Die Mitte der Welt

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    Re: Die Mitte der Welt

    Schattenwind - 04.10.2005, 17:48

    Die Mitte der Welt
    Prolog zu einem Tagebuch

    Manche Veränderungen kommen über Nacht. Du gehst abends zu Bett, schläfst ruhig und tief, und am folgenden Morgen erwachst du und stellst fest, dass alles anders ist als zuvor. Du kannst dir nicht erklären, was geschehen ist, denn die Sonne ist aufgegangen wie an jedem Morgen, und da hängt immer noch dieses Bild an der Wand, das du längst abhängen wolltest. Die Farben der Welt sind dieselben geblieben. Nur bei genauerem Hinsehen glaubst du zu entdecken, dass sie eine Spur heller oder dunkler als bisher erscheinen, doch das ist eine Täuschung: Es ist deine Wahrnehmung, die sich verändert hat, weil du selbst von heute auf morgen ein anderer geworden bist. Und deshalb hängst du jetzt auch dieses verdammte Bild ab.
    Andere Veränderungen kündigen sich an. Du spürst sie auf dich zukommen, langsam und unabwendbar wie den Wechsel der Jahreszeiten. Kleine und große Ereignisse gehen solchen Veränderungen voraus, die in keinerlei Zusammenhang zu stehen scheinen. Doch irgendetwas im hintersten Winkel deiner Psyche setzt diese Ereignisse und ihre Folgen geduldig zusammen wie ein Puzzlespiel, und im selben Maße, wie das Puzzlebild Gestalt annimmt, vollzieht sich in deinem Inneren ein Wandel, Stück für Stück, Schritt für Schritt: eine Art unbemerkter, zweiter Geburt.
    A.Steinhöfel - The one and only, sometimes



    Re: Die Mitte der Welt

    Schattenwind - 05.10.2005, 12:47


    Traumtänzerin

    Ich kann es alles nicht mehr hören. Die ewigen Gedanken flüstern, von einem alten, verstaubten Band, das ich zerschneiden konnte, wie ich wollte, zusammengefügt worde es immer. Braunes Diapapier, flackernd an einer weißen Leinwand, Bild für Bild und ich sitze auf einem klapprigen Holzstuhl, festgekettet, kraftlos. Manchmal sind die Bilder zerstört, manchmal von erschreckender Unversehrtheit, haben nicht einmal einen Schleier aus Staub nach so vielen Jahren. Nein! Nicht wieder, nicht schon wieder, all diese Gesichter, all dieses Lachen und Lächeln! Welches der tiefste Dolchstoß war, den ich hatte keinen Schutz.
    Irgendwann stehe ich auf. Einfach so. Schließlich kenne ich diese Bilder, habe mich von ihnen ernährt, sie waren meine Welt und ich in ihr gefangen. Traumtänzerin auf dünnem Eis, das irgendwann brach, natürlich.

    This is not Hollywood, this is reality

    Sagte man mir einmal, vor langer Zeit. Traumtänzerin verstand nicht, malte sich mit Tränenfarben bunte Schlösser und riss sie ein, als sie eh nur noch Ruinen waren und eh zerfallen wären. Das Leben ist nicht simpel und am Ende küsst die Braut nicht immer den Bräutigam, der Vorhang fällt nicht. Es gibt keinen kosmischen Applaus und niemanden, der den Müll nach der Vorstellung wegräumt.

    Was bleibt mir noch übrig, als die Realität zu lieben?

    Las ich und wollte nicht verstehen. Traumtänzerin träumte vor sich hin. Und sie träumte nicht nur schöne, warme Liebesträume, sondern erschuf auch die furchtbarsten Ungeheuer, die genauso wenig zerstört werden wollten, wie die zarten, schillernden Seifenblasen.

    Traumtänzerin hat nicht verlernt zu träumen. Allerdings sucht sie sich diesmal festeres Eis, bindet sich die Schlittschuhe gut und feste.

    Eine andere Vorstellung beginnt. Der Müll ist weggeräumt und ich applaudiere mir selbst.



