Das letzte Blatt des sterbenden Herbstes

Kokoro No Senshi
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    Re: Das letzte Blatt des sterbenden Herbstes

    <3LittleSweetChii<3 - 04.11.2007, 22:10

    Das letzte Blatt des sterbenden Herbstes
    Leben 1: Die Lilie aus Glaß

    Der schnelle, eisige Wind zog wie eine gespenstige Wolke über das kleine Tal bei Kioto. Er zerrte an den bunten Ästen der Bäume, zauberte Kreise auf die spiegelnde Oberfläche des Nao-Kai-Sees und spielte um die Häuser des kleinen Dorfes, das sich an den Garo-Berg wie an eine schützende Wand schmiegte. Und überall, wo dieser Wind sich hin wand, zog er eine Wolke bunten Laubes hinter sich her, das so herumwirbelte und -tanzte, dass man meinen konnte, man befände sich wahrhaftig in einem riesigen Kaleidoskop, das vor Farben nur so sprühte. Die Kinder kamen aus ihren Häusern gelaufen, mit Schals, Handschuhen und knubbeligen Mützen, eingepackt in die dickste Jacke, die ihre Mütter und Väter in der Eile finden konnten. Überall sah man sie den Blättern nachjagen, hörte ihr Gelächter und Geschrei, wenn sie eines der bunten Stücke erwischt hatten. Selbst die Wärmeliebensten kamen nach und nach aus den geheizten Wohnungen und sahen mit verträumten Blick den spielenden, vor Glück kreischenden Kindern zu und schwelgten in den Erinnerungen ihrer eigenen Jagden nach dem einen Blatt. Denn es war nicht nur ein kleines Spiel der Jungen, sondern ein Wettbewerb, der zur jährlichen Tradition geworden war. Jedes Jahr kam der berühmte Fai-Wind in das kleine Dorf und wirbelte die verschiedensten Blätter mit sich. Es war nun so, dass dieser Wind den roten Weidenbaum streifte und manchmal auch eines der begehrten roten, sternförmigen Blätter mit sich riss. Das Kind, das das erste Weidenblatt im spielenden Wind fand durfte die Prozession des sterbenden Jahres anführen und die Gebete vorsagen. Das war eine große Ehre. Für die Kinder und deren Eltern beider maßen. Und so sprangen auch heute die Kinder mit vor Freude und Kälte geröteten Wangen durch den Abend und haschten durch den Wind. Ein kleines Mädchen in einem weißen Plüschmantel lief durch die Mitte des Blättergewirbels und lies sich von ihnen streicheln. Ihre ungewöhnlich hellen Haare stachen aus dem Blätterwirbel wie Schnee hervor. Da sah sie ein leuchtend rotes Blatt, direkt über ihren Kopf, das die anderen Kinder um sie herum in ihrer Hektik gar nicht bemerkten. Sie blieb ganz still stehen, wie in Ehrfurcht und streckte die Hand nach dem Blatt aus, einen ernsten Ausdruck auf dem kleinen Kindergesicht...
    Jineh hörte das Klicken des Auslösers. Ihre Haltung entspannte sich. Ob sie das Mädchen auch richtig auf dem Bild hatte? Sie sah noch einmal durch den Sucher, aber das Mädchen stand schon mit dem Blatt in der Hand lachend dort. Sie hatte die Augen geschlossen und ihr Gesicht zeigte direkt zur Linse. Da drückte Jineh noch einmal ab und ließ erst dann die Kamera endgültig sinken. Wenn die Bilder wirklich etwas geworden waren, würden das wunderschöne Motive werden, das wusste sie. Das Mädchen war nun von dem gesamten Dorf umringt und wurde bejubelt und beglückwünscht, während es strahlte, als wäre heute der schönste Tag ihres Lebens. Jineh aber wandte sich ab und ging langsam in Richtung der weiten Felder, die vor dem Dorf am Hang lagen. Sie liebte es hier zu fotografieren. Den Leuten aus dem Dorf ihren täglichen Arbeitsplatz ganz neu zu zeigen. Wie viel Schönheit, wie viel Feines sie jeden Tag übersahen. Ihre Kamera hielt sie fest zwischen ihren blassen Fingern; ihr durfte nichts zustoßen, sie war Jineh ’s größter Schatz. Sie war nichts besonderes, eine kleine Discount-Kamera, die ihr Vater Jineh von seiner Reise aus Tokio mitgebracht hatte, aber sie liebte sie über alles. Den ganzen Tag war sie auf der Suche nach den schönsten Motiven, den hellsten Sonnenuntergängen und den ungewöhnlichsten Geschehen. Die Fotos stapelten sich mittlerweile bergeweise in Jineh ’s Zimmer. Ihr ganzes Geld gab sie Leuten aus dem Dorf, die in die Stadt fuhren, damit sie ihr dort Filme kauften und die Fotos entwickeln ließen. Das Fotografieren war nicht nur eine Leidenschaft, es war ihr Leben!
    Die Sonne ging langsam unter und das Gold der Sonne spiegelte sich auf den Reisfeldern und umspielte das schwimmende Laub und die zarten Pflänzchen. Ein paar Fotos war Jineh dieses Motiv schon wert, aber ihr eigentliches Ziel war der Wald um den Nao-Kai-See. Nicht viele gingen dort freiwillig hinein, oder so wie Jineh sogar gerne spazieren. Es hieß, dass Dämonen und Geister dort ihr Unwesen treiben würden. Aber Jineh erschreckten diese Gruselgeschichten nicht, für sie war der Wald etwas Wunderschönes. Hier machte sie die besten Fotos. Sie konnte stundenlang im Kreis laufen und bei jeder Runde etwas Neues entdecken und genau das liebte sie so an diesem Wald. Er schien in einem immerwährenden Wandel, einem nicht enden wollenden Kreis zwischen Verwesung und Wachstum gefangen zu sein. Der modrig, feuchte Geruch des alten Holzes empfing Jineh beim Eintreten, wie ein altbekannter, oft wiederholter Gruß. Und sie grüßte zurück indem sie diesen Geruch einatmete und ihn ganz in sich einnahm. Dann hob sie die Kamera und machte ein Bild von der alten Eiche, so wie immer, wenn sie dieses stille Reich betrat. Froh darüber, endlich alleine zu sein, setzte Jineh ihren Weg fort.

