Lima

Welt der Träume
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    Re: Lima

    Lenchen - 05.01.2008, 00:54

    Lima
    Die erste Geschichte, die ich zu Ende geschrieben hab xD
    Freu mich über Kommentare


    Lima- Eine Geschichte zweier Schwestern

    Es begann schon total katastrophal. Eine Hals-Über-Kopf-Entscheidung. „Es tut mir leid, wenn ich Sie störe, Frau Honner, aber Ihre Schwester Lima Kendo muss leider in den nächsten Tagen aus unserer Wohngruppe abgeholt werden, es ist bedauerlicherweise kein Platz mehr für sie. Sie ist die einzige, die noch Verwandte hat, also holen Sie sie bitte in den nächsten Tagen ab.“ Dieser Anruf war der Anfang. Ich war gerade in eine wichtige Projektarbeit vertieft, als das Telefon klingelte. Der Herr stellte mich einfach vor vollendete Tatsachen. Lima musste aus dem Heim raus, also sollte ich sie möglichst schnell abholen. Dass ich mit meinem Verlobten in einer Drei-Zimmer-Wohnung wohnte und überhaupt keinen Platz für ein 16-jähriges Mädchen hatte, schien ihn gar nicht zu interessieren. Die Arbeit konnte ich erst einmal vergessen.

    Ich hatte mich nie wirklich für meine kleine Halbschwester und ihre Mutter interessiert. Vor einem Jahr hatte ich zwar eine Trauerkarte bekommen, in der stand, dass Limas Mutter, Maria Kendo, gestorben war, und ich hatte eine Karte zurückgeschrieben, aber das war es dann auch für mich gewesen. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal für sie verantwortlich sein sollte. Natürlich, wir kannten beide unseren gemeinsamen Vater nicht, aber ich war fest davon überzeugt gewesen, dass es da noch andere Verwandte gäbe. Nun, da lag ich wohl falsch. Und jetzt stand ich da, mitten in der Ausbildung zur Architektin, mit einem Verlobten, den ich bald heiraten würde, einer winzigen Wohnung - und nun mit einem jungen Mädchen am Hals. Mir würde nichts anderes übrig bleiben, das war mir schon klar, aber wie sollte das gehen? Tom und ich waren beide vollzeit-beschäftigt.

    Am nächsten Morgen fuhr ich zu dem Heim, in dem Lima noch wohnte. Ich wollte sie noch nicht mitnehmen, nur erst einmal kennenlernen, aber der Heimbesitzer sprang mir fast vor Freude um den Hals, als er mich sah, und wollte von bloßem Kennenlernen nichts hören. „Ich bin ja so froh, dass Sie da sind. Es ist wirklich dringend. Schade, zu schade, aber Lima muss wirklich gehen. Warten Sie einfach hier, ich hole sie!“ Und ohne eine Antwort von mir abzuwarten, stürmte er davon.

    Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Der Kerl war viel zu überfreundlich und vorschnell gewesen, als dass alles natürlich sein konnte. Er hatte noch nicht mal überprüft, ob ich wirklich ihre Schwester war. Vielleicht war ich ja auch ein Kinderentführer oder Vergewaltiger. Das musste er doch prüfen! Was war mit Lima? Die Frage drängte sich mir unaufhaltsam auf.

    Schon zehn Minuten später kam der Heimbesitzer (er hatte sich noch nicht einmal vorgestellt) mit einem jungen Mädchen wieder heraus. Wenn es nicht so offensichtlich gewesen wäre, hätte ich nicht geglaubt, dass es meine Schwester Lima war. Ich hatte ihre Mutter nur einmal gesehen, und sie hatten nicht die geringste Ähnlichkeit. Lima war dünn, fast schon abgemagert, hatte lange, schwarze Haare und trug schlichte, schwarze Kleidung. Sie wäre sehr hübsch gewesen, wären da nicht diese Augen. Es war, als schaute sie die ganze Zeit in die Ferne, als wäre sie gar nicht da. Die Augen waren traurig, unendlich traurig, und sie spiegelten Leid wider. Leid, dass sie in den all den Jahren erfahren haben musste. Solche Augen hatte ich noch nie bei einem Kind gesehen, und sie jagten mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ich glaubte plötzlich zu wissen, warum Lima nicht mehr im Heim bleiben durfte. „Hallo!“, begrüßte ich sie und lächelte tapfer. „Nun, also wenn Sie Fragen haben, können Sie gerne immer anrufen. Schönen Tag noch. Tschüss, Lima“, sagte der Mann und ging.

    Da standen wir. Ich kam mir vor wie bestellt und nicht abgeholt. Wie Lima sich wohl fühlen musste? Meine noch nie gesehene Schwester. Diese Augen. Ich konnte den Blick nur schwer abwenden. „Sicher hat man dir gesagt, wer ich bin, also sollten wir…“ „Nein!“, unterbrach sie mich. „Nein?“, fragte ich irritiert. „Man hat mir nicht gesagt, wer Sie sind.“ Mir stockte der Atem. Was war das für ein Heim, wo man den Kindern noch nicht einmal sagte, wer sie abholen würde. „Ähm, ich bin deine Halbschwester Naomi.“ Sie nickte kurz. „Also, wollen wir fahren, oder möchtest du dich noch von irgendwas verabschieden oder etwas über mich wissen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Okay, deine Tasche kannst du in den Kofferraum legen.“ Ich war sehr überrascht, dass sie nur eine einzige Reisetasche und eine kleine Handtasche hatte. Jedes Mädchen in dem Alter, das ich kannte, mich eingeschlossen, hatte mehr Sachen als eine Tasche. Dieser Anblick, eine Tasche, ganz verlassen in diesem riesigen Kofferraum, bewegte mich erstaunlich tief. Ich schüttelte kurz den Kopf und stieg ein. Sie tat es mir nach und setze sich auf den Beifahrersitz. Diese Art, wie sie sich bewegte! Man konnte erkennen, wie sie sich fühlte. Ihr Rücken war krumm, ihr Blick gesenkt, man konnte fast denken, sie wäre gar nicht da, wäre da nicht die Ausstrahlung, die von ihr ausging. Sie erinnerte mich immer wieder daran, dass sie da war. Ich ließ das Auto an und fuhr los. Mehrmals versuchte ich, ein Gespräch in Gang zu bekommen, aber sie gab nur kurze Antworten, und man konnte merken, dass sie nicht reden wollte. Also gab ich schließlich auf. Irgendwo konnte man das ja verstehen. Sie wurde doch ebenso wie ich aus dem gewohnten Leben gerissen und vor eine neue Schwester gesetzt. Heute war erst der erste Tag, es konnte sich noch viel ändern.

