WT; Martin Sticker: Ockhams Razor (Exposé)

Dubito
Verfügbare Informationen zu "WT; Martin Sticker: Ockhams Razor (Exposé)"

  • Qualität des Beitrags: 0 Sterne
  • Beteiligte Poster: sepsis - Jan - martin sticker
  • Forum: Dubito
  • Forenbeschreibung: Provisorisches Forum des philosophischen Magazins. (URL: http://www.dubito.tk)
  • aus dem Unterforum: Ausgabe 1: Demokratie, quo vadis?
  • Antworten: 5
  • Forum gestartet am: Samstag 21.04.2007
  • Sprache: deutsch
  • Link zum Originaltopic: WT; Martin Sticker: Ockhams Razor (Exposé)
  • Letzte Antwort: vor 16 Jahren, 7 Monaten, 25 Tagen, 6 Stunden, 39 Minuten
  • Alle Beiträge und Antworten zu "WT; Martin Sticker: Ockhams Razor (Exposé)"

    Re: WT; Martin Sticker: Ockhams Razor (Exposé)

    sepsis - 16.08.2007, 14:47

    WT; Martin Sticker: Ockhams Razor (Exposé)
    Ockhams Razor

    Die Geburt der Rationalität aus dem Geist der Ästhetik




    Mein Essay soll thematisch die Bereiche Wissenschaftstheorie, Logik und Ästhetik behandeln. Ausgangspunkt wird eine kurze Darstellung von Kuhns „The Structure of Scientific Revolutions“ sein. Nach diesem Konzept ist Rationalität immer an bestimmte Leitparadigmata gebunden und Rationalität außerhalb dieser Paradigmata existiert nicht. Dies wirft die Frage auf, wie wir verschiedene, eigentlich inkommensurable Paradigmata miteinander vergleichen können, bzw. warum wir überhaupt ein Paradigma dem anderen vorziehen können. Kuhn sagt dazu, dass die Entscheidung zwischen Paradigmata auch durch „the individual’s sense of the appropriate or the aesthetic” geschehen könnte, d.h. er deutet die Möglichkeit an, dass die Ästhetik in die Bresche springen könnte, wenn die Rationalität versagt.
    Wie man sich eine solche ästhetische Basis der Rationalität denken kann, soll im Folgenden anhand von Ockhams Razor, der Forderung, dass von zwei Hypothesen, die gleich viel erklären, die einfachere zu bevorzugen sei, zu demonstrieren versucht werden. Ockhams Razor ist dafür aufgrund von zwei Eigenschaften geeignet: (i) Er ist zumindest logisch nicht zu rechtfertigen (ii) aber dennoch ein unverzichtbares Instrumentarium für eine wissenschaftliche Welterfassung.
    Rein formal logisch betrachtet, gibt es keinen Grund Ockhams Razor zu akzeptieren. Ja er schneidet sich sogar mit der Disjunktionsintroduktion, d.h. der Möglichkeit an jede Aussage ein weiteres Disjunkt dran zu hängen. Daher ist es formallogisch vollkommen unbedenklich, Aussagen gehaltlos zu machen, indem man sie um beliebig viele Glieder anreichert.
    Diese logisch gerechtfertigte Vorgehensweise beißt sich jedoch mit dem Anspruch der Wissenschaft, Hypothesen aufzustellen, die nicht unendlich lang sind, sondern ganz bestimmte Erklärungen für ihren Gegenstandsbereich liefern. Die Paradoxie ist nun die, dass unendlich lange Hypothesenketten, die formal logisch erlaubt sind, einerseits für Wissenschaftler besonders attraktiv wären, da es reicht, wenn eines ihrer Disjunkte, d.h. eine der in ihnen kredenzten Erklärungen wahr ist, um die gesamte Aussage wahr zu machen, also eine wahre Hypothese aufgestellt zu haben. Andererseits sind solche Aussagen aber gehaltlos, weil sie neben der einen richtigen Erklärung auch eine große Menge an falschen Erklärungen liefern und aus der Aussage selber nicht hervorgeht, welches die richtige Erklärung ist.