    Seit Stunden lief sie schon durch den Wald und fotografierte alle Schönheiten, die sie entdecken konnte. Ihr Film war, bis auf ein letztes Bild voll und es war schon fast gänzlich dunkel. Es war wohl besser umzukehren, bevor sich noch irgendjemand um sie sorgte. Sie wollte sich gerade umdrehen und ihre Schritte nach Hause lenken, als ihr eine feine blaue Blume an einem grauen Baumstumpf auffiel. Langsam näherte Jineh sie sich und mit jedem Schritt wuchs ihre Erkenntnis über die außergewöhnliche Schönheit jener Blüte. Die Blütenblätter waren so fein, als hätte ein Künstler sie geschmiedet und das blau leuchtete dennoch, wie vom Abendhimmel herab. Noch nie in ihrem Leben hatte Jineh ein besseres Motiv erblickt, als jene Blume! Jedes Bild, das sie als ihr Schönstes, jeder Moment, den sie als ihren herrlichsten betrachtet hatte, schien gegen die Außergewöhnlichkeit dieser Blüte zu verblassen. Wie sie dort so fein und hilflos stand, beleuchtet vom Zwielicht der untergehenden Sonne und des aufgehenden Mondes, nur geschützt durch diesen selbst schon verstorbenen Baumes. Sie musste sie einfach haben! Hastig rückte sie ihre Kamera zurecht und suchte die richtige Position. Ihre Hände zitterten vor Aufregung und Angst dieses letzte Bild misslingen zu lassen. Ihr Finger drückte zart auf den Auslöser. Im gleichen Moment, als der künstliche Blitz hervorbrach warf es Jineh von den Beinen. Benommen nahm sie die Kamera vom Gesicht. Sie war auf ihren Arm gefallen und der Schmerz durchzuckte ihren ganzen Körper, aber sie blieb stumm. Nur ihre Augen weiteten sich vor Entsetzten, als sie sah, was, oder besser wer, für ihren Sturz verantwortlich war. Ihre rot-braunen Augen wanderten über die Gestalt eines Jungen in ihrem Alten, also etwa 16, der in altertümliche Kleider gehüllt war. Er trug einen schwarzen Kimono mit silbernen Krempeln und um seinen Hals fiel eine aus weißen Holzperlen bestehende Gebetskette. Aber die Kleidung war nicht das ungewöhnlichste an diesem Jungen. Eine Aura der Kälte und der Gefühllosigkeit ging von seinen katzenähnlichen, tiefschwarzen Augen aus, in denen sich Jineh’ s wie ein warmer See wieder spiegelten. In den Händen hielt er zwei Breitschwerter, die er Jineh drohend entgegenhielt.
    „ Was suchst du in Kenzuke ’s Wald?“. Seine Stimme klang ungewöhnlich weich und tief und dennoch ließ sie keinerlei Stimmungen erkennen.
    Jineh wich so gut sie konnte zurück und die bunten Blätter verfingen sich in ihren Kastanienfarbenen Haaren, aber sie wagte nicht zu antworten.
    „Sprich. Oder Kenzuke werde dich töten.“, ertönte wieder dieselbe monotone, kalte Stimme.
    Jineh sah nicht hoch, als sie antwortete, als erwartete sie jeden Moment das Sirren der Klingen zu hören, die auf sie hernieder fielen. Wie sollte sie antworten? Er würde sie bestimmt nicht verstehen; bestimmt nicht. Sie legte ihre Kamera beiseite und hielt sich eine Hand um den Hals, öffnete den Hals und zeigte mit dem Finger der anderen Hand auf ihren Mund. Das einzige was herauskam war etwas, das einem heiseren Röcheln glich. Anscheinend verstand der Junge sie, denn er ließ seine Schwerter sinken. Der katzenhafte Junge sah Jineh lange unverwandt an, bis er sich schließlich sicher schien, dass sie keine Gefahr darstellte und steckte seine Schwerter am Rücken zusammen, so dass sie wie ein Kreuz in der Scheide steckten. Als er die Klingen zu seinem Rücken schwang streifte eine von ihnen seine längeren, zerstrubbelten Haare und einige schneeweiße Strähnen fielen zu Boden. Diese Schwerter waren also wirklich echt, schoss es Jineh in diesen Moment durch den Kopf. Und wie echt sie waren! Als die Bedrohung der Breitschwerter fehlte normalisierte sich Jineh’ s Herzschlag wieder und ihr Verstand wurde ein wenig klarer. Wer war dieser Junge? Und woher kam er? Verzweifelt versuchte sie Kenzuke irgendein Zeichen zu geben, dass ihre Fragen darstellten könnte, aber das einzige, was sie erntete war Unverständnis. Schließlich setzte sich Kenzuke im Schneidersitz auf die Erde, suchte ein kleines Stöckchen und hielt es Jineh entgegen
    „ Auch, wenn Kenzuke hier im Wald aufgewachsen ist, kann er lesen. Also schreib einfach, was du Kenzuke sagen willst.“ Zögernd nahm Jineh den Zweig an und fing an Kanji in die Erde zu ritzen. Am Ende stand eine lange Reihe von Fragen auf dem Boden, so lang, dass Kenzuke nach hinter rücken musste, um sie lesen zu können.
    Kenzuke lass jedes einzelne Zeichen langsam und sorgfältig, als müsse er sich erst an ihre Bedeutung erinnern.
    „ Wer bist du? Wieso lebst du hier? Und wieso verdammt fällst du irgendwelche Leute im Wald an? Was wirst du jetzt mit mir machen?“
    Man sah ihm regelrecht an, dass ihm einige dieser Fragen zuwider waren, aber er wollte doch gerade zum Sprechen ansetzen, als nur aus wenigen Metern ein Ruf zu vernehmen war:
    „ Jineh! Jineh! Wo bist du?! JINEEEEEH!“
    Kenzuke schrak wie ein aufgescheuchtes Tier zusammen und er lief in einem unglaublichen Tempo und einer bewundernswerten Geschicklichkeit ins Unterholz, wo seine schmale, geduckte Silhouette in der Dunkelheit verschwand. Jineh saß immer noch auf den Zehenspitzen, den kleinen Ast in der Hand da und konnte nicht fassen, was gerade eben passiert war. Erst der erneute Schrei in Form ihres Namens holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Ihre Finger tasteten wie selbstverständlich zu ihrem Hals und zogen an einer filigranen Silberkette, um Jineh’ s zweiten größten Schatz hervorzuholen. Eine kleine Pfeife in Form einer geschlossenen Lilienblüte. Sie war aus einem metallischen Material, das sich aber immer warm, wie Holz anfühlte, selbst jetzt in der Kälte und eine merkwürdige blau schimmernde Farbe besaß.
    Jineh blies hinein und sofort ertönte der obligatorisch helle, tanzende Ton, den sie so sehr liebte. Sie hörte, wie die Schritte des Menschen näher kamen, bis schließlich ihr Vater vor ihr stand, völlig verschwitzt und mit tränennassen Augen. Er stürzte sich sofort auf sie und umarmte sie so fest, dass Jineh ihn erst von sich wegschieben musste um wieder richtig atmen zu können.
    „Oh Gott sei dank, ich habe dich endlich gefunden! Wir waren schon so in Sorge um dich. Komm, wir gehen nach Hause. Mama wartet schon auf dich... Hast du kalt? Willst du meine Jacke.“
    „Ich muss dir unbedingt etwas erzählen!“, gab Jineh ihrem Vater zu verstehen und fing an mit ihren Händen Bilder zu formen.


    Mit jedem Wort, oder besser Zeichen, das Jineh ihrem Vater gab verdunkelte sich dessen Gesichtszüge. Als sie schließlich ihren Vater fragte, ob er wisse, wer dieser Junge war, entglitten sie ihm ganz und er schrie Jineh im größten Zorn ins Gesicht: „Woher soll ich bitte wissen wer der ist?! Das war wahrscheinlich nur irgendein Irrer, der in den Wald geflohen ist. Ich will nicht mehr, dass du in diesen Wald gehst! Hast du mich verstanden?!“
    Noch nie in ihrer ganzen Kindheit war Jineh von ihrem Vater angeschrieen worden. Sie zuckte unter dem Hagel der boshaften Worte zusammen und traute sich nicht einmal mehr mit ihren Händen ein „ja“ zu formen, sie nickte einfach nur mit weit aufgerissenen Augen.
    Zuhause war es jedoch wie immer. Ihre Mutter lächelte und lachte, als ihr Mann und Jineh nach Hause kamen und stellte sofort das Essen auf den Tisch. Sie fragte nicht, wo Jineh gewesen war oder warum sie so spät kam. Sie tat, als wäre alles wie immer. Aber Jineh sah die Tränenflecken auf ihren Wangen und hörte die belegte Stimme ihrer Mutter. Sie hatte den beiden wohl viel Kummer bereitet. Aber nie wieder in den Wald? Das schien ihr fast unmöglich, war das doch der einzige Ort an dem sie ungestört und wenigstens ein wenig frei war. Außerdem war da diese merkwürdige Verbundenheit zu diesem stillen Wesen, als wäre sie schon ihr Leben lang, und vielleicht sogar schon davor, mit ihm vertraut. Als sie am Abend zu Bett ging entschied sich Jineh für eine Seite.
    Aber was diese Entscheidung für sie bedeuten würde, ahnte sie nicht, als sie sich zufrieden in ihr Bett legte und das Licht ausmachte.

    Es vergingen unbeschwerte Tage und ruhige Nächte. Jineh’ s Eltern waren der festen Meinung, dass sie den Wald am Nao-Kai-See aus Jineh’ s Gedanken verbannt hatten. Sie ging wie jeden Tag ohne ein Wort zu sagen aus dem Haus und streifte umher um gute Motive zu finden. Am Anfang folgte ihr Vater ihr überallhin, dann begnügte er sich damit Leute damit zu beauftragen darauf zu achten, wo seine Tochter war und schließlich ließ er seine Kontrollen ganz bleiben und vertraute nur noch auf den Gehorsam Jineh’ s. Für ihn gab es keinen Grund mehr sich um Jineh zu sorgen, solange sie sich von diesem Jungen im Wald fernhielt. Zum Glück war er noch rechtzeitig gekommen, sonst hätte dieses gottlose Etwas Jineh sonst noch was erzählt! Es schien ja noch mal alles gut gegangen zu sein...
    Aber da irrte sich der alte Mann gewaltig. Denn Jineh hatte nur darauf gewartet, dass ihr Vater sich seiner Bequemlichkeit wieder hingeben würde, damit der Weg in den Wald für sie wieder frei war. Natürlich hatte sie direkt bemerkt, dass ihr Vater ihr auf Schritt und Tritt folgte, auch wenn sie ihn selten zu Gesicht bekam. Es lag von Klein auf in ihrer Natur die Anwesenheit von Personen erspüren zu können auch, wenn sie nicht zu sehen oder weit weg waren. Wenn sie sich nur konzentrierte konnte sie sogar wissen, was die Person tat oder sagte. Ihre Eltern wussten zwar von dieser Gabe, aber taten es als Einbildung ab, während Jineh fest davon überzeugt war, dass sie von ihrer Stummheit herrührte. Man hörte schließlich auch von Blinden, die wussten, was um sie herum geschah, oder Tauben, die regelrechte Meister der Komposition waren. Wieso sollte dann nicht eine Stumme eine ähnliche Gabe besitzen? Sie jedenfalls setzte sie gegen ihren Vater ein und spielte die Gehorsame solange er in der Nähe war. Als er dann aufhörte ihr hinterher zuspionieren wähnte sie sich anfangs in Sicherheit, aber schon bald merkte sie mit ihren scharfen Sinnen auch dieses Mal, wie sie beobachtet wurde. Erst nach einigen schier endlosen Tagen schienen sich die Leute aus dem Dorf nicht mehr für Jineh zu interessieren.

