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Barnes, Julian - Der Zitronentisch




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Barnes, Julian - Der Zitronentisch

Beitragvon chip » 15.01.2008, 12:41

„Ist man so jung wie man sich fühlte oder so alt wie man aussah? Das war heutzutage die große Frage, wie ihm schien. Vielleicht die einzige Frage.“

Julian Barnes betritt in diesem Erzählband den Landstrich, den ein Jeder von uns unumstößlich beschreiten wird - das Alter. Doch ab wann gilt dies für einen Selbst? Man durchlebt die Jugend, die mittleren Jahre und vollkommen nahtlos führt die Fährte geradewegs in den Schlund des Greisenalters. Hat man sich darin verfangen, wird das Leben dadurch keineswegs einfacher. Die Leidenschaften, die Sehnsüchte bleiben die Gleichen und abgelegte Dilemmas werden durch Neue ersetzt.

Die vorliegenden 11 Erzählungen befassen sich mit eben diesem Kerngedanken, komponiert durch die ganze Bandbreite an Tönen und Stimmungen, von romantisch bis modern, von sentimental bis grotesk. Schemenhafte Figuren im reifen Alter agieren auf engstem Raum, beanspruchen wenig Platz für sich, damit ihre Handlungen und Gedanken sich ungehindert entfalten können.

Im Alter fällt es einem leichter in die Vergangenheit zu blicken, als den Kopf geradeaus zu belassen. Sie verharren dort in der Ferne und fragen sich, ob ihr Leben sich anders entwickelt hätte, wenn er dieser Frau damals mutiger gegenüber getreten und ihr seine Liebe gestanden hätte. Die Liebe stellt in diesem Buch eine gewichtige Rolle dar, denn selbst im hohen Alter ist man davor nicht gefeit. Sie stehen vor ihrer Gunst, entledigen sich ihrer Reife und Überlegenheit und ähneln dem schüchternen Jüngling, der sie damals waren.

„Wie komme ich zu der Annahme, dass mit den Genitalien auch das Herz den Betrieb einstellt? Weil wir das Alter als eine Zeit der heiteren Gelassenheit sehen wollen – sehen müssen? Inzwischen glaube ich, dass das eine der großen Verschwörungen der Jugend ist. Nicht nur der Jugend, auch in mittleren Jahren, und das geht so weiter bis zu dem Moment, in dem wir zugeben, selbst alt zu sein. Und die Verschwörung ist umso größer, als die Alten unserem Glauben noch Vorschub leisten. Sie sitzen da mit einer Decke über den Knien, nicken ergeben und sagen jaja, ihre wilden Jahre seien nun vorbei. Ihre Bewegungen sind langsamer, ihr Blut ist dünner geworden. Das Feuer ist erloschen – oder zumindest wurde eine Schaufel Schlacke darauf geworfen für die bevorstehende lange Nacht.“

Von Männern wird hier berichtet, die zu den jährlichen Kriegsveteranentreffen gehen, um zu sehen, wer dort nicht erschienen ist. Verwitwete Frauen suchen sich Verbündete, um die triste Einsamkeit zu ertragen. Es treten Wahrheiten zutage, die zerreißen und vernichten - und ständig lauert der Tod im Hintergrund, darauf gefasst, seine Krallen auszufahren.

Barnes treibt in der Geschichte „Aufleben“ seinen Sarkasmus auf die Spitze, indem er als Kritiker die poetischen Briefe aus dem 19. Jahrhundert einer Korrespondenz zweier Verliebter in den heutigen, freizügigeren Umgangston übersetzt und dabei den feigen Mann für seine Untätigkeit ohrfeigt. Bei dem unglücklich Verliebten handelt es sich um den Dichter Turgenew.