    Um das Ganze zu veranschaulichen: Die Behauptung (1) „Die menschliche Spezies entstand durch einen Evolutionsprozess oder hat schon immer existiert oder verdankt sich einem intelligenten Schöpfer …“ ist der Aussage (2) „Die menschliche Spezies entstand durch einen Evolutionsprozess“ insofern überlegen, als dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie wahr ist, höher liegt, weil sie nicht nur in dem Fall, dass Darwin Recht hatte, zutrifft, sondern auch wenn Aristoteles mit seiner These von der Unvergänglichkeit der Arten oder irgendwelche verrückte Amerikaner Recht haben. Andererseits ist aber durch das Wahrsein von Behauptung (1) noch fast nichts gesagt, durch ihre Wahrheit ist nichts gewonnen. Der Wissenschaftler muss Wahrheitswahrscheinlichkeit opfern, um zu der gehaltvolleren Aussage (2) zu kommen, aber warum er das tut, kann er nicht formal logisch begründen, da die Logik uns nicht zwingt, dass die Sätze, die sie behandelt, auch einen Gehalt besitzen.
    Gehalt kommt in Aussagen durch das Prinzip vom Ockhams Razor, das fordert, dass unter mehreren Erklärungen die gehaltvollste, d.h. die, die auf dem engsten Raum genauso viel erklärt wie die anderen auf mehr Raum, bevorzugt wird. Dieses Prinzip ist aber, da es sich mit der Disjunktionsintroduktion schneidet, nicht logisch begründbar. Die Frage ist also: Auf welcher Basis sind wir gerechtfertigt logische Erlaubnisse, wie die unsere Hypothesen beliebig lang zu machen, einzuschränken? Zwei Möglichkeiten bieten sich an: (1) die normative und (2) die ästhetische.
    (1) Ockhams Razor kann schon deshalb kein logisches Gesetz sein, weil es eine Forderung ist. Logische Gesetze sagen uns was wir können, nämlich dies und jenes mit Junktoren anstellen, Ockhams Razor sagt uns, was wir tun sollen nämlich die schlankere Theorie wählen. Hiermit erinnert es dem Anspruch nach an einen deontischen Satz, der uns Verpflichtungen vorschreibt, die in der Regel moralischer Natur sind, aber möglicherweise haben wir mit Ockhams Razor eine Verpflichtung vor uns, die keine Bedingung der Möglichkeit der Moralität, sondern der Wissenschaft ist.
    (2) Der Minimalismus, den Ockhams Razor fordert, ist eigentlich kein wissenschaftliches, sondern ein ästhetisches Konzept. Ezra Pound behauptete, dass „Dichten“ von „Verdichten“ käme und meinte damit, dass es in der Literatur darum ginge, Dinge auf den Punkt zu bringen, ihr Wesen zu erfassen, d.h. möglichst gehaltvolle Aussagen zu tätigen. Auch in den bildenden Künsten ist es zumindest eine wichtige Richtung, Dinge aus ihrem Kontext zu isolieren und so darzustellen, dass ihr Wesen zum Vorschein kommt. Sowohl Kunst als auch Wissenschaft wollen ihre Gegenstände möglichst gehaltvoll darstellen bzw. möglichst gehaltvolle Aussagen über sie treffen.
    In der Entscheidung für ein Leitparadigma, das Ockhams Razor folgt, scheint also letztendlich der Wunsch durch die Welt so scharf und konturiert zu erfassen, wie ein Kunstwerk dies tun kann, indem vom Unwesentlichen, Überflüssigen abgesehen und sich auf das Wesenhafte konzentriert wird.

