in der Luft während er schneller voranschritt.
    Plötzlich blieb Jareth stehen. Beinahe hätte ich ihn, mit dem Messer in der Hand, erstochen. Ich konnte gerade noch das Messer senken, bevor ich mit voller Wucht gegen sein Rücken stieß.
    „Was ist denn?“ maulte ich genervt.
    Mit einer blitzschnellen Bewegung zog er mich am Arm zwischen die Maispflanzen. Unter lautem Protest verschwanden wir zwischen den Pflanzen und Jareth hielt auf der Stelle meinen Mund zu.
    „Sei still verdammt noch mal!“ zischte er leise. „Wir sind nicht allein.“ flüsterte er hinterher.
    Mit geweiteten Augen sah ich mich um, wischte langsam seine Hand von meinem Mund und verhielt mich ruhig. Ich lauschte.
    Aus der Ferne hörte ich plötzlich ein Zerren und Quietschen, also ob Holz zersplittern würde. Dann hörte ich einen dumpfen Aufprall; wie ein Kartoffelsack, der unsanft auf den Boden geworfen wurde.
    Ängstlich schaute ich auf und blickte Jareth ins Gesicht. Er schien ziemlich angespannt zu sein und horchte in alle Richtungen. Nun bemerkte ich auch, dass überall auf dem Feld Dinge zum Leben erwachten. Weiter nördlich von unserem Standort, hörte ich ein Plumpsen. Ein weiteres im Süden. Umzingelt von den Geräuschen wuchs in mir die Angst immer weiter und weiter.
    Ein leichter Wind kam auf und die Blätter des Mais sangen ein unheimliches Lied.
    Doch als ich genauer hinhörte, konnte ich zwischen dem Geflüster der Blätter und einem Flüstern von Menschen unterscheiden. Wir waren tatsächlich nicht mehr alleine.
    Jareth packte mich am Arm und zerrte mich weniger sanft weiter. Ein trockener Zweig zerbrach laut unter meinen Füßen. Das Flüstern stoppte plötzlich und Jareth tat es dem gleich. Ich hielt den Atem an und lauschte angestrengt. Nichts war mehr zu hören. Selbst der Wind hatte aufgehört zu seufzen. Doch dann explodierten schlagartig überall auf dem Maisfeld Geräusche. Ein schriller Schrei ertönte und plötzlich flog eine Schar Krähen laut krächzend in den schwarzen Nachthimmel. Dann war die Luft vom Knacken der Maisstämme zu hören, die brutal gebrochen wurden.
    „LAUF!“ schrie Jareth und rannte, meinen Arm gepackt, durch die Maispflanzen.
    Die Blätter der Pflanzen schlugen auf meine nackten Arme und Beine. Ich spürte nach einigen Metern das Blut meine Haut entlang floss.
    Doch Jareth kannte keine Gnade. Er rannte, mit mir im Schlepptau, unbeirrt weiter.
    Zwischen den laut zerberstenden Maispflanzen hörte ich die flüsternden und zischenden Geräusche immer näher kommen.
    Im Zickzack rannten wir fast blind durch das Feld. Eigentlich rannten wir nur in die Richtung, in der die Geräusche, das Knacken und Flüstern nicht zu hören waren. Ich bewunderte Jareth. Er lief zielsicher zwischen den Pflanzen umher. Ohne auch nur einmal irgendwo dagegen zu stoßen führte er uns raus aus dem Feld.
    Ich stoppte abrupt. Wo waren wir?
    Ich starrte auf eine weite Ebene voller Geröll, Felsen und Staub. Rechts von uns stand ein vertrockneter Wald. Die Baumstämme ragten unheimlich knochig in die Lüfte. Zwischen den Bäumen war es schwarz. So schwarz wie das Gefieder der Krähen, die in diesem Moment über unsere Köpfe flogen.
    Da fiel mir wieder ein, dass wir verfolgt wurden. Kaum hatte ich den Gedanken registriert, schnappte Jareth wieder mein Arm und zog mich in Richtung Wald.
    Atemlos kamen wir zum Waldrand. Wir liefen noch einige Meter in die Dunkelheit als wir endlich hielten.
    Jareth schaute zurück. Mir fiel auf, dass er gar nicht aus der Puste war. Nur ich schnaufte wie ein Pferd nach einem Rennen. Er stand einfach nur da und starrte zurück in das Maisfeld.
    „Sie werden uns nicht hierher in den Wald folgen.“ sagte er leise. „Dann muss ich wohl meinen Plan ändern und das Unangenehme zuerst erledigen.“ murmelte er.
    „Wer... was waren das für Dinger?“
    Ich stellte mich neben ihn und schaute ebenfalls aus dem Wald raus.
    „Ach weißt du, mit diesen „Dingern“ hänge ich schon seit Jahren rum.“
    Er schien zu schmunzeln. Doch mir war nicht zum Lachen zumute.
    „Sind das die anderen Opfer?“ fragte ich besorgt. Er nickte nur.
    „Warum sind wir geflohen?“
    Er schaute mich etwas verwundert an. „Willst du wieder zurück? Bitte. Ich halte dich nicht auf. Ich werde weghören, wenn du anfangen solltest um Gnade zu winseln.“
    „Aber warum sollten sie mir was antun? Ich habe die Morde nicht begangen. Du bist doch auch nett zu mir... in gewisser weise.“ fügte ich verunsichert hinzu.
    Jareth schmunzelte wieder. „Das ist nur Tarnung. Wenn du schläfst, falle ich über dich her und töte dich.“
    Meine Augen weiteten sich und ich ging einen Schritt zurück.
    „Das war ein Scherz.“ sagte er munter, doch dann fuhr er mit kalter Stimme fort „Die anderen sind verbittert. Nicht jeder kann unterscheiden zwischen unschuldigen und schuldigen Menschen. Außerdem bin ich intelligent genug, um dich zu benutzen. Ich will meine Rache, ich will meine Erlösung. Glaub ja nicht, dass ich dich beschütze um deinetwegen. Ich tu es meinetwegen.“
    Er blickte wieder auf das Maisfeld.
    Ich stand da, wie vom Donner gerührt. Aber er hatte Recht. Schließlich haben meine Eltern diese schreckliche Tat begangen. Ich hätte es ihm nicht übelgenommen, wenn er mich dafür gehasst hätte.
    „Was tun wir jetzt? Laufen wir um das Maisfeld herum?“ fragte ich nach einer Weile. Er stand einfach nur da und wandte sich dann ab von mir. Er setzte seinen Weg fort. Tiefer in den Wald.
    Ich murmelte leise „Das heißt dann wohl Nein.“
    Nach ungefähr einer halben Stunde nahm ich meinen Mut zusammen und fragte noch einmal „Wohin gehen wir? Sollten wir nicht zurück auf die Farm?“
    „Wir gehen einen kleinen Umweg.“ sagte er knapp.
    Wieder nach einer Weile spürte ich meine Arme und Beine, die ziemlich zerschunden aussahen. Das Blut war mittlerweile verkrustet. Die Wunden rissen ab und zu auf. Ich wunderte mich, warum wir so lange liefen. Das Wäldchen sah schließlich nicht so groß aus.
    „Ich hab schreckliche Schmerzen.“ jammerte ich und zuckte im gleichen Moment zusammen, weil ich ein Donnerwetter erwartete.
    Doch Jareth blieb stehen und drehte sich zu mir.
    „Wo tut es dir weh?“
    Erst schluckte ich und wollte nichts sagen doch dann zählte ich meine Wehwehchen auf.
    „Meine Arme und Beine sind zerkratzt. Mein Knöchel ist umgeknickt und tut weh. Außerdem hab ich Hunger und Durst. Und ich brauch eine Pause.“ sprudelte ich hervor.
    Jareth lachte „Du bist so eine kleine Prinzessin. Lass mal sehen.“
    Er führte mich auf einen kleinen Felsen. Ich setzte mich hin. Er zog seine Handschuhe aus und steckte sie in seine Manteltasche. Dann tastete er vorsichtig nach meinem Knöchel. Mein Fuß war leicht angeschwollen.
    Seine Finger fuhren dann langsam meine Beine entlang und berührten sanft die Verletzungen. Mit meinen Armen fuhr er fort und ertastete auch hier vorsichtig die Wunden.
    „Weiter vorne ist ein kleiner Bach. Wir können die Kratzer dort sauber machen. Dein Knöchel kannst du dort auch kühlen.“
    „Wunderbar, ich verdurste schon...aber Moment mal. Das sind keine Kratzer. Ich bin wirklich verletzt!“ protestierte ich doch Jareth stand schon lachend auf und lief wieder weiter. Schmollend folgte ich ihm, mit dem Messer wild in der Luft fuchtelnd.
    Wenig später hörte ich schon das sanfte Plätschern eines Baches. In diesem trostlosen und dunklen Wald war dieser kleine Bach eine große Erheiterung meines Gemüts. Jetzt wirkten die Bäume weniger bedrohlich.
    Das Wasser glitzerte wunderschön im Zwielicht des Mondes. Nicht weit entfernt sah ich zu meiner Überraschung eine Parkbank stehen.
    „Das... das hier ist das Anderson Wäldchen. Stimmt´s? Aber das Wäldchen liegt doch einige Kilometer nördlich von unserer Farm. Das kann doch nicht sein. Wir sind nach Westen gelaufen.“
    „Heute Nacht ist alles anders.“ erklärte Jareth lediglich und ging zum Wasser. Ich folgte ihm und setzte mich ans Ufer. Das Messer legte ich neben mich. Nachdem ich einen Schluck getrunken hatte zog ich den Schuh aus und tauchte meinen linken Fuß ins Wasser. Jareth befeuchtete indessen sein weißes Halstuch.
    Er wrang das Tuch über dem Wasser aus und gab es mir.
    Ich säuberte die Wunden an meinen Beinen und Armen.
    Ein Ächzen kam über meine Lippen als ich versuchte an die Striemen an meiner Schulter heran zu kommen. Leider vergeblich.
    Jareth schüttelte den Kopf und nahm mir das Tuch wieder ab. Er tupfte dann vorsichtig das Blut von meiner Schulter.
    „Glaub ja nicht, dass ich dir jetzt wieder etwas schulde.“ grummelte ich leise.
    „Keine Sorge. Nach dieser Nacht brauche ich dich nicht mehr.“
    Irgendwie versetzte dieser Satz mir einen Stich in die Brust. Ich schwieg.
    Nachdem er mich behandelt hatte wusch er das Tuch wieder ab und setzte sich neben mich. Wir schwiegen lange.
    Ich brach das Schweigen.
    „Was ist mit den anderen passiert. Was waren sie... vorher?“
    Jareth seufzte und wandte seinen Blick ab. Er schien das Wasser anzustarren.
    „Sie waren auch arbeitslose Streuner wie ich. Doch die meisten von denen waren auch kriminell. Einige von ihnen saßen bereits einmal im Gefängnis. Andere konnten ihre Taten bis heute gut verberge. Unter ihnen waren Diebe, Räuber, Vergewaltiger und sogar Mörder.“.
    Er zog seine Knie an und stützte sein Kopf drauf.
    „Sie denken anders als ich. Ich will nur meinen Frieden. Sie dagegen wollen ihr jetziges Dasein, genauso ausleben wie Früher. Nur sind sie jetzt gefährlicher denn je.“
    „Meine Eltern... sie... sie haben dir deine Augen genommen. Was ist mit den anderen Männern passiert?“ fragte ich verunsichert.
    Jareth schnaubte verächtlich.
    „Die anderen wurden ebenfalls verstümmelt. Sie nahmen ihnen die Ohren, Nase, Zunge, das Gehirn, die Leber, die Lunge, die Nieren und das Herz. Ihre Arme und Beine wurden abgetrennt. Ja, einem haben sie sogar die Gedärme entnommen.“
    „Was sind meine Eltern? Etwa Organhändler???“ stieß ich entsetzt hervor. Er schmunzelte leicht. „Nein, nicht direkt. Dem gewissenlosesten und gefährlichsten Mann wurde die Seele genommen.“ Er hatte aufgehört zu lächeln.
    „Die Seele? Das klingt jetzt aber unrealistisch.“
    Ich sah ihn mit hochgezogener Augenbraue skeptisch an. Ich dachte mir nur, ich würde gleich aufwachen und feststellen, dass dies hier alles ein Traum war.
    „Unrealistisch... du findest es unrealistisch einem Mann die Seele zu rauben? Ist es etwas normal für dich, dass eure Vogelscheuchen zum leben erwachen und mit dir ein Plauderstündchen abhalten? Wir haben es hier nicht mehr mit deiner normalen und langweiligen Welt zu tun. Jetzt, da du alles weißt, ist es gefährlich für dich. Du kannst nicht mehr zurück zu deinen Eltern und weiterleben, als ob nichts gewesen wäre. Und die Sache mit dem Traum, kannst du dir Abschminken! Das geschieht wirklich, Kleines“ konterte er und blickte wieder ins Wasser.
    Das Messer neben mir glitzerte als ich es leicht anhob. Ich betrachtete es und fragte mich ernsthaft, ob ich überhaupt noch den Willen hatte diese Nacht durchzustehen.
    Jareth erhob sich plötzlich „Wir müssen weiter. Es ist nicht mehr weit bis zum Wasserturm.“
    Ich zog meinen Schuh wieder an, hob das Messer auf und stand erst einmal verdutzt da.
    „Wir gehen zum Wasserturm?“
    Doch Jareth hörte gar nicht zu, so schien es. Er lief einfach weiter. Ich folgte ihm nachdem ich mit meinem Gürtel das Messer an meiner Hüfte befestigt hatte. Ich hatte schließlich bemerkt, dass es gefährlich sein konnte dieses Ding weiter in der Hand zu tragen.
    Wir bahnten uns den Waldweg bis zu einer Lichtung durch. Jareth blieb stehen und legte den Kopf schief. Er schien zu hören. Dann schnüffelte er ein paar Mal und bog nach links ab. Bevor ich ihm wieder nachlief, schaute ich mich noch einmal um. Der Weg wurde beschwerlicher. Die Bäume standen sehr dicht beieinander. Ich stolperte oft über Wurzeln und blieb an Ästen hängen. Ich wagte es jedoch nicht auch nur einen Mucks von mir zu geben. Statt dessen biss ich die Zähne zusammen und lief tapfer weiter. Endlich kamen wir aus dem Wald hinaus.
    Jareth wartete schon leicht ungeduldig am Rande eines Weges. Bei genauerem Hinsehen, erkannte ich jedoch die alten stillgelegten Eisenbahnschienen.