    Es war klirrend kalt und der Wind peitschte regelrechte Regenteppiche über die Häuser und Felder. Jeder, der es gut mit sich meinte blieb im warmen, trockenen Haus und sah, eine Tasse Tee oder Kaffe vor sich stehend, dem Treiben draußen zu. Nicht so aber Jineh. Sie wusste, sie könnte auch auf besseres Wetter warten, aber gerade heute in diesem Moment spürte sie die Gegenwart dieses Kenzuke’ s außergewöhnlich stark, als würde er direkt neben ihr stehen. Dieses Gefühl der Nähe ging sogar so weit, dass Jineh sich im ganzen Haus umsah und sogar so unauffällig wie möglich aus den Fenstern schielte um nach der katzenhaften Silhouette zu suchen. Sie musste sich erst zusammennehmen und sich ein wenig beruhigen, bevor sie sich genug konzentrieren konnte, um herauszufinden, wo er war und was er tat.
    Wie immer nahm sie ihre blaue Regenjacke und ihren Schirm vom Haken vor der Tür und verschwand ohne ein Wort, ihre Kamera in der Hand. Die ersten Meter ging sie ganz lässig, tat so, als würde sie da und dort ein Foto schießen und grüßte in die Fenster der Nachbarn. Als sie außer Sicht kam, packte sie ihre Kamera unter die Jacke und warf den Regenschirm in ein Gebüsch. Dann atmete tief ein und suchte Kenzuke’ s Anwesenheit in dem riesigen Wald. Sie hatte die Fährte schnell wieder aufgenommen und peitschte wie besessen über die Felder. In ihrer Aufregung bemerkte sie gar nicht, wie schnell sie war. Wie außergewöhnlich schnell. Sie nahm den gleichen Weg, wie immer, aber mit solch einer Eile, dass sie nicht einmal die alte Eiche am Waldrand fotografierte, wie sie es sonst immer tat. Jineh stürmte einfach durch die Bäume hindurch, wich ihnen aus, ohne wirklich zu sehen, wo sie standen. Und dann war sie da, sie spürte die Anwesenheit Kenzuke’ s so unendlich stark. Aber als sie anhielt war sie alleine. Niemand außer ihr selbst und die einzigen Bewegungen kam vom Wind, der durch die Äste peitschten und dem Regen, der unaufhaltsam auf das verzweifelt, enttäuschte Gesicht Jineh’ s fiel. Sie erkannte den Ort wieder, an dem sie jetzt war. Die blaue Blume stand vor ihr und strahlte noch mehr Schönheit und Faszination als bei ihrer letzten Begegnung aus. Jineh konnte nicht anders, sie hob die Kamera und stellte die Blume scharf. Ihre Finger sengte sich langsam auf den Auslöser...
    „ Du bist also wiedergekommen. Kenzuke hätte es sich denken können, schließlich dürfte dieser Ort hier eine enorme Anziehungskraft auf dich ausüben. Bist du um deinetwillen oder um Kenzuke’ s willen wieder hier?“
    Jineh nahm den Finger vom Auslöser und ließ die Kamera sinken. Sie hatte seine Anwesenheit gespürt, ja, dass er sich aber genähert hatte, dass war ihr merkwürdigerweise verschlossen geblieben. Dieses Mal jedoch war sie durch das plötzliche Erscheinen dieses Jungen nicht erschrocken worden. Man könnte sogar sagen sie hatte mit seinem Auftauchen gerechnet. Den Fotoapparat noch in der Hand wandte sie sich Kenzuke zu und tat eine kurze, aber tiefe und ehrenvolle Verbeugung.
    Sie hob den Blick und sah ihrem Gegenüber direkt in diese schwarzen Katzenaugen. Es fröstelte sie angesichts der merkwürdigen Aura, die von diesem Blick ausging. Er war seltsam entrückt und doch scharf, als würde dieser Junge, der hoch erhobenen Hauptes mit seinen am Rücken gekreuzten Schwertern dastand, in eine weite ferne sehen und diese doch so klar und rein wahrnehmen, wie den Boden, auf dem er stand. Dieser Blick, diese Augen hatten schon fast nicht mehr menschliches.
    „ Kenzuke ist schon fast schon froh, dich wieder zu sehen. Schließlich hat er dir deine Fragen noch nicht beantwortet.“
    Er verzog seinen Mund zu einer Art Lächeln, das mehr einer Fratze, als einem wirklichen Lächeln glich. Jineh spürte auf einmal, wie sich die kleinen Härchen auf ihrem Nacken hochstellten. Jetzt war sie sich sicher: dieser Junge konnte nichts Menschliches an sich haben.
    Trotz dieser lähmenden Angst und der Zweifel an der Richtigkeit ihres Handelns, verbeugte sie sich noch einmal und setzte sich im Seiza auf den kalten, schlammeigen Morast des Waldbodens. Kenzuke schien die Geste seiner Besucherin begriffen zu haben und setzte sich seinerseits im Schneidersitz vor Jineh. Er griff, ohne zu suchen einen geraden, glatten Ast vom Boden und reichte ihn Jineh.
    „ Erst musst du mir erklären, warum du hierher zurückgekommen bist.“
    Jineh schrieb ihre ganze Geschichte nieder, mit all den Gefühlen, die sie in den letzten Tagen so bewegt hatten und all den Fragen, die sie sich seit ihrem letzten Treffen gestellt hatte.
    Kenzuke lass jedes Zeichen mit größter Sorgfalt und stellte ab und zu auch einige Fragen. Als Jineh das letzte Zeichen in den Boden geritzt hatte, wischte Kenzuke die Kerben beiseite und fing an Jineh’ s Fragen zu beantworten.
    „Kenzuke kann dir leicht erklären, wieso du seine Präsenz gespürt hast, obwohl er nicht in der Nähe war. Du siehst doch diese Blume dort drüben, die blaue Lilie. Sie scheint nicht hierher zu gehören, nicht wahr. Nun, so ist es wirklich. Sie gehört nicht hierher. Eigentlich gehört sie zu Kenzuke. Kennst du die Legende deines Dorfes?“
    Jineh schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass es eine Legende um die Entstehung ihres Dorfes gab, so wie um die eines jeden Dorfes, und sie hatte sie so oft gehört aber sie hatte sich nie sonderlich dafür interessiert. Kenzuke seufzte.
    „ Die ersten Bewohner deines Dorfes wählten diesen Ort jenseits des Waldes, weil der für sie heilige Westwind auf seinem Weg zum See dieses Tal streift. Sie bauten also ihre Häuser und bestellten ihre Felder in diesem Tal. Aber zu der Zeit reichte die Grenze des Waldes weit über das Tal hinaus. Die Menschen fällten also fast die Hälfte der alten Bäume, in denen nicht nur die Zeit, sondern auch die eigentlichen Bewohner dieses Tals lebten: Shinigami und Dämonen der Zeit, des Waldes und des Sees. Als diese nun sahen, wie ihr Heim nach und nach zerstört wurde, schritten sie ein und töteten zum Ende jeder Woche ein Kind der Dorfbewohner als Warnung. Diese wussten natürlich nicht, dass dies das Werk der Dämonen war und fuhren mit der Rodung des Waldes fort, als sei nichts geschehen. Weil die Maßnahmen, die die Dämonen ergriffen hatten, nicht zu wirken schienen. Schickte jede der sechs Gruppen, in denen sie lebten ihren Anführer zu dem Dorf ältesten, der noch am meisten an die Erfüllung der alten Regeln und Rituale festhielt. Die Shinigami und die Dämonen der fünf Elemente, Wasser, Feuer, Erde und Luft. Jeder von ihnen erschien dem Dorf ältesten und warnte vor den schrecklichen Folgen, wenn die Menschen nicht aufhören würden ihre Heimat zu zerstören: einem Krieg zwischen den Mächten des Diesseits und des Jenseits, wie er schon so oft in der Geschichte geführt wurde. Der Dorf älteste nahm die Drohung der Dämonen war und warnte die Leute aus seinem Dorf eindringlich. Die Menschen glaubten ihn nicht, ja lachten ihn sogar aus. Darauf kam es wirklich zu einem Krieg, bei denen viele Dämonen und Menschen ihr Leben ließen. Als nicht mehr viele aus dem Dorf übrig waren, eigentlich ausschließlich Kinder, Frauen und Greise, sahen die letzten Überlebenden keinen anderen Weg, als zu kapitulieren. Einige Dämonen hatten Mitleid mit den verängstigten Müttern und Kindern, die nichts mehr hatten, nicht einmal mehr ein Heim. Sie sollten die Hälfte des Tales bekommen, der unbeschädigte Wald und der See aber sollten auf alle Zeit von Menschen frei sein. Und jedes Jahr am Ende des Herbstes, wenn der Fai-wind die letzten Blätter des roten Weidenbaumes davon geweht hatte sollte eine Prozession zu Ehren der Gefallenen stattfinden.“
    Kenzuke sah Jineh direkt in die Augen. Dann plötzlich stand er auf und ging langsam, aber in großen Schritten um Jineh herum, bis er direkt hinter ihr stand und kniete sich nieder. Sie spürte seinen warmen Atem in ihrem Nacken und die kleinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf.
    „ Aber weist du auch“, flüsterte Kenzuke ihr ins Ohr. „Dass es auch eine weitere, ganz andere Geschichte über die Zeit des Krieges im Tal der Dämonen gab?“ Jineh schüttelte langsam den Kopf und einige ihrer Haare streiften das Gesicht Kenzuke ’s, so nahe war er schon gekommen.
    „ Es ist die Geschichte einer jungen Frau, fast noch ein Mädchen, die in diesem Krieg alles fand und alles verlor, was sie sich je gewünscht hatte.“ Kenzuke zog den Kopf zurück und lehnte sich an einen Baum. Jineh wartete ein wenig, ob er die Geschichte weitererzählen würde, aber er tat es nicht. Sie drehte sich zu Kenzuke und genau in diesem Moment fuhr er fort:
    „ Sie kam zusammen mit ihrem Vater und ihrem kleinen Bruder mit dem ersten großen Zug, der dieses Tal fand. Sie waren geflohen. In ihrer Heimat gab es nur noch Krieg, Leid und Hunger. Sie hofften ein neues Leben beginnen zu können, ohne all die Angst und den Schmerz. Aber alles, was sie in diesem Dorf fanden war erneut Krieg, erneutes Leid und noch größeren Hunger. Der Vater und der Bruder der jungen Frau aber wollten die Hoffnung nicht aufgeben und blieben in der kleinen Hütte, die sie so mühsam gebaut hatten. Eines Tages dann fielen die Dämonen in das Haus der Familie ein. Der kleine Bruder wurde getötet und der Vater schwer verletzt. Die Frau hatte bis jetzt das Verhalten der Menschen, die die Dämonen töteten nicht verstanden, aber als sie ihren toten Bruder in den Armen hielt beschloss sie Rache zu nehmen. Sie rannte in den Wald der Dämonen mit nichts bewaffnet, als einem Bambusstock. Es dauerte nicht lange und ein Dämon der Waldbewohner entdeckte sie. Es kam natürlich zu einem Kampf, in dem der Dämon der Frau weit überlegen war. Aber die Frau kämpfte mit solch einer Entschlossenheit und Würde, dass der Dämon vor Erstaunen über diese außergewöhnliche Willensstärke verlor. Als die Frau aber zum letzten, tödlichen Hieb ansetzen sollte, warf sie den Stock beiseite und setzte sich im Seiza vor den Dämon und bat ihm ihren ungeschützten Hals dar. Der Dämon konnte nicht verstehen, wieso die Siegerin eines Kampfes dem Verlierer keinen ehrenhaften Tod lassen konnte. Erst als sie den Kopf hob, um nachzusehen, wieso er nicht zuschlug sah er die Tränen auf ihren Wangen und die Verzweiflung in ihren Augen. Da verstand er. Er setzte sich vor sie und sie erzählte ihm ihre Geschichte. Sie trafen sich wieder und wieder. Immer, wenn draußen auf den Feldern die Schlacht tobte, denn dann fiel es niemanden auf. Es war eine versteckte Liebe und die beiden lebten mit der ständigen Angst entdeckt zu werden. Und tatsächlich eines Tages, als sie sich im Wald der Dämonen trafen wurden die Dämonen von den neuen Waffen der Menschen überrascht und mussten einen plötzlichen Rückzug in den Wald starten. Die beiden Liebenden waren völlig ahnungslos, da der Dämon seine unmenschliche Seite für die Frau versteckte. Es war eine einzige Grausamkeit, wie die beiden von dem schreienden, wütenden Mob der Dämonen auseinander gerissen wurden und sie wussten, dass sie sich niemals wieder sehen würden. Die Frau wurde zum Waldrand gebracht und dort völlig verängstigt stehen gelassen und erst der markerschütternde Schrei, der aus dem Wald hallte brachte sie dazu nach Hause zu laufen. Es vergangen einige Monate, bis man entdeckte, dass sie schwanger war und man von ihrem Verhältnis mit dem Dämon erfuhr. Die Menschen aus ihrem Dorf, ja sogar ihr eigener Vater wollten das Ungeborene töten und die Mutter auf härteste bestrafen. Da floh die Mutter in den Wald der Dämonen und gebar dort Zwillinge, halb Mensch, halb Dämon. Die Dämonen des Waldes spürten die Mutter auf und töteten sie, die Kinder aber blieben am Leben. Da diese Kinder jedoch nun das Fleisch und Blut des Verräters und eines Menschen waren wurden sie für die Schuld ihrer Eltern bestraft. Man nahm ihnen einen Teil ihrer Seele und sperrte sie in diese blaue Lilie aus Glas. Dieser Fluch kann nur von einem der Zwillinge gebrochen werden. Es heißt das Kind müsse sich die Blume der eigenen Seele nehmen, ohne sie zu brechen, erst dann würde der Fluch seine Wirkung verlieren und die Seele der beiden wieder heilen.“
    Kenzuke endete die Geschichte indem er mit der Hand auf die Blume wies und schwieg.
    Jineh brauchte eine Weile, bis sie sich von dieser tief greifenden Geschichte wieder erholt und ihre Tränen über das Leid der Liebenden heruntergeschluckt hatte. Erst dann hob sie den Stock und ritze die Zeichen:
    “ Und die bist einer dieser Zwillinge, nicht wahr?“ in den Boden.
    Kenzuke nickt und Jineh kritzelte erneut in die Erde:“ Dein Bruder, weist du, wo er ist?“
    Kenzuke schüttelte den Kopf.
    „ Sie haben uns getrennt, um unsere Macht zu schwächen, es dauerte lange, bis Kenzuke überhaupt erfuhr, dass er ein Zwilling ist.“
    Jineh überlegte eine Weile, bevor sie schrieb.
    „Sag mir eines: Welcher Teil deiner Seele wurde dir damals genommen?“
    Kenzuke verzog sein Gesicht wieder zu dem fratzenhaften Grinsen und antwortete:
    “ Hast du es denn noch nicht bemerkt, dass Kenzuke nicht wirklich lächeln oder weinen kann, dass er sich selbst, wie ein Ding bezeichnet? Denn genau das ist er, ein gefühlloses Ding. Eine leere Hülle. Sie haben mir all meine Gefühle genommen und in diese Blüte gesperrt“
    Jineh sah ihn betroffen an. Sie wusste ja wie es war anders zu sein, aber wenigstens konnte sie noch alles um sie herum genießen...und auch wenn sie nicht wirklich lachen konnte, glücklich konnte sie schon sein... Ein wenig Zitternd schrieb sie ihre nächste Frage auf:
    „Macht es dir denn etwas aus?“
    Kenzuke betrachtete die Zeichen nachdenklich und antwortete lange nicht. Erst, als Jineh ungeduldig wurde sagte er mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck, der immer noch kalt, aber doch so anders wirkte.
    „ Kenzuke weiß noch, wie es war Gefühle zu haben. Er war zwar noch sehr klein, aber durch Meditation kann er sich erinnern. Und jetzt kommen sie ihm fremd und unnötig vor und doch weiß er, dass er ohne sie Nichts ist. Wenn Kenzuke die Augen schließt und in seine Seele hineinblickt sieht er nur Dunkelheit. Und dann kommt ihm immer wieder diese merkwürdige Frage: Wieso fühlt sich diese Dunkelheit so falsch an? Er hat doch bisher auch ohne sie gelebt. Aber wenn Kenzuke es dann wieder logisch betrachtet...wieso sie so falsch ist, die Dunkelheit. Weil... ohne die Gefühle, ohne Freude, Trauer, Schmerz und Liebe...ist seine Existenz nur... eine Uhr, die tickt. Unaufhaltsam und unendlich Laut. Er lebt, um seine Existenz zu sichern und das ist falsch.“
    Jineh kamen die Tränen hoch. Wie ungerecht es doch war! Dieser Junge wurde für die Liebe seiner Eltern bestraft. Dann aber kam Jineh ein anderer Gedanke, ein tröstender:
    „ Ich habe davon gehört, dass es auch Menschen gibt, die sind, wie du. Sie sind allerdings nicht verflucht, sondern krank.“, schrieb sie. „Man kann sie heilen. Vielleicht gelingt das auch bei dir. Wenn du nur etwas unter Menschen kommen würdest und jeden Tag in diesem Meer der Gefühle von ihnen Leben könntest... Ich könnte dich in mein Dorf mitholen, du kannst bei mir wohnen.“
    Aber Kenzuke schüttelte nur den Kopf.
    „ Wie stellst du dir das vor? Kenzuke hat sein Leben in diesem Wald verbracht, er kennt die Menschen nicht und vergiss nicht: Er ist zwar zum Teil Mensch, aber er kommt eher nach seinem Vater, wenn du verstehst, was Kenzuke meint.“
    Jineh verstand. Er konnte weder bei den Menschen leben, weil er zu sehr Dämon war, noch bei den Dämonen, weil er zum Teil Mensch war. Das war wohl sein Stigma...
    „ Aber es gibt wohl einen Weg, Kenzuke zu „heilen“.“
    Jineh schrak aus ihren sich entwickelnden Depressionen. Sie sah, wie der Regen von den weißen Haaren Kenzuke’ s tropften und auf einmal spürte sie einen merkwürdigen Schmerz. War es Mitleid?
    „ Du meinst du musst deinen Zwilling finden, um mit ihm gemeinsam den Fluch zu brechen.“
    Kenzuke nickte und stand mit einem kleinen Sprung auf.
    „ Und du bist diejenige, die Kenzuke dabei helfen kann. Du lebst in dem Dorf seiner Mutter. Wie du gesagt hast, vielleicht findest du etwas über sie in den Karteien des Dorfes.“
    Dann verbeugte er sich so tief er konnte und sagte:
    “Kenzuke bittet dich darum.“
    Obwohl Jineh schon längst geweint hatte und ihre Tränen sich mit dem Regen vermischten musste sie lächeln.
    „Einverstanden.“, ritzte sie in den Boden. „Aber nur unter einer Bedingung: Benutze endlich mal die Ich-Form, wenn du von dir sprichst.“ Kenzuke richtet sich auf und sah sie ein wenig verständnislos an.
    „Also ich höre!“
    Er verbeugte sich wieder und antwortete:
    “ ICH bitte dich darum.“
    Dann richtete er sich auf und lief wieder in den Wald hinein, anscheinend war das Gespräch hiermit beendet. Jineh stand auf und verwischte mit ihren Schuhen die Zeichen im Boden. Dann ging sie, merkwürdigerweise bestens Gelaunt, nach Hause.