    Re: Die Mitte der Welt

    Schattenwind - 06.10.2005, 13:00


    Eistränen

    Sag mir, wie sind deine Tränen, Prinzessin aus Eis. Wie ist es, in leeren hohlen Räumen zu stehen, diese Blicke zu spüren, sie abprallen zu lassen, an deiner weißen, reinen, kalten Haut? Es hat mich immer erstaunt, wie ebenmäßig zu warst, mit deinen runden Wangen und den Rehaugen, wachsam, immer ein wenig lachend.

    Die Krähen schrein
    Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
    Bald wird es schnein. -
    Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat!

    Ich weiß, dass du es liebst, dieses Wetter, wenn du wieder die Rollkragenpullis aus dem Schrank zerren darfst. Ich schreie nach der Heimat in meinem Herzen und je mehr ich mich zu Hause fühle, desto enger wird der Raum, desto eingesperrter fühle ich mich. Sag, Prinzessin, hast du sie auch gefunden, den Ort in deinem Herzen, den dir niemand nehmen kann, kein Mensch, nicht einmal einer, den du liebst?

    Der Morgen ist hell und sonnig.
    Nun stehst du starr,
    Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
    Was bist Du Narr
    Vor Winters in die Welt entflohn?

    Die Sonne streichelt die Blätter, stolz und ein wenig sehnsüchtig, so wie es Mütter tun, wenn sie ihre Kinder zum ersten Mal in die Schule schicken. Alles stirbt einmal, alles vergeht, jeder Schritt ist einer vorwärts, denn man nie wieder zurück gehen kann. Siehst du zurück, Prinzessin? Auf das Mädchen, dass einmal sterben wollte? Ich habe Narben an deinen Armen gesucht, damals, ich fand sie nicht. Du bist geflohen, du bist genauso wie ich zerbrochen und erfroren, etwas in uns ist aus Eis.

    Die Welt - ein Tor
    Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
    Wer das verlor,
    Was du verlorst, macht nirgends halt.

    Verlust und Wehmut, eine vergangene Zeit und die Traumruinen, die wir schufen. Zerbröckelt, vielleicht, zersprengt. Du warst immer ein wenig abseits, immer ein wenig fremd. Ich weiß nicht, was du zurücklassen musstest. Ich kann mich nur noch an dieses eine Mädchen erinnern, das du mir einmal zeigtest und ich spürte, was hinter deinen Worten schlummerte.

    Nun stehst du bleich,
    Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
    Dem Rauche gleich,
    Der stets nach kältern Himmeln sucht.

    Verflucht, nein, nur manchmal nimmt das Schicksal mehr, als man geben kann. Immer wieder, ein Teufelskreis, schwindelnd, fallend, manchmal. Nach Kälte suchend, denn sie vermisst man am Wenigsten, wenn man sie verliert. Kälte und lodernde Innenwelt, immer noch nicht tot, immer noch schmelzend das Eis, das sie umgibt.

    Flieg, Vogel, schnarr
    Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! -
    Versteck, du Narr,
    Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

    Obwohl immer noch jünger, als du es warst, weiß ich, was du fühlst. Und fühltest. Lange Zeit hielt ich dich für unsensibel, den Eisblock, der du sein wolltest. Aber jetzt - nein. Gerade die, die am intensivsten spüren, gerade die werden zu Eis, denn das Herz, es blutet genug, man muss es nicht auch noch allen Blicken und Händen ausliefern, es ganz ausbluten lassen. Ich weiß noch, wie deine Augen geleuchtet haben, als du von ihr gesprochen hast. Züngelndes Feuer. Es tat mir nicht einmal weh. Ich verstand nicht, wie Augen so brennen konnten, bei all diesem Eis und all dieser Distanz.

    Die Krähen schrein
    Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
    Bald wird es schnein. -
    Weh dem, der keine Heimat hat.