    Re: Geschichte einer Vogelscheuche

    Sinja - 13.03.2006, 17:20


    Der Wasserturm
    Wir liefen mitten auf den stillgelegten Eisenbahnschienen Richtung Farm nach Süden. Der Mond stand mittlerweile hoch am Firmament. Ich konnte bereits von weitem den Wasserturm sehen. Er stand irgendwie knochig und einsam im Zwielicht der Nacht.
    Langsam und leicht stolpernd balancierte ich auf den Schienen. Ich streckte meine Arme aus und versuchte mein Gleichgewicht zu halten. Dann erkannte ich plötzlich die Albernheit meines Verhaltens. Ich hatte soeben erfahren, welch schrecklichte Taten meine Eltern begangen hatten und ich balancierte wie ein kleines verspieltes Kind auf Eisenbahnschienen. Ein unangenehmes Gefühl schlich in meine Magengegend. Auf der Stelle begannen Gewissensbisse meine Gedanken zu quälen.
    Ich stieg von den Schienen und lief mit gesenktem Haupt weiter. Jareth schien zu merken, was mit mir Los war. Er legte sanft seine Hand auf meine Schulter und lächelte.
    Dann liefen wir schweigend weiter.
    Am Fuße des Turms angekommen sah ich eine Kiste auf dem Boden stehen. Doch diese interessierte ihn nicht.
    Jareth deutete auf die Leiter nach Oben. Der Wassertank lag auf einem rostigen Metallgestell. Vier dünne Stahlträger hielten das große Gebilde fest. In der Mitte zweier Stahlträger war eine Leiter. Sie führte senkrecht nach Oben und sah nicht gerade sicher aus.
    Ich erklomm also die erste verrostete Sprosse der Leiter und nahm sogleich einen widerlichen Geruch wahr. Mit jedem Schritt hörte ich das Metall unter mir ächzen. Unsicher schaute ich nach Oben. Der Wassertank bestand aus einem Zylinder und einem kegelförmigen Dach. Um den Tank herum führte eine ca. 1 Meter breiter Plattform.
    „Weiter!“ befahl Jareth von Unten. Ich fuhr meinen Aufstieg fort. Vorsichtig nahm ich eine Sprosse nach der Anderen. Er folgte mir in einem angemessenen Abstand.
    Oben angekommen, stand ich auf der Plattform und versuchte nicht nach Unten zu schauen. Es waren bestimmt 10 Meter bis zum Erboden. Oder mir kam es nur so hoch vor.
    Den Rücken an die Tankwand gepresst, wartete ich auf Jareth.
    „Wir müssen weiter nach Oben.“ sagte er als er bei mir ankam. Ich stand wie angewurzelt da und entdeckte zu meinem Entsetzten eine weitere Leiter, die zum Dach des Tankes führte. Unter mir konnte ich die Plattform sehen. Sie bestand aus Holzbrettern, die schon sichtlich von Termiten zerfressen waren. Durch einige Ritze konnte ich nach unten schauen. Ich bereute es auf der Stelle und blickte wieder nach vorn. Heftig schüttelte ich den Kopf.
    „Oh nein, ich steig nicht weiter rauf. Vergiss es!“
    Jareth verzog seine Lippen zu einem schiefen Grinsen, wurde wieder ernst und schnappte meinen Arm. Unsanft zog er mich zur Leiter. Mit einer schnellen und kraftvollen Bewegung hievte er mich auf die erste Sprosse der Leiter und gab mir einen Klaps auf den Hintern.
    „Verdammt, was bildest du dir eigentlich ein?!?!“ fauchte ich ihn wütend an.
    Mit einer kochenden Wut im Bauch führte ich meinen Aufstieg fort.
    Auf dem Dach des Tankes angekommen, klammerte ich mich halb liegend an ein Geländer, das rund um das Kegelgebilde befestigt war.
    Nachdem ich all meinen Mut zusammen genommen hatte, richtete ich mich halbwegs auf und lies mein Blick über die Umgebung schweifen. Ich schaute auf das Land und erkannte es nicht wieder.
    Es war wie Jareth gesagt hatte. Alles hatte sich geändert. Das Wäldchen war wieder verschwunden. Weit und Breit konnte ich kein Maisfeld oder eine Farm erkennen. Wir waren in mitten einer Wüste aus Geröll und Felsen.
    Am Horizont sah ich eine dünne rote Linie. Der Himmel war mit dichten Wolken behangen die unheimlich in einer roten Farbe glühten. Es war, als ob die Sonne gerade erst untergegangen wäre. Doch das Sonnenlicht, so schien mir, hatte ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.
    Meine Gedanken wanderten wieder in die Gegenwart und ich blickte wieder vor mich. Ich konnte nun eine Tür vor mit erkennen. Sie war lediglich ein auf anderthalb Meter klein. Die Tür, vielmehr eine Klappe, wies ebenfalls Flecken der Zeit und Oxidation auf. Die Türklinke bestand nur noch aus einem dünnen Stahl. Die Plastikbeschichtung war regelrecht abgenutzt. Nach all diesen unerfreulichen Entdeckungen bemerkte ich auch noch zu allem Überfluss, dass der Gestank unerträglicher wurde.
    Den Blick nach unten gewandt, schaute ich Jareth an. Er war wirklich nervös. Unruhig trat er von einem Bein auf das Andere. Sein Blick huschte ruhelos über die karge Ebene.
    „Was jetzt?“ fragte ich ihn ganz unschuldig obwohl ich wusste was ich zu tun hatte.
    „Was wohl? Öffne die Tür!“ sagte er schroff.
    „Wir sind aber schlecht drauf heute. Kannst du wenigstens ‚Bitte‚ sagen? Ich helfe dir schließlich.“ entgegnete ich ihm frech.
    „Mach‚ jetzt die verdammte Tür auf!“ schrie er hinauf. Ich zuckte zusammen und blickte ihn verletzt und überrascht zugleich an.
    Langsam drehte ich mich um und griff nach der verschlissenen Türklinke. Das Vorhängeschloss hing nutzlos und kaputt an der Tür. Ich konnte ungehindert die Luke öffnen.
    Eine Welle furchtbaren Gestankes kam aus dem Tank. Der Geruch war süßlich und doch beißend in der Nase. Etwas Derartiges hatte ich nie in meinem Leben gerochen. Angewidert hielt ich meinen Arm vor die Nase.
    Das Innere war pechschwarz. So sehr ich mich auch anstrengte, selbst mit zusammen gekniffenen Augen konnte ich nichts erkennen. Doch wie von Geisterhand schoben sich plötzlich die Wolken zur Seite und ließen das Mondlicht in das Innere des Tankes scheinen.
    Aufgestapelte und verrottete Leichenteile lagen im Inneren des Wasserbehälters. Einige von ihnen lagen halbverwest und unnatürlich verdreht übereinander. Andere Teile bestanden nur noch aus Knochen und Stofffetzen. Kahle Schädel blitzen zwischen den Körperteilen hervor und grinsten mich unheimlich an.
    Mit einem Schrei wich ich zurück und wäre fast von dem Dach gefallen, hätte Jareth mich nicht festgehalten. Er war direkt hinter mir und hielt sich noch an der Leiter fest.
    Mein Gesicht in seine Brust vergraben versuchte ich den Schock zu überwinden.