    TBC



    Re: Das letzte Blatt des sterbenden Herbstes

    <3LittleSweetChii<3 - 16.02.2008, 12:50


    Leben 2: Der Kreislauf

    Jineh saß, die Beine überschlagen, mit einem Stapel Akten bewaffnet auf ihrem Bett. Seit mehreren Wochen schon war sie auf der Suche nach Tsumi Nagame. Erstaunlicherweise erwies sich die Suche nach dieser Frau als Kinderspiel, denn sie hatte so viel geleistet, aber auch verbrochen, dass sie überall zu finden war. Sie hatte lange Reisen unternommen, um Ärzte für die Krieger, deren Wunden durch den Zauber oder das Gift der Dämonen nicht heilen wollten, zu finden und hatte zur selben Zeit viele moderne Waffen gestohlen und versteckt. Aber ein Detail, ein kleines, wichtiges Detail fehlte noch. Die gesamte Geschichte ihrer Liebe mit dem Dämon fehlte! In ihrer Akte stand nur ein Satz, der wohl mit ihr zu tun hatte: „05.09.1946; Verschwinden und Toderklärung“. Jineh war schier am verzweifeln und trotzdem suchte sie immer weiter nach Akten, Dorfzeitungen oder ähnlichem. Jeden Tag packte sie die Berge von Papier in ihren Rucksack und brachte sie zu Kenzuke, um seine Meinung über das Ganze zu hören.
    Aber bald blieb es nicht mehr bei der sachlichen Hilfe. Immer häufiger erfand Jineh Gründe, um zur Lichtung im Wald kommen zu können.; Es war, als könne sie kaum einen Tag ohne Kenzuke verbringen...