    Bald wird es schneien, bald ist der Winter da und ich sehe den Blättern zu, wie sie mir sagen, bald sind es zwei Jahre. Drei Monate sind es jetzt, seit dem Tag, als du ein wenig in den Hintergrund rücktest. Ich weiß es noch, ich sah morgens auf dein Bild an meiner Wand und fragte mich, ob es jetzt vorbei war. Nein. Es ist nicht vorbei. Das wird es nie sein.

    Liebe vergeht nicht. Sie verändert nur ihre Form.

    In Kursiv: Friedrich Nietzsche - Vereinsamt (ihr Lieblingsgedicht)



    Re: Die Mitte der Welt

    Schattenwind - 10.10.2005, 12:54


    Heimkehr

    Ich setzte mich hin, schlug die Beine übereinander. Klappte das Buch auf und las. Noch ein kurzer Blick aus dem Fenster. Nicht mehr. Lesen. Buchstabe für Buchstabe. Nicht denken. Nicht jetzt. Als der Zug losfuhr, Seite 20. In etwa. Dunkles Köln, Lichter am Bahnsteig, wie damals. Die Welt wäre viel schöner, wenn in den Straßenlaternen Kerzen funkeln würden. Ein kurzer Blick. Schräg gegenüber sitzt ein Typ, vielleicht ein paar Jahr älter als ich und starrt auf meinen Schal. Er versucht rauszufinde, ob ich Brust habe. Ein Blick in seine Augen genügt. Ich lasse den Schal, wo er ist. Lesen.
    Einmal schau ich mich in dem schmutzigen Glas an und wieder schießen die Tränen in die Augen. Die letzte Stunde verbrachte ich in dem Gedanken Jetzt bloß nicht heulen. Immerhin. Bis jetzt geschafft. Eine Träne aufs Papier, ich höre sie ganz deutlich aufschlagen, ganz dumpf. Ich streiche über meine Wange. Meine Finger zittern. Das nächste Mal klar denken kann ich nach dreißig weiteren Seiten. Keine Tränen mehr. Der Schaffner kommt, er ist hübsch und zu nett für einen Sonntagabend. Ich gebe ihm mein Ticket. Es ist ganz zerknittert. Normalerweise wäre mir das unangenehm, jetzt ist es mir scheißegal. Ich gebe es ihm, lächel, er gibt es zurück. Ich drücke mich fest in den Sitz. Wäre gern ein wenig anders, jetzt, wäre gerne irgendein abgefucktes Mädchen, das von einer Drei-Stunden-Bettgeschichte nach Hause kommt, eben auf dem Bahnhof ihrem Lover noch einmal die Zunge in den Hals schob. Ich würde jetzt gerne rauchen. Die Beine übereinander, das Buch fort, rauchen und den Rauch gegen das Fenster blasen. Mir über die Lippen lecken und den Schal beiseite schieben, ganz vorsichtig. Ich schaue über meinen Sitz. Nichtraucher-Abteil. Das Leben ist hart.
    Drei Stationen rauschen an mir vorbei, eine halbe Stunde. Ich weiß nicht, was ich fühle. Zum ersten Mal seit langer Zeit. Keinen Schmerz, nicht einmal Eifersucht, keine Wut. Aber wenn ich nichts fühlen würde, dann wären die Tränen nicht da, pochend und drückend in meinem Hals. Es dauert eine Weile, bis ich das Wort habe. Traurigkeit. Eine dickbreiige Traurigkeit, erfüllend jeden Millimeter von mir. Ich könnte ewig in diesem Zug sitzen. Ich hätte noch sieben Stunden Zeit. Würde es noch gut bis zu Kathi zurück schaffen. Oder zu Sergej fahren, einfach so, er würde sich bestimmt freuen. Oder nach Hamburg. Ja. Sogar das würde ich noch schaffen, hoffe ich. Ich wäre jetzt gern in seinem Arm.
    Aber ich bleibe sitzen und steige aus. Opa wartet auf mich. Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange. Andere Welt. Hier. Ganz anders. Wir steigen ins Auto. Das Radio an. Enjoy the silence. Das Original. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Am besten beides. Beides innerlich. Ich denke an Romy. Danke ihr dafür, dass ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man nach Hause kommt und nicht weiß, ob man jemanden wieder sieht. Bald, denke ich, bald siehst du sie wieder und jetzt stell dich nicht so an.
    Auf einem Zug, der mittags an uns vorbeifuhr stand: Ein Tipp: Schenkt ein bisschen Liebe.
    Enjoy the silence. Die Maxi-Version.
    Vorgestern habe ich die Schachtel meiner ersten Klingen gefunden und erst in diesem Augenblick habe ich die riesige, schwarze Aufschrift gesehen. Made in Solingen.
    Irgendwo ganz weit da oben sitzt ein alter Mann mit einem Bart auf einer kleinen Wolke und lacht sich mächtig tot über mich.
    Und ich lache mit.



