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Re: " Eine Reise ins Ungewisse " Reisebericht
mountainranger - 06.11.2007, 16:07" Eine Reise ins Ungewisse " Reisebericht
Eine Fahrt ins Ungewisse
Am 26.04.2006 jährt sich die Katastrophe im Atomkraftwerk Tschernobyl zum 20. Mal. TFLeser
Wolfgang Faust, seit über 3 Jahren dienstlich in Belarus, befuhr als Erster mit dem
Motorrad das Gebiet um den 1986 havarierten Reaktor.
Der Guzzi-V2 stampft wie immer vor sich hin, wir haben unser Landstraßentempo gefunden
und ich kann wegen des kaum vorhandenen Verkehrs meinen Gedanken darüber nachhängen,
was mich an den folgenden Tagen erwarten wird. Ich bin unterwegs von Minsk, der
Hauptstadt des im Westen weitgehend unbekannten Belarus, nach Süden an die ukrainische
Grenze. Mein Zielgebiet hat vor mir noch niemand mit dem Motorrad befahren: die Sperrzone
rund um den vor fast 20 Jahren in zwei gewaltigen Explosionen havarierten Unglücksreaktor
des Atomkraftwerkes in Tschernobyl. Der Super-GAU im April 1986 hat Folgen bis zum
heutigen Tag für Rußland, die Ukraine und vor allem für Belarus, über dem seinerzeit fast
70% des radioaktiven Fallouts niedergingen. Die wenigsten wissen, daß ein gigantisches
Territorium im Süden dieses Landes nach wie vor vollkommen entsiedelt und jeglicher
Nutzung entzogen ist. Tschernobyl und das Kraftwerk liegen zwar auf ukrainischem
Staatsgebiet, sind jedoch nur einen Steinwurf von der Grenze nach Norden zu Belarus
entfernt.
Am westlichen Rand dieser Zone bewege ich mich nun von Mosyr aus, der letzten größeren
Stadt vor der Grenze, über den ukrainischen Flecken Owrutsch in ein Gebiet, welches
seltsame Assoziationen weckt: am ersten Kontrollpunkt noch weit vor der eigentlichen
Verbotszone herrscht helle Aufregung, als ich anrolle. Die diensthabenden Offiziere
telefonieren hektisch mit ihren unsichtbaren Chefs in irgendwelchen Leitstellen und sind dann
doch beruhigt, als sich herausstellt, daß alles seine Ordnung hat. Ich habe die offizielle
Genehmigung des ukrainischen Katastrophenschutzministeriums zum Befahren der Zone mit
dem Motorrad und schließlich winkt man mich unter dem Schlagbaum durch. Auf den
folgenden Kilometern tauche ich in eine andere Welt ein: vollkommen unberührt wuchernde
Natur, keine menschliche Ansiedlung weit und breit, die Straße verlassen und dennoch
halbwegs befahrbar trotz vieler Löcher und Risse im Asphalt. Ich bin froh, auf meiner Quota
unterwegs zu sein, die das alles nicht weiter juckt. Hin und wieder sehe ich eine aufgegebene
und inzwischen verfallene Kolchose, umgeknickte Strommasten und bröckelnde
Haltestellenhäuschen, an denen schon lange kein Bus mehr vorbeikommt. Am Ende einer
lichtdurchfluteten Allee dann ein großer Betonplatz mit einem weiteren Kontrollpunkt: ich
habe die Grenze der 30-km-Sperrzone bei Dibrowa erreicht und werde nochmals nach allen
Regeln der Kunst kontrolliert. Glücklicherweise ist mir meine „Eskorte“ aus Tschernobyl
entgegengekommen und wartet schon: Juri von der Agentur „Tschernobyl-Interinform“, die
für die Betreuung von Besuchern in der Zone zuständig ist, und sein Fahrer in einem UAZJeep
werden mich von nun an begleiten. Das ist so vorgeschrieben und hat seinen Sinn:
immerhin bewegen wir uns ab jetzt in einem Territorium, welches immer noch radioaktiv
verseucht ist und nur an bestimmten, weitgehend deaktivierten Stellen befahren und betreten
werden darf. An dieser Stelle sei dem Leser gesagt, daß ich selbstverständlich nicht
lebensmüde war, als ich mich zu dieser Tour entschloß. Ich beschäftige mich dienstlich seit
Jahren mit dem Thema, habe mich mit vielen Experten beraten und versucht, das Risiko einer
möglichen radioaktiven Belastung bei dieser Tour zu minimieren. Eine Kontrolle auf
eventuelle Kontamination sowohl des Organismus als auch des Motorrades waren
obligatorisch für mich und ist es auch für alle anderen, die sich in der Sperrzone aufhalten.