    Es war schon längst Nacht geworden und der Wald der Dämonen lag in tiefster Dunkelheit. Jetzt begann die Stunde der Nachtschwärmer. Der Eulen, Käfer, Nachtfalter und die der Schattendämonen. Es waren die gefährlichsten Stunden für Kenzuke, denn diese Wesen der Dunkelheit hassten und verachteten ihn. So sehr, dass sie die Existenz dieses Mischlings am liebsten für immer beseitigen würden. Aber an diese Gefahren der Nacht verschwendete Kenzuke keinen Gedanken, er war genauso flink und stark, wie seine Verwandten und er besaß einen unschätzbaren Vorteil: Sein Handeln wurde nicht von Angst, Zweifel oder sonstigem beeinträchtigt, sondern wuchs allein aus seinem analytischen Denken hervor. Aber was ein Vorteil zu sein scheint, kann sich auch als Last erweisen. Kenzuke hatte längst begriffen, dass Jineh weit mehr als nur Mitleid für ihn empfand, war es doch so offensichtlich, wenn sie mit strahlenden Augen auf die Lichtung kam. Aber was sollte er denn tun? Er besaß keine Gefühle und wusste auch nicht wirklich, wie er mit Jineh nun umgehen sollte. Nicht, dass er sich Sorgen gemacht hätte sie verletzten zu können, nein, er machte sich Sorgen durch sein Verhalten Jineh zu verscheuchen. Und dann hätte er keine Möglichkeit mehr an Informationen zu kommen, die er doch so dringend brauchte um seinen Fluch zu brechen! Also musste er versuchen mit ihr umzugehen, bis sie ihm nicht mehr von Nutzen sein würde... Ein leises Rascheln ließ Kenzuke aufhorchen. Dieser Gang hatte zwar etwas animalisches, aber er stammte nicht von einem Tier. Und plötzlich saß jemand vor ihm. Es war ein kleiner Junge, höchstens an die zehn Jahre, oder zumindest schien es einer zu sein, der sich nicht mit den Wesen dieses Waldes auskannte. Es war ein Schattendämon, und noch dazu ein recht seltener Vertreter dieser Gattung. Er war ein so genanntes Himmelskind. Diese Art von Dämonen gehörte wohl zu den unmenschlichsten aller, auch wenn ihr Aussehen nicht unbedingt darauf schließen ließ. Diese Kinder lockten Mütter und Väter verschollener oder toter Kinder in den Wald. Waren sie dann dort, spielten sie ihr grausames Spiel mit ihnen; sie bohrten mit Worten tiefe Wunden in die Herzen der verzweifelten Eltern, säten den Zweifel und den Selbsthass in ihre Gedanken und brachen ihren Willen zu leben. Und dann, wenn alles sinnlos für die Opfer schien, baten sie ihren grausamen Tauschhandel an. Ihr Leben gegen Vergebung. Bisher hatte niemand diesen Handel abgelehnt und so lagen tausende von ihnen unter den Bäumen.
    Das Himmelskind lächelte engelsgleich auf Kenzuke hinab und seine silbernen Augen spiegelten den Mond wieder.
    „Na, so spät noch hier? Worüber denkst du denn nach?“ Es war keine Feindseeligkeit in dieser glockenhellen Stimme zu hören, nur ein verständnisvoller, lieblicher Ton.
    „ Ist er nicht schön, dieser Wald bei Nacht? So romantisch. Deine Mama hat sich immer hier mit deinem Papa getroffen, weißt du? Sie waren wirklich glücklich.“ Kenzuke drehte den Kopf weg; er wusste längst worauf dieses Gespräch hinauslief.
    „ Sie könnten immer noch hier sein, und glücklich leben. Aber... na ja, du kannst ja nichts dafür. DU kannst nichts dafür, dass sie getötet wurden, nicht wahr. Neulich habe ich was gehört. Ich habe gehört du hast deine Mama und deinen Papa getötet... ist das wahr?“ Das Himmelskind saß da, als wäre ihm dieses Gespräch unangenehm und Tränen standen ihm in den Augen.
    „ Ich habe die beiden sehr gemocht. Bitte, bitte sag mir, dass du nicht an ihrem Tod schuld bist! Du warst es nicht, oder doch?!“ Die letzten Worte stießen wie Gift aus dem Mond des kleinen Jungen.
    Kenzuke drehte sic wieder zu dem Himmelkind hin und sagte mit ausdrucksloser Stimme: „Verschwinde Fiffi, deine Tricks wirken nicht bei Kenzuke, wann begreifst du das endlich?“
    Auf einmal schien sich die Ausstrahlung des Jungen zu verändern. Seine großen, unschuldigen Augen wurden schmal und kalt, die niedliche Hockhaltung wich einem großspurig wirkenden Sitz und ein arrogantes Grinsen formte sich auf dem hübschen Gesicht.
    „ Es ist wirklich ein Jammer, Namenloser. Wie gerne hätte ich dich vor Verzweiflung von diesem Baum springen sehen.“ Er kicherte leise und wippte auf dem dünnen Ast hin und her.
    „ Kenzuke hat einen Namen und das weißt du.“ Kenzuke war dieses Spiel schon gewohnt. Mindestens einmal in der Woche stattete Fiffi ihm einen solchen Besuch ab. Es war ein merkwürdiges Verhältnis zwischen den Beiden, fast so etwas wie eine Freundschaft. Und wäre Kenzuke nicht so gefühlskalt und Fiffi nicht durch sein Erbe zum Hass auf diesen Jungen gezwungen, dann wären sie vielleicht wirklich Freunde geworden.
    Fiffi zwirbelte gedankenverloren an einer Strähne seines Silbernen Haares und lachte dabei in sich hinein.
    „ Bist du sicher? Niemand weiß von deinem Namen, also...“ Das Kichern wich einem leisen, hohen Lachen. Kenzuke reagierte nicht weiter auf Fiffi, er kannte das Spiel zu gut.
    „ Wieso kümmerst du dich so um sie?“
    „ Um wen?“, fragte Kenzuke, obwohl er die Antwort schon wusste.
    „ Dieses süße, kleine Mädchen, ohne Stimme, die dich immer besuchen kommt. Warum lässt du sie auf deine Lichtung, jeden anderen hättest du schon längst getötet. Außerdem sieht es so aus, als würde sie gewisse Gefühle für dich hegen.“
    Kenzuke antwortete immer ehrlich, ihm konnte er vertrauen. Merkwürdigerweise hegte Fiffi ebenfalls eine gewisse Zuneigung für ihn.
    „ Sieht so aus. Aber sie interessiert Kenzuke nicht, wie könnte sie. Nein, sie hilft ihm lediglich den Fluch zu brechen, sie hat zutritt zu den Dorfkarteien.“
    Zum ersten Mal schwand das Grinsen aus dem Gesicht des Himmelskindes, es senkte den Kopf und der Mond ließen seine hellen Haare erstrahlen.
    „ Du Narr. Den Fluch brechen? Wofür denn? Glaub mir, ohne das alles, ohne diese verdammte Scheiße sieht die Welt besser aus. Du hast keine Ahnung wie man unter diesen Gefühlen leidet.“
    Kenzuke wusste um die Vergangenheit des Kleinen. Seine gesamte Familie wurde während des großen Krieges ausgelöscht. Er hatte jeden, der am Mord seiner Eltern und seiner zwei kleinen Schwestern beteiligt waren, auf seine ganz spezielle Weise umgebracht. Er selbst war der Narr, der sich von der Last seiner Erinnerungen niederdrücken ließ.
    „ Wie du meinst. Warne sie bloß nicht. Schließlich springt auch für dich was dabei heraus. Du kannst sie haben, wenn Kenzuke mit ihr fertig ist. Er wird sie verlassen, sobald ihre Arbeit getan ist und sie wird daran zerbrechen.“
    Das Grinsen auf Fiffis Gesicht kehrte zurück.
    „Hihi. Du weißt, wie man mich aufmuntert. Du kleiner Bastard hast wirklich keine Skrupel. Aber wie kann man das auch jemanden vorwerfen, der nie so etwas wie Mitleid empfunden hat?“
    Fiffi schwang sich galant vom Baum und rief von unten herauf:
    „ Bis dann. Sag mir bescheid, wenn das Mädchen für mich bereit steht.“
    Dann verschwand er im Wald und sein Kichern verschwand in der Nacht.