    Der Gedanke Ockhams Razor als nicht logisch begründbare Basis der Rationalität zu interpretieren entstammt ursprünglich einer Hausarbeit über Hegel, die ich bei Herrn Hogrebe schrieb. In dieser Hausarbeit habe ich die Idee nur en passant erwähnt und gedenke sie in meinem Artikel, der sich im Grunde mit der Frage beschäftigt, ob die wissenschaftliche Rationalität autosuffizient ist, oder außerwissenschaftliche Grundlagen braucht, auszuführen. Da das Ende meines Artikels noch nicht konzipiert ist, was man vielleicht dem Exposee anmerkt, bin ich für Anmerkungen, Anregungen und Kritik offen und dankbar, mein Hauptproblem sehe ich im Augenblick darin Ockhams Razor tatsächlich als ein ästhetisches Prinzip zu etablieren, da mir bislang nur klar zu sein scheint, dass es kein rationales Prinzip in einem engen, formal-logischen Verständnis von Rationalität sein kann.



    Re: WT; Martin Sticker: Ockhams Razor (Exposé)

    Jan - 17.08.2007, 20:50


    Hi Martin,
    ich habe da nen paar Punkte, die ich gern ansprechen würde…
    1. Ich finde den Vergleich zwischen formallogischer Disjunktions-Introduktion und wissenschaftlicher Praxis für nicht gerechtfertigt, da damit 2 unterschiedliche Ebenen vermischt werden. Die Logik beschäftigt sich mit der Struktur, während die Wissenschaft sich mit der inhaltlichen Seite auseinander setzt. Ich denke du vereinheitlichst damit Dinge, die nich zusammen gehören.
    2. Ist Ockhams Razor nicht spätestens seit Quine ein Inbegriff für Pragmatismus? Damit hat es doch von sich aus gar nicht den Anspruch ein logisches Gesetzt zu sein und daher versteh ich nicht so ganz, warum du genau das zu zeigen versuchst. Oder verwendest du einen anderen Begriff, als ich? (Ich würde vllt. Den Begriff zu Beginn mal definieren.)
    3. Da in der Philosophie Ästhetik auch als eine Theorie über die gesamte Wahrnehmung verstanden wird könntest du doch vllt. dort ansetzten. Durch den pragmatischen Gehalt des Razors wird doch die Beschreibung der Welt beeinflusst und somit die Wahrnehmung. Ein Beispiel: Ich könnte Wärme als kinetische Energie beschreiben. Oder ich könnte Wärme als (kinetische Energie ODER Wurstwasser) beschreiben. Die erste Variante schließt „Wustwasser“ aus und somit wird es in unserer Überlegung über Wärme zunächst nicht mehr vorkommen. Dadurch wurde unsere Sichtweise (=Wahrnehmung) verändert. (Ich hoffe der Punkt ist klar geworden, falls nicht denk ich noch mal in Ruhe über eine Beschreibung nach^^)
    Ich hoffe ich konnte dir ein paar Anregungen liefern.

    Jan



    Re: WT; Martin Sticker: Ockhams Razor (Exposé)

    martin sticker - 19.08.2007, 12:19


    Hi Jan

    Danke für dein feedback. Kurz zu den einzelnen Punkten

    3) Mit dem Hinweis dass aisthesis ursprünglich Wahrnehmung heißt, hast du natürlich Recht, dass wollte ich auf jeden Fall auch erwähnen. Kant benutzt in seiner ersten Kritik den Terminus noch in diesem Sinne in seiner dritten jedoch nicht mehr und seitdem ist ästhetisch auch auf das beschränkt, was wir heute darunter verstehen. Ich bin mir daher nicht sicher, ob man aus dieser Etymologie so viel machen kann und frage mich, ob „Ästhetik“ nicht einfach äquivok ist, d.h. in seiner alten Bedeutung „sinnlich“ meinend und in seiner neuen einfach die Theorie des Schönen bzw. der Kunst bezeichnend. Herr Hogrebe geht übrigens ziemlich auf diesen Umstand, dass Ästhetik eine Art des Weltbezuges ist, ab und postuliert deswegen gerne mal, dass unser primärer Weltbezug nicht theoretisch, rational oder begrifflich, sondern ästhetisch wäre. Aber ich finde wie gesagt, dass er „ästhetisch“ hier äquivok benutzt.
    2) In meinem Exposee hätte eigentlich herauskommen sollen, dass das interessante an Ockhams Razor ist, dass er gerade kein logisches Gesetz, sondern eine für Wissenschaft notwendige Ergänzung oder Einschränkung von logischen Gesetzen ist. Wahrscheinlich muss ich das noch deutlicher machen.
    Kannst du mir vielleicht sagen, wo Quine sich zu Ockhams Razor äußert? Ich kann mich nicht erinnern, dass er in „Wort und Gegenstand“ und „From a logical point of view“ was dazu sagt. Ich muss sagen, dass ich den Pragmatismus irgendwie unbefriedigend finde, weil er immer noch die Frage offen lässt, warum gerade dies und nicht etwas anderes praktisch ist.
    Ich hatte natürlich vor, den Begriff von Ockhams Razor zu definieren, du hast also ganz Recht, dies noch einmal explizit einzufordern.
    1) Ich sehe diesen Punkt etwas anders. Du hast natürlich Recht, dass sich Logik nur mit der Struktur oder Form befasst, aber ich würde nicht sagen, dass die Wissenschaft nur mit dem Inhalt zu tun hat. Natürlich interessiert uns an wissenschaftlichen Aussagen vor allem ihr Inhalt, aber die Wissenschaft ist auch den Gesetzen der Logik und damit eigentlich auch der Disjunktions-Introduktion unterworfen, sonst könnte sie ihren Inhalt durch unlogische Folgerungen erhalten und das würden wir nicht akzeptieren. Inhalt der Sätze und die Form ihrer Verknüpfung sind beides Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft und in der Wissenschaft vereint sich die Form und die Inhaltsebene, da Theorien immer eine Form der Verknüpfung, eine Struktur und etwas, das verknüpft wird, einen Inhalt haben. Meine Idee ist glaube ich einfach die, dass ein Vergleich von Disjunktions-Introduktion und Praxis gerechtfertigt ist, weil die Wissenschaft zumindest dem Anspruch nach, formalogischen Gesetzen folgen muss, um gerechtfertigt zu sein. Die Logik von der Praxis abzukoppeln hieße, zu behaupten, die Praxis ginge vollständig unlogisch vor und das würden ihrem Selbstverständnis nach die meisten Wissenschaftler doch bestreiten.