    Re: Geschichte einer Vogelscheuche

    Sinja - 14.03.2006, 12:58


    Ruhe in Frieden
    Jareth schaute scheinbar ungerührt auf die Leichen. Ihm schien es nichts auszumachen. Doch ich konnte sein Herz hören. Es schlug sehr schnell . Zum erstenmal in dieser Nacht wurde mir bewusst, dass diese „Vogelscheuche“ lebte.
    Jareth atmete, sein Herz schlug und er empfand etwas beim Anblick der Toten in dem Wassertank.
    Ich schaute auf und blickte in sein Gesicht. Ich schluckte und mein Mund war zu trocken um die folgenden Worte deutlich hervor zu bringen.
    „Du... dein Körper..... liegt auch da Unten. Habe ich Recht?“ brachte ich krächzend hervor.
    Jareth blickte weiterhin in das halbdunkel des Tankes und nickte nur.
    „Du willst deinen Frieden. Dein Körper... muss begraben werden.“ stellte ich fest.
    Er nickte abermals. Dann lies er mich los und blickte zum ersten Mal weg von den Leichen. Er sah mich an. Auch wenn er keine Augen hatte, konnten man die Trauer spüren, die er empfand.
    „Ich kann das nicht alleine schaffen, Jareth. Ich brauche deine Hilfe.“ sagte ich leise.
    Jareth lächelte plötzlich „Wie schön es ist, meinen Namen aus dem Mund eines Menschen zu hören.“
    Er blickte mich an und legte eine Hand auf meine Schulter. „Ich helfe dir... zunächst musst du aber da runter steigen.“
    Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an.
    „Ich? Wieso ich??“
    „Weil du klein genug bist um durch diese Luke zu kommen.“
    Mir schien, als ob Jareth diese Order gefiel. Er genoss es richtig mich da runter zu schicken. Es hätte aber auch Einbildung sein können aber ich hätte schwören können, dass er gegrinst hatte. Ich atmete tief durch und stellte mich vor die Luke. Mit zusammengekniffener Nase lies ich mich von ihm hinunter hangeln. Unten angekommen spürte ich die weichen Körperteile unter meinen Füßen. Dem Himmel sei Dank hatte ich meine Stiefel an.
    „Lehn ´dich bitte zur Seite, ich seh´ nichts.“ Maulte ich ihn an. Er lehnte sich zur Seite und ließ das karge Mondlicht in den Tank scheinen. Zu meinem Entsetzten stellte ich fest, dass manche dieser armen Teufel noch gelebt hatten. Die Wände waren voller Spuren. Sie waren übersäht mit blutigen Handabdrucke und Kratzern.
    Eisige Kälte war plötzlich um mich. Tiefes Entsetzen und Trauer stiegen in mir auf. Der Gedanke daran, dass diese Männer noch gelebt hatten und hier elendig auf ihr Ende gewartet hatten, schockierte mich.
    Langsam beruhigte ich mich wieder und betrachtete die toten Körper unter mir.
    „Woher soll ich wissen, welcher Körper dir gehört?“ rief ich zu ihm. Der süßliche Gestank der Verwesung war schrecklich und ich sehnte mich danach meinen Kopf wieder durch dir Luke hinauf zu stecken.
    „Fass sie an, und ich sage dir, welcher meiner ist.“ sagte er schlicht.
    Ich funkelte ihn nur böse an und blickte mich wieder um. Murmelnd machte ich mich auf die Suche.
    „Du hast gut reden da Oben. Du trampelst nicht auf Leichen rum, musst nicht den Gestank aushalten, musst sie nicht ohne Handschuhe anfassen. Verdammt was mach ich hier eigentlich?“ murmelte und fluchte ich vor mir her, während ich angewidert die Körperteile anfasste.
    „Stopp!“ rief er plötzlich von Oben als ich einen Arm anfasste. Er war bis auf die Knochen verwest und beinahe blank. Der Arm war ein einem fast ganz erhaltenen Skelett dran. Das Problem bestand nur noch darin, das Knochengebilde unbeschadet durch die Luke zu hieven.
    Langsam blickte ich mich um und fand eine Lösung für unser Problem. Ich zog kurzerhand eine der Leichen ihre Jacke aus legte sorgfältig alle Knochen darauf, die Jareth auswählte.
    Zu guter Letzt hatte ich alle Knochen seiner Leiche zusammen. Sie lagen aufgestapelt auf der Jacke. Vorsichtig knotete ich die Jacke zusammen und streckte diese die Luke hinauf.
    Jareth zögerte für einen Moment. Sein Gesicht sah sehr besorgt aus.
    „Es ist für deinen Seelenfrieden.“
    Er atmete tief durch und nahm das Bündel entgegen. Danach half er mir endlich aus dem Gestank zu kommen. Doch es ging nicht auf anhieb.
    Ein Arm hatte meinen Stiefel gepackt und hielt mich fest. Mein Herz machte einen Sprung und ich schrie so laut ich konnte. Der verweste Arm hielt mich fest und zog mich hinunter je stärker ich versuchte mich loszureißen. Ein Schädel, der zu dem Arm gehörte, schaute mich zwischen all denn Körpern an. Er versuchte ruckartig aus dem Gewirr der Leichenteile hinaus zu kommen.
    Jareth blickte überrascht und erschrocken zugleich hinunter und war bereit ebenfalls in den Tank zu springen. Doch dann begann er zu lachen.
    Ich hörte abrupt auf zu schreien und starrte ihn empört an.
    Er lachte weiter und deutete auf den Arm, der sich nur an meinen Schnürsenkeln verfangen hatte. Lediglich die ruckartigen Bewegungen meines Fußes führten zu dem unheimlichen Tanz des Armes und dem Schädel.
    Wütend über meine eigene Angst entwirrte ich den Arm von meinen Schnürsenkeln und schleuderte ihn in den Raum.
    Endlich wieder frische Luft atmend stand ich auf dem Dach.
    „Verdammt, du kannst ja doch sehen!“ schrie ich Jareth an. Er tat überrascht und entgegnete „Warum sollte ich?“
    „Du hast gesehen dass es nur ein Knochen war.“
    Jareth lachte wieder „Ich konnte spüren, dass es nichts in diesem Tank gab, das lebte.“
    „Ach, nein... was ist mit den Typen, die uns verfolgten? Diese sind doch auch tot!“ meinte ich nur.
    „Es gibt ein Unterschied zwischen Toten und Untoten. Aber nun lass uns endlich runter gehen.“
    Wir machten uns wieder an den Abstieg. Vorsichtig und Sprosse für Sprosse stiegen wir hinab.
    Unten angekommen war ich Heil froh wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
    „Wo sollen wir dich begraben?“ fragte ich ihn. Mir war nicht bewusst wie diese Worte klangen. Aber ich sah, wie Jareth zusammen zuckte.
    „Bitte entschuldige... ich wollte nicht...“ versuchte ich zu erklären.
    „Schon gut. Du hast ja Recht. Wir wäre es gleich hier? Ich werde das Grab ausschaufeln. Du kannst dich gern etwas ausruhen.“ Er lächelte müde und traurig.
    Unter dem Wasserturm lag die festgekettete Kiste mit Schaufel und Hacke darin. Für Jareth war es kein Problem die Kiste zu öffnen.
    Er machte sich sofort an die Arbeit. Mühsam schaufelte er die nasse Erde beiseite.
    Kaum eine halbe Stunde später hatte er auch ein etwas niedriges Grab ausgeschaufelt.
    „Ist zwar keine 6 Fuß tief. Aber es müsste reichen. Ähm... würdest du bitte mich... bzw. die Knoch... die Überreste...“ Er atmete tief ein und sagte nichts mehr.
    „Klar.“ antwortete ich ihm und sprang in das Grab. Ich legte sorgfältig die Knochen auf die nasse Erde nachdem ich sie aus der provisorischen Tasche heraus geholt hatte.
    Als ich dann seinen Schädel in die Hand bekam, hielt ich Inne. Ich betrachtete ihn.
    Um die Augenhöhlen herum waren Kratzer zu sehen. Es waren die Spuren die mein Vater mit dem Messer hinterlassen hatte als er Jareth´s Augen stahl.
    Mit dem gleichen Messer, das um meine Hüfte hing und hämisch im Mondlicht glitzerte.
    Mein Magen verknotete sich und ein Kloß machte sich in meinem Hals breit. Mit feuchten Augen blickte ich auf und sah wie Jareth sich an die Schaufel lehnte.
    Er starrte den Schädel an.
    Plötzlich schleuderte er die Schaufel mit voller Wucht auf den Boden und wandte sich ab.
    Ich legte den Schädel vorsichtig auf die Erde direkt über die Wirbelsäule. Sanft strich ich noch die Erdbrocken aus seiner Stirn und stieg aus dem Grab.
    Jareth stand einige Meter entfernt an den Eisenbahnschienen. Seine Haltung war gebeugt und jede Pore seines Körpers strahlte Trauer aus. Ich berührte leicht seinen Arm.
    „Komm. Wir müssen dir die letzte Ehre erweisen.“
    Sanft nahm ich seinen Arm und zog ihn zum Grab. Ich nahm eine handvoll Erde und sprach leise.

    „Möge deine Seele in Frieden Ruhen. Auf dass ein Engel dich auf dem Rechten Weg in den Himmel führt und du die Wunder im Paradies siehst. Leb wohl Jareth.“
    Ich warf die Erde auf das Skelett und sah etwas verunsichert zu Jareth auf.
    „Tut mir leid, ich habe noch nie zuvor eine Grabrede gehalten.“
    Er lächelte, sein Kopf war nach vorne gebeugt.
    „Das macht nichts. Es war eine sehr schöne Rede. Danke.“
    Er stutzte und sah mich an. „...danke Isabelle“.
    Seufzend nahm er die Schaufel in die Hand und schaufelte Stück für Stück die Erde wieder zurück in das Grab.



