Der Traum vom Absoluten

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    Re: Der Traum vom Absoluten

    Sternkieker - 09.04.2007, 15:32

    Der Traum vom Absoluten
    Der Traum vom Absoluten
    Ein Dialog

    Gobi: Es ist schön, daß wir endlich mal wieder Zeit für ein Gespräch gefunden haben. Lang, lang ist`s her. Aber ich weiß nicht, mein lieber Chris, ob es so schön und ergiebig sein wird wie das letzte mal.

    Chris: Nanu, Gobi, was läßt dich denn daran zweifeln? Bisher sind doch alle unsere Gespräche sehr konstruktiv gewesen.

    Gobi: Das war auch zu Zeiten der Megamaschinen und Teekannen, wenn du dich erinnerst, da warst du noch Wissenschaftler und hast dir noch Gedanken über die Welt gemacht.

    Chris: Und du meinst, das mache ich jetzt nicht mehr, nur weil ich der Wissenschaft den Rücken gekehrt habe? Muß das nicht eigentlich auch für dich ein verständlicher Schritt gewesen sein nach unseren Gesprächen? Und meinst du, ich bin inzwischen dümmer geworden?

    Gobi: Nein, dümmer gewiß nicht. Aber wenn man erstmal in die Fänge einer Sekte geraten ist ...

    Chris: Nun mach aber mal einen Punkt!! Wer hat dir denn diesen Schmarren erzählt?

    Gobi: Man redet so allerlei von Astrologie und Gurus und daß du jetzt der Meinung bist, im Gegensatz zur Wissenschaft das wahre Wissen zu haben ...

    Chris: Ach wär das schön! Das ist ja herrlich, was du da erzählst. Das ist ja ein köstlicher Wortsalat. Nein ganz im Ernst, Gobi, ich finde das ganz spannend, von dir zu hören, was man im Moment so über mich redet, denn für mich sind die Zeiten der vielen Streitgespräche vorbei, und ich ziehe mich tatsächlich sehr zurück. Aber es ist wunderschön zu hören, wie die Gerüchteküche brodelt.

    Gobi: Aber irgendetwas muß doch dran sein, wenn so über dich geredet wird, man kann sich doch nicht einen Guru aus den Fingern saugen.

    Chris: Nein, aus den Fingern saugen kann man sich den wirklich nicht. Ja, Gobi