    Aber dann, wir waren schon fast da, sagte sie doch noch etwas. Aber ich wünschte mir später, sie wäre weiterhin still geblieben. „Ich weiß ja nicht, was Ihnen der Keller erzählt hat, aber Sie brauchen sich nicht um mich zu kümmern. Stecken Sie mich einfach in ein anderes Heim, und das war’s dann.“ Ich sah sie kurz von der Seite her an. Sie starrte auf die Straße. „Ich hatte eigentlich nicht vor, dich wieder in ein Heim zu stecken. Schließlich bin ich deine Halbschwester, und deshalb sag bitte du zu mir, ja?“ Sie zuckte mit dem Schultern. „Okay, wenn du meinst… Aber es war deine Entscheidung.“ Ich wusste nicht, was sie mir damit jetzt sagen wollte, und blieb still.

    Das war meine erste Begegnung mit Lima, und ich wusste bereits da, dass ich sie nicht wieder einfach in ein Heim stecken wollte. Ich wollte sie richtig kennen- lernen, wollte, dass sie meine Freundin wurde. Das stellte ich mir toll vor. In meinen Fantasien gingen wir shoppen, probierten verrückte Klamotten an, gingen dann ein Eis essen und lachten uns krumm, so wie es zwischen Schwestern sein sollte, doch ich merkte schon bald, wie verdammt schwer das werden würde.
    Als ich Tom am Abend davon erzählte, zog er nur skeptisch die Brauen hoch, sagte aber nichts. Er kannte mich gut genug, um zu wissen, wann er lieber still sein sollte, um Streit zu vermeiden. Lima schlief provisorisch auf dem Sofa im Wohnzimmer, wo auch die Küche eingebaut war. „Hier kann sie nicht lange bleiben.“ Ich sprach mehr zu mir selbst, denn ich erwartete gar nicht, dass Tom mir antwortete. Als er es doch tat, war ich sehr überrascht, er war eigentlich nicht der Typ, der brauchbare Ideen hatte. Das wusste er auch und überließ mir meistens das Reden. „Ich könntet doch eine Reise machen“, schlug er vor. Der war ja lustig! Eine Reise, wie sollte das mal eben gehen? Ich war mitten in der Ausbildung zur Architektin und von dem Geld mal ganz zu schweigen.

    Irgendwann, es war schon mitten in der Nacht, entschlossen wir uns doch, dass ich mit Lima in den ‚Urlaub’ fahren würde, und „nebenbei“ würden wir noch unseren Vater suchen. Dann hatte mein Fehlen bei der Arbeit wenigstens einen Grund. Das war zwar alles keine besondere Idee, aber auch mir fiel keine bessere ein. Und sogar der Psychiater, zu dem ich jahrelang gegangen war (völlig grundlos, ich hatte nur das Gefühl, etwas im Leben falsch zu machen), hatte mir auch immer geraten, etwas optimistisch anzugehen, auch wenn es hoffnungslos scheint. Also versuchte ich, mir die Sache schönzureden, aber es klappte nicht wirklich. Man musste schon ein verdammt guter Lügner sein, wenn man sich selbst einreden konnte, dass es nicht total verrückt war, einfach so auf eine kleine Insel bei Spanien zu fliegen, um den Vater zu suchen, noch dazu mit einem Mädchen, dass ganz offensichtlich lieber in einem Heim verschimmeln würde. Trotzdem schlief ich mit einem Lächeln im Gesicht ein. Der Psychiater wäre stolz auf mich gewesen.

    Am nächsten Morgen musste ich Lima wohl von meinem Plan erzählen. Ich wusste nicht, was passieren würde. Würde sie schreien? Sachen durch die Gegend werfen? Ich setze mich mit einem Kloß im Hals zu ihr an den Tisch. Tom sagte bedauernd, dass er heute Frühschicht habe. Hatte er die nicht immer dienstags und donnerstags? Heute war Mittwoch. Ich schluckte meinen Ärger herunter, hier wartete etwas auf mich, dass vielleicht meine ganze Kraft kosten würde. „Lima“ begann ich. Sie hob die Brauen zu einem ‚Wenn-du-so-anfängst-willst-du-was-von-mir-Blick’. „Also, wie gesagt, diese Wohnung hier ist zu klein für drei Leute, und ich möchte dich ungern wieder in ein Heim schicken.“ Sie sagte nichts, sondern sah mich nur skeptisch an. „Deshalb hab ich mir überlegt, ich nehme mir so lange Zeit, wie du Sommerferien hast, das sind noch 5 ½ Wochen, oder? Und wir fahren in den Urlaub nach Spanien. Unsere spanischen Wurzeln lassen sich ja nicht verleugnen.“ Das stimmte, man sah uns beiden sofort an, dass ein Teil unserer Eltern spanisch sein musste. „Was hältst du davon?“ Sie sah mich weiterhin an. Nicht mehr skeptisch, sondern jetzt ohne irgendeine Gefühlsregung. „Meinetwegen“, sagte sie dann. Okay, du sagst ihr jetzt die Sache mit unserem Vater, das wird schon klappen. „Da ist noch etwas.“ „Ja?“ „Wie du vielleicht weißt, wohnt unser Vater in Spanien. Wir haben und hatten auch noch nie Kontakt zu ihm, und deshalb habe ich mir überlegt, das könnten wir doch gut ändern.“ Innerlich presste ich mir die Hände auf die Ohren und duckte mich, aus Angst vor dem, was nun kommen würde. Doch es blieb still. Kein Schreien, kein Brüllen, kein Sachen-durch-die-Gegend-Werfen. Nur ein „Okay.“ Ohne irgendein Gefühl. Ich wusste nicht, was schlimmer war. „Gut…“, sagte ich lahm, um mich selber wieder in den Griff zu bekommen. Ich sah sie noch einmal kurz an, und mir war, als flackerte etwas durch ihre traurigen Augen. Etwas wie Wut oder Trauer, ein Gefühl auf jeden Fall, und dieses Gefühl fand meinen Plan mit unserem Vater nicht ‚okay’. Aber Lima hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. Sie sah weg und aß ihr Müsli auf.