    Re: Geschichte einer Vogelscheuche

    Sinja - 14.03.2006, 16:08


    Besuch
    Lange liefen wir nebeneinander her ohne ein Wort zu sagen. Er hatte die Schaufel mitgenommen. Als ich ihn ärgern wollte meinte er nur, dass er die Schaufel nicht als Waffe gebrauchen wird, sondern um noch mehr Leichen zu vergraben. Dabei grinste er wie ein kleiner Junge.
    Ich allerdings wusste, dass er die Schaufel zu weit mehr brauchte als zum Gräber ausschaufeln.
    Ich balancierte auf den Eisenbahnschienen und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Wir waren nun auf dem Weg nach Süden. Richtung Farm.
    Ich brach wie immer als Erste das Schweigen.
    „Ähm... was genau machen wir, wenn wir die Farm erreichen? Werden die anderen Vogelscheuchen nicht versuchen uns aufzuhalten?“ fragte ich ihn leise.
    „Sicher, aber mit denen werde ich schon fertig. Das heißt allerdings, dass du alleine deinen Eltern gegenüber trittst.“
    Jareth sah mich nicht an. Er blickte zu Boden und trat einen Schritt vor den Anderen. Und wieder überkam mich Übelkeit. Doch dieses Mal konnte ich mich im Zaum halten. Gerade als ich wieder ansetzte etwas zu sagen, blieb Jareth plötzlich stehen. Er schnüffelte wieder auf seine eigenwillige Art. Dann horchte er in alle Richtungen. Wir verließen dann die Eisenbahnschienen und gingen Richtung Osten. Schon bald konnte ich das Maisfeld sehen. Bei diesem Anblick lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich hatte regelrecht Angst dieses Feld zu betreten.
    „Wir wollen doch nicht wieder da rein, oder?“ fragte ich ihn unsicher. Er lächelte nur und schüttelte den Kopf. Auch wenn ich etwas entspannter ausatmete, ein flaues Gefühl blieb trotzdem noch.
    Wir liefen in einem großen Abstand den Feldrand entlang wieder den ursprünglichen Weg zur Farm.
    „Jareth?“ Ich stoppte und blickte ihn an. Er blieb ebenfalls stehen und blickte leicht überrascht.
    „Ja?“
    „Was wird mit dir geschehen, wenn wir alles hinter uns gebracht haben?“ fragte ich ihn. Ich weigerte mich die Dinge auszusprechen, die wir diese Nacht noch vorhatten.
    Jetzt wirkte er wirklicht etwas irritiert und meinte simpel „Ich werde sterben und endlich meine Ruhe finden.“
    „Heißt das, dass ich dich nie wieder sehen werde?“ fragte ich leise und traurig.
    Jareth legte den Kopf schief und schmunzelte. Er ging auf mich zu und hielt mit beiden Händen meine Schulter fest. Ich schaute ihm in sein Gesicht. Auch wenn ich die Berührung und seine Nähe in diesem Augenblick genoss, machte es mir doch etwas Angst in seine leeren Augenhöhlen zu blicken.
    Er stich mir sanft über die Wange und sagte leise „Was auch geschieht, ich werde dich nicht vergessen. Wenn du willst, werde ich auch ein gutes Wort da oben für dich einlegen.“ Er grinste wieder dabei. Doch mir war nicht zum lachen zu mute. Ich wollte einfach nicht dass er geht.
    Tränen schossen mir in die Augen. Doch um diese zu verbergen, schloss ich sie und senkte den Kopf. Eigentlich war es eine alberne Geste im Angesicht eines blinden Mannes. Jareth hob sanft mein Kinn an und ich fühlte plötzlich seinen Atem auf meinen Lippen.
    Dann explodierte die Luft und ein lautes Kreischen war im Maisfeld zu hören noch bevor er seine Lippen auf meine legen konnte. Ich schlug meine Augen auf aber Jareht hatte schon reagiert. Er zog mich an meinem Arm weiter und rannte.
    „Verdammt, was war das?“ keuchte ich.
    Er rief nur „Wir haben Besuch.“
    „Hattest du nicht gesagt, dass sie das Maisfeld nicht verlassen?“ protestierte ich.
    „Vielleicht habe ich mich geirrt.“ meinte er nur und zerrte mich hinterher. Ich konnte das herannahen der Anderen hören. Wieder zerbarsten die Maisstangen und ich konnte von weitem sehen, wie sich die Blätter auf der Oberfläche des Feldes bogen und den Weg unserer Verfolger abzeichneten. Sie kamen immer näher.
    Dann machte Jareth etwas, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er blieb stehen.
    „Es sind nur zwei. Die schaffen wir.“ Er stellte sich mit der Schaufel in Angriffstellung hin. Ich starrte ihn nur mit offenem Mund an. Dann bekam ich wieder meine Fassung und zog das Messer aus meiner provisorischen Halterung.
    Ich konnte an der Klinge des langen Messers sehen, wie sehr meine Hände zitterten. Wie gebannt blickten wir Beide auf das Maisfeld und warteten darauf, dass sich die Pflanzen teilten und uns unsere Feinde preisgaben.
    Der erste schoss blitzschnell aus dem Feld direkt auf Jareth zu. Doch bevor der auch nur seinen Angriff starten konnte, hatte Jareth das Werkzeug ihm schon an den Kopf geschlagen. Mit einem widerlichen dumpfen Aufprall und einem lauten Heulen ging die Vogelscheuche zu Boden. Ich konnte gerade noch erkennen, dass diese eine offene Bauchdecke hatte. Teile der Rippen blitzten hervor.
    Dann teilte sich das Maisfeld noch einmal und der zweite Gegner schoss aus seinem Versteck. Ich sah ihn jedoch nicht auf anhieb. Zu spät merkte ich, dass dieser auf dem Boden kroch. Doch sein Kriechen war schnell genug um mich von den Beinen zu reißen. Dann lag diese Vogelscheuche über mir. Irgendwie kam mir das vor wie ein Dejavue.
    Mit einem wahnsinnigen Lachen umfasste die fleischgewordene Vogelscheuche meinen Hals. Ich sah nun, dass diese keine Beine hatte. Ihre ganze Kraft lag in ihren Armen und die drücken erbarmungslos zu.
    Voller Panik versuchte ich meine Hand mit dem Messer unter ihm zu befreien. Doch dieser Kerl war zu schwer. Ich drehte mit aller Gewalt mein Handgelenk und schnitt ihm in seinen Brustkorb. Jaulend rutschte dieser von mir und ich konnte wieder auf die Beine. Noch bevor ich richtig stand, kroch dieses verkrüppelte Ding auf mich zu. Es sah so unnatürlich aus, wie es sich mit seinen Armen nach vorne zog. Seine Augen waren trüb und blickten wahnsinnig. Ohne auch nur einen weiteren Gedanken zu verschwenden machte ich einen Schritt auf ihn zu. Wut und Verzweiflung, aber auch ein erschreckender Drang zum Töten, brachten mich dazu brüllend das Messer auf ihn nieder zu schlagen. Mit einem kräftigen Hieb spaltete ich beinahe seinen Kopf. Ich konnte an der Einstichstelle sehen, wie die Schädeldecke auseinander ging. Sein Blut und eine undefinierbare Masse spritze auf mein Gesicht.
    Das Lachen und die Augen erstarben sofort. Seine Haltung war noch immer angespannt. Dann erschlaffte sein Körper und fiel, mit dem Messer in seinem Kopf, auf den Boden.
    Jareth war in der Zwischenzeit mit dem anderen Gegner fertig geworden. Der lag ebenfalls auf dem Boden und bewegte sich nicht mehr. Ich konnte nur sehen, dass sich unter seinem Gesicht eine große Blutlache gebildet hatte.

    Mit zittrigen Händen stand ich vor meinem ersten Opfer. Ich starrte das Blut an meinen Händen an. Jareth kam zu mir und betrachtete mein Werk.
    „Wie fühlst du dich?“ frage er einfach.
    Ich gab ihm keine Antwort. Ich war fassungslos. Fassungslos darüber, dass diese Wesen quicklebendig waren, obwohl ihre Gedärme oder sonstige Organe fehlten und fassungslos darüber, dass sie durch meine Hand gestorben sind. Ich hatte getötet.
    „Glaub mir, sie verdienen ihren zweiten Tod. Sie lebten bisher als Untote. Aber durch die Hand eines gerechten Menschen finden sie endlich ihren Weg in die Hölle zurück. Für immer.“
    Jareth betrachtete mich eine Weile und ließ mir Zeit. Zeit die ich brauchte um zu begreifen, was sich so eben abgespielt hatte. Dann ergriff ich wieder mein Messer, stützte mein Fuß auf die Schulter der Leiche ab und zog es aus seinem Schädel. Blut klebte daran. Ich säuberte es an meinen Hosen und lief ohne ein Wort zu sagen wieder weiter. Diesmal folgte Jareth mir.



    Re: Geschichte einer Vogelscheuche

    Sinja - 15.03.2006, 11:27


    Das morden geht weiter...
    „Weißt du, du hast dich tapfer geschlagen. Ich hätte nicht gedacht, dass du es zu ende bringst.“ sagte Jareth leise. Er schaute mich nicht an sondern blickte zu Boden. Ich schwieg noch immer.
    Als ich dann aufsah konnte ich die Farm von weitem erkennen. Sie lag düster und groß mitten im Nirgendwo. Dunkle Wolken hatten sich am Himmel gesammelt. Der Mond war hinter ihnen verschwunden und spendete kein tröstendes Licht mehr.
    „Nun komm schon, ich halte dein Schweigen nicht aus. Wo bleibt dein Geplapper?“ versuchte er es noch einmal. Ich blieb stehen und funkelte ihn böse an.
    „Jetzt weißt du mal, wie es mir ergangen ist die ganze Zeit über. Außerdem, war erwartest du denn? Ich habe gerade jemandem ein Messer in den Schädel gerammt. Und bin in diesem Moment auf dem Weg meine Eltern zu ermorden. Sollte ich da deiner Meinung nach fröhlich vor mich hin plappern? Dir alberne Fragen stellen, um dich zu amüsieren? Fick dich doch!“
    Schnaubend setzte ich meinen Weg fort. Jareth überraschte der Wutausbruch überhaupt nicht. Ich war wütend. Wütend auf Jareth, weil er keinerlei Regung zeigte. Wütend auf meine Eltern und wütend auf mich. Ich hasste in diesem Moment alles war um mich herum war. Am liebsten wollte ich sterben.
    Plötzlich schien das Messer in meiner Hand eine seltsame Wärme auszustrahlen. Es wäre ganz einfach gewesen, es in meinen Bauch zu rammen um allen Problemen zu entkommen.
    „Du weißt, dass du nicht in den Himmel kommst wenn du Selbstmord begehst? Es sei denn, ich lege ein Gutes Wort für dich ein.“ sagte Jareth grinsend.
    Am liebsten hätte ich ihm noch eine Narbe ins Gesicht verpasst.
    Doch dann kam ich wieder zu mir. Abermals blieb ich stehen. Was war mit mir los? Ich war so aggressiv und wütend. So kannte ich mich gar nicht. Ich sah meinen Weggefährten überrascht an und schämte mich für meine Worte und Gedanken.
    „Jareth es tut mir leid. Ich wollte nicht so... gemein sein. Ehrlich nicht. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.“
    Mein Gesicht fühlte sich mit einem male so heiß an. Mein Magen verknotete sich und ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
    Jareth lächelte nur „Keine Sorge, Kleines. Du bist nicht Schuld daran. Es ist die Farm und diese böse Macht. Wenn du dich etwas anstrengst und dagegen ankämpfst, kann heute Nacht weder dir noch mir etwas passieren. Einverstanden?“
    Er legte mir die Hand auf die Schulter und lächelte verständnisvoll. Ich lächelte gequält zurück.
    „Einverstanden. Lass uns weiter gehen.“
    Er nickte und fügte noch hinzu „Außerdem ist es gar nicht mal so schlecht, dich gegen das zur Wehr zu setzten, was dich stört. Hab Vertrauen in dich.“
    Wir waren keine 100 Meter von der Farm entfernt, als wir erneut gestört wurden. Diesmal kamen die Angreifer, nicht wie zuvor aus dem Feld, sondern tauchten aus dem Dunkel der Farm auf. Sie waren beinahe mit dem Schatten des Gebäudes verwachsen.
    Mit schnellen Schritten rannten sie auf uns zu. Es waren drei der Vogelscheuchen. Wieder hatte eines der Kerle einen geöffneten Brustkorb. Ich konnte sein Herz sehen. Die Luft pfiff unheimlich durch die Rippen und erzeugte ein markerschütterndes Geräusch. Seine Lungen fehlten. Die zweite Vogelscheuche rannte seltsam schwankend auf uns zu. Doch schon bald konnte ich erkennen, dass dieser keine Arme hatte, um sich in Balance zu halten. Der Dritte im Bunde schien unversehrt zu sein.
    Ich stellte mich in Kampfstellung hin und hielt das Messer schützend vor mich. Jareth stand ebenfalls kampfbereit neben mir.
    Der armlose war als erster bei mir. Er hatte sein Mund weit geöffnet und schrie als er mich anfiel.
    Ich reagierte ohne groß darüber nach zu denken. Ich stach zu. Das Messer glitt beinahe widerstandslos in den Bauch des Angreifers. Es fühlte sich seltsam an. Es erfüllte mich mit Befriedigung. Doch die Wucht des Angriffes riss mich von meinen Beinen. Schon lag ich wieder auf dem Boden. Doch das Messer ließ seine Angriffslust schwinden. Der Untote rollte heulend von mir. Mit einer schnellen Bewegung setzte ich mich auf meinen Feind und stach zu. Immer und immer wieder in seine Brust. Blut spritze auf meine Hände und mein Gesicht.
    Der Brustkorb der Vogelscheuche war mittlerweile zerfetzt. Sie lag leblos auf dem Boden. Dies alles geschah innerhalb von wenigen Sekunden.
    Doch mein Blutrausch wurde von der zweiten, unversehrten Vogelscheuche gestoppt. Mit einem harten Tritt schleuderte mich diese von der Leiche. Ich rollte auf den Boden und lag schmerzverkrümmt mit dem Messer da.

