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M.M.Hanel - 09.04.2008, 00:18ISLAMBASHING - kommentiert MOHSEN MASSERAT
Freitag 14, 04. April 2008
Mohssen Massarrat
Islam-Bashing
wird zum
Volkssport
Dokument der Woche
Offener Brief an den Bundesminister des Inneren, Dr. Wolfgang Schäuble, zur Integration der
moslemischen Minderheit in Deutschland
Der islamfeindliche Film Fitna (»Spaltung«) des niederländischen Oppositionspolitikers
Geert Wilders wird allenthalben als Aufruf zum Hass empfunden. Auch in Deutschland
mehren sich Tendenzen, die moslemische Minderheit zu diskreditieren und als
Bedrohung der Mehrheitsgesellschaft darzustellen. Dieser Kulturkampf erfasst nicht
zuletzt die von Wolfgang Schäuble (CDU) geleitete Islamkonferenz. Aus diesem Grund
hat der Osnabrücker Sozialwissenschaftler Mohssen Massarrat in dieser Woche dem
Innenminister einen Offenen Brief zukommen lassen, den wir leicht gekürzt
dokumentieren.
Sehr geehrter Herr Minister,
ich lebe seit 1961 in Deutschland und fühle mich, dank meiner privilegierten Stellung als Akademiker, voll in die
deutsche Gesellschaft und meine Fachwelt integriert und akzeptiert. Hinzu kommt, dass ich seit 37 Jahren mit einer
deutschen Frau verheiratet bin und außer meiner iranischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitze. Unsere
Familie, einschließlich zweier erwachsener Kinder, besitzt nicht nur zwei Staatsangehörigkeiten, sondern auch das
außerordentliche Glück, in zwei Kulturen familiär, formal und mental verwurzelt zu sein.
Dennoch teile ich die Sorgen und auch das Leid der moslemischen Minderheit in meiner deutschen Heimat, die
leider weit davon entfernt ist, ein Leben in Würde in zwei Kulturen führen zu dürfen. Ich wende mich daher auf
diesem Wege an Sie, weil ich erstens die unter Ihrer Verantwortung geschaffene Islamkonferenz als einen richtigen
Schritt zu einer demokratisch fundierten Integration der moslemischen Minderheit in die Mehrheitsgesellschaft
ansehe und zweitens den eingeschlagenen Weg in einigen zentralen Bereichen für substanziell verbesserungswürdig
halte. (...)
Den Teufelskreis durchbrechen
Die moslemische Minderheit in unserem Land tut sich sehr schwer mit der Integration, weil sie sich mit ihrer neuen
Heimat immer noch nicht voll identifizieren kann. Dazu trägt nicht nur sie selbst, sondern leider auch die
Mehrheitsgesellschaft bei: Sie fühlt sich durch letztere eher geduldet als willkommen, sie muss damit rechnen,
immer wieder in Wahlkampfzeiten durch Pauschalisierungen diskriminiert und für die Misere der
Mehrheitsgesellschaft verantwortlich gemacht zu werden. Diese Minderheit ist ferner durch den seit längerer Zeit
anhaltenden anti-islamischen Kulturkampf verunsichert, sucht sich verständlicherweise den halbwegs geschützten
Raum des Ghettos und beargwöhnt die Regeln und Institutionen der Mehrheitsgesellschaft mit großem Misstrauen.
Mit ihren Restriktionen, wie beispielsweise dem Kopftuchverbot für Frauen in Schulen und anderen öffentlichen
Institutionen, verstärkt die Mehrheitsgesellschaft noch jenes Misstrauen. In wachsendem Misstrauen und fehlender
Identität mit der neuen Heimat wurzelt m. E. auch die Reaktion moslemischer Eltern, sich von der
Mehrheitsgesellschaft abzuschotten, auch ihren Töchtern die Teilnahme am Schwimmunterricht und an
Schulausflügen zu untersagen und selbst von Elternabenden fernzubleiben. Dies wiederum wird durch die
Mehrheitsgesellschaft oft mit neuen Ressentiments bedacht und als Beleg für den Mangel an
Integrationsbereitschaft missverstanden – ein Teufelskreis, der durchbrochen werden muss.
Nicht die Parallelgesellschaft an sich, sehr wohl aber ihre mangelnde interkulturelle Durchlässigkeit und ihre
unzureichende Identifikation mit Staat und Gesellschaft der neuen Heimat ist eine Gefahr für die Demokratie. Dies
kann jedoch überwunden werden, wenn die Integrationsschritte durch aktive Beteiligung aller betroffenen Gruppen –
will sagen – demokratisch fundiert würden. Die Beteiligung der Minderheit an polizeilichen Aufgaben war daher ein
richtiger Schritt zum Abbau von Misstrauen und zum Aufbau von Identität mit dem Staat in der neuen Heimat. In
gleicher Richtung geht auch zum Beispiel das Projekt »Kiezworker« in Berlin-Kreuzberg, das flächendeckend und
bundesweit ausgebaut werden müsste. Der entscheidende Schritt zum Abbau der Vorbehalte moslemischer Eltern,
ihre Töchter am Bildungssystem umfassend teilnehmen zu lassen, wäre m. E. aber die Einstellung auch
moslemischer Lehrerinnen an deutschen Schulen. Sie wären in der Lage, zwischen Schule und den in der
Parallelgesellschaft verharrenden Eltern eine Brücke zu bauen und ihnen ihre Ängste und Vorbehalte von wegen des
eigenen Identitätsverlusts durch mehr Integration abzubauen und den interkulturellen Austausch durchlässiger zu
machen.
