Krümels-Bücherwelt ...

... ein Literaturforum der anderen Art

Broeckhoven, Diane - Ein Tag mit Herrn Jules




Broeckhoven, Diane - Ein Tag mit Herrn Jules

Beitragvon Karthause » 21.03.2008, 12:40

Taschenbuch: 96 Seiten
Verlag: Rowohlt Tb
ISBN-13: 978-3499241550

Seit über 50 Jahren sind Alice und Jules verheiratet, liebgewonnene Rituale haben sich in dieser Zeit eingeschlichen. So steht zum Beispiel Jules früh auf, bereitet das Frühstück und Alice genießt in ihrer halben Stunde noch die Wärme des Bettes. Erst wenn der Kaffeeduft bis zu ihr dringt, steht sie auf. So ist es auch an diesem von Diane Broeckhoven beschriebenen Tag, aber doch ist alles anders. Es hat geschneit und Jules sitzt bewegungslos am Fenster. Eine Weile dauert es, bis Alice realisiert, Jules ist tot. Sie ruft nun aber nicht nach ihrem Sohn, nach dem Notarzt oder dem Bestattungsinstitut, sie will diesen letzten Tag noch mit ihrem Mann verbringen. Es gibt Dinge, die sie nach Jahren endlich einmal aussprechen möchte, sie nimmt Abschied auf ihre Art und Weise.

Dann um zehn Uhr kommt der autistische David zum täglichen Schachspiel zu Herrn Jules. Alice hatte vor der Reaktion des Jungen ein wenig Angst, aber er reagiert anders als erwartet, sieht nur noch Herrn Jules Hülle.

Eigentlich sollte dieses knapp 100 Seiten dünne Büchlein nur eine Zwischenlektüre zwischen zwei Büchern sein, ein Lückenfüller sozusagen. Es wurde aber viel mehr. Auf diesen wenigen Seiten gelang es der Autorin den Ablauf eines Tages zu schildern. Dabei entstanden trotz des ruhigen gefühlvollen Stils von Diane Broeckhoven keine Längen. An keiner Stelle kam Rührseligkeit auf. Trotz der Thematik des Todes und des Abschiednehmens, den tiefen Gedanken und der Trauer war das Buch sehr leicht zu lesen und vor allem nachzuempfinden. Diane Broeckhoven hat wieder einmal den Beweis erbracht, um Tiefe und Emotionalität zu erzeugen bedarf es nicht vieler Seiten, sondern nur einfühlsamer, unspektakulärer und sachlicher Worte. Aber meisten beeindruckte mich, wie sie es schaffte, den Leser zum Ende des Buches nicht in Trauer, sondern recht hoffnungsvoll zurückzulassen.

Elke Heidenreich nannte Ein Tag mit Herrn Jules „ein liebenswertes Buch“, dem kann ich mich in meiner Bewertung nur anschließen.

Inzwischen ist die Fortsetzung dieses Buches unter dem Titel Eine Reise mit Alice erschienen.

:stern: :stern: :stern: :stern: / :stern:

Bild
Viele Grüße
Karthause

Mein Blog

Fliegen kannst du nur gegen den Wind.
Benutzeravatar
Karthause
SuB-Betreuerin
SuB-Betreuerin
 
Beiträge: 7199
Registriert: 19.04.2006, 19:07
Wohnort: Niederrhein

von Anzeige » 21.03.2008, 12:40

Anzeige
 

Beitragvon tom » 21.03.2008, 18:01

Das hört sich toll an, danke!