    Ein weiterer Tritt in auf meinen Rücken sorgte dafür, dass es mir schwarz vor Augen wurde.
    Als ich meine Augen wieder öffnete beugte sich eine Vögelscheuche über mich. Noch bevor ich das Messer in das Gesicht stieß erkannte ich, dass es Jareth war, der besorgt hinabblickte.
    Mein Verlangen zu töten ebbte langsam ab. Ich lockerte meinen Griff um das Messer.
    Jareth half mir wieder auf die Beine. Ich sah dann, dass um uns herum drei Leichen lagen. Der Armlose war blutüberströmt. Die zweite, lungenlose Vogelscheuche war enthauptet einige Meter von uns entfernt. Die dritte lag mit dem Gesicht nach unten neben mir. Sie hatte Jareth´s Schaufel im Rücken. Ich konnte sehen, dass zwei große Wunden aus dem leblosen Körper klafften. Dieser Vogelscheuche fehlten anscheinend die Nieren.
    Wieder kam mir die groteske Idee, dass meine Eltern Organhändler waren. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, weshalb meine Eltern diesen armen Teufeln das angetan haben.
    „Danke.“ sagte ich leise. Jareth lächelte leicht. Er wischte mir mit dem Zipfel seines Mantels das Blut aus meinem Gesicht. Danach zog er seine Schaufel aus dem Körper.
    „Wollen wir weiter?“ fragte er überflüssigerweise.
    „Habe ich jetzt noch eine andere Wahl?“ meinte ich nur noch resignierend. Ich war am Ende. Doch die Nacht war noch nicht vorüber. Das schlimmste erwartete mich einige Meter entfernt von uns. In der Farm.



    Re: Geschichte einer Vogelscheuche

    Sinja - 16.03.2006, 17:30


    Feuer
    Wir standen vor dem großen Tor der Scheune. Ich schüttelte nur den Kopf.
    „Es ist eine wirklich blöde Idee hier hinein zu gehen.“
    „Wir brauchen Waffen. In der Scheune ist die Werkstatt deines Vaters.“ meinte Jareth nur und machte sich daran das große Tor zu öffnen. Mit dem blutigen Messer in der Hand schaute ich nervös in alle Richtungen. Ich befürchtete jeden Moment einen der Untoten zu sehen die nach unserem Leben trachteten. Angespannt wartete ich darauf, dass Jareth endlich das Tor öffnete. Ich wollte einfach nicht mehr unter dem grau-schwarzen Himmel stehen, der wie eine schwere Last auf meine Seele drückte.
    Als ich endlich durch die Tür schritt, fand ich plötzlich die Idee in die Scheune zu gehen, doch nicht mehr so prickelnd.
    Die Scheune schien unwirklich. Sie war mit einem seltsamen Dunstschleier gefüllt. Die Holzbalken ragten beinahe unendlich in die Höhe. Den Dachboden konnte man schon gar nicht mehr sehen. An den Ecken und Nischen des riesigen Raumes waren dichte Spinnweben. Der Boden knarrte bei jedem Schritt. Im Großen und Ganzen fühlte ich mich sehr unwohl in der Scheune.
    Doch ich folgte brav Jareth.
    Er ging zielstrebig auf die Werkstatt meines Vaters zu. Auf dem Weg in die hinterste Ecke des Raumes, gingen wir an dem großen Tisch vorbei auf dem Jareth vor Jahren schon einmal gelegen hatte. Ich beobachtete ihn. Doch er zeigte keine Regung. Schnurstracks lief er in den kleinen Raum. Er war mit Regalen und diversen Werkzeugen zugestellt. Vor einem der Abstellflächen blieb er stehen. Schon hatte er eine geeignete Waffe gefunden. Eine Axt.
    Ich sah mich ebenfalls um. Zwar hatte mein Messer gute Dienste geleistet aber ich wollte die Mistkerle nicht mehr so nahe an mich heran lassen.
    Mit zusammengekniffenen Augen schaute ich mich um. Im Zwielicht konnte ich nicht viel erkennen. Doch dann sah ich etwas, was mir sehr gut gefiel.
    Mit einem leichten Grinsen im Gesicht ging ich in die entlegenste Ecke der Werkstatt. Eine kleine Gasflasche und ein Schweißbrenner standen dort. Einige Drehungen an der Flasche und dem Brenner später, schoss ich eine große und lange Flamme in den Raum. Ruckartig drehte Jareth sich um und blickte leicht verstört. Doch dann grinste auch er und nickte mir zu.
    „In Ordnung. Wollen wir?“ seufzte er leise. Ich seufzte ebenfalls und nickte. Mit der Gasflasche auf dem Rücken, dem Messer am Gürtel und dem Brenner in der Hand, verließ ich als erste die Scheune.
    Prompt standen auch schon wieder drei der ungemütlichen Kerle vor uns. Sie griffen sofort an.
    Mit einem breiten Grinsen und einem Gefühl der Zufriedenheit schleuderte ich erneut eine Flamme aus dem Brenner. Noch bevor ich mir die Vogelscheuchen genauer anschauen konnte, verschwanden diese hinter einer Feuerwand.
    Jareth stand neben mir und sagte ruhig „Freu dich nicht zu früh Liebes.“
    Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, schon schoss eines der Untoten in Flammen stehend aus der Feuerwand. Mit rudernden Armen und einem seltsamen Stammeln rannte er auf uns zu.
    Ich wollte erneute das Feuer anzünden. Doch Jareth hielt meinen Arm fest.
    „Warte!“ zischte er.
    Diese lebende Fackel rannte auf uns zu. Doch er hielt mich weiterhin fest und rührte sich nicht.
    „Noch nicht!“ zischte er wieder. Die brennende Vogelscheuche war nur noch wenige Meter von uns entfernt.
    Plötzlich stieß er mich zur Seite. Dieser Flammenmensch schoss an mir vorbei. Jareth nutzte den Anlauf der Vogelscheuche und schlug mit voller Wucht seine Axt in ihren Nacken. Ein Feuerball rollte zu meinen Füßen. Diese Feuerkugel war ihr Kopf. Unser Gegner war enthauptet. Sein kopfloser Körper rannte jedoch weiter in die Scheune. Als der Körper erschlafft zu Boden sank, zündete er alles Umliegende an. Alte Lumpen und Säcke standen auf der Stelle in Flammen. Schnell griff das Feuer um sich und entzündete das Stroh und die Balken.
    Wir entfernten uns von der Scheune und betrachteten die zwei Anderen. Sie wirbelten wild und mit lautem Geschrei auf dem Boden. Sie rollten sich auf dem Boden und versuchten das Feuer zu löschen. Ihre Schreie hallten in der Nacht. Doch die alten und morschen Kleider brannten wie Zunder.
    Schon bald wurde das Geschrei leiser und erstarb schließlich.
    Vor uns lagen nur noch zwei unidentifizierbare Körper die leise vor sich hinknisternd glühten.
    Die verkohlten Leichen rochen erbärmlich. Die Kleidung war zerfressen und offenbarte zum Teil rosa- und weißfarbenes Fleisch.
    Beim Anblick der zwei brennenden Vogelscheuchen wachte etwas in mir auf, was ich die ganze Nacht über verdrängt hatte. Mitleid.
    Ich erschrak sehr. Voller Panik schaute ich den Brenner in meinen Händen an. Was tat ich hier? Ich tötete wahllos und es gefiel mir.
    Angewidert legte ich den Brenner und die Gasflasche auf den Boden.
    Plötzlich hörte ich hinter mir kleinere Explosionen. Dann fiel mir ein, dass die Werkstatt meines Vaters vollgespickt war mit kleinen Behältern voller brennbarer Stoffe, wie zum Beispiel Reinigungsbenzin, Terpentin, Farben und vor allem Gas.
    Ich packte Jareth´s Arm und rannte los.
    „Weg hier!“ schrie ich und stolperte mit ihm in Richtung Haus. Wir rannten um die Farm herum und blieben geschützt an der Hauswand stehen.
    Wie gebannt schaute ich auf die Schaukel an unserer alten Eiche. Sie wippte leicht im Wind hin und her.
    Ein süßer Schmerz durchfuhr mich als ich mich wieder an meine Kindheit erinnerte. Ich sah mich wieder als kleines Mädchen das wimmernd auf dem Boden saß. Die Knie eng angezogen weinte es leise. Dann kam der nette Onkel und verband ihre Wunde am Knie.
    Ich wurde von einem lauten Knall aus meinen Erinnerungen gerissen.
    Jareth packte mich und drücke sich eng an die Hauswand. Wir konnten die Druckwelle selbst hinter dem Haus noch spüren.
    Dann war Stille. Nun ja, nicht ganz. Wir konnten hören, wie das Feuer knisternd sich durch das Holz fraß.
    Langsam trauten wir uns wieder hervor und betrachteten die Scheune. Sie stand lichterloh in Flammen.
    Das Feuer war in Begriff auf das Wohnhaus über zu greifen.
    „Wir müssen da rein.“ Sagte Jareth und lief schon die Stufen hinauf. Vor der Eingangstür auf der Terrasse blieb er stehen.
    „Worauf wartest du noch?“ fragte er ungeduldig.
    Meine Knie zitterten und mein Magen fühlte sich an wie eine Waschmaschine im Schleudergang. Ich hatte das Gefühl gleich ohnmächtig zu werden. Jetzt, da ich vor meiner Aufgabe stand, wollte ich einen Rückzieher machen. Ich wollte mein Versprechen brechen.
    Doch ich tat es nicht. Allen Mut zusammen genommen setzte ich einen Schritt vor den anderen.
    Als ich die Tür öffnen wollte, hielt mich Jareth zurück.
    „Ich gehe zuerst. Bleib hinter mir.“
    Dann stockte er und fügte leise hinzu. „Es wird hart. Pass´ auf dich auf.“.
    Dann trat er durch die Tür und ich ging ihm hinterher.