Ein archaisches Verbot
Das Kopftuchverbot stellt aber leider – unabhängig davon, dass es das Grundrecht auf freie Kleidungswahl verletzt
und auch hinsichtlich der freien Ausübung der Religion diskriminierend und antidemokratisch ist – m. E. das größte
Hindernis hin zu einer sozial verankerten Integration dar, da es die Schaffung von eben jener Brücke entscheidend
verhindert. Sorgen Sie bitte mit dafür, dass dieses archaische Verbot, das nicht von einer demokratischen
Gesinnung herrührt, vielmehr aus reiner politischer Opportunität und dem unsinnigen antiislamischen Kulturkampf in
den christlichen Gesellschaften des Westens resultiert, ein für allemal ad acta gelegt wird.
Der türkische Ministerpräsident Erdogan – gelänge ihm tatsächlich die Aufhebung des Kopftuchverbots an
türkischen Universitäten – würde dadurch Millionen türkischer Frauen aus den gesellschaftlichen Hinterhöfen
herausholen und ihnen eine Perspektive zur faktischen Gleichstellung eröffnen. Europäische Frauenbewegungen
haben leider, offenbar geblendet durch den antiislamischen Kulturkampf, diesen einfachen Tatbestand systematisch
ignoriert. Ihr Eintreten für ein Kopftuchverbot in Deutschland ist skandalös und – in seiner Auswirkung als
praktisches Berufsverbot für diese Frauen – auch de facto frauenfeindlich.
Um die Integration moslemischer Mädchen und ihrer religiösen Eltern in die Mehrheitsgesellschaft zu fördern, müsste die
Einstellung qualifizierter moslemischer Lehrerinnen an deutschen Schulen, gerade auch für diejenigen, die aus eigener
Überzeugung ihr Kopftuch nicht ablegen wollen, verstärkt und gefördert, auf keinen Fall jedoch behindert werden. Erst der
Abbau von Misstrauen und der erleichterte Zugang der traditionellen moslemischen Frauen zu Bildungseinrichtungen und
anderen Institutionen der Mehrheitsgesellschaft kann mittelfristig dazu betragen, dass sich Frauen aus freien Stücken auch
moderneren Lebensformen zuwenden, jedoch unter keinen Umständen durch Zwangsmaßnahmen, die zudem auch den
demokratischen Grundsätzen abträglich wären.
Lassen Sie mich, sehr geehrter Herr Minister, einen weiteren wichtigen Punkt ansprechen, der mir wegen dessen
die Integration behindernden Rolle missfällt. Ich meine die Zusammensetzung der Islamkonferenz, die ihrem Zweck
gemäß mit den authentischen Repräsentanten der moslemischen Minderheit in Deutschland die Schritte,
Bedingungen und Leistungen der Mehrheits- und der Minderheitsgesellschaft zu einer nachhaltigen Integration offen
diskutieren und gemeinsame Lösungen für die Probleme ausloten will. Insofern ist die Mitwirkung von Personen wie
etwa Seyran Ates und Necla Kelek mehr als nur ein Schönheitsfehler. Beide Personen führen durch
Verallgemeinerungen von Einzelerscheinungen und mit großzügiger Unterstützung von islamfeindlichen Medien seit
längerem einen privaten Kulturkampf gegen die moslemische Minderheit und tragen mit ihren oft respektlosen
Äußerungen gegenüber den religiösen Gefühlen dieser Gruppe zu deren Verunsicherung und zu noch mehr
Ressentiments gegenüber der Mehrheitsgesellschaft bei.
Der Multikulti-Irrtum
Frau Ates’ Forderung an moslemische Frauen, ihr Kopftuch bitteschön endlich abzulegen, entbehrt nicht nur
jeglicher Sensibilität gegenüber Menschen, die ihre aus der Tradition gespeiste Identität nicht über Nacht ablegen
können. Sie spricht auch für eine elitäre und egozentrische Haltung, die von allen moslemischen Frauen verlangt,
dem eigenen, von der Mehrheitsgesellschaft hofierten Beispiel zu folgen, um akzeptiert zu werden. Beide genannten
Frauen haben sich von ihrem traditionell islamischen Hintergrund längst entfernt und sich – was ja auch ihr gutes
Recht ist – der Kultur ihrer Wahlheimat zugewandt. Gerade deshalb sind sie aber alles andere als geeignete
Mediatorinnen, die zwischen beiden Kulturen vermitteln und das Vertrauen beider Seiten genießen könnten.