"Mein Leben liegt hinter mir" schrieb er "und jene Stunde in dem Eisenbahnabteil, als ich mich beinahe als zwanzigjähriger Jüngling fühlte, war das letzte Aufflackern der Flamme."
Will er damit sagen, er hätte fast eine Erektion gehabt? Unser aufgeklärtes Zeitalter tadelt seinen Vorgänger für dessen Gemeinplätze und Ausweichmanöver, für die Funken und Flammen, das Feuer, das Zündeln im Ungefähren. [...] Die Hand geküsst! Sieht doch jeder, was du in Wirklichkeit küssen wolltest. Warum auch nicht? Und dann noch in einem fahrenden Zug. Da hättest du nur die Zunge an die richtige Stelle halten müssen, den Rest hätte der schaukelnde Zug für dich erledigt. Klack-klack-klack, klack-klack-klack!


Julian Barnes hat ein großartiges Buch geschaffen. Über die Tücken des Alters, über Vergängliches und Vergangenem, über Lebenslügen und bittere Wahrheiten, über Bedauern und Verzeihen und über die Enttabuisierung des Todes. Einfallsreich, überzeugend, witzig, dramatisch – mit der Fähigkeit, so unterschiedliche Empfindungen zu wecken. Die eingestreuten Botschaften, von dezent bis offensichtlich, runden Barnes grandioses Werk ab.

„Es gibt garantiert nur eine Möglichkeit, anderen garantiert nicht zur Last zu fallen, und zwar indem man im Sarg liegt, darum beabsichtige ich, weiterhin anderen zur Last zu fallen, um mich am Leben zu halten.“
:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Gruß,
chip

[url=http://www.amazon.de/Zitronentisch-Julian-Barnes/dp/3442735610/ref=sr_1_6?ie=UTF8&s=books&qid=1200401389&sr=1-6]Bild
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chip
 

von Anzeige » 15.01.2008, 12:41

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Beitragvon Pippilotta » 15.01.2008, 13:53

An Julian Barnes habe ich mich schon einmal versucht, genauer gesagt Die Geschichte der Welt in 12 1/2 Kapiteln - und wäre beinahe gescheitert.

Meiner Meinung nach schreibt er sehr anspruchsvoll, für mich vielleicht zu anspruchsvoll. Ich muss ehrlich gestehen dass ich wohl mitgekriegt habe, dass er etwas "vermitteln" will, ich allerdings nicht so recht zuordnen konnte, was er genau vermitteln will (... wenn ihr jetzt wisst, was ich meine).

Sind die Erzählunge im "Zitronentisch" zusammenhängend? Oder sind es einzelne, für sich stehende Geschichten? Die Thematik interessiert mich ja sehr, und Deine Rezi macht richtig Lust aufs Lesen!
Ich hatte den "Zitronentisch" auch lange auf meiner Wunschliste ... noch nach der Lektüre von "Die Geschichte der Welt...." habe ich es wieder gestrichen :oops:
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Beitragvon chip » 15.01.2008, 15:28

Hallo Pippi,

Seltsam, ich fand ihn eigentlich ganz leicht lesbar. Er ist beileibe kein Claude Simon :wink: Aber ernsthaft, das Buch setzt sich aus die Art Sätze zusammen, wie ich sie oben angeführt habe.
Die Geschichten sind nicht zusammenhängend. Die Epochen wechseln auch hin und wieder. Mal spricht ein älterer Mann über sein Schicksal, mal nimmt er einen (wirklich hervorragenden) Briefwechsel einer Frau, die nun im Altenheim sitzt.

In der ersten Erzählung schreibt er über den Friseurbesuch; erst aus der Sicht eines kleinen Jungen, der quengelnd herumzappelt, später als Teenager vor dem ersten Rendez-vous und zuletzt als älterer Herr, der sich endlich wieder an einen Gesprächspartner erfreuen darf.
Eine andere Geschichte erzählt von einem alten Ehepaar, die immer noch Geheimnisse voreinander haben.

Das Alter wird hier enttabuisiert, genauso wie den Tod. Und das tut er auf sehr gelungene Weise.

Gruß,
chip
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