    Re: Geschichte einer Vogelscheuche

    Sinja - 17.03.2006, 13:24


    Endlich zu Hause
    Mich wunderte es, dass trotz der Explosionen und dem Feuer, niemand uns bereits an der Tür erwartete.
    Wir standen im Eingangsbereich und blickten uns um. Vor uns war eine Treppe, die nach Oben in die Schlafzimmer und Bäder führte.
    Geradeaus ging es ins Wohnzimmer. Links von uns war die Küche. Rechts war die Tür zum Keller. Sie war geschlossen.
    Wir wollten uns gerade auf den Weg ins Wohnzimmer machen, als aus einem der Schlafzimmer ein dumpfer Schlag zu hören war.
    Ruckartig schauten wir beide die Treppe hinauf. Danach tauschten wir unsichere Blicke aus.
    Schließlich machte Jareth den ersten Schritt auf die Treppe zu. Er hatte seine Axt kampfbereit in seiner Hand. Ich hielt mein Messer dicht an meiner Brust, nur um nicht zu sehen, wie sehr meine Hände zitterten.
    Oben auf dem Flur angekommen, sahen wir 4 Türen. Jeweils zwei an beiden Seiten. Die letzte rechte Tür war nicht geschlossen und offenbarte uns einen unheimlichen blauen Lichtstrahl. An der gegenüberliegenden Tür konnten wir den Schatten einer zusammengekauerten Gestalt erkennen.
    Ich konnte fühlen, wie mein Herz für kurze Zeit stoppte. Wie gelähmt stand ich da und starrte auf den Schatten an der Wand.
    Dann bemerkte ich wie Jareth sanft meinen Arm nahm und auf das Zimmer zu ging. Es war das Schlafzimmer meiner Eltern.
    Vor der Tür blieb er stehen und schaute hinein. Ich war noch nicht im Blickfeld des Raumes.
    Jareth stand einfach nur da und starrte mit seinen leblosen Augenhöhlen in den Raum.
    Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und stellte mich neben ihn.
    Was ich dann sah, ließ mir mein Blut in den Adern gefrieren.
    Mein Vater lag leblos auf dem Boden. Er hatte eine klaffende Wunde auf dem halbkahlen Kopf. Das Blut hatte bereits eine dunkelrote Lache auf dem Boden gebildet. Seine Augen waren geschlossen.
    Das Zimmer sah aus, als ob kürzlich ein Kampf stattgefunden hatte. Die Stehlampe lag zerbrochen auf dem Boden hinter meinem Vater.
    Die Kommode war verschoben und stand quer zur Wand. Die Bettlaken waren zerwühlt und die Kissen lagen zerstreut auf dem Boden.
    Ich schluckte und widerstand den in mir aufkommenden Tränen.
    „Ist... ist er tot?“ fragte ich zitternd.
    Jareth schüttelte den Kopf.
    „Er ist am leben... aber nicht mehr lange.“ flüsterte er zurück.
    Wie von Sinnen taumelte ich auf ihn zu, warf mich auf die Knie und legte das Messer beiseite.
    Vorsichtig nahm ich seinen Kopf auf meinen Schoß. Sein Blut klebte an meinen Händen und der Kleidung. Doch das war mir egal.
    „Daddy? Daddy? Sag was bitte!” flehte ich ihn an. Dann geschah ein Wunder und er öffnete tatsächlich seine Augen.
    Mit einer unglaublich tiefen Trauer sah mich mein Vater an. Seine Augen waren klein und trüb. Die Haare, von dem Blut besudelt, klebten an seiner Stirn.
    Er röchelte leise „Es tut mir leid Kleines...Ich wollte nicht, dass es soweit kommt. Ich wollte es nicht. Aber ich musste es tun.“ brachte er stockend hervor.
    Mit einer schwachen Bewegung strich er mir über die Wange. Seine Hände waren verkrampft und wiesen Kratzer und abgesplitterte Fingernägel auf.
    „Wer hat das getan Daddy? Sag es mir! Wer war das?“ forderte ich ihn auf und nahm seine Hand.
    „Nicht....mehr.....wichtig. Ich liebe dich.“
    Dann sagte mein Vater kein Wort mehr. Seine Augen starrten an mir vorbei in die Leere. Die Hand, die ich hielt erschlaffte plötzlich und fiel auf seine Brust.
    Behutsam legte ich seinen Kopf zu Boden, nahm mein Messer wieder und stand mit zitternden Knien auf.
    Jareth stand noch immer wie angewurzelt an der Tür. Seine Haltung verriet nichts. Ich konnte nicht erkennen, ob er nun mit mir trauerte oder ob er weiterhin mit Hass erfüllt war.
    Mit einem Mal schaute er an mir vorbei an die Wand. Das Fenster stand sperrangelweit offen und die Gardinen flatterten im Wind.
    Das Feuer tauchte die Stoffe in eine rötlich gelbe Farbe.
    Plötzlich fiel es mir wie Schuppen aus den Augen. Jemand muss das Fenster hinaus geklettert sein. Schließlich konnten wir niemanden uns entgegenkommen sehen.
    Wir liefen auf das Fenster zu und schauten hinaus. Doch sogleich bereuten wir unsere Tat. Die Hitzewelle der Flammen schoss uns entgegen, so dass wir rückwärts wieder in den Raum taumelten.
    „Wir müssen hier weg ehe das Haus völlig in Flammen auf geht.“ sagte Jareth ernst.
    „Was ist mit meinem Vater?“ stieß ich entsetzt hervor. „Ich kann ihn hier nicht liegen lassen!“
    „Doch du musst. Wir haben keine Zeit!“ er packte mich am Arm und zerrte mich hinaus aus dem Zimmer. Da leckten auch schon die ersten Feuersäulen an der Außenwand das Fenster hinein.
    Wir stolperten den Flur entlang und fanden die Kellertür am Fuße der Treppe offen.
    Jareth runzelte die Stirn und deutete mir, dass ich zurücktreten soll. Er schlich an die Tür und schnüffelte auf seine eigene Art und Weise.
    Ich schaute über seine Schulter hinweg in die Tiefe. Es war dunkel, doch ich konnte erkennen, dass die kaputte Glühbirne nutzlos von der Decke hing und leicht schaukelte.
    Mit der Axt in der Hand schritt Jareht die ersten Stufen hinunter, dicht gefolgt von mir.
    Unten angekommen gewöhnten sich meine Augen nur schwer an die Dunkelheit. Nach einigen Minuten konnte ich endlich Umrisse von Regalen und alten Möbeln entdecken. Hier lagerten wir die alte Couchgarnitur und einen hässlichen Teppich.
    Auf den Regalen standen uralte Marmeladengläser und diverse Vorratsdosen meiner Mutter. Bei genauerem Hinsehen, erkannte ich die Dinge in den Gläsern. Es waren die entnommenen Organe der Vogelscheuchen. Größere Kartons beinhalteten verschiedene Gliedmaße. Sie waren wie mumifiziert. Mit entsetzen stellte ich fest, dass meine Eltern Trophäen gesammelt hatten. Für welchen Zweck allerdings, wußte ich nicht.
    An der gegenüberliegenden Seite sah ich Licht durch einen Schlitz in der Decke scheinen. Es waren zwei Flügeltüren, die hinaus aus dem Keller führten.
    Ganz leise und scheinbar in weiter Entfernung hörte ich ein Zischen. Ich zupfte an Jareth´s Ärmeln und flüsterte „Lass uns bitte raus gehen.“
    Doch Jareht, der scheinbar unbeirrt und zielsicher im Keller umher wanderte, nahm mein Flehen gar nicht wahr.