Das Belastungsniveau eines 24-stündigen Aufenthalts dort ist für einen gesunden,
erwachsenen Menschen bei entsprechender Verhaltensweise nach Expertenmeinung
unkritisch.
Auf den nunmehr nochmals 30 km bis in die Stadt Tschernobyl wird verstärkt augenfällig,
daß man sich in einem total entsiedelten Gebiet befindet. Verlassene Häuser in aufgegebenen
Dörfern, üppige Vegetation und die immer miserabler werdende Straße erzeugen den
Eindruck, mitten in Europa am Ende der Welt zu sein. Mir kam der Vergleich mit großen
Truppenübungsplätzen in den Sinn: eine weite, völlig leere und offene Landschaft mit
einzelnen, aber weitgehend heruntergekommenen Zivilisationsmerkmalen. Irgendwann nähern
wir uns einem Kreisverkehr mit einem verrosteten Wegweiser nach Tschernobyl und in
Richtung Kraftwerk. Noch ein paar Meter, und wir sind in der Stadt. Eine zunächst
unwirkliche Atmosphäre umfängt mich: unbewohnte Häuser, verlassene Betriebe und Höfe.
Plötzlich biegen Fahrzeuge um die Ecke, ich sehe Menschen auf der Straße eilen, an einem
Lebensmittelgeschäft stehen die Türen offen, Männer trinken davor ein Bier. Tschernobyl ist
beides: eine tote und eine lebendige Stadt. Sie hat keine ständigen Einwohner, dennoch halten
sich bis zu 4.000 Menschen dort auf. Sie kommen je nach Arbeitsaufgabe in Schichten für
eine oder zwei Wochen dorthin, um verschiedensten Tätigkeiten, die alle im Zusammenhang
mit dem Kraftwerk stehen, nachzugehen: Kraftfahrer, Wachpersonal, Feuerwehrleute,
Monteure, Köche, Bäcker und Verkäuferinnen. Nicht zuletzt betreibt „Tschernobyl-
Interinform“ eine große Serviceagentur für Besucher und Fachleute, die sich aus diversen
Gründen in der Region aufhalten. Ausländer werden in einem speziell zu diesem Zweck
errichteten Gästehaus untergebracht, dem eine sehr gute Kantine angeschlossen ist.
Unmittelbar nach dem Unfall war das Kantinengebäude das Hauptquartier des
Katastrophenstabes. Genau vor diesem Haus rollt die Guzzi aus, das GPS zeigt Ortsmitte
Tschernobyl an. Ich checke ein und nach einer kurzen Pause mit einer kleinen Stärkung frage
ich Juri nach den weiteren Plänen. Ich will ans Kraftwerk und vor allem nach Pripyat, der
verlassenen Stadt, die erst 1970 für die Kraftwerksarbeiter errichtet und nach der Explosion
hastig evakuiert wurde. Diese Punkte liegen aber in der 10-km-Zone, die nochmals speziell
abgesichert ist. Ich wage kaum, die Frage zu stellen, aber Juri ist da völlig locker: „konjeshno
na motozikle“ - klar fahren wir mit dem Motorrad…!