Und erinnert mich total an eine Kurzgeschichte von Ralf Rothmann in dessen Erzählbändchen "Rehe am Meer". Es heisst glaube ich: "Willste Pasta" und darin ist die Rede vom Tod des geliebten... und den beginnenden Tag. Schau Dir das mal an - dicke Empfehlung!
tom
 

Beitragvon Karthause » 21.03.2008, 18:18

Danke für den Tipp, tom. Ich flitze jetzt direkt zu Amazon und werd' mal schauen.
Viele Grüße
Karthause

Mein Blog

Fliegen kannst du nur gegen den Wind.
Benutzeravatar
Karthause
SuB-Betreuerin
SuB-Betreuerin
 
Beiträge: 7199
Registriert: 19.04.2006, 19:07
Wohnort: Niederrhein

Beitragvon Pippilotta » 21.03.2008, 19:28

Ich habe "Ein Tag mit Herrn Jules" auch schon gelesen - offenbar in "Vorkürmels"-Zeiten :wink:

Mir hat das Büchlein ganz ausgesprochen gut gefallen! Ich habe ohnedies ein Faible für dünne, prägnante -aber gehaltvolle - Bücher, und dieses hier entsprach genau meinem Geschmack!

Eine in sich harmonische, tröstliche Geschichte, ohne Sentimentalitäten, ohne Herzschmerz, wunderschön in Worten gefasst. Mir hat der natürliche Umgang mit dem Tod gefallen, das "sich Zeit nehmen", noch einmal - ein paar Stunden - Abschied nehmen, das (gemeinsame) Leben Revue passieren lassen, Dinge verzeihen, andere Dinge noch loswerden -fernab von den Formalitäten rund um die Beerdigung usw.

Die Ehe der beiden war ja wohl nicht immer nur Sonnenschein, und Alice hat viel in sich hineingefressen, viel "nicht gesagt" aber es scheint eine sehr tiefe Liebe gegeben zu haben, und das zeigt sich auch an diesem letzten Tag. Einfach wunderbar, wie sie Jules noch einmal mit längst vergangenen Dingen konfrontiert und wie sie aus diesem letzten Tag Mut schöpft für die nächsten starken Tage und ihr Leben alleine.

Die Rolle des austistischen Jungen passt sehr gut ins Buch, wie der - vorerst unterschätzte - Bub die Dinge in die Hand nimmt und Alice in seiner Naivität (im positiven Sinn) und Unkompliziertheit über den Tag hilft.

Einfach schön. Dieses besonere Buch wird mir noch lange in Erinnerung bleiben!

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:
Herzliche Grüße
Pippilotta


T.C. Boyle - Wenn das Schlachten vorbei ist

Life is what happens to you while you are busy making other plans (Henry Miller)
Benutzeravatar
Pippilotta
Superkrümel
Superkrümel
 
Beiträge: 4894
Registriert: 19.04.2006, 16:52
Wohnort: ... im Himmel ...

Beitragvon Krümel » 21.03.2008, 19:35

Herr Jules ist beim Frühstückmachen verstorben, er sitzt auf der Couch im Wohnzimmer wie lebendig. Seine Frau nimmt sich einen ganzen Tag lang Zeit um sich von ihm zu verabschieden, und Dinge auszusprechen, die sie sich vorher nicht gewagt hat. Dazwischen oder ist es himmlische Fügung kommt Daniel, ein Autist, der die Schwere von Alice Gemüt nimmt.

Ein sehr anrührendes Buch, welches in wenigen Stunden gelesen, aber viele Gedanken für einen langen Zeitraum gebracht hat.
Mir wurde dabei bewusst wie viel Zeit uns nur geschenkt wird, bei einem normalen Ablauf, uns von unseren Lieben zu verabschieden (Sarg und weg). Und denke mir, dass frühere Zeiten ein ganz anderes Ritual innehatten, Leben und Tod gehörten gleichsam zum Alltag.
Dieses Buch kann ich wirklich empfehlen, kurz, aber tief.

Bewertung: :stern: :stern: :stern: :stern: / :stern:
BildLiebe Grüße,
Krümel



:lesen3: Klaus Mann - Mephisto
Gedankenwelten
Benutzeravatar
Krümel
Chefkrümel
Chefkrümel
 
Beiträge: 13522
Registriert: 18.04.2006, 23:00
Wohnort: Ostfriesland

Beitragvon tom » 21.03.2008, 22:34

Krümel hat geschrieben:Mir wurde dabei bewusst wie viel Zeit uns nur geschenkt wird, bei einem normalen Ablauf, uns von unseren Lieben zu verabschieden (Sarg und weg). Und denke mir, dass frühere Zeiten ein ganz anderes Ritual innehatten, Leben und Tod gehörten gleichsam zum Alltag.