    Den Rest des Tages verbrachte ich mit Planen. Ich recherchierte stundenlang im Internet, bis ich die Insel herausgefunden hatte, auf der unser Vater lebte. Mehr konnte ich allerdings nicht finden. Die Insel war klein, sehr klein. Es gab nur ein einziges Hotel, und weil es recht günstig war, mietete ich ein kleines Appartement für uns. Ende offen. Tom und ich kauften alles ein, was wir brauchten. Am nächsten Tag sollte es schon los gehen. Während dieses Tages versuchte ich weiter, an Lima heranzukommen. Fehlanzeige. Sie blieb weiter unzugänglich und verschlossen.

    Unser Flug ging um zehn Uhr am nächsten Morgen, wir mussten also sehr früh los. Tom und ich wuselten durch die Wohnung, packten die letzten Sachen zusammen und traten uns gegenseitig auf die Füße, schrien uns gegenseitig gereizt an. Lima allerdings saß nur auf dem Sofa und starrte Löcher in ihre Tasche, sie sie gar nicht richtig ausgepackt hatte. Natürlich war sie schwarz. Ich fragte mich, was an diesem Mädchen nicht schwarz war. Als wir endlich im Auto saßen, wurde mir erneut blitzartig bewusst, was das alles für ein Wahnsinn war. Ich war hier auf dem Weg zu einer kleinen Insel im Mittelmeer, dessen einziges Dorf aus ein paar Häusern, einer Kirche und einem Hotel bestand. Noch dazu war meine Reisebegleiterin meine mies gelaunte, verschlossene, bittere Halbschwester, die ich gerade mal ein paar Tage kannte und die nicht gerade zu meinen besten Freunden gehörte. Toll!

    Am Flughafen gaben wir unser Gepäck auf und erledigten den ganzen anderen Kram, den man machen musste, bevor man ins Flugzeug durfte. Das einzig Besondere (es war nur angesichts der anderen langweiligen Sachen besonders) war, dass Lima bei der Durchsuchung angepiepst wurde und sie ihr Taschenmesser abgeben musste. Das besserte ihre Laune nicht gerade. Dann verabschiedete ich mich schnell von Tom. In meinem Kopf waren viel zu viele Gedanken, um mich richtig darauf konzentrieren zu können. Ich drückte ihn kurz an mich und erwiderte seinen Kuss, aber nur flüchtig. Ich war so in Gedanken, dass ich seinen sauren Blick erst gar nicht bemerkte. Ich nahm ihn dann noch schnell zur Seite und versuchte, ihm die Sache kurz, aber treffend zu erklären und küsste ihn dann lange und anständig, wie es sich für Verlobte gehörte, die sich lange nicht sehen sollten. Danach saß ich endlich und endgültig, unwiderruflich im Flieger. Ich liebte das Starten. Das Geräusch, wenn das Flugzeug langsam anrollte und sich dann langsam in die Luft erhob. Es kribbelte so schön im Bauch. Ich wollte eigentlich an Lima vorbei einen Blick auf die Landschaft werfen, aber dabei sah ich ihr Gesicht. Sie war blass geworden. „Lima, ist alles okay? Ist dir schlecht?“, fragte ich vorsorglich. Sie warf mir einen Blick zu, der wohl genervt aussehen sollte, allerdings musste sie sich so anstrengen, den Brechreiz zu unterdrücken, dass der Blick einfach nur eine schaurige Grimasse war. „Tüten sind unter dem Sitz neben den Schwimmwesten“, sagte ich noch und ich war mir sicher, dass es die letzten für den Rest des Fluges sein sollten. Ich holte meinem mp3-Player aus dem Handgepäck und gab mich meiner Musik hin. Dabei konnte ich immer am besten nachdenken oder abschalten. Es beruhigte mich, ließ mich über Probleme nachdenken und gab mir die besten Ideen. Heute hörte ich einfach nur zu. Versuchte, alles zu vergessen. Der Player war bunt beladen. Eine Mischung aus Pop und Rock, etwas Hip Hop und R’nB, aber auch Lieder aus den 80-er und 90-ern.

    Wir sollten ungefähr 2-3 Stunden fliegen. Irgendwann holte ich den einzigen Reiseführer, den ich über die Insel finden konnte, heraus. Tom sagte immer, ich sei eine Reisebuchfanatikerin. Ich konnte nicht einfach so in ein fremdes Land fliegen, ohne etwas darüber zu wissen. Normalerweise lernte ich vor einer Reise auch noch die nötigsten Brocken der Sprache, aber dafür war dieses Mal keine Zeit mehr, und ich hoffte einfach, dass der Rest aus meiner frühen Kindheit, die ich in Spanien gelebt hatte, und ein bisschen von meinem Schulspanisch reichen würden. Ich fragte mich, ob Lima wohl Spanisch sprach, aber ich fragte nicht laut.