    Ich habe deiner Kritik angemerkt, dass ich einige Stellen noch weiter ausführen und klären muss und ich vielleicht etwas zu der pragmatistischen Interpretationsalternative von Ockhams Razor sagen sollte.
    Vielen Dank auf jedem Fall, dass du dich mit meinem Exposee auseinander gesetzt und mich auf einige Probleme und Schwächen aufmerksam gemacht hast.

    Martin



    Re: WT; Martin Sticker: Ockhams Razor (Exposé)

    Jan - 22.08.2007, 17:36


    Ich weiß ncih mehr, wo genau das Quine anspricht - er geht da auch nur am Rande drauf ein.
    Zum Pragmatismus: Die Frage nach dem warum kann der Pragmatismus doch eigentlich nicht beantworten, da es ja eine Handlungsanweisung ist, welche nicht inhaltlich sondern nur methodisch motiviert ist, oder siehst du das anders?



    Re: WT; Martin Sticker: Ockhams Razor (Exposé)

    martin sticker - 25.08.2007, 11:52


    Ich muss sagen, dass ich mich mit dem Pragmatismus zu wenig auskenne, aber ich frage mich, ob es wirklich ein trifftiges Argument ist, einfach zu behaupten, etwas sei keine inhaltliche, sondern eine methodische Vorschrift, weil dann immer noch die Frage offen bleibt, warum gerade dies eine Vorschrift ist und nicht beispielsweise das genaue Gegenteil oder etwas ganz anderes. Deshalb müssen auch methodische Vorschriften gerechtfertigt werden, oder wir könnten uns alles mögliche vorschreiben, was auf einen Irrationalismus heraus liefe.
    Mein Problem mit dem Pragmatismus ist, dass ich ihn für naiv halte, weil er den Begründungsregress einfach damit abbricht etwas als praktisch zu posutlieren. Das ist philosophiehistorisch natürlich nicht ohne Vorbilder, selbst Kant kann Freiheit, Gott und Unsterblichkeit der Seele nur durch Verweis auf die Praxis etablieren, aber Kant beantwortet die Frage, warum gerade diese Postulate und keine anderen praktisch sind.
    Kurz: Ich finde, auch methodische Anweisungen müssen sich die Frage nach dem Warum gefallen lassen, wenn sie nicht irrational sein wollen. Dass der Pragmatist eine solche Frage nicht beantworten kann, mag sein, dafür kenne ich den Pragmatismus zu wenig, aber wenn er das nicht könnte, spräche das meiner Meinung nach gegen den Pragmatismus.

    Ich lasse mich aber gerne von dir über die Feinheiten des Pragmatismus aufklären, wahrscheinlich ist es ohnehin problematisch, dass wir von "dem Pragmatismus" sprechen, weil es sich ja auch bei ihm um eine Ansammlung unterschiedlicher Ansichten mit gewissen Gemeinsamkeiten handelt.



    Mit folgendem Code, können Sie den Beitrag ganz bequem auf ihrer Homepage verlinken



    Weitere Beiträge aus dem Forum Dubito

    VHS Bonn: Grundlagen der Pressearbeit - gepostet von Lena am Dienstag 28.08.2007
    online! - gepostet von Dustin am Freitag 07.09.2007



    Ähnliche Beiträge wie "WT; Martin Sticker: Ockhams Razor (Exposé)"

    VTI-S Sticker - loop (Mittwoch 23.08.2006)
    Panini WM Sticker - aselage (Freitag 05.05.2006)
    Sticker - Nachtperle (Sonntag 06.01.2008)
    Sticker - Lorener Phoenix (Mittwoch 04.07.2007)
    So viele Klassiker gibt es.... - kadett aero (Samstag 21.05.2011)
    Letzer Aufruf Wolfgansee und Hexenwanderung - Eva-Maria (Montag 30.05.2011)
    Suche Tierpostkarten und Sticker - Tanja (Samstag 19.03.2005)
    Karte mit Sticker - nadine (Montag 27.08.2007)
    Zukunft von Extreme Exposè - JM Hardy (Dienstag 13.11.2007)
    180 Sticker 3 DIN A4 Bögen Hello Kitty Sticker - mannick (Dienstag 29.03.2005)