Ganz im Gegenteil: In zahlreichen Talkshows, Interviews, in ihren Pamphleten und gut besuchten Veranstaltungen
schüren sie Angst vor einer islamischen Gefahr und verfestigen durch ihr Engagement die bereits bestehenden
Vorurteile und Ressentiments der Mehrheitsgesellschaft. Frau Ates beispielsweise bezeichnet den Bestseller von
Henryk M. Border Hurra, wir kapitulieren, in dem dieser mit Horrorszenarien ein regelrechtes Islam-Bashing betreibt,
als ihr Lieblingsbuch. Frau Kelek wiederum schrieb am Vortag der letzten Islamkonferenz einen Lobgesang auf
Henryk M. Broder. Beide Frauen stehen offensichtlich der Gruppe der selbsternannten »Achse des Guten« unter
Leitung von Henryk M. Broder sehr nahe, deren zentrale Aufgabe offensichtlich darin zu bestehen scheint, auch ein
gewaltsames Vorgehen gegen »Die Achse des Bösen«, das heißt die islamischen Staaten, und hier besonders den
Iran, zu rechtfertigen.
Frau Ates und Frau Kelek haben selbstverständlich das Recht, ihre Meinung frei zu äußern, mit der Kultur ihrer
ersten Heimat zu brechen und sich am Islam-Bashing zu beteiligen, das inzwischen zum Volkssport eines
exklusiven Kreises geworden zu sein scheint, der auf Kosten einer machtlosen moslemischen Minderheit einen
Bestseller nach dem andern liefert. (...)
Das alles ist nicht zu beanstanden. Muss aber nicht in Frage gestellt werden, ob ausgerechnet diese Personen einer
gesellschaftlichen Clearingstelle wie der Islamkonferenz angehören sollten, die doch zwischen der Mehrheits- und der
Minderheitsgesellschaft für ein friedliches Zusammenleben Brücken bauen will? Frau Ates diffamiert die multikulturelle
Gesellschaft als Multikulti-Irrtum. Was bleibt denn sonst überhaupt in einer demokratischen Gesellschaft übrig als ein
multikulturelles Zusammenleben verschiedener Kulturen? Soll denn die deutsche Mehrheitsgesellschaft der moslemischen
Minderheit ihren Respekt versagen, sie daran hindern, ihre Identität zu pflegen oder gar sie zur Assimilation zwingen? Ist es
das, was Frau Ates als Vision Wie wir friedlich miteinander leben – so der Untertitel ihres neuen Buches Der Multikulti-Irrtum –
vorschwebt? Alle ihre Argumente sprechen dafür, dass sie eher einen elitären und staatlich verordneten Assimilations-
»frieden« bevorzugt als ein multikulturelles und friedliches Mit- und Nebeneinander, das durch Partizipation auch der
Minderheitsgesellschaft entwickelt wird. (...)
Hinzu kommt, dass Frau Ates, Frau Kelek und andere ihre Hauptaufgabe darin sehen, Phantome wie »die Scharia
herrscht längst in unserer Gesellschaft« heraufzubeschwören und damit Feindbilder zu verstärken. Zudem ist auch
nicht bekannt, dass sie sich bisher in der öffentlichen Debatte beziehungsweise in der Islamkonferenz um
konstruktive Vorschläge bemüht hätten, denen auch die moslemische Minderheit hätte zustimmen können. Durch
ihre Mitwirkung in der Islamkonferenz entsteht unweigerlich der Eindruck, die Mehrheitsgesellschaft wolle lieber mit
sich selbst sprechen. Dabei mangelt es glücklicherweise keineswegs an hoch qualifizierten moslemischen, aber
auch laizistischen türkischen, arabischen sowie deutschen Frauen, die auch ohne Medienunterstützung für eine
echte Integration durch den Abbau von Ängsten und Feindbildern sowie Verständnis für beide Seiten Beachtliches
leisten.
Ich wünschte, die Mehrheitsgesellschaft nutzte verstärkt den Sachverstand dieser Menschen für ihre
Integrationsbemühungen, statt dem Rat vermeintlicher Freunde blind ihr Vertrauen zu schenken. (...)
Ich wünsche Ihnen bei der produktiven und demokratischen Weiterentwicklung der Islamkonferenz viel Erfolg und
verbleibe mit vorzüglicher Hochachtung.
Prof. Dr. Mohssen Massarrat
Zwischentitel von der Redaktion
Quote: Prof. MASSERAT hat seinen Geist und seine Feder ganz klar am Puls der Zeit und versteht ihn auch zu deuten. Doch - Gott sei Dank, werden es auch immer mehr auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft, welche zum ursprünglichen, wahrhaften "FÜHLEN" und "DENKEN" aus "ganzem GEMÜT" zurückzufinden scheinen. Wohingegen damit nicht gesagt wurde, dass die Minderheitsgesellschaft die gebotene Pacht auf dieses "Leben und Lieben aus ganzem Gemüt" bereits bezahlt hätte.
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