Leicht off-topic: In meinem Lebensumfald wurde ich mit mehreren Toden konfrontiert und habe es als wunderbar und befreiend empfunden, dass wir die Möglichkeit hatten, den Toten IM HAUS zu haben bis zur Einbahrung, circa eine Stunde vor der Beerdigung.
Ich kann nur jedem raten, sich kundzutun, ob das nicht drin wäre...? Und unter welchen Umständen.
tom
 

Beitragvon Krümel » 21.03.2008, 23:41

tom hat geschrieben:Leicht off-topic: In meinem Lebensumfald wurde ich mit mehreren Toden konfrontiert und habe es als wunderbar und befreiend empfunden, dass wir die Möglichkeit hatten, den Toten IM HAUS zu haben bis zur Einbahrung, circa eine Stunde vor der Beerdigung.
Ich kann nur jedem raten, sich kundzutun, ob das nicht drin wäre...? Und unter welchen Umständen.


Also bei Holgers Opa Viktor, war das "wunderbar". Er lag nämlich in der kleinen Kapelle 3 ganze Tage aufgebahrt da, und Oma hatte "viel" Zeit sich zu verabschieden. Sie ist jeden Tag dreimal hingegangen.
BildLiebe Grüße,
Krümel



:lesen3: Klaus Mann - Mephisto
Gedankenwelten
Benutzeravatar
Krümel
Chefkrümel
Chefkrümel
 
Beiträge: 13522
Registriert: 18.04.2006, 23:00
Wohnort: Ostfriesland

Beitragvon Katia » 21.03.2008, 23:43

Tom: Ich kann das bestätigen! Als meine Großmutter vor ca. einem Jahr starb habe ich es auch als angenehm (?), natürlich (?), befreiend empfunden, mit der ganzen Familie noch zwei, drei Stunden bei ihr zu sitzen. Wir haben uns "normal" benommen, z.B. gegessen, auch mal "normal geredet" und es war, gerade im Nachhinein gesehen, schön, dass sie so noch ein letztes Mal mit uns zusammen war. Ich habe nie stärker empfunden, dass der Tod Teil unseres Lebens ist und ich glaube, wir sollten ihn nicht zu sehr aussperren! Für mich war das meine erste ernsthafte leibhaftige Auseinandersetzung mit dem Tod und ich habe viele Vorurteile abgeschüttelt und viel mehr akzeptiert, dass der Tod zum Leben gehört. Und ich hätte auch nichts dagegen gehabt, wenn diese Verabschiedungszeit ein wenig länger gedauert hätte, als die Krankenhausroutine nun mal so dauert. Daher finde ich das ein sehr interessantes Buch, das ich mir weit oben auf meine (imaginäre) Zu Kaufen-Liste schreibe!

Katia
Zuletzt geändert von Katia am 22.03.2008, 11:04, insgesamt 1-mal geändert.
Benutzeravatar
Katia
techn. Chefkrümel
techn. Chefkrümel
 
Beiträge: 3364
Registriert: 17.07.2006, 11:35
Wohnort: München

Beitragvon Karthause » 22.03.2008, 10:39

@Katia

Ich kann dir das Buch auch schicken, wenn du möchtest, melde dich.
Viele Grüße
Karthause

Mein Blog

Fliegen kannst du nur gegen den Wind.
Benutzeravatar
Karthause
SuB-Betreuerin
SuB-Betreuerin
 
Beiträge: 7199
Registriert: 19.04.2006, 19:07
Wohnort: Niederrhein

Beitragvon Katia » 22.03.2008, 11:05

Danke, Karthause, aber ich glaube diesmal schlägt mein Besitzdrang durch und ich werde es mir selbst kaufen!

Katia
Benutzeravatar
Katia
techn. Chefkrümel
techn. Chefkrümel
 
Beiträge: 3364
Registriert: 17.07.2006, 11:35
Wohnort: München



Ähnliche Beiträge


Zurück zu Belletristik/Unterhaltungsliteratur/Erzählung

Wer ist online?

0 Mitglieder

cron