Und so holpert am Nachmittag des 9. Juli 2005 der UAZ in halsbrecherischem Tempo aus der
Stadt Richtung Norden, ich folge auf der Guzzi und ahne, was gleich kommen wird. Nach
wenigen Kilometern erreichen wir das abgerissene und komplett am Ort vergrabene Dorf
Kopatschi: ein seltsamer Anblick. Eine Reihe Erdwälle, die wie überdimensionale
Spargelbeete aussehen. Allein das gelbe Dreieck mit dem Symbol für Radioaktivität oben auf
den Wällen weist darauf hin, daß hier strahlende Objekte verbuddelt sind. Und dann öffnet
sich der Blick über die weite Ebene des Pripyat-Flusses auf einen immer noch monströsbedrohlichen,
grauen Kasten: vor einem befindet sich der mit dem bekannten Sarkophag
abgedeckte Reaktor 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl, der am 26.04.1986 um 1.23 Uhr
Moskauer Zeit in einer gewaltigen Explosion, deren Energieäquivalent 500 Hiroshima-
Bomben entsprach, zerborsten ist. Dabei wurden etwa 200 Tonnen radioaktives Material in
die Atmosphäre geschleudert, der Reaktorkern aus Graphit brannte eine Woche lang und gab
wie ein Schlot den Kernbrennstoff ungebremst frei. In unmittelbarer Nähe des Reaktors ging
die erste Wolke von Radionukliden nieder, die eine derartige Strahlungsintensität hatten, daß
ein Phänomen auftrat, welches Wissenschaftler mit dem Begriff „ryzhiy les“ – „roter Wald“
umschreiben: Kiefern verfärbten sich aufgrund der Bestrahlung rötlich, eine Art innere
Verbrennung trat ein, die Bäume starben innerhalb kürzester Zeit ab. Reste dieser Bäume sind
heute noch zu sehen, mittlerweile schwarz und verwittert, wir fahren daran vorbei und ich
gebe unwillkürlich mehr Gas als nötig…
Wir umfahren das Kraftwerksgelände westlich, vorbei an einem nach wie vor betriebenen
Starkstrom-Verteilernetzwerk, einem neu errichteten Gas-Heizkraftwerk (mit der endgültigen
Abschaltung des Kraftwerks im Jahre 2000 entstand die Notwendigkeit des Ersatzes für die
nun fehlende Abwärme aus dem AKW) und diversen anderen Industrieanlagen, die für den
Rückbau und die Sicherung des Kraftwerks erforderlich sind. In der 10 km-Zone arbeiten, in
Schichten und streng überwacht, 3.800 Leute. Mehrheitlich kommen sie aus der Stadt
Slawutitsch, die Ende der 80er Jahre als Ersatz für Pripyat gebaut wurde und ohne diese
Beschäftigungsmöglichkeit ein riesiges soziales Problem hätte.
Nachdem man einen Großteil des Geländes umrundet hat, steht man an einer Einfahrt auf das
Reaktorgelände in 200 m Entfernung zu dem riesigen Kaskadenbauwerk, welches die
Abdeckung für die strahlende Ruine bildet. Die Stille ist bedrohlich, das unansehnliche Grau
des „Sarges“ tut ein übriges, daß man sich nicht länger als für ein paar Fotos an diesem Ort
aufhält. Die Strahlungsintensität im Freien in unmittelbarer Reaktornähe ist aufgrund der dort
niedergegangenen Teilchenmenge immer noch hoch: wir maßen 700 Mikroröntgen pro
Stunde, die zulässige Tagesdosis für erwachsene Menschen beträgt 2.500 Mikroröntgen pro
Stunde. Mit anderen Worten: reichlich drei Stunden an diesem Ort und man hat seine
„Packung“ weg. Zum Vergleich: die natürliche Umgebungsstrahlung in unbelasteten
Regionen erreicht meist nicht mehr als 40 Mikroröntgen pro Stunde.
