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Bronte, Anne - Die Herrin von Wildfell Hall




Bronte, Anne - Die Herrin von Wildfell Hall

Beitragvon Krümel » 11.04.2007, 10:53

Die Herrin von Wildfell Hall von Anne Bronte
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Dieser Roman trägt ein besonderes Merkmal. Er wird einerseits in Briefform eines männlichen Protagonisten, Gilbert, erzählt, was den Rahmen der Handlung ausmacht, und die Binnengeschichte wird in Tagebuchform von der weiblichen Protagonistin, Helen geschildert. Damit schlüpft die Autorin in beide Geschlechter, kann Missstände offen darlegen, und erreicht ein Hohes Maß an Authentizität.

Im Jahr 1827 wird das alte Anwesen „Wildfell Hall“ von einer jungen Witwe bezogen. Jedoch werden nur wenige Räumlichkeiten wohnlich eingerichtet, denn diese Dame muss sich ihren Unterhalt durch den Verkauf ihrer Malereien selber finanzieren. Das Interesse ihrer Nachbarn wird schnell geschürt, und wohl oder übel muss sich Helen dieser Neugier stellen. Ihr kleines Geheimnis, dass sie einen Sohn hat, kommt dabei rasch heraus, auch dass sie ihn umhegt wie einen Goldschatz, wird schnell belächelt. Ferner wird von ihr die Tradition der gegenseitigen Besuche gemieden, sowie sie die sonntägigen Kirchenbesuche oft ausfallen lässt. Durch ihr mysteriöses Verhalten entstehen im Handumdrehen arge Gerüchte, und im besonderen Maße bei der weiblichen Bevölkerung. Denn schnell erkennen diese, dass der ehrhafte, die gute Partie im Umkreis, Gilbert, ein Auge auf diese Dame geworfen hat.
Aus dieser Situation heraus entwickelt sich die Konstellation der Handlung, eine Liebesgeschichte im 19. Jahrhundert, und ein Katz.-und Mausspiel mit vielen Verzwickungen.

Im Gegensatz zu ihren Schwestern schreibt Anne ganz frei über das lasterhafte Treiben der männlichen Figuren: Die Trinksucht, Untreue und die unmoralische Lebensführung. Der Kontrast zwischen Moral und diesen Eigenschaften wird offen dargelegt, aber ohne dass dabei der Leser sich von dieser Gottergebenheit belustigt fühlt, was bei „Villette“ von Charlotte Bronte ab und an der Fall ist. Die Frömmigkeit von Helen wird innerhalb des Romans schon belächelt, so dass man sich eindeutig auf ihre Seite schlägt.
Des Weiteren beschreibt Anne einen Ausweg aus dieser Situation, in dem sie die weibliche Protagonisten zur Künstlerin erhebt, die sich ihren eigenen Unterhalt verdienen kann. Was zur Folge hatte, dass der Roman damals herbe Kritik einstecken musste.

Einen kleinen Schönheitsfehler beinhaltet das Buch. In dem der Briefschreiber diese Geschichte seinem besten Freund schildert, wirkt das Ende ein wenig unglaubwürdig. Aber das ist auch schon alles was man an diesem Roman kritisieren kann.

Meiner Meinung nach kann dieses Werk durchaus mit den großen Werken ihrer Schwestern: „Jane Eyre“ und „Sturmhöhe“, mithalten. Die Naturbeschreibungen von Anne sind wunderschön, und decken sich in jeder Hinsicht mit der Handlung. Ganz besonders gut gefallen hat mir Annes Offenheit, wie sie ohne zu zögern an die Probleme des 19. Jahrhunderts heran gegangen ist. Die Sprache der Autorin ist mit der Sprachbegabung ihrer Schwestern gleichzusetzen. Insgesamt eine uneingeschränkte Leseempfehlung und ein Zeitzeugnis!

Bewertung: :stern: :stern: :stern: :stern: :stern:
Zuletzt geändert von Krümel am 11.04.2007, 11:45, insgesamt 2-mal geändert.
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von Anzeige » 11.04.2007, 10:53

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Beitragvon Salome » 11.04.2007, 11:17

Das klingt ja sehr gut! Schöne Rezi, Krümel!
Ich sehe das Buch schon bald in meinem Regal... :wink:
Salome
 

Beitragvon marilu » 09.01.2008, 13:39

Bald habe ich den ersten Teil durch und bin ziemlich gefesselt von der Geschichte. Es liest sich nicht besonders schnell, weil durch Naturbeschreibungen von der Handlung abgelenkt wird. Dies versetzt mich aber in eine wunderbare entrückte Lesestimmung!

Sonst versuche ich immer schon während des Lesens etwas mehr über ein Werk herauszufinden, aber diesmal bin ich wirklich gespannt darauf, welche Vergangenheit Helen Graham hinter sich hat. Sie tut mir in der Umgebung, in der sie zu Beginn dieses Romans leben muss, sehr leid. Sympathisch ist mir eigentlich keiner der Charaktere, die von Gilbert beschrieben werden. Sein Bruder Fergus vor allem lässt mich erschauern. Welch ein boshafter Typ!

Gilbert selbst ist mir bisher (?) auch zu oberflächlich, andererseits mag ich es, dass er seine Fehler zugeben kann und sich als Geschöpf seiner Zeit empfindet.

Sehr klasse fand ich die Beschreibung der Klatschbase der Gesellschaft, Mrs. Wilson - abscheuliches Weib. Brr...

Mrs. Wilson brillierte mehr denn je mit ihrem reichen Schatz an letzten Neuigkeiten und alten Skandalgeschichten, die sie durch Fragen und Bemerkungen verknüpfte oder auch durch wiederholte Äußerungen, die offensichtlich nur den Zweck erfüllten, ihren niemals erlahmenden Sprechwerkzeugen auch nicht einen Augenblick der Ruhe zu gönnen. Sie hatte ihr Strickzeug mitgebracht, und es schien, als habe ihre Zunge mit ihren Fingern die Wette abgeschlossen, dass sie ihnen an hurtiger und nimmermüder Beweglichkeit noch überlegen sei.


Und nun hurtig zurück ans Buch! :lesen3:
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Beitragvon marilu » 12.01.2008, 21:05

Nach 430 Seiten möchte ich mich nochmal melden:

Schade, dass der Roman zu seiner Zeit nicht so viel Aufmerksamkeit erregt hat, wie die Werke von Charlotte und Emily. Anne beschreibt sehr präzise und detailliert, wie sich Beziehungen entwickeln und welchen Gefahren diese ausgesetzt sind. Mehr möchte ich gar nicht dazu sagen, weil ich im letzten Posting sagte, dass ich nichts über Helens Hintergrundgeschichte wissen möchte. Also will ich auch niemandem etwas verderben.
Aber einen Vergleich mit "Jane Eyre" und "Sturmhöhe" finde ich persönlich ungerecht, weil es wenig zu vergleichen gibt. Die mystischen und leidenschaftlichen Elemente der beiden Werke fehlen hier z. B. vollkommen. Außerdem beschreibt Anne mehr "normale" Erlebnisse und nicht die absolute Leidenschaft bis zum Tod (wie in "Sturmhöhe) oder die große Liebe wie in "Jane Eyre". Sie beschreibt, was sie erlebte und gibt so wahrscheinlich eher die Realität ihrer Zeit wieder als ihre Schwestern.

Die von Krümel erwähnte Verquickung von Gilberts Brief und Helens Tagebuch, um die Geschichte zu gestalten, finde ich bisher sehr gelungen. Ich mag es, wenn die Hauptpersonen "selbst" zu Wort kommen dürfen. Die Tagebuchform schildert nicht nur Erlebnisse sondern eröffnet dem Leser auch Helens Seelenleben. Bewegend, traurig - und je älter sie wird - immer bewundernswerter.

Zwischendurch brauchte ich immer mal wieder Pausen, weil

Ehe Spoiler hat geschrieben:Arthur Huntington - Helens "reizender" Gatte genau den Typ Mann darstellt, den ich über alles verabscheue. Der Rabbit von Updike fällt auch in diese Kategorie - ein Roman, den ich nicht beenden konnte. Da es hier um Helens Geschichte geht, werde ich nicht abbrechen. Aber bei jeder neuen Ausschweifung muss ich tief durchatmen, schlucken und Bauchschmerzen ertragen.


Was für ein moderner Roman! Das hatte ich nun nicht erwartet! :clap: Ich hätte nie erwartet, dass Anne von den Bronte-Schwestern am ehesten "meine Sprache sprechen würde".
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Beitragvon Krümel » 12.01.2008, 22:37

Hi, schön, marilu. Mir gefiel diese Offenheit auch total gut. Wenig Schnörkel und Schnick-Schnack, sondern die pure Zeit. :D
BildLiebe Grüße,
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Beitragvon marilu » 13.01.2008, 20:09

Fertig! :clap:

Hier mein Fazit - in der Hoffnung, nicht zuviel preiszugeben:

Originaltitel: The tenant of Wildfell Hall

In das beschauliche Landleben von ***shire zieht die mysteriöse Mrs. Graham. Sie versucht die Gesellschaft zu meiden und zieht sich in ihre Unterkunft Wildfell Hall zurück. Natürlich bleibt sie nicht lange allein, sind die Dorfbewohner doch sehr neugierig auf die neue Bewohnerin. Sie statten ihr Besuche ab und versuchen, ihre Geschichte zu erfahren. Auch der junge Bauer Gilbert Markham interessiert sich für die Zugezogene und gewinnt zunehmend ihr Vertrauen. Doch Spekulationen und Gerüchte formieren sich bald und die scheinbare Ruhe, die Mrs. Graham zu finden hoffte, zerbricht.
Gilbert Markham informiert seinen Schwager J. Halford über die Art ihrer Bekanntschaft durch einen langen Brief. Er legt dem Brief zudem Mitschriften von Mrs. Grahams Tagebuchaufzeichnungen bei, in denen sie ihre Geschichte erzählt.

Mehr möchte ich zum Inhalt nicht verraten, aber wer eine ausführliche Inhaltsangabe sucht, wird mit Hilfe von Google und Wikipedia auf vielen Seiten fündig.

Mir hat dieser Klassiker sehr gut gefallen. Nachdem ich bisher nur zwei Romane der Brontëschwestern kannte (Charlottes „Jane Eyre“ und Emilys „Sturmhöhe“), war ich auf Annes Ansatz sehr gespannt.

Die Ehegeschichte, die Anne Brontë erzählt, war für ihre Zeit wahrscheinlich sehr radikal, aber nicht außergewöhnlich. Sie hatte viel Kritik dafür einzustecken. Während der gesamten Lektüre fragte ich mich, ob sich vielleicht zu viele Kritiker auf den Schlips getreten fühlten, um subjektiv zu urteilen. (Reine Spekulation meinerseits.)

Anne beschreibt sehr detailliert und präzise, welche Auswirkungen ein egoistischer Ehepartner auf sich selbst, seine Ehe und seine „Lieben“ hat. Dieser Teil der Schilderung macht für mich die Essenz des Romans aus. Die Nebenhandlung um Mrs. Graham und Gilbert Markham wirkte auf mich wie ein Zugeständnis an den Geschmack der Zeit. Insbesondere das Ende erschien mir nicht mehr so glatt.

Fazit:

Der Roman hat mich gefesselt und gebannt. Solch schonungslose Offenheit hatte ich nicht erwartet und war positiv überrascht. Der Teil, in dem man die Tagebucheintragungen liest, war sehr aufwühlend und mitunter sehr modern gestaltet. Natürlich darf man nicht vergessen, dass es sich hier um ein Zeitdokument des 19. Jahrhunderts handelt und die Konventionen zwischen damals und heute mitunter sehr unterschiedlich sind. Allerdings existiert das grundlegende Problem auch in der heutigen Zeit noch. Die Umstände mögen sich unterscheiden, die Auswirkungen nicht unbedingt.

:stern: :stern: :stern: :stern:

Danke für die Lektüre, Krümel! :clap:
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Beitragvon nanu?! » 13.01.2010, 22:56

Nachdem ich den Roman mit Begeisterung beendet hatte, habe ich im Netz ein wenig gegoogelt. Ich wollte unbedingt mehr über Anne Bronte erfahren. Zu meinem Erstaunen las ich mehrfach, das Anne wohl die am wenigsten "begabte" der Schwestern Bronte gewesen sein soll. Von Charlotte habe ich noch nichts gelesen, wohl aber von Emily.
Von Emilys "Sturmhöhe" war ich auch positiv überrascht. Aber Annes Werk gefällt mir doch um Klassen besser. Es ist nicht so düster wie "Sturmhöhe". Annes Sprache war viel leidenschaftlicher, und obwohl es sich um ein Zeitdokument des 19 Jahrhunderts handelt, immer noch aktuell.
Der Roman wurde zuerst in Briefform von Mr. Hastings geschrieben, der mittlere Teil war Ms. Grahams Tagebuch. Somit scheint alles persönlicher und authentischer.
Anne Bronte vermag die Gefühle der handelnden Personen genaustens zu beschreiben. Ihr Schreibstil ist sehr sentimental, gleitet für die heutigen Verhältnisse ab und an ins kitschige über, aber nie so übertrieben, das mir die Lust am lesen verging.
Fazit: Ein lesenswertes Buch aus der viktorianischen Zeit mit aktueller Thematik.
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Beitragvon chip » 15.01.2010, 11:01

Es ist die einzige Bronte, von der ich noch nichts gelesen habe. Ein Umstand der nicht toleriert werden kann. Nanu?!, ich komm dann demnächst das Buch bei Dir ausleihen :wink:
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Beitragvon nanu?! » 16.01.2010, 02:31

Was? :shock:
Du kommst bei mir einen Klassiker ausleihen?
Das ich das mal erlebe :lol:
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Beitragvon Coco » 16.01.2010, 08:16

:mrgreen:
Liebe Grüsse
Coco

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:studie:

Charlotte Bronte - Villette
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Re: Bronte, Anne - Die Herrin von Wildfell Hall

Beitragvon Casoubon » 02.03.2010, 11:13

Mir hat das Buch nach anfanglicher Skepsis sehr gut gefallen (Danke, Krümel, dass du mich zum Durchhalten angehalten hast - es hat sich wirklich gelohnt :flower: ).

Anne Bronte beschreibt sehr schön und anschaulich das Leben der Hauptpersonen. Mit der Beschreibung aus der männlichen Sicht hatte ich erst meine Schwierigkeiten, aber mit der Zeit (also gerade zum Schluss hin) hatte ich mich daran gewöhnt. Was mich zu Beginn ziemlich gestört hat, war, dass meine Erwartungshaltung "In diesem Buch wird ein Stück heile Welt projiziert" enttäuscht wurde - die Menschen hatten Macken und haben anders gehandelt, als man es von ihnen als Flüchtlingsleser in der Erwartung einer heilen Welt erwartet :wink: . Trotzdem konnte ich mich damit versöhnen und fand die Handlung sehr spannend, vor allem, da wirklich nicht alles vorhersehbar war, wie bei Jane Austen.

Als nächstes werde ich mich an Sturmhöhe wagen, aber erst in ein paar Monaten.

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Re: Bronte, Anne - Die Herrin von Wildfell Hall

Beitragvon Krümel » 02.03.2010, 12:06

Casoubon hat geschrieben:meine Erwartungshaltung "In diesem Buch wird ein Stück heile Welt projiziert" enttäuscht wurde - die Menschen hatten Macken und haben anders gehandelt, als man es von ihnen als Flüchtlingsleser in der Erwartung einer heilen Welt erwartet :wink: .


Anne ist m. E. auch am ehrlichsten von den drei Frauen, dafür vielleicht sprachlich nicht so umwerfend :wink:
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