    Re: Geschichte einer Vogelscheuche

    Sinja - 21.03.2006, 16:37


    Dunkelheit und Schmerzen
    Erneut hörte ich das Zischen, dies Mal war es ganz in der Nähe. Plötzlich hielt mir jemand meinen Mund zu. Ich wurde brutal nach hinten gezerrt. Doch bevor ich außer Reichweite von Jareth war, verpasste ich ihm einen Tritt in den Hintern, der sich gewaschen hatte. Ich hatte Glück und er spürte es auch. Ruckartig drehte er sich um und griff meinen Angreifer hinter mir an. Dieser ließ mich augenblicklich los, so dass ich mich vor Jareths Axt in Sicherheit bringen konnte.
    Seine Waffe suchte nicht lange nach einem Ziel. Schon steckte sie im Hals einer Vogelscheuche. Die Schädeldecke dieser Kreatur war geöffnet... und leer. Sie fiel mit einem dumpfen Schlag auf den Boden.
    Voller Wut schrie ich Jareth an „Verdammt, du wusstest, dass er hier ist! Wieso mussten wir dann hier runter?!?“
    Ebenso wutentbrannt schnaubte Jareth zurück „Wie zum Teufel sollen wir sie vernichten, wenn wir uns von ihnen fernhalten!?!? Und jetzt hör auf zu schreien, sie sind hier!“
    Wenn die Situation es zugelassen hätte, hätte ich lauthals gelacht. Er ermahnte mich, nicht mehr zu schreien, dabei brüllte er so laut, dass man Tote damit erwecken konnte. In gewisser weise taten wir das aber schon die ganze Nacht über.
    Wie auf ein Stichwort hin, stieß erneut eines unserer Feinde Jareth um. Er wurde von einem wirklich widerlich aussehenden Kerl auf den Boden gedrückt. Dieser Gegner hatte keine Haut.
    Ich wollte gerade Jareth zu Hilfe eilen, als mich jemand herumwirbelte und einen Schlag ins Gesicht verpasste. Dieser Fausthieb schleuderte mich unsanft auf das Sofa. Ich konnte Blut in meinem Mund schmecken.
    Noch bevor ich mich wieder aufrappeln konnte, drückte mir ein Mann die Kehle zu. Blut tropfte von seiner Brust. Ich konnte nicht viel erkennen, doch ich sah, dass dieser Untote kein Herz hatte. Dafür waren seine Augen voller Hass und menschlicher als ich es je bei den anderen gesehen hatte. Diese Augen blickten nicht wahnsinnig sondern kalt und berechnend. Das Gesicht war ausdruckslos, ohne jegliche Anstrengung würgte er mich. Langsam verschwamm sein Gesicht. Viele kleine weiße Sternchen tauchten vor meinem Auge auf. Ich wollte atmen, doch ich konnte nicht. Statt dessen begannen meine Lungen wie Feuer zu brennen. Ein mir unbekannter Schmerz durchfuhr meinen Körper. Mit aller Macht versuchte ich mich gegen die Ohnmacht zu wehren, auch wenn ich wusste, dass dann dieser unglaubliche Schmerz endlich aufhören würde.
    Plötzlich hörte ich einen schrillen Schrei. Es war meine Mutter!
    Mit einem male konnte ich wieder Atmen. Die Luft, die in meine Lungen strömte tat unheimlich weh. Doch diese Art von Schmerz war süß und erleichternd. Hustend und würgend setzte ich mich wieder auf. Als die Sternchen endlich verschwanden, sah ich, dass meine Mutter eines unserer alten Campingstühle auf dem Rücken des Kerls zerschmettert hatte.
    Doch ihr Triumph währte nicht lange. Der Herzlose packte meine Mutter am Hals. Sie machte einen überraschten Eindruck. Dann versuchte sie sich zu wehren und sich von den Armen zu befreien. Doch ihr Gegner war zu stark. Außerdem hatte er eine Waffe. Mein Messer funkelte im Dunkeln in seiner Hand. Mit einem Lächeln, an mich gewand, stach er zu. Das Messer glitt in meine Mutter und ihr Blick wurde augenblicklich starr.
    Doch als ob dies nicht genügen würde, schlitzte er mit einem Ruck ihre Bauchdecke auf.
    Er schaute weiterhin tief in meine Augen, als er den schlaffen Körper meine Mutter fallen ließ.
    Ich wollte nicht wahrhaben, was ich da sah. Mit einem lauten Schrei sprang ich von dem Sofa direkt auf den Herzlosen zu.
    „NEIN! Du Bastard!“
    Eine törichte Geste in Angesicht der Situation. Doch ich war blind vor Wut und Verzweiflung. Meine Mutter dort liegen zu sehen, versetzte mich in eine tiefe Trauer. Doch diese Trauer lähmte mich nicht. Sie kochte in mir auf und schürte den Drang, diesen Mistkerl zu töten.
    Mein Gegner erwartete mich natürlich und fing mich auf. Mit einer spielerischen Leichtigkeit führte er mir das Messer in die Schulter. Langsam, genießend.
    Ein Schmerz explodierte in meiner Schulter. Tränen und Schweiß rannen meine Wangen hinab. Der rote Lebenssaft schoss die Klinge endlang und tropfte langsam auf den Boden.
    Plötzlich musste ich an Jareth denken. Ich blickte mit den Augen panisch umher. Wo war er?
    Dann sah ich etwas und es traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Eine leblose Gestalt lag auf dem Boden. Ich konnte nur seine Beine sehen, die still da lagen. Alles war vorbei. Ich hatte alles verloren. Meinen Vater, meine Mutter. Meine Schwester würden sie bestimmt auch finden, wenn sie es nicht schon getan hatten.
    Ich wimmerte leise „Bitte, bitte lasst mich gehen. Ich kann euch nicht mehr gefährlich werden. Bitte.“
    Ich stöhnte erneut auf, als der Sadist mir das Messer in der Schulter drehte. Er bohrte genüsslich in meiner Wunde. Mit einem Schrei versuchte ich mich ein letztes Mal zu wehren, doch innerlich hatte ich schon aufgegeben.
    „Mach es schnell. Es reicht, was ich bisher gesehen habe. Bring es endlich zu ende!“ spukte ich die Worte aus.
    Weinend und wimmernd wollte ich nur noch sterben und schloss die Augen.
    „Ihr habt mir alles genommen. Töte mich endlich!!!“
    Der Schmerz an meiner Schulter war schrecklich. Doch noch schrecklicher waren die Schmerzen in meiner Brust. Mein Herz drohte zu zerspringen. Ich konnte dir Trauer und den Verlust einfach nicht mehr ertragen.
    „Das ist ja wieder einmal so typisch für dich!“ hörte ich es plötzlich aus einer Ecke. Abrupt öffnete ich die Augen und suchte nach dieser Stimme. Sie war unwirklich und verzerrt. Doch es klang wie die eines Kindes.
    Plötzlich tauchte aus einer Ecke eine kleine Gestalt auf. Das schwache Licht durch die Kellertür an der hinteren Wand tauchte meine kleine Schwester in einen unheimlichen Glanz.
    Sie hatte ihr weißes Kleid an. Doch das Kleid war mit Blut beschmutzt. In der Hand hielt meine Schwester einen Baseballschläger. Dieser war ebenfalls besudelt.
    „Lass sie los!“ befahl sie. Ihre Stimme klang kalt.
    Der Herlose ließ auf der Stelle los und zog das Messer ruckartig aus meiner Schulter. Mit einem lauten Stöhnen ging ich auf die Knie und hielt meine heftig blutende Schulter. Er legte das Messer in meine Hände und ging zu ihr.
    Ungläubig schaute ich dieses kleine Wesen an, das so aussah wie meine Schwester.
    Wie eine stämmige Leibwache stellte sich der Hüne ohne Herz neben meine Schwester.
    „Du bist nicht Ruth. Du bist nicht meine Schwester. Wer bist du?“ brachte ich mühsam hervor und stand auf.
    Tränen schossen mir in die Augen. Ich wusste nicht mehr, wie ich mich verhalten sollte. Ich wusste nicht, mit wem oder was ich es hier zu tun hatte. Ruth grinste böse und ließ achtlos den Schläger zu Boden fallen. Sie ging langsam auf mich zu.
    Als sie nahe genug war, konnte ich erkennen, dass es nicht die Augen meine Schwester waren. Sie glühten förmlich in der Dunkelheit. Wie seelenlose Augen einer Raubkatze, die in der Nacht auf ihre Beute lauerte.
    „Du bist so erbärmlich. Du beklagst dich immer über unsere Familie, du verfluchst sie, du versucht dich auf zu lehnen und zum Schluss gibst du doch wieder klein bei! Du bist so ein Feigling. Aber genau das ist es was dir gefällt. Du bist immer das Opfer.“ mit einer hohen piepsigen Stimme fuhr sie fort.
    „Oh, meine Eltern sind so gemein zu mir. Sie geben mir immer die Schuld an allem. Meine Schwester ist so ein Biest. Am liebsten wäre ich alleine.“ dann wurde ihre Stimme wieder hart.
    „Verdammt, du bist 19 Jahre alt und lebst immer noch bei deiner Familie! Du beschwerst dich, was für ein scheiß Leben du hast und tust nichts dagegen! Du zerfließt in Selbstmitleid und liebst es in deine Opferrolle auf zu gehen!“
    Das war zu viel. Mit einem Schritt ging ich auf sie zu und erhob die Hand. Aber was wollte ich tun. Ihr eine Ohrfeige verpassen?
    Wieder grinste die Kleine. „Siehst du? Du schaffst es noch nicht einmal gegen mich anzutreten. Du bist so ein Loser!“


    Ich ballte die Hände zu Fäusten und starrte meine kleine Schwester an.
    „Ich war schon immer stärker als du. Alles, was du in seinem Inneren Unterdrückt hast, habe ich ausgelebt. Es stimmt. Sie waren schlechte Menschen. Sie behandelten dich wie Luft. Aber du hast es zugelassen DU hast dir gewünscht, Mommy und Daddy tot zu sehen, aber ICH habe es wahr gemacht.“
    Mit der Fußspitze stieß sie den Schläger auf dem Boden kurz an.
    „Ich habe alles getan, um dir das Leben zur Hölle zu machen. Weil es so einfach war. Nie hast du ein Wort gesagt. Lieber hast du dich in deine Welt verkrochen und hast geflennt.“
    Mit jedem Wort das sie aussprach wollte ich mehr und mehr ihre Kehle durchschneiden. Aber wie konnte ich das tun? Sie war meine Schwester.
    „Noch immer wehrst du dich dagegen. Du könntest so sein wie ich. Du könntest dich durchsetzten. Aber noch immer lässt du dich von Belanglosigkeiten abhalten. Eigentlich dachte ich, du bist soweit, nach dieser Nacht und dem unzähligen Morden. Aber ich hatte mich geirrt. Ich verschwende nur meine Zeit.“
    Sie drehte sich um. „Wenn du es so sehr liebst, ein Opfer zu sein...“ sie beendete den Satz nicht. Statt dessen machte ihr Beschützer einen Satz auf mich. Ich reagierte instinktiv und schleuderte ihm das Messer in den Hals.
    Röchelnd ging er zu Boden und Ruth drehte sich um. Ungläubig und mit einem überraschten Gesichtsausdruck starrte sie mich an. Ihr Leibwächter lag auf dem Boden und bewegte sich nicht mehr.
    Langsam ging ich auf sie zu. Sie wich von mir. Doch zielsicher griff ich nach ihrem Arm und hielt sie fest.
    „Ich lasse es nicht zu dass du mir mein Leben ruinierst. Aber wenn ich es genau betrachte, hast du es bereits getan. Warum also sollte ich noch kämpfen, wenn wir beide drauf gehen können.“
    Jetzt erst bemerkte Ruth, dass das Holz knisterte und ächzte. Die Flammen hatten längst die oberen Stockwerke angefallen. Krachend stürzten Wände auf die Kellerdecke.
    Mit einem leichten Schmunzeln umarmte ich sie und flüsterte in ihr Ohr „Lass uns gemeinsam sterben Schwesterherz.“
    Als ich sie umarmte, fühlte ich nichts. Dies war wirklich nicht meine Schwester. Dieses Ding hatte keine Seele.
    Mit einer ungeheuren Kraft löste sie sich von mir und schlug mir in den Magen. Keuchend flog ich nach hinten und landete erneut auf dem Sofa. Doch ich konnte sie noch fassen und riss sie mit mir. Krachend rollten wir von dem Sofa und stießen an einen der unzähligen Regale. Schwankend stürzte dieser um. Ich konnte mich in letzter Sekunde zur Seite rollen.
    Das Regal begrub Ruth mit all denn Marmeladengläsern und Vorratsdosen.
    Ich konnte sehen, wie sie aus dem Haufen Leichenteile hinaus schaute und mich mit ihren Augen anflehte. Diesmal waren es menschliche Augen. Augen, in die ich mich sofort verlieben konnte. Jareth´s Augen.
    Dann schloss sie ihre Lieder und starb. Sie lag in Mitten widerlich aussehenden Organe und Gliedmaße.
    Dieses seelenlose Wesen tat mir nicht leid. Ruth hatte es verdient. Nichts tat mir mehr leid. Außer, dass ich elendig verbrennen würde, ohne auch nur einmal meinen Eltern meine Meinung gesagt zu haben.
    Mein ganzes Leben hatte ich verschwendet. Das tat mir leid. Rauch füllte den Raum. Dichte Schwaden drangen durch die Kellertür und vernebelten mir die Augen.
    Schmerzende Stiche machten sich auf meine Lunge breit und ich konnte nur noch schwach Atmen.



    Re: Geschichte einer Vogelscheuche

    Sinja - 17.07.2006, 13:31


    Erwache!