Unsere Fahrt führt uns weiter in die zwei Kilometer vom Kraftwerk entfernte Stadt Pripyat,
die zum Zeitpunkt des Unglücks 50.000 Einwohner zählte und im Rahmen des ursprünglich
vorgesehenen Ausbaus des Kraftwerks auf insgesamt 12 Blöcke einmal 100.000 Einwohner
haben sollte. Als klar wurde, was in der Nachbarschaft der Stadt passiert war, hat man Pripyat
am 27.04.1986 Hals über Kopf evakuiert. Die Menschen wurden mit Bussen und LKW auf
den Bahnhof von Pripyat gekarrt, wo sie im Freien auf Züge, die eilends bereitgestellt wurden,
warteten und dabei verstrahlt wurden. Sie durften nichts außer ihren Personalpapieren
mitnehmen, viele von ihnen sind nie mehr in ihre Wohnungen zurückgekehrt. Kurz vor
Pripyat halten wir auf der Brücke, die in die Stadt führt und von der aus der Sarkophag wie
ein gestrandetes UFO aussieht. Dort müssen in der Unglücksnacht Menschen gestanden
haben, die Augenzeugen der Explosion wurden. Pripyat ist heute eine Geisterstadt, in der an
diesem 27.04.1986 die Zeit stehen geblieben ist. Die Gebäude verfallen, es haben
Plünderungen stattgefunden, die Natur holt sich langsam alles zurück. Dennoch ahnt man
allerorten, daß dies einmal ein lebendiger Platz mit allen Attributen normalen Lebens war. Es
gibt ein Hotel, einen Markt, Restaurants, einen Vergnügungspark mitten in der Stadt, ein
Stadion und ein Schwimmbad – nur keine Menschen. Ich lasse die Guzzi ganz langsam durch
die überwucherten Straßen dieser urbanen Ruine rollen und habe Mühe, meine Gefühle zu
bändigen. Schließlich erreichen wir den zentralen Platz von Pripyat, ich stelle das Motorrad
vor dem arg ramponierten „Kulturpalast der Energetiker“ ab und schaue mich um: es ist völlig
schräg, mit dem Bike in einer solchen Umgebung zu sein. Die Eindrücke überschlagen sich:
die Stille, die all dies umgibt, ist beängstigend. Man traut sich kaum, zu gehen. Jeder Schritt
knirscht laut auf dem bröckligen Untergrund. Wenn man seinen Blick vom Dach eines der
Hochhäuser schweifen läßt, sieht man wiederum den Reaktor als alles beherrschendes Objekt
und im übrigen rapiden Verfall. Das Wissen um die unsichtbare Gefahr tut ein übriges.
Einer der stärksten Eindrücke ist für mich der Gang in einen der Kindergärten der Stadt. Es ist
schier unbeschreiblich, was sich einem dort für Bilder aufdrängen. Spielzeug, Schuhe,
Garderobenschränke mit Sachen, Kinderbetten, Kissen und Plüschtiere liegen herum. Man
ahnt, was sich für Szenen während der Evakuierung abgespielt haben und die Bilder lassen
einen kaum los. Ich gehe dort sehr benommen heraus.
Wir streifen weiter durch Pripyat, kommen an einem vor kurzem teilweise eingestürzten
Schulgebäude vorbei, und Juri erzählt Erlebnisse, die er als Begleiter von anderen Besuchern
in Tschernobyl schon hatte. Ich bin dankbar, daß er sich so intensiv bemüht, mir meine
Wünsche zu erfüllen und zudem auch mit der Kamera umgehen kann.
Auf dem Rückweg bestätigt sich, daß Menschen hier nicht mehr allzuviel zu bestellen haben
und wir dennoch nicht allein sind: der Jeep vor mir bremst hart und auch ich lange voll in die
Eisen, als ein kapitales Wildschwein aus dem Unterholz auf die Straße stürzt und im Galopp
haarscharf am Auto vorbeischrammt, um auf der anderen Seite im Gebüsch zu verschwinden.