    Der Flug ging schnell vorbei, und schon bald senkte sich das Flugzeug. Ich sah noch einmal zu Lima hinüber. Sie sah noch immer verkrampft aus, aber sie hatte sich nicht übergeben. Die Räder setzen mit einem Ruck auf. Geschafft! Wir waren in Spanien. Das Flugzeug rollte noch ein bisschen, bis es stand. Dieser komische Tunnel, durch den man den Flieger verließ (ich vergaß den Namen immer wieder, Tom hatte ihn mir wohl schon zehn mal gesagt) wurde an das Flugzeug gefahren und die Türen öffneten sich. Ich ging vor Lima durch den Gang, wünschte der Crew ‚Auf Wiedersehen’ und verließ den Flieger. Sobald wir das Gebäude betreten hatten, umfing uns das spanische Leben. Ich hatte ein vages Gefühl der Vertrautheit. War für mich nicht so ein Leben in früheren Zeiten normal gewesen? Wie schwer es war, sich in dem kalten Deutschland wohl zu fühlen! Und nun war das spanische Leben für mich fremd. Das machte mich traurig. Mit dem Bus ging es zur Küste und dort wurden wir mit einer Fähre auf die kleine Insel gesetzt. Ich ging los, wir hatten nicht viel Zeit, aber Lima schlurfte missmutig hinter mir her. Ich versuchte, mich zur Ruhe zu zwingen und wartete alle fünf Schritte auf sie, doch schon bald hatte ich keine Geduld mehr und schleifte sie hinter mir her. Ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn ich ihr etwas brechen würde, würde sie sich schon melden. Wir machten einen Abstecher beim Gepäckband und warteten auf unsere Taschen, danach hasteten wir zum Bus. Das hieß, ich rannte und zog Lima mit, da sie von alleine wohl keinen Schritt gemacht hätte. Als wir endlich im Bus saßen, fragte ich sie: „Hattest es wohl nicht sehr eilig anzukommen, was?“ und konnte einen spöttischen Unterton nicht lassen. Sie blitze mich an, doch sie sagte nichts, das brachte mich noch mehr in Rage. „Du sitzt hier einfach nur rum und ziehst einen Schmollmund. Kannst doch eigentlich froh sein, dass du da weg bist.“ Das war nicht als Beleidigung an sie gemeint, eher an das Heim, aber irgendwie verstand sie das falsch. „Sei still.“, stieß sie zwischen den Zähnen hervor. Doch ich dachte nicht daran. „Wenn ich leise sein soll, musst du dich schon wehren. Mach doch mal den Mund auf und sag mir deine Meinung. Los!“ Meine Stimme war lauter geworden, und ich sah sie herausfordernd an. Einen Moment lang schien es, als wolle sie etwas sagen, doch sie schloss den Mund wieder und wandte sich ab. Was war nur los mit ihr? Etwas belastete sie schwer, wie eine Art Trauma. Und sie verschanzte sich total, ließ niemanden an sich ran. Es war fast so, als habe sie kein Selbstwertgefühl mehr. Als ob es ihr egal ist, ob man sie total runter macht. Als habe sie verlernt, richtig wie ein Mensch zu leben. Ich fühlte mich mies, weil ich sie regelrecht in den Magen getreten hatte, als sie schon hilflos am Boden lag. Das schlechte Gewissen plagte mich mehr und mehr. Ich war eigentlich oft sehr rüde und ruppig, provozierend, sagte meine Meinung, aber nur bei Leuten, die es verdienten. Bei Lima war es etwas anderes. Ich spürte es. Sie war so traurig. So unendlich traurig. Irgendetwas hatte sie zutiefst verletzt. Es war, als würde ihr Herz von innen verbluten. Ich musste etwas tun. Aber was? Ich durfte sie nicht drängen. Sie musste von allein zu mir kommen. Aber bevor sie das tat, musste ich das gut machen, was ich verbockt hatte. „’Tschuldigung…“ murmelte ich. Sie sah mich kurz, skeptisch an. „Das eben war nicht fair… Ich…“ „Schon okay.“ Unterbrach sie mich. Ich wollte noch erklären, aber sie zeigte mir deutlich, dass sie das nicht hören wollte. Von da an, war es noch schwieriger, mit ihr zu reden. Ich hatte es wohl wirklich vergeigt. Aber es tat mir doch so sehr leid, ich konnte sie nicht einmal ansehen, doch ich wusste nicht, wie ich es zeigen sollte.

    Das Hotel, in dem wir untergebracht waren, war klein, aber wunderschön. Mit den Terrassen, umgeben von Säulen, mit Palmen im Garten und dem Meer direkt vor der Tür. Ich fühlte mich sofort zu Hause, und es hätte ein so schöner Urlaub sein können, wäre da nicht Lima, die ständig schlechte Laune verbreitete. Sie hatte überhaupt keine Interesse daran, unseren Vater zu finden. Sie lag den ganzen Tag nur im Schatten und hörte Musik. Was konnte das für ein Leben sein? Immer öfter, wenn ich darüber nachdachte, was man ihr angetan haben musste, dass sie nun so war, spürte ich furchtbare Wut in mir hochsteigen. Die ersten paar Tage versuchte ich, einfach zu relaxen. Ich besichtigte das Dorf, ging an den Strand, mietete ein Rad und fuhr durch die wunderschöne Landschaft, in der man sich wirklich verlieren konnte. Manchmal versuchte ich, Lima dazu zu bewegen, mitzukommen, doch sie wehrte sich mit Händen und Füßen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt war es für mich vorbei. Ich konnte Limas Rumgezicke einfach nicht länger ignorieren. Den einzigen Weg, nicht durch-zu- drehen, sah ich darin, mich völlig auf die Suche nach unserem Vater zu konzentrieren.