    Plötzlich öffnete sich die Flügeltür nach draußen. Jareth stand wie ein Phantom in den Fluten des Lichts. Seine Gestalt war in Schatten gehüllt. Doch ich erkannte ihn sofort.
    „Hör auf mich an zu starren! Komm schon!“ brüllte er. Da wusste ich mit hundertprozentiger Sicherheit, dass er es war.
    Ich rannte auf die Öffnung zu und schnappte nach Luft. Als wir einige Meter vom Haus entfernt waren, merkte ich, dass es keine Sekunde zu früh war. Das Haus stürzte in sich ein.
    Alles, was mir zuwider war, alle Trauer, alle Verzweiflung, alle Angst und Unsicherheit wurde mit einem male unter einem Haufen brennendem Schutt begraben.
    Hoch schossen die Flammen in den orangefarbenen Himmel. Ein neuer Tag begann. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Die Flammen waren es, die den Himmel wunderschön färbten.
    „Wirklich schön.“ sagte Jareth neben mir. Als ich ihn ansah, blieb mir fast der Atem weg. Er hatte Augen. Es waren die Augen meiner Schwester. Wunderschön, voller Wärme und wie reine Smaragde sahen mich diese Augen an.
    Jareth lächelte und sagte leise, verlegen „Du bist auch hübsch.“
    Ich wurde sicher rot und meinte nur „Hatte ich dir nicht gesagt, dass du meine Gedanken nicht mehr lesen sollst!?“
    Ich wand meinen Blick wieder ab und betrachtete die Farm. Oder zumindest, was davon übrig war.
    „Es stimmte alles, was Ruth sagte. Oder? Ich bin feige und ich liebe es mich selbst zu bemitleiden.“ sagte ich leise und senkte den Blick. Jareth stellte sich vor mich und hob mein Kinn an. Er sah mir tief in die Augen. Nun fühlte ich mich nicht mehr unbehaglich. Meine Knie wurden weich und ich sah nur noch seine wunderschönen Augen.
    „In dieser Nacht hast du mehr als einmal bewiesen, dass du nicht feige bist. Du bist kein bemitleidenswertes Wesen. Ganz im Gegenteil. Du bist bewundernswert.“
    Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und wollte seine Lippen auf meinen spüren. Doch er lächelte und gab mir einen sanften Kuss auf die Stirn.
    In meinem Inneren brannte und schmerzte es. Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Ich fühlte mich so verwirrt. Eigentlich sollte ich trauern um meine Familie. Ich sollte froh sein, so eine große Gefahr von mir abgewandt zu haben. Doch nichts dergleichen. Das Wechselbad der Gefühle ging zum Rationalen über und ich fragte ausdruckslos „Was erzählen wir der Polizei?“
    Wieder lächelte Jareth, diesmal etwas traurig. Er schaute mich lange an und meinte nur „Das wird nicht nötig sein Isabelle.“
    Ich sah nur noch, wie er seine Hand erhob. Dann wurde alles Schwarz.

    Als ich aufwachte, lag ich in meinem Bett. Das Sonnelicht schien durch meine halbgeöffneten Gardinen.
    Von unten hörte ich, wie jemand nach mir rief.
    „Aufwachen Isabelle! Steh auf!“ rief meine Mutter.
    „Das Vieh wird nicht von alleine versorgt!“ brüllte sie hinterher. Ich verdrehte die Augen und ordnete erst einmal meine Gedanken. Dann durchfuhr es mich wie ein Blitz. Meine Mutter??? Sie lebte? Warum war ich hier in meinem Bett? Wo war Jareth?
    Ohne groß nach zu denken sprang ich aus dem Bett und lief Hals über Kopf die Treppen hinunter. Unten angekommen schlidderte ich auf dem kleinen Läufer in die Küche. Beinahe wäre ich mit meiner Mutter zusammen gestoßen.
    Sie blickte mich entrüstet an. Ruth saß auf dem Stuhl am Küchentisch und lachte lauthals.
    Erst jetzt merkte ich, dass ich nur in T-Shirt gekleidet und mit zerzausten Haaren da stand.
    „Was um Himmels Willen machst du da?“ fragte mich meine Mutter gereizt.
    „Mom? Du...du... Alles in Ordnung mit dir?“ fragte ich außer Atem.
    „Natürlich ist alles in Ordnung mit mir. Aber du scheinst nicht ganz bei Trost zu sein.“ sagte sie mit einer Mischung aus Ärger und Überraschung. Sie war gerade dabei Pfannkuchen für meine Schwester zu backen.
    Ruth saß derweilen am Tisch und beäugte mich amüsiert. Dann erst sah ich, dass sie wieder eine meiner Stofftiere in der Hand hatte. Das Spielzeug war von Oben bis Unten mit Sirup beschmiert.
    Wütend riss ich ihr den kleinen Tiger aus der Hand und kniete mich vor sie. Mit ruhiger aber bestimmter Stimme redete ich auf sie ein.
    „Hör zu Prinzessin. Wenn du meine Spielsachen haben willst, gerne. Aber du wirst mich gefälligst vorher fragen. Und solltest du die Sachen auch nur etwas beschmutzen oder kaputt machen, dann schwöre ich dir, werde ich nicht mehr mit dir reden. Und die Spielsachen kannst du dir dann auch abschminken!“
    Mit großen Augen schaute sie mich an. Sie war sichtlich überrascht und verdutzt. Kleinlaut nickte sie dann und flüsterte „OK.“
    Mutter drehte sich ebenfalls irritiert um und hielt noch den Pfannenwender in der Hand.
    „Lass das arme Kind doch in Ruhe, es wollte nur spielen!“ raunte sich mich an.
    „Natürlich darf Ruth mit meinen Sachen spielen. Aber es wäre wirklich nett von ihr und von DIR, wenn ihr mich vorher fragen könntet. Es sind meine Sachen.“ konterte ich leicht gereizt.
    „Wie redest du denn mit mir?!? Solange du deine Füße unter unseren Tisch streckst, gehört dir gar nichts.“ fauchte meine Mutter mich in einem warnenden Tonfall an.
    „So wie ich es schon lange hätte tun müssen Mutter! Ich bin es Leid so viel zurück zu stecken. Ich lasse sogar Vorlesungen sausen, um euch zu helfen. Meine Freunde kennen mich schon gar nicht mehr weil ich keine Zeit für sie habe. Mom, ich habe auch ein Leben. Ich schufte hier wie genauso hart wie du und Dad. Ich habe die gleichen Rechte wie ihr. Und wenn dir das nicht passt, dann ziehe ich eben aus!“ schnaubte ich, machte auf dem Absatz kehrt und lief wieder in mein Zimmer. Im vorbei gehen, konnte ich im Augenwinkel noch erkennen, wie meine Schwester mich mit ihren grünen Augen ansah und mir zulächelte.
    In meinem Zimmer angekommen, zog ich mich schnell an. Jeans und ein weißes T-shirt reichten aus. Ohne auch nur meine Haare gekämmt zu haben, stürzte ich schon wieder aus dem Haus.
    Ich war in Begriff in das Maisfeld zu rennen. Als mein Vater mir den Weg versperrte.
    „Sag mal, was ist den in dich gefahren heute morgen? Deine Mutter meinte, du bist biestig.“ er grinste dabei und zeigte keine Anzeichen von Ärger.
    „Ich habe ihr nur das gesagt, was ich schon lange tun wollte. Dich betrifft es übrigens auch.“
    Nun sah er mich überrascht an.
    „Was hab ich denn schlimmes getan?“ fragte er mich.
    „Nichts, dass ist es ja. Du hast alles so hingenommen. Du hast nichts gesagt, wenn ich von morgens bis abends arbeiten musste. Du hast es für selbstverständlich genommen. Es hat dich nie interessiert, wie es schulisch um mich steht. Ich sollte einfach helfen und da sein. Ich gehöre praktisch zum Inventar. Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass ich etwas anderes machen will? Meinst du, ich will hier mein ganzes Leben verbringen? Vergiss es! Ich werde mir eine Wohnung suchen.“
    Vater stand mit offenem Mund wie vom Donner gerührt da. Er konnte nichts mehr sagen.
    Ich schaute über seine Schulter hinweg in das Feld. Die Vogelscheuchen waren alle noch aufgestellt. Jeder hing an seinem Platz.
    Sofort rannte ich los. Die peitschenden Blätter und Maiskolben spürte ich gar nicht. Ich lief geradewegs zu einem der Kreuze zu.
    Dann war ich endlich vor ihm. Jareth.
    Doch Jareth war nicht mehr er selbst. Er war wieder eine Vogelscheuche.
    Mit einem male wirkte er nicht mehr bedrohlich auf mich. Er schien sogar freundlich auf mich hinab zu blicken.
    Eine tiefe Trauer stieg plötzlich in mir auf. Tränen sammelten sich in meine Augen und ich sah seinen Schatten nur noch verschwommen. Ich schniefte und wischte mir die Tränen aus den Augen. Da sah ich etwas weißes aus seiner Brusttasche herausblitzen. Ein Windstoß bewegte den Stoffetzen und wehte ihn aus der Tasche.
    Das weiße Halstuch segelte langsam zu meinen Füßen.


    Ich wünschte ich könnte sagen, dass sich nach diesem Vorfall alles geändert hätte, doch es war noch ein langer Weg, bis ich alles mit meiner Familie ins Reine gebracht hatte.
    Sehr oft haben wir noch gestritten und es gab endlose Diskussionen bis spät in die Nacht. Doch letztendlich habe ich die Oberhand behalten. Meine Schwester war nicht mehr das kleine Biest von Früher und meine Eltern hatten ein Einsehen, dass ich nicht für immer bei ihnen leben konnte.
    Sie haben einige Männer eingestellt, die auf der Farm arbeiten konnten. Ich konzentrierte mich voll und ganz auf mein Studium und machte zu guter letzt mein Examen.
    Es war nicht so, dass meine Familie schlecht war, wie in meinen Vorstellungen. Sie waren keine Mörder oder Dämonen. Sie haben keine Schwerverbrechen begangen. Doch sie hatten mich schlecht behandelt.
    Ich war wie eine Sklavin, die zufälligerweise in diese Familie geboren wurde. Doch all das, was in dieser Nacht passiert ist, oder auch nicht, rüttelte mich endlich wach. Ich erkannte, dass ich mich dagegen wehren musste. Und ich tat es. Ein Jahr nach diesem Vorfall zog ich aus und suchte mir eine Wohnung.
    Jetzt lebe ich in der Großstadt, habe einen wunderbaren Job und koste jeden Tag in meiner neugewonnen Freiheit aus. Mit meiner Familie habe ich noch immer regen Kontakt. Für sie hat sich auch einiges geändert. Sie betrachten mich nicht mehr als selbstverständlich. Sie unterstützen mich bei allem was ich mache und sind immer für mich da.
    Ab und an zieht es mich doch noch wieder zurück in die Vergangenheit. Dann hole ich das weiße Halstuch hervor und betrachte es lange. Ich denke oft an Jareth und bin dankbar, dass ich ihm begegnet bin.
    Wenn ich von Zeit zu Zeit meine Eltern besuche, ist der erste Weg den ich einschlage der zum Maisfeld. Noch immer hängen dreizehn Vogelscheuchen zwischen den Pflanzen und erschrecken arme Vögel.
    Mitten drin ist Jareth an seinem Kreuz und wacht über unsere Farm... und über mich.



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