    Jineh war schier am Verzweifeln. Sie hatte jede Akte, jeden Ordner, jedes Blatt in den Karteien durchgesehen, aber alles war vergebens. Das einzige, was sie nun wusste war, dass Tsumi Nagame offiziell gesehen nie ein Kind gehabt hatte. Es trieb sie schier zur Verzweiflung. Nicht nur, dass sie Kenzuke nun nicht mehr helfen konnte... sie würde ihn wahrscheinlich auch nicht mehr wieder sehen, sobald sie ihm erklärt hätte, dass sie nichts herausfinden konnte. Die Todesurkunde und das Testament der Verstorbenen zitterten in der Hand Jineh’ s. Es war ihr klar gewesen, dass dieser Tag kommen würde, er wäre auch gekommen, wenn sie Kenzuke’ s Bruder gefunden hätte. Aber die Realität, die Intensität ihres Schmerzes um den Verlust ihrer einzigen Hoffnung, nahmen ihr jede Fassung. Tränen überströmt kletterte sie aus dem Fenster ihres Zimmers. Sie wollte es jetzt nicht enden lassen; nicht heute, nicht auf diese Weise. Der Fotoapparat in ihrer Tasche Schlug ihr gegen die Beine. Jineh rannte an den weiß glitzernden Feldern vorbei in den Wald. Sie wusste nicht wieso sie hier war, alles was Jineh wollte war laufen. Hinein in die Stille, in eine Welt, in der weder Licht noch Dunkelheit herrschte, in der sie völlig allein war. Nach einer endlos langen Zeit hielt Jineh erschöpft an. Es war dunkel geworden, der Mond zeigte sich nicht, obwohl die Nacht klar war. Jineh hatte ihr Ziel erreicht; sie war im Nirgendwo, einem Reich in dem weder sie noch sonst ein anderer existierte. Es gab nur die Dunkelheit und das Rauschen der kahlen Zweige. Der Boden war hart und rutschig, er schien gefroren zu sein. Jineh wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Sie hatte sich verlaufen, das wusste sie, aber merkwürdigerweise wollte sie keinen Weg nach Hause suchen. Sie wollte hier bleiben, ihre Strafe für ihre Einfältigkeit und ihre blinde Liebe hinnehmen. Wie konnte es nur so weit gekommen sein? Jineh sank zusammen, ihr war kalt, sie war erschöpft und ihr Bein tat weh von den Schlägen der Kamera.
    War sie denn nicht immer besonnen gewesen? Die ätzende Lösung des Selbsthass stieg in ihr auf. Es war ihre eigene Schuld, nun sollte sie sich nicht auch bemitleiden. Wie erbärmlich sie doch war, wie dumm! Sich in jemanden zu verlieben, bei dem nicht einmal die geringste Chance bestand, dass ihre Gefühle erwidert würden. Nicht einmal der Mond war mehr da, um ihr Trost zu spenden.
    Jineh lehnte sich an einen Baumstamm und schloss die Augen. Sie stellte sich vor, wie es hätte sein können, wenn sie sich in jemand ganz normalen Verliebt hätte. In Joshie von nebenan zum Beispiel. Wie glücklich hätte sie werden können...
    Der Schmerz durchfuhr all ihre Glieder. Sie wollte nur noch sterben. Um nie wieder an ihn denken zu müssen, nie wieder diesen überwältigenden Scherz fühlen zu müssen. In ihrer Trauer, unter dem freien Himmel schlief sie ein, mit dem letzten Gedanken im Herzen, dass dieser Schlaf ihr erlösender Tod sein würde.
    Als Jineh aufwachte glaubte sie die vorherige Welt in der sie eingeschlafen war, verlassen zu haben. Sie hatte die Augen noch geschlossen, aber ein helles Licht fiel auf sie herab. Ihr war warm und der zuvor steinharte Boden fühlte sich leicht und flauschig an. Das konnte nur der Himmel sein! Aber dann schlug sie die Augen auf. Sie lag immer noch dort, wo sie letzte Nacht eingeschlafen war, aber irgendjemand hatte sie auf eine Art Felldecke gelegt und mit einer weiteren zugedeckt. Verwirrt richtete Jineh sich auf und sah sich um; genau wie in der Nacht hatte sie keine Ahnung, wo sie war.
    „Ausgeschlafen?“
    Jineh folgte dem Klang der Stimme und sah zu den Ästen des Baumes hinauf, wo Kenzuke lässig auf einem gefährlich dünnen Ast saß. Sie konnte nicht anders, als zu lächeln. Mit einem Finger kritzelte sie so groß wie möglich die Zeichen
    „Morgen. Warst du das?“ in den Boden
    Kenzuke nickte und sprang vom Baum, wobei er eine elegante Drehung vollzog.
    „Was hast du hier zu suchen? Du hättest erfrieren können.“
    Obwohl seine Stimme sachlich und ernst wie immer klang, schien Jineh eine gewisse Besorgnis herauszuhören. Sie wusste, dass das unmöglich war, aber sie konnte einfach nicht umhin sie wahrzunehmen. Auf einmal spürte sie, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie hielt den Finger am Boden gesengt, hatte aber nicht die leiseste Ahnung, was sie schreiben sollte.
    Kenzuke kniete sich nieder und starrte Jineh direkt in die Augen. Falls es möglich war, so wurde Jineh in diesem Moment noch roter, als zuvor.
    „ Du hast Kenzuke bestimmt gesucht. Hast du etwas herausgefunden?“
    Jineh senkte den Blick zu Boden. Sie musste es ihm sagen; sie war erwachsen, sie hatte kein Recht es ihm vorzuenthalten. Sie fühlte sich den Tränen nahe, aber gleichzeitig spürte sie, wie richtig es war, was sie tat.
    Mit gesenktem Kopf schrieb sie in die Erde: „Es ist vorbei. Ich habe nichts über deine Mutter herausgefunden, was du nicht schon selber wüsstest!“ Kenzuke schwieg lange Zeit, das einzige Geräusch kam vom Rauschen der Bäume.
    “Dann geh. Kenzuke kann dich nicht mehr gebrauchen. Es tut ihm leid.“ Die Herzlosigkeit in seiner Stimme war wie ein Schlag ins Gesicht.
    „ Es tut mir leid. Du hast doch keine Ahnung, was diese Worte beuteten. Sie sind nur eine leere Floskel, für ein Gefühl, das du nicht hast!“, dachte sie wütend. Tränen liefen ihr über die Wangen, Tränen des Zornes, aber auch der Trauer.
    Es war wirklich vorbei und ihr Schloss aus Sand fiel zusammen. Trotzdem stand sie langsam auf und ging beherrscht davon. Kenzuke stand da und sah ihr nach. Jetzt hatte er also seine letzte Hoffnung verloren, dabei bedauerte er es keineswegs. Er war müde, denn er hatte die ganze Nacht über Jineh gewacht. Gähnend hob er die Felle vom Boden und kletterte wieder auf den Baum. Während er seine Schlafstätte vorbereitete hörte er jemanden näher kommen. Es war Fiffi. Mit seinem sadistisch wirkendem Grinsen und großen Schritten kam er auf Kenzuke’ s Baum gesprungen und machte es sich bequem.
    „ Na, darf ich sie jetzt haben?“
    „Wenn du willst.“, gähnte Kenzuke. „Aber wahrscheinlich ist sie wieder im Dorf, musst wohl noch ein bisschen warten.“
    Kichernd sprang Fiffi vom Baum, während Kenzuke tief und traumlos schlief.