Auch Wölfe, Elche und sogar Bären sind hier anzutreffen. Paradox auch: auf der
belarussischen Seite der 30-km-Sperrzone haben sich mittlerweile einige Dutzend Pflanzenund
Tierarten angesiedelt, die auf der „Roten Liste“ der weltweit bedrohten Arten stehen. Der
Rückzug des Menschen hat ihnen Lebensraum gegeben.
Die abendliche Erholungspause haben wir uns nach diesem auf eine sehr spezielle Art
eindrucksvollen Tag verdient, ich habe Gelegenheit, das Gesehene etwas sickern zu lassen
und mache die Kamera fit für den nächsten Tag. Dieser beginnt mit einem Besuch des
Denkmals für die Feuerwehrleute in Tschernobyl, die als erste am Unglücksort eintrafen und
versuchten, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Am Denkmal erinnere ich mich an
meinen ersten Aufenthalt hier im April, zum 19. Jahrestag der Katastrophe. Zu
mitternächtlicher Stunde fand damals die alljährliche Gedenkzeremonie für die Liquidatoren
statt. Ein einfacher, sehr würdevoller Ablauf: vor dem Denkmal, an dem immer frische
Blumen liegen, halten ein Vertreter der örtlichen Administration und der Vorsitzende der
ukrainischen Vereinigung der überlebenden Liquidatoren „Afghanzy Chornobylya“ (die
sowjetischen Soldaten im Afghanistan-Krieg werden „Afghanzy“ genannt) kurze Ansprachen,
in denen die Zahl der im abgelaufenen Jahr verstorbenen Liquidatoren genannt wird. Nach
Schätzungen haben insgesamt über 600.000 Menschen an der Beseitigung der unmittelbaren
Unglücksfolgen teilgenommen, viele davon haben sich freiwillig gemeldet und letztlich mit
dem Leben bezahlt. Auf eine nukleare Katastrophe diesen Ausmaßes war damals niemand
vorbereitet. Es gab in der Sowjetunion keinerlei Technik, die es erlaubt hätte, die Folgen eines
solchen Unfalls unter möglichst geringem Einsatz menschlicher Ressourcen zu beseitigen. So
sind Männer mit dürftiger Schutzkleidung und einfachem Gerät direkt an und in den Reaktor
gegangen und haben buchstäblich den Schutt zusammengeräumt und begonnen, den
Sarkophag zu errichten. Es gibt Augenzeugenberichte von Arbeitern, die in den ersten
Wochen nach dem Unfall auf den verbliebenen Dachresten des Reaktorgebäudes die
Stützkonstruktion der Schutzhülle aufgebaut haben und dabei tödlichen Strahlungsdosen
ausgesetzt waren. Von den schätzungsweise dabei eingesetzten knapp 4.000 Menschen (sie
nennen sich selbst „bioroboty“ – menschliche Roboter) leben nicht mehr viele.
Weiter ging es -diesmal per Jeep- nach Rassocha, einem nicht minder eindrucksvollen Ort ca.
30 km außerhalb von Tschernobyl. Nachdem das ganze Ausmaß des Unfalls deutlich wurde,
warf der Katastrophenstab alle verfügbare Technik an die Front. Es wurde aus allen Teilen des
Landes schwerstes Gerät herangeschafft: Bergepanzer, Hubschrauber, Löschfahrzeuge,
Tankwagen, Truppentransporter, Busse usw. Alle diese Gerätschaften bewegten sich in
unmittelbarer Nähe des Unglücksortes und wurden zwangsläufig ebenfalls verstrahlt. Nach
Ende der wesentlichen Arbeiten hat man diese Technik (insgesamt über 2.000 Fahrzeuge and
anderes Gerät) auf einen riesigen Sammelplatz gestellt, auf dem sich ein Teil davon bis heute
befindet. Dorthin fuhren wir, um zu sehen, daß noch immer Dekontaminationsarbeiten im
Gange sind, die Fahrzeuge zerlegt und an einem (hoffentlich) sicheren Ort endgelagert
werden. Diese Arbeiten werden noch Jahre dauern, der strahlende Schrottplatz wohl noch
lange existieren.