    Ihn aber tatsächlich zu finden, war schwerer, als ich dachte. Ich kaufte mir ein Telefonbuch, fand ihn dort aber nicht. Ich hatte nichts mehr als seinen Namen. José Totelly, dass war alles. Wenigstens ließ mich mein Spanisch nicht ganz im Stich. Ganz am Anfang war es für mich noch schwer, mich zu verständigen, aber bald hatte ich mich an die Sprache gewöhnt. Allerdings drehte ich mich die ersten paar Tage noch sehr im Kreis. Ich fand einfach nichts, nicht mal das kleinste Bisschen. Das machte mich fast noch wütender als Lima. Ich merkte, wie meine Kräfte und meine Motivation langsam nachließen. Die täglichen Gespräche mit Tom am Abend, an die ich mich immer geklammert hatte, um nicht unterzugehen in diesem fremden Land, wurden langsam zur Pflicht. Ich klagte mein Leid, und er meckerte über seinen Beruf. Wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Dieser Gedanke war beängstigend, aber er drängte sich mir immer wieder auf, sooft ich ihn auch beiseite schob. Er war wie ein Bumerang. Und Lima, sie zeigte keine Veränderung. Sie wusste sehr genau, dass ich jeden Tag meine Stunden damit verbrachte, José zu suchen, doch sie fragte nicht nach. Es interessierte sie nicht. Zumindest zeigte sie das so nach außen. Bildete ich es mir ein, oder hob sie das ein oder andere Mal den Kopf ein wenig, wenn ich meine Suche erwähnte?

    Eines Abends lag ich mal wieder total erschöpft auf meinem Bett. Ich war bis ans andere Ende der Insel gefahren, nur um festzustellen, dass dort ein anderer José Totelly lebte. Ich konnte nicht mehr. Meine Knochen taten weh, mein Herz war wund, ich hatte ein richtiges Tief, als es an der Tür klingelte. Ich hievte mich hoch. Wer konnte das sein? Wer sollte mich hier besuchen kommen? Ich öffnete die Tür. „Tom!“ - „Überraschung!“ lachte er. „Die ist dir geglückt!“ Ich nahm ihn in die Arme. „Was machst du denn hier?“, fragte ich lachend und küsste sie. „Ich hab mir spontan Urlaub genommen und dachte, ich schau mal bei dir vorbei, ob es hier wirklich so schön ist, wie zu erzählst, und ob du mir auch treu bist!“ Er grinste schelmisch. „Na, was denkst du denn von mir?“, fragte ich lachend. Wir gingen in mein Zimmer (Lima sah fern, irgendeine spanische Soap, sie schien Spanisch besser zu sprechen als ich) und redeten. Ich erzählte ihm, was alles passiert war und wie es mit Lima lief, und er erzählte von zu Hause. Es tat gut, endlich wieder ein vertrautes Gesicht zu sehen, das einen nicht angenervt ansah. Wir gingen noch in ein kleines, romantisches Restaurant und dann ins Bett. Er hatte Verständnis dafür, dass ich müde war.

    Am nächsten Morgen beschloss ich, meine Suche einmal sein zu lassen, um neue Kraft zu tanken und etwas mit Tom zu unternehmen, da er ja extra gekommen war. Wir gingen an den Strand, badeten - und taten all die Sachen, die ein Paar im Urlaub tat. Am Ende des Tages ging es mir wieder richtig gut. Ich hatte neue Kraft und wollte weitersuchen. Das fand Tom allerdings nicht so gut. „Ich bin extra her geflogen! Kannst du dir da nicht mal etwas Zeit für mich nehmen? Schließlich sind wir verlobt, da hab ich das ja wohl verdient, oder?“ Er war richtig wütend. Tom, TOM war wütend. Das gab es selten. Und es machte mich ebenfalls wütend. Ich war nun mal eine bestimmende Natur. „Die Zeit wird knapp, ich kann nicht so lange weg bleiben! Und das Geld wird auch weniger. Wenn ich ihn nicht bald finde, muss ich wieder nach Hause, ohne das erreicht zu haben, was ich wollte.“ Er schnaubte. „Na und? Dann suchst du ihn ein anderes Mal! Merkst du das eigentlich? Ich bin dir doch total egal! Du willst mich nur, wenn es dir total blöd geht, zum Aufmuntern. Du willst immer alles bestimmen. Das hört sich jetzt vielleicht nach Kindergarten an, aber es ist so, verdammt! Ich hab doch in unserer Beziehung nichts zu sagen!“ Ich sah ihn mit offenem Mund an. Tom?!? Bist du das wirklich? Ich hatte nie gedacht, dass Tom etwas störte. Das hätte ich ihm jetzt gerne gesagt, aber ich war viel zu hitzig und er immer noch wütend. Und so schrie ich zurück. Das erinnerte jetzt noch mehr an den Kindergarten. Oder an ein altes Ehepaar. Wir schrien uns an, warfen uns blödsinnige Beschimpfungen an den Kopf, verritten uns auf unseren Meinungen und ließen keinen mehr ran. Es endete damit, dass Tom schrie: „So wird das nichts! Du bist doch gerade ganz woanders! Komm wieder, wenn es dir wieder besser geht, bis dahin mach ich Schluss!“ Er packte seine Sachen und stürmte hinaus.