    Jineh hatte sich beruhigt, die Trauer und die Wut über ihr Unglück waren Resignation gewichen. Sie verbrachte ihre Tage nicht mehr draußen, so wie früher und ihre Kamera verstaubte auf ihrem Regal. Stundenlang saß sie mit leerem Blick am Fenster und starrte ins Nichts. Sie war völlig leer, wie tot und hatte nicht einmal mehr die Kraft abends aufzustehen; sie schlief auf der Fensterbank, aß dort. Ihre Eltern waren besorgt, so hatten sie ihre Tochter nie erlebt. Oft kam der Vater oder die Mutter und versuchten mit Jineh zu reden, aber alles, was sie als Antwort erhielten war ein:“ Es geht mir gut, macht euch keine Sorgen.“, dass sie irgendwann einmal auf ein Blatt Papier gekritzelt hatte.
    Nach langer Zeit, es war schon fast wieder Frühling, erwachte Jineh eines Nachts. Es war mild und der Mond stand als schmale Sichel am Himmel. Jineh konnte sich nicht erklären wieso, aber sie war außergewöhnlich unruhig, als würde sie etwas drängen hinauszugehen und ein paar Fotos zu schießen. Seit langem lebte Jineh nur noch nach Instinkt, deswegen zögerte sie auch jetzt nicht diesem nachzugehen. Sie stand auf, zog sich um, nahm die Tasche, in der ihr Vater ihre Kamera und einige ihrer Fotos hineingesteckt hatte und stieg durch das Fenster hinaus. Wie selbstverständlich schlenderte Jineh zum Wald der Dämonen. Sie beachtete nichts um sich herum, machte keine Fotos, ganz so, als wäre sie in Eile. Irgendwann machte sie erschöpft halt. Sie war langsam gegangen, aber weit und befand sich in Mitten des Waldes. Sie setzte sich auf den Boden, gegen einen Baum gelehnt und wollte gerade die Augen schließen, als sie eine Stimme hörte.
    „ Jineh! Ich habe schon so lange auf dich gewartet. Wo bist du gewesen?“
    Jineh fuhr erschrocken auf. Sie kannte diese Stimme nur zu gut. Langsam sah sie in die Richtung, aus der sie zu kommen schien. Da stand Kenzuke, groß, in altertümliche Kleidung gehüllt und die Breitschwerte auf dem Rücken gekreuzt. Aber etwas war anders an ihm, ganz anders.
    „Wieso bist du nicht mehr gekommen?“
    Jineh starrte Kenzuke mit offenem Mund an und er starrte zurück. Dann aber warf er ihr einen kleinen Stock vor die Füße und sie fing sofort an Worte in den Staub zu kritzeln.
    „Du hast mir gesagt ich soll nicht wiederkommen.“
    “ Glaubst du denn wirklich ich wollte das? Du warst meine einzige Hoffnung und du hast mich einfach aufgegeben, mich verlassen.“ Obwohl keine Regung in seinem Gesicht zu erkennen war, vernahm Jineh tiefste Trauer. Sie sog dieses Gefühl ein, dass sie vollkommen zerfraß und verletzte.
    „Es tut mir leid. Ich kann nichts mehr für dich tun. Nichts!“ Tränen rannen ihr über die Wangen und fielen in die Rillen im Boden.
    „Dann bist du diejenige, die Kenzuke’ s Schicksal und seinen Tod bestimmt hat.“
    Er hatte Recht! Es war alles ihre Schuld! Sie kauerte sich so klein, wie sie nur konnte zusammen. Alles war ihre Schuld. Sie hatte Kenzuke enttäuscht! Gleichmäßig wippte ihr schwacher Körper hin und her, hin und her, hin und her...
    Wenn nur dieser Fluch nicht wäre, wenn nur diese Blume nicht wäre! Wie gerne würde sie dieses scheußliche Gewächs aus dem Boden reißen. Es niedertrampeln, verbrennen!
    „Es gibt eine Möglichkeit mich zu retten, komm. Komm mit mir.“, flüsterte Kenzuke und wandte sich zum gehen. Erschrocken sprang Jineh auf. Die Tasche mit ihrem Fotoapparat blieb an einer herausragenden Wurzel des Baumes hängen und die Kamera, die Bilder fielen auf den Boden.
    Jineh wollte ihm nachlaufen, ihm ein „Warte!“ zurufen, aber sie hing immer noch mit der Tasche am Baum fest. Hektisch hantierte sie an der Tasche herum. Dann auf einmal spürte Jineh wie sie sich an etwas schnitt. Blut tropfte auf die Bilder, die am Boden verstreut lagen.
    Endlich hatte sie sich befreit und lief so schnell sie konnte in die Richtung in die Kenzuke gegangen war. Er wartete schon auf sie. Ein großer, weißer Baum ragte hinter seinem Rücken hinauf und an einem seiner Äste hing ein Galgen unter dem ein Schemel stand.
    Kenzuke ging zum Galgen und streichelte ihn, wie ein lieb gewonnenes Haustier.
    „ Wenn du dich opferst und deine letzten Gedanken nur mir gelten, werde ich befreit. Mein Bruder und ich können für immer glücklich leben. Ich werde ewig deiner Gedenken, Jineh. Du wirst meine erste und einzige Liebe sein.“
    Seine erste und einzige Liebe? Konnte sie dafür sterben und dann auch noch so qualvoll.
    Ja, sie konnte. Ihre Schmerzen würden nichts sein im Vergleich zu dem, was Kenzuke erlitten hatte. Mit festen Schritten, den Blick auf den im Wind schaukelnden Galgen gerichtet, ging sie voran. Es sollte wohl ihr Schicksal sein und gegen das Schicksal kam man nun mal nicht an. Schließlich stand sie auf dem Schemel, über ihr baumelte der Strick und hunderte Sterne schienen in ihre Augen. Aber sie sah durch das alles hindurch; sie sah nur Kenzuke. Wie er an ihrem Schrein Kerzen für sie anzündete und Mandarinen als Opfergabe in einem kleinen Weidenkorb beistellte. Seine Augen waren voller Tränen, aber ein Lächeln umspielte seine schmalen Lippen. Jineh steckte den Kopf durch die Schlinge und wartete bis die Person, die sie das Leben retten wollte, sie töten würde. Dann auf einmal spürte sie etwas an ihrem Gewand ziehen und im nächsten Moment wurde ihr die Schlinge vom Hals genommen.
    „ In Ordnung, du hattest deinen Spaß, Fiffi. Jetzt verschwinde! Und wag es nicht sie jemals wieder anzufassen.“ Jineh glaubte, sie sei bereits tot. Denn es war Kenzuke der neben ihr stand. Und sein Gesicht... war verzerrt vor... WUT?!
    Im nächsten Moment verwandelte sich der falsche Kenzuke vor ihren Augen in ein kleines Kind mit silbernen Haaren und Augen.
    „ Du hast mir versprochen ich krieg sie. Außerdem... was ist denn mit dir los?“, murrte es und zog dabei eine beleidigte Schnute.
    Kenzuke lächelte. Und es war nicht dieses Verzerrte Lächeln, das sein Gesicht entstellte, sondern ein wahres, ein glückliches Lächeln. Es versetzte Jineh einen regelrechten Stich ins Herz, noch nie zuvor war er so schön gewesen.
    „ Geh jetzt. Bitte.“
    Wie ein folgsamer Hund, dem befohlen wurde sich einem Stück Fleisch nicht weiter zu nähern zog Fiffi davon. Kenzuke wandte sich zu Jineh um und umarmte sie.
    Jineh wurde ganz heiß und sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieß. Alles um sie herum verschwamm zu einem unwirklichen Nichts, nur noch Kenzuke und sie schienen vorhanden. Als Kenzuke sie wieder losließ sah er ihr direkt in die Augen. Auch sie hatten sich verändert. Sie hatten nichts mehr katzenartiges, kaltes, waren nur noch menschlichen Ausdrucks. Es war für Jineh, als träumte sie; einen fernen Traum, den sie kaum zu fassen bekam.
    „Danke.“ Das war das einzige, was er sagte, aber es reichte, um Jineh in ein Meer aus Gefühlen stürzen zu lassen, dass sich zu einem Strudel formte und sie in sich hineinzog.
    „ Wie hast du es geschafft?“ Jineh konnte ihm nicht in die Augen sehen, es tat weh. Sie schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.
    „Du hast keine Ahnung?“ Seine Stimme klang belustigt. „ Was hast du denn die letzten Tage gemacht, dass das alles hier... geschehen konnte?“ Jineh griff sich einen kleinen Stock vom Boden und malte das Zeichen: „Nichts.“, in den Boden.
    Neugierig sah sich Kenzuke um.
    „Vielleicht, “ sagte er gut gelaunt, „finden wir hier ja etwas.“ Er schlenderte durch die Gegend und suchte mit seinen scharfen Augen die Umgebung ab.
    Schließlich gelangte er zu Jineh’ s Fototasche. Überall auf dem Boden lagen ihre mit Blut verschmierten Fotos. Interessiert setzte Kenzuke sich davor und wischte das Blut von jedem Einzelnen. Es stapelten sich schon viele Fotos neben ihm, als er Jineh zu sich winkte. Wie benommen wankte sie zu ihm rüber.
    „Jetzt ist das Rätsel wohl gelöst.“, sagte er lächelnd und reichte Jineh eines ihrer Bilder. Auf dem Bild war eine Lilie zu erkennen. Leuchtend blau und zerbrechlich, wie Glas. Und auf einer der zarten Blütenblätter war ein winziger Tropfen Blut zu erkennen.
    Kenzuke nahm ihr das Bild aus der Hand und umarmte sie wieder.
    „ Jineh, ich möchte dich um etwas bitten.“
    Jineh sah stumm zu Boden und nickte.
    „Sprich! Versuche irgendetwas zu sagen.“
    Sie sah Kenzuke nur verwirrt und ein wenig entsetzt an. Was bitte sollte ihr das bringen? Dann begann ein für sie schrecklicher Gedanke in ihr zu keimen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und sprach das aus, was sie sich in diesem Moment am sehnlichsten wünschte:
    „ Es ist nicht wahr.“
    Ihre Stimme war zart und hell. Fast so zerbrechlich und unauffällig, wie die blaue Lilie, doch mindestens genauso schön.
    Kenzuke’ s Lächeln schwand so schnell, wie es gekommen war.
    „Doch, “ flüsterte er ihr dumpf ins Ohr. „ Es ist wahr. Es tut mir Leid... Ich weiß, wie du für mich empfindest, aber das muss jetzt aufhören. Verstehst du denn nicht? Es ist nicht richtig. Geh nach Hause, vergiss mich und suche dir jemanden. Ich bin dir trotz allem dankbar.“
    Jineh wollte weinen, aber sie konnte nicht. Alles in ihr war leer. Ihre größte Hoffnung war zu ihrer größten Bürde geworden. Sie stieß Kenzuke sanft zurück. Langsam holte sie ihren Schatz hervor, die Lilien-Pfeife, deren außergewöhnlicher Klang sie so oft über ihre Stummheit hinweggetröstet hatte.
    „Nimm du sie.“, flüsterte zu Boden und streckte die Hände nach vorne. „Ich brauche sie jetzt nicht mehr. Ich habe ja jetzt meine Stimme.“
    Kenzuke nahm zögernd die feine Kette entgegen.
    Dann rannte Jineh, ohne ein weiteres Wort, ohne ein Lebe Wohl, davon, hinein in den Wald.