Ein letzter Abstecher gilt dem kleinen Dorf Paryschew am anderen Ufer des Pripyat. Als wir
über die Brücke fahren, eröffnet sich ein vordergründig idyllischer Blick auf die
Flußniederung und den träge dahinströmenden Pripyat – wenn nicht in der Ferne erneut der
Unglücksreaktor zu sehen wäre. Es ist wie verhext: wo man auch ist in diesem Gebiet, dieses
Monstrum scheint einen zu verfolgen…
Unser Ziel an diesem Sonntagvormittag ist die Kate einer 76-jährigen Frau, die ein Jahr nach
dem Unfall und der damit einhergehenden Evakuierung in ihre Behausung in Sichtweite des
Kraftwerkes zurückkehrte, allen Warnungen zum Trotz. Sie lebt seit Jahr und Tag allein dort,
hat nach eigener Aussage alles, was sie zum Leben braucht und lädt uns auf einen Imbiß ein,
bei dessen Anblick mir etwas weich in den Knien wird: selbstgepflückte Himbeeren und
eingelegte Pilze aus dem Wald. Beides nach einhelliger Meinung der Spezialisten unbedingt
zu meiden, weil gerade Pilze und Beeren bevorzugt Radioaktivität aufnehmen und einlagern.
Aber die rüstige Witwe hält natürlich auch dagegen ein Mittelchen bereit: Selbstgebrannten
randvoll im Zahnputzglas… Wir kosten und nippen aus Höflichkeit und lauschen ansonsten
den lustigen Erzählungen der Alten, die ein staunenswertes Beispiel von Überlebenskraft ist.
Voller Eindrücke, die mich noch sehr lange beschäftigen werden, mache ich mich am
Nachmittag wieder auf den Rückweg. Vorher muß ich allerdings den V2 noch aus dem
mitgeführten Kanister füttern, es gibt weder in der Sperrzone noch in deren näherer
Umgebung eine offizielle Tankstelle, so daß ich lieber auf Nummer Sicher gehe. In diesem
Gelände trocken zu fallen, wäre ein Albtraum. Es geht aber alles glatt und so brumme ich an
diesem Sonntag wieder zurück durch die ruhige Landschaft der Nordukraine und Belarus,
vorbei an Babuschkas, die auf Bänken am Straßenrand sitzen und schwatzen. Sie sind
diejenigen, die nicht weggegangen sind aus den Dörfern, über denen jene unsichtbaren
Wolken damals ihre tödliche Last verloren haben. Viele der weniger stark belasteten Gebiete
sind nach wie vor besiedelt, die Menschen dort haben keine Wahl und stellen sich ihrem
Schicksal mit erstaunlicher Kraft, wie ich immer wieder auf meinen dienstlichen und auch
privaten Reisen durch diese Regionen feststellen konnte.
Radioaktivität ist die tückischste aller Naturerscheinungen. Sie ist mit menschlichen Sinnen
nicht erfaßbar, das Ergebnis ihrer durch den Menschen potenzierten zerstörerischen Wirkung
jedoch verheerend. Das Tschernobyl-Unglück hat mehr als 2 Millionen Menschen in den
unterschiedlichsten Formen betroffen. Menschliches und technisches Versagen hat zur
größten technogenen Katastrophe in der Menschheitsgeschichte geführt. Technik ist nie zu
100 % sicher, auch wenn die Apologeten der Kernkraft dies immer wieder glauben machen
möchten. Die Frage der Energieversorgungssicherheit ist bei Vorhandensein des
entsprechenden politischen Willens durchaus alternativ lösbar, wird bekanntlich aber gerade
in jüngster Zeit sehr kontrovers diskutiert. Angesichts der Eindrücke dieser Reise kann ich nur
hoffen und wünschen, daß man sich langfristig weltweit für ein anderes Konzept als den
Ausbau der Kernkraft entscheidet.
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Vorwort - gepostet von mountainranger am Dienstag 06.11.2007
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