    Erst stand ich nur in der Wohnung und versuchte, zu begreifen. Als ich dann verstand, dass Tom gerade auf dem Weg zurück nach Deutschland war, rannte ich nach draußen und sah nur noch, wie das Taxi mit ihm davonfuhr. Und wie im Film begann es in diesem Moment zu regnen. Ich stand allein auf der Straße und der Regen schwemmte meine Tränen weg. Ich ging langsam wieder in das Appartement und sah aus dem Fenster auf das Meer, das völlig ruhig war. Jeder Tropfen schlug kleine Wellen. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Nur kurz, dann war sie sofort wieder verschwunden. Ich sah mich um, und sah nur noch Lima wieder in ihr Zimmer verschwinden. Ich legte erschöpft meinen Kopf an die Fensterscheibe. Warum war das Leben so schwer? So verdammt ungerecht? Ich weinte noch ein wenig. Es tat gut zu weinen. Das letzte Mal hatte ich geweint, als meine Katze gestorben war, da war ich zwölf ... Ich hatte ganz vergessen, wie schön es war. So erleichternd. Als keine Tränen mehr kamen, schlief ich ein. So wie ich war. In meinen noch nassen Klamotten, mit trockenen Tränen auf den Wangen.

    Am nächsten Morgen wachte ich auf und fühlte gleich, dass ich trotz allem neue Kraft hatte. Ich verdrängte Tom erst einmal aus meinen Gedanken. Ich würde nicht aufgeben. Auch wenn er meinte, dass ich alles um mich rum vergessen würde! Ich wollte meinen Vater finden. Mehr als alles andere auf der Welt. Ich duschte schnell und zog mir mein leichtes Sommerkleid an. Ich drehte das Radio voll auf und tanzte zu spanischer Musik durch das Appartement und machte Frühstück. Lima kam verschlafen mit zotteligen Haaren in die Küche, wohl geweckt von der Musik. Als sie mich sah, klappte ihr der Unterkiefer herunter. Ich grinste. „So schnell gebe ich nicht auf!“, rief ich und setzte mich mit einer schwungvollen Bewegung an den Tisch.

    Nach dem Essen machte ich mich mal wieder auf den Weg. Ich wusste nicht mehr, wo ich noch suchen sollte, doch davon ließ ich mich heute nicht unterkriegen. Ich besichtigte die Kirche, lief durch die kleinsten Gässchen und genoss die Sonne auf meiner mittlerweile gebräunten Haut. Meine Erkundungstour führte mich auf einen Marktplatz, wo viele spanische Händler lautstark ihre Waren anboten. Ich wurde mehrmals von der Seite her angeredet, doch ich ließ die jungen Männer stets nur mit einem bezaubernden Lächeln stehen. Es tat gut, mal wieder so ungezwungen mit Männern umzugehen. Vor einem Stand blieb ich stehen. Es wurden Tücher und Schals angeboten, die mir sehr gut gefielen. Ich verweilte einen Moment und strich verträumt über die schönen Stoffe, als etwas meine Aufmerksamkeit erregte. Es war nur eine Stimme unter vielen anderen, aber sie stellte mir die Nackenhaare auf. Instinktiv wandte ich mich um. Es dauerte einen Moment, bis ich die Stimme in dem Gewühl geortet hatte, aber dann sah ich eine ältere Frau mit mehreren schweren Tüten, die lautstark und zeternd auf einen Händler einsprach. Fasziniert beobachtete ich, wie der Händler unter den Worten der Frau immer kleiner wurde und ihr schließlich die Ware für den halben Preis gab. Die Frau wandte sich zum Gehen, und bevor ich überhaupt merkte, was ich tat, lief ich auch schon zu ihr hinüber. Irgendetwas an der Frau zog mich an, aber ich wusste beim besten Willen nicht, was. Als ich sie eingeholt hatte, fragte ich sie höflich auf Spanisch, ob ich ihr mit den Tüten helfen könne. Sie musterte mich mit einem durchdringenden Blick, und ich verstand urplötzlich, wie sich der Händler gefühlt haben musste. Sie sagte lange nichts, und ich hielt es fast nicht mehr aus, dann lächelte sie: „Gerne!“ Und sie hielt mir zwei Tüten hin. Ich ging neben ihr her von dem Platz herunter, wo sie zielstrebig in eine kleine Gasse einbog, die ich wahrscheinlich übersehen hätte. Ich folgte ihr in erstaunlich schnellem Tempo durch ein Labyrinth aus Gassen, und schon bald stand mit der Schweiß auf der Stirn. Endlich hielt sie vor einem kleinen Haus mit einem noch kleineren Garten. Sie schloss die Tür auf und ich folgte ihr hinein. Drinnen schlug mir kühle Luft entgegen. Ich stellte die Taschen in die Küche, wo die Frau mir ein Glas Wasser eingoss. Ich nahm einen Schluck. Das Wasser rann meinen Hals hinunter und tat sehr gut. „Es ist heiß!“, sagte die Frau wissend, „warum setzen wir uns nicht noch ein bisschen ins Wohnzimmer?“ „Woher wissen Sie, dass ich noch bleiben will?“, fragte ich überrascht. „Nun, es ist doch wohl klar, dass Sie mich nicht nur angesprochen und mir die Taschen getragen haben, weil Sie sonst nichts zu tun hätten, oder?“ Ich musste lachen. „Okay, ertappt.“ Das stimmte, denn ich hatte mir auf dem Weg tatsächlich überlegt, dass es nicht schaden könnte, sie etwas über José auszufragen. Sie wollte nichts weiter wissen, sondern ging ins Wohnzimmer. Ich folgte ihr und setzte mich auf ein Sofa. Neugierig sah ich mich um. An den Wänden hingen viele Schwarz-weiß- Fotografien. Die meisten zeigten einen Jungen und einen jungen Mann. Ich hatte den Verdacht, dass es sich dabei um dieselbe Person handelte. Und da hatte ich plötzlich eine wahnsinnige Idee. Ich fragte; „Kennen Sie vielleicht einen José Totelly?“ Das Gesicht der Frau blieb ausdruckslos. „Was wollen Sie?“, fragte sie nun mit kalter Stimme. „Nun ja…“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und sah die Frau hilflos an. - „Ich weiß, wo er wohnt. Aber bevor ich Ihnen das sage, möchte ich wissen, was Sie von ihm wollen.“ Ich schluckte. Am besten war es wohl, wenn ich die Wahrheit sagte. „Er ist mein Vater, und ich würde ihn gerne kennenlernen.“ Nun war es heraus. Ich sah die Frau vorsichtig an und bemerkte überrascht, dass Tränen in ihren Augen schimmerten. „Naomi!“, rief sie mit
    tränenerstickter Stimme. Irritiert sah ich sie an. Dann, ganz plötzlich, schoben sich Bilder vor meine Augen.

    Ich als zwölfjähriges Mädchen, das in eben diesem Wohnzimmer saß und zuhörte, wie seine Eltern sich mit ihrer Oma unterhielten. Ihrer Oma. Die Frau war tatsächlich Josés Mutter und somit ihre Oma. „Oma?“, fragte ich zaghaft. Es musste bescheuert klingen, aber zu etwas anderem war ich nicht fähig. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und fiel mir in die Arme. Sie strich über mein Haar und weinte. Ich weinte auch. Auf einmal war alles wieder da, was ich versucht hatte zu vergessen und womit ich fast Erfolg gehabt hätte. Meine Kindheit mit meinen Eltern auf dieser Insel, meine überfahrene Katze, kurz danach der riesige Streit meiner Eltern und der Umzug mit meiner Mutter nach Deutschland. Meine Oma und ich redeten lange über alte Zeiten, lachten über Ereignisse und trauerten um meine Katze, meine damalige beste Freundin. „Was ist aus José geworden, nachdem wir ausgezogen sind?“, sprach ich dann die schlimmste Frage aus. Greta, so hieß meine Oma, seufze und begann zu erzählen.

    Ein paar Monate, nachdem wir weg waren, lernte José eine andere Deutsche kennen. Es schmerzte mich, dass er seine Tochter so schnell vergessen hatte. „Fast ein Jahr waren sie glücklich, aber dann wurde die Frau schwanger. José wollte kein Kind und verlangte eine Abtreibung, aber das war damals noch etwas schwierig, außerdem wollte die Frau das Kind unbedingt bekommen. So sind auch sie wieder nach Deutschland gezogen, und José schloss sich von der Außenwelt ab. Den ganzen Tag arbeitete er in seiner eigenen Tischlerei und kam kaum noch heraus, aus Angst, dass ihm „so etwas“ noch einmal passiert. Aber er hat dich nie vergessen, Naomi! Und auch sein anderes Kind nie! Er hat euch beide geliebt!“ Mir stiegen schon wieder Tränen in die Augen, aber ich schluckte sie herunter. „Und jetzt bist du dran!“ Greta lächelte mich an. „Was ist in Deutschland passiert? Warum willst du José nun finden? Was ist mit deiner Halbschwester?“

    Ich erzählte ihr alles, soweit ich es konnte. Natürlich machte auch sie sich Sorgen um ihre andere Enkelin, doch ich wusste ja auch nicht, was los mit ihr war. „Aber hoffentlich wird sich das bald ändern“, sagte ich zu Greta. „Morgen gehe ich zu José und Lima wird mitkommen, ob sie will oder nicht.“ Sie nickte. Dann versprach ich, sie bald mit Lima zu besuchen, sie schrieb mir die Adresse von José auf, und wir verabschiedeten uns.

    Als ich aus dem Haus trat, merkte ich überrascht, dass es bereits auf den Abend zuging, und so machte ich mich schnell auf den Weg ins Hotel. Beim Abendessen ließ ich die Bombe platzen. „Ich hab die Adresse!“ Lima ließ ihre Gabel fallen und starrte mich an. Dann sprang sie auf und verschwand aus dem Zimmer. Ich verdrehte die Augen. „Du kommst morgen mit!“, rief ich ihr nach, aß zu Ende und verließ dann das Appartement. Ich setzte mich ans Meer und beobachtete den Sonnenuntergang, um meine Gedanken zu ordnen. Morgen! Morgen würde ich tatsächlich meinen Vater kennenlernen. Ich konnte es kaum glauben. Ich versuchte, mich an ihn zu erinnern, doch so sehr ich mich auch anstrengte, ich wusste nicht mehr viel, was mit ihm zusammenhing. Ich wusste, dass er manchmal mit mir geschimpft hatte, dass er mit mir zum Angeln war, dass es mir kleine Figuren geschnitzt hatte. Das war auch alles. Kein Gesicht, nichts mehr. Ich lenkte meine Gedanken zum ersten Mal wieder auf Tom. Es tat mir alles schrecklich leid, doch ich wusste, dass es wohl oder übel besser so war. Wir waren nicht füreinander gemacht. Das hatte ich doch schon die ganze Zeit über gemerkt, bevor Lima überhaupt da war. Schritte rissen mich aus meinen Gedanken. Leise Schritte, vorsichtig. Leise knirschte der Sand. Jemand setzte sich neben mich, und überrascht stellte ich fest, dass es Lima war.

    Es war das erste Mal, dass sie von alleine zu mir kam. Eine Weile schwiegen wir und genossen das stille Beisammensein ohne Streit oder Rumgezicke. Irgendwann begann Lima zu reden. „Es tut mir leid.“ Ihre Stimme klang heiser und rau. Ich sah sie überrascht an. Sie blickte aufs Meer und sah so aus, als meine sie es ernst. „Ich wollte nicht so mies zu dir sein!“, erklärte sie. Dann sagte sie wieder eine Weile nichts und ich merkte, dass sie weinte. Auf einmal kamen meine Schuldgefühle wieder hoch. „Mir auch!“, sagte ich, ebenfalls mit Tränen in den Augen. „Ich habe dich total fertig gemacht, dass war falsch.“ Sie schüttelte den Kopf. „Du hattest doch allen Grund dazu.“ Dann brach alles aus hier heraus. Sie weinte, zitterte und schrie. Ich nahm sie in den Arm und streichelte sie. „Ich sollte dir das hier schon viel früher erzählt haben. Der Grund, warum ich aus dem Heim geflogen bin und warum ich überhaupt drin war, ist der:

    Ich wuchs mit meiner Mutter in Deutschland auf. Sie hatte fast kein Geld und arbeitete deshalb in einem Heim als Betreuerin. Dafür durften wir dort wohnen und bekamen zu essen. Alles in allem war mein Leben ganz okay. Ich lernte dann dort einen Jungen kenne, in den ich mich verliebte. Er hieß Rigo. Wir waren zusammen, seit ich vierzehn war. Kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag wurde Mama krank. Ich hatte damals keine Ahnung, was für eine Krankheit es war, jetzt kenne ich die Anzeichen nur zu gut. Mama hatte Aids. Sie war HIV positiv. Es dauerte lange, bis ich das verstand. In der Zeit war nur Rigo für mich da. Eines Tages, als die Krankheit ihren Höhepunkt hatte, erklärte sie mir, wie sie sie bekommen hatte. Sie hatte einmal eine offene Wunde an der Hand. Ich erinnerte mich noch gut an den Tag. Sie hatte sich geschnitten. Rigo hatte ebenfalls eine Wunde, die beiden berührten sich zufällig an den Wunden. Dabei gelangte ein winziges Bisschen von Rigos Blut in Mamas Wunde. An dem Tag, als sie mir das erzählte, brach für mich eine Welt zusammen. Also hatte Rigo auch Aids. Vielleicht war die Krankheit ja noch nicht ausgebrochen, aber er hatte den Virus. Am nächsten Morgen war meine Mutter tot. Von da an war ich jeden Tag bei Rigo. Ich hatte ja sonst keinen. Nur bei ihm konnte ich teilweise meinen Schmerz vergessen, doch der verfolgte mich jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde. Ich vermisste meine Mutter so sehr. Rigo war ebenso traurig wie ich und genauso schockiert, als er erfuhr, dass auch er HIV positiv war. Er machte noch einen Test, aber eigentlich war alles schon klar. Nach einem weiteren qualvollen Jahr, in dem ich nur noch Schmerz fühlte, brach die Krankheit auch bei Rigo aus, und vor einem dreiviertel Jahr ist er gestorben. Von da an hatte ich niemanden mehr. Ich machte Randale, weil ich nicht mehr weiterwusste. Niemand hörte mir zu, niemandem konnte ich erzählen, was ich fühlte. Niemand wusste wirklich von meinem Schmerz. Mein Leben war ebenso vorbei, wie das von Mama und Rigo, von denen, die ich liebte.“

    Das alles hatte Lima mit erschreckend gefühlloser Stimme erzählt, aber jetzt brachen die Tränen aus ihr heraus. Ich nahm sie in den Arm und versuchte, etwas von ihrer Trauer auf mich überzuleiten. Es war so schrecklich, so schrecklich! Wenn ich mir vorstellte, dass ich nur zwei Menschen hätte, die mir etwas bedeuteten und die beiden dann in kurzer Zeit an Aids verlor, ich wüsste nicht, was ich dann machen sollte. „Mein Leben ist vorbei!“, nuschelte sie in mein Haar. „Nein“, sagte ich. „Jetzt hast du ja mich! Ich bin für dich da!“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Verstehst du nicht?“, brauste sie nun auf. „Ich habe ebenso den Virus wie Mama und Rigo. Ich habe mit Rigo geschlafen, verdammt! Und heute, als du die Adresse herausgefunden hast, da hab ich die ersten Anzeichen bemerkt. Es bricht aus! Ich habe Aids!“ Sie schrie es heraus und brach dann zitternd zusammen. Nun war es an mir, sie zu verlieren. Konnte das sein? Hatte auch sie Aids? Ich sah sie an. Sie log nicht, das wusste ich. Meine Schwester Lima hatte Aids. Wir weinten beide bis spät in die Nacht, sie wegen ihres kaputten Lebens und des Schmerzes, den sie fühlte - und ich wegen ihr. Weil ich nun wusste, warum sie so verschlossen war, warum sie sich nicht wehrte. Sie hatte schon zu viel kämpfen müssen, sie konnte nicht mehr. Doch jetzt war ich doch da! Jetzt würde ich für sie da sein und ihr helfen. Wir schliefen beide Arm in Arm am Strand ein.

    Am nächsten Morgen war alles anders zwischen uns. Wir vertrauten uns von nun an blind und verstanden uns prächtig. Wir aßen gemeinsam, dann machten wir uns auf den Weg zu Josés Haus, dass weit abseits auf der Insel lag, so dass kaum jemand davon wusste. Ich erzählte Lima von unserer Großmutter. Sie hörte aufmerksam zu und redete mit. Wie sie sich plötzlich verändert hatte, seit sie nicht mehr das Geheimnis mit sich tragen musste! Bald hatten wir das Haus erreicht. Ein kleines Backsteinhaus mit Werkstatt, direkt am Meer. Wir standen nebeneinander vor der Tür und sahen uns an. Wir wussten, dass wir absolut das gleiche fühlten. Mit zitternden Fingern drückte ich auf die Klingel und wir warteten. Jede Sekunde verging kriechend langsam, bis hinter der Tür Schritte zu hören waren. „Schwestern?“, fragte ich. „Für immer!“, antwortete Lima, dann ging die Tür auf, und vor uns stand unser Vater.



    Re: Lima

    Yasha - 07.01.2008, 22:48


    Oh, das ist auch wieder so eine Geschichte, wo ich heulen muss... die ist total schön! Am besten gefällt mir die Großmutter ;D



    Re: Lima

    Lenchen - 08.01.2008, 22:04


    Danke =)
    Hab auch n halbes Jahr drann gesessen bis ich die Gesichte fertig hatte.

    Dieses Bild hat mich auf die Idee gebracht:



    (Das sind dann Lima und Rigo bei der Beerdigung der Mutter)



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