    Man sagt, dass an jedem Tag etwas Neues geboren wird und an jedem Tag etwas Altes stirbt. Ob es nun Menschen sind, oder Traditionen, Tiere oder Städte. Alles ist in einem ewigem Kreislauf gefangen, zwischen Verwesung und Wachstum; wie der alte Wald um den Nao-Kai-See. Aber an diesem Tag wurde etwas in Kenzuke geboren, dass niemals Licht hätte erblicken dürfen. Und etwas starb in Jineh, das niemals hätte dahinscheiden dürfen.
    Denn beide hatten sich Erlösung gewünscht, beide wollten von ihrem Fluch befreit werden. Aber diese Erlösung war schmerzhafter, als der Fluch jemals hätte sein können.
    Jineh zerbrach an dem Zweispalt zwischen ihren Gefühlen und ihrer Blutsverwandtschaft zu Kenzuke.
    Kenzuke zerbrach an den neu gewonnen Gefühlen, vor allem aber dem Mitleid für Jineh, mit denen er nicht umgehen konnte.
    Alles schien verloren zu sein. Nun verstand er die Worte Fiffi’ s. Ja, er war wirklich ein Narr gewesen zu glauben, dass all seine Probleme gelöst seien, wäre er nur den Fluch los. Jetzt hasste er das, was er am meisten herbeigesehnt hatte. Nun besaß er Gefühle... er konnte sich freuen... aber worüber? Er konnte lachen, aber wieso sollte er? Die einzigen Gefühle, die er wirklich zu besitzen schien waren Trauer, Verzweiflung und stechendes Mitleid, das sich allmählich in Selbstvorwürfen verfing.
    Kenzuke saß auf einem Ast des Weidenbaumes mit den roten Blättern. Es hingen nicht mehr viele an den dünnen Ästen und selbst an diesen zerrte der Wind, als wolle er sie überreden zu gehen. Der Baum schien schon fast tot. Kenzuke beugte sich herab und streifte eines der leuchtenden Kunstwerke von seinem Platz ab. Er mochte diese Farbe irgendwie nicht... dieses stechende rot. Rot war die Farbe der Liebe... aber auch des Blutes der Menschen und vieler Tiere. Ihm schien, als könne er es sehen, mit dem der Boden der Vergangenheit getränkt war. Auf einmal landete Fiffi mit einem Satz neben ihm.
    „ Hallo. Na, wie geht’s denn unserer neu gewonnen Seele?“ Sein falsches Grinsen war zurückgekehrt und diese Mal ließ es Kenzuke schaudern. Er seufzte und versuchte eine gelangweilte Miene aufzusetzen, was ihm allerdings nicht ganz glückte.
    „ Was willst du schon wieder hier?“
    Fiffi’ s Grinsen wich seinem leisen Kichern und er umrundete Kenzuke, wie ein Wolf.
    „ Mein Mädchen will ich. Du hast sie mir versprochen.“
    Kenzuke konnte seine Wut nicht zurückhalten mit einem festen, schnellen Hieb, stieß er Fiffi vom Baum.
    „ Ich sagte du sollst die Finger von ihr lassen!“, rief er hinab. „Und wehe du fasst sie an, oder kommst auch nur in ihre Nähe!“ Aber Fiffi ließ sich nicht so einfach abschütteln und sprang wieder auf den Baum.
    „ Wenn ich das Mädchen nicht haben kann, dann nehme ich dich. Schließlich, “ flüsterte er kichernd. „ Bist du jetzt nicht mehr unverwundbar.“
    Kenzuke drehte widerwillig den Kopf weg und machte eine herablassende Handbewegung.
    „Du versinkst regelrecht in deinen neuen Gefühlen... Es wäre nicht sehr schwer für mich mir eines davon zu nutzen zu machen... hihi.“ Kenzuke kochte innerlich vor Wut, aber er wusste, dass Fiffi Recht hatte; er war verletzbar, wie nie zuvor. Auch seine Fähigkeiten schwanden langsam, er hatte Fiffi nicht einmal richtig kommen gehört. Mit einem ernsten Ausdruck auf dem Gesicht wandte er sich Fiffi zu und fragte ganz ernst:
    „ Könntest du das wirklich? Ich bin angreifbar, das will ich nicht bestreiten. Aber du bist es ebenso.“ Auf einmal verstummte das silberne Kichern und das Himmelskind verlor all seinen Anmut.
    „Wann war ich schwach?!“, schrie es Kenzuke an und wurde rot vor Wut. „Ich habe hunderte, vielleicht sogar tausende von Menschen getötet und das obwohl ich noch nicht sehr alt bin! Ich habe meinen Mut und meine Stärke weit mehr, als einmal bewiesen. Und du bezeichnest mich als angreifbar?! Ich sagte es dir schon einmal: Du bist ein Narr, ohne den unsere Welt endlich ihren Frieden finden würde!“ Mit einer schnellen Bewegung sprang Fiffi zu Boden und rief hinaus: „ Ich hole mir mein Mädchen, ob du es willst oder nicht!“ und verschwand wieder zwischen den Bäumen.
    Kenzuke blieb mit einem ängstlichen Gefühl zurück. Hatte Fiffi das wirklich ernst gemeint? Er hatte wirklich zu ernst gewirkt um sich keine Sorgen zu machen. So schnell, wie er nur konnte schwang sich Kenzuke vom Baum und lief in Richtung Dorf.
    Als er bei Jineh’ s Haus ankam brannte kein Licht, obwohl es noch früh am Abend war. Jineh hatte ihm einmal erklärt, wo ihr Zimmer lag und Kenzuke schlich sich so schnell wie möglich unter das Fenster und klopfte leise an. Lange zeit geschah nichts, bis Kenzuke noch einmal klopfte und das Fenster endlich aufgeschoben wurde.
    Kenzuke erschrak, als er Jineh sah. Sie war ganz bleich und ihre Haare verstrubbelt und verschmutzt, ebenso, wie ihre Kleider. Aber das Schlimmste waren ihre Augen. Es war, als sähe Kenzuke in den Spiegel seiner Vergangenheit. Sie waren genauso leer und genauso kalt und doch lag noch etwas anderes darin, etwas Verzweifeltes. Mit diesem einen Blick wurde ihm alles klar. Wieso Jineh ihn geholfen hatte, wieso sie ihn liebte, obwohl es gegen alles Verstieß, was die beiden kannten. Denn in diesem einen Blick fühlte er selbst, was sie zerfressen hatte. Alles schien zu weichen und nur noch Jineh war da... mit ihren kalten, verzweifelten Augen. Erst Jineh’ s Stimme holte ihn zurück in die Wirklichkeit:
    „ Was machst du hier?“
    Kenzuke wandte seinen Blick von ihr ab.
    „ Ich wollte dich warnen. Fiffi ist hinter dir her, anscheinend habe ich ihn provoziert.“
    Jineh legte den Kopf schief, wie ein kleiner Hund und Kenzuke merkte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss.

    „Fiffi?“
    „Ja... der... das... das Himmelskind. Es hatte sich doch für mich ausgegeben und wollte dich... na ja...“
    „ Was sollte daran so schlimm sein, wenn er kommt?“, fiel sie ihm ins Wort. „Ich gebe dir nicht die Schuld daran. Aber ich denke auch nicht, dass du das Recht hast mich vor meinem Schicksal zu warnen. Ich bitte dich, geh.“
    Dann trat sie zurück und schloss das Fenster. Kenzuke stand vor dem dunklen Glas und starrte seinem Spiegelbild entgegen. Jetzt wusste er, wie Schmerzhaft Ablehnung war und auch, wie unerträglich dieser Schmerz. Er starrte die Augen seines Zwillings in der Fensterscheibe an. Wie oft hatte er sich gewünscht den Ausdruck in ihnen zu sehen, den er jetzt erkannte und wie sehr wünschte er sich jetzt diesen Ausdruck nie mehr sehen zu müssen.
    „ Es tut weh, verstoßen zu werden nicht wahr?“
    Erschrocken fuhr Kenzuke zurück. Fast neben ihm saß Fiffi, und schaute ihm mit einem merkwürdig mitleidigem Blick entgegen. Nachdem Kenzuke sich von seinem Schrecken erholt hatte setzte er sich im Schneidersitz vor ihn und fragte ein wenig rot an den Wangen:
    „ Wie lange warst du schon hier?“
    „Schon bevor du gekommen bist... Weist du, “, sagte Fiffi leise und wandte sein Gesicht seinen Füßen zu. „ ich denke ich werde sie in Ruhe lassen.“
    Es war ein merkwürdiger Klang in seiner Stimme, der einen Verdacht in Kenzuke weckte:
    „ Du hasst es eigentlich, nicht wahr?“
    „ Was denn?“
    „ DEIN Schicksal. Deine Existenz als Himmelskind. In Wirklichkeit bereust du viele der Morde, die du begangen hast.“
    Fiffi drehte seinen Kopf weg und tat so, als würde er an einer Haarsträhne zupfen, um sein Gesicht zu verbergen.
    „ Einen Menschen zu töten ist kein Mord. Sie sind nur Wesen, die unsere Welt nach und nach zerstören und deswegen auch nicht zu ihr gehören. Sie sind wie Schädlinge oder unansehnliches Unkraut“
    Bei diesen Worten musste Kenzuke leise Kichern, so dass sich Fiffi einen Moment lang überrascht zu ihm drehte und man die Tränen in seinen Augen sah.
    „ Das glaubst du doch selbst nicht. Ich weiß, was in dir vorgeht. Und ich versuche es zu verstehen. Vielleicht, “ sagte er und sah in den bewölkten Himmel. „ Kann ich eines Tages vor dir stehen und behaupten, dass ich es wirklich tue.“
    Als hätte Kenzuke ihn geschlagen sprang Fiffi auf und sagte ungehalten:
    „ Wage es nicht dich anzumaßen zu denken, dass du mich verstehst! Du hast nicht die geringste Ahnung, was in mir vorgeht. Wie könntest du auch, als der Gefühlskrüppel, der du bist.“ Dann drehte er sich um und lief zurück in den Wald.
    Kenzuke war in der Tat ein „Gefühlskrüppel“. Vielleicht wäre es besser gewesen er hätte Jineh nie getroffen und seinen Fluch für immer bei sich getragen. Er sehnte sich regelrecht nach der unbeschwerten Zeit ohne Gefühle. Nicht nur er litt daran, dass der Fluch nun gebrochen war, sondern auch Jineh. Oder war der Fluch gar nicht gebrochen, sondern hatte erst begonnen? Was auch immer er tat, der Last seines Blutes konnte er nicht entfliehen. Wenn er wirklich seinen Frieden schließen und diesen Fluch brechen wollte musste er einen anderen Weg gehen. Einen weitaus härteren Weg. Aber er hatte keine Wahl, er musste handeln. Für sich, für Jineh... für ihren Weg.

    Als an diesem Morgen die Sonne aufging fiel zum ersten Mal Licht auf eine Welt, in der der alte Kreislauf von Neu und Alt nicht mehr galt. Denn nicht etwas Altes war gestorben, sondern etwas Junges und nicht etwas Neues war auferstanden, sondern etwas Totgeglaubtes zurück ins Leben gerufen. An diesem Morgen fiel das Licht in das Zimmer von Jineh und in Augen, die so kalt und gefühllos waren, wie die keines anderen Lebewesens. An diesem Morgen fiel Licht auf ein zerrissenes Foto, das am Ufer des Nao-Kai See lag. An diesem Morgen fiel Licht auf eine metallene Lilie, die am Grunde des Sees wie im Schlaf lag. Und auch auf den alten Weidenbaum, dessen letztes rotes Blatt vom Wind mitgerissen wurde und über den See wirbelte. In kleinen Flocken fiel Schnee auf die kahle Landschaft und verkündete den Anfang des Winters.
    Und das letzte Blatt des sterbenden Herbstes wurde vom Wind weit, weit weg getragen...



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