    Re: Die Mitte der Welt

    Schattenwind - 12.10.2005, 01:40


    Sumpf

    Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht, wie ich mich heute fühle. Medizinische Ausdrücke verlieren ihren Reiz. Alles verstummt, ein wenig, alles ein wenig fort, weit fort, der Schmerz bleibt, wie immer. Ein wenig verwischt, die Sicht, nicht einmal von Tränen, denn die rínnen an solchen Tagen nicht. Nebel. Nebelschwaden. Innerseelisch. Dunst. Erstickte Zeit. Nebelzeit.

    Es war der 02.01.04 und wir saßen in ihrem Zimmer, ich auf der hellblauen Matraze, sie auf ihrem Bett. Sie hatte ihren Malblock in der Hand und zeichnete. Mit Bleistift. Manga. Einen Mann. Wie immer. Wir sahen 'Die unendliche Geschichte". Erster Teil. Ich saß da, verzweifelt, sah auf die Uhr, wusste nicht, wann ich sie wieder sehen würde. Wir schauten uns das an, sie malte, ich weinte, innerherzlich.
    Dieser Junger mit diesem Pferd. Die Sümpfe der Traurigkeit. Das weiße Pferd, das steckenblieb, dass die Traurigkeit bis zu seinem Herzen dringen ließ.

    Heute. Ein wenig erstickt. Morgen? Wer weiß das schon. Ertrinken, nein, das hätte ich gekonnt und ich bin wieder aufgestanden, bildlich und wörtlich. Ich hätte es tun können. Und ich habe es nicht.

    Nebel verschwindet. Hoffnung vergeht. Realitäten schmerzen.

    Aber das Leben geht weiter.



    Re: Die Mitte der Welt

    Schattenwind - 23.10.2005, 13:00


    Abschied, seltsamer

    Das hättest du nicht tun dürfen. Alles hättest du mir sagen können, mir jeden Bluttropfen auffangen und ich mein Gesicht spucken können, aber nicht das.
    Gab es einmal ein "wir"?

    Du weißt, wie einsam ich mich fühle. Du weißt, was an mir nagt und wie sehr es beißt. Ich habe dir einmal erzählt, ich würde alles tun, um nicht mehr so schrecklich allein zu sein.
    Du hättest es nicht gegen mich verwenden dürfen.

    Über andere Dinge habe ich nicht viel erzählt. Nur dann, wenn du gefragt hast. Ich wollte dir nicht weh tun und wusste doch, dass ich es doch eh tu, so oder so.

    Nein. Ich bin nicht nur ein Stück Fleisch, dass man in die Ecke stellen kann, wenn man es nicht mehr braucht. Nein. Es ist eine Frechheit, dass du das ihr vorwirfst, obwohl du selbst genau das willst. Es ist eine Frechheit, dass du R. bespuckst. Mir sagst, wie sehr ich die beiden hassen sollte.

    Es ist eine Frechheit, dass du genau wusstest, wie ich reagieren würde. Dass ich wieder zwei Tage dort war, wo ich nie wieder sein wollte, dass plötzlich der Kampf der letzten zwei Monate umsonst gewesen ist.

    Du wolltest, dass ich die beiden von mir streife und dich nehme. Ergebnis: Nun bist du fort.

    Du wirst mir fehlen. Somehow.

    Wenn es nur nicht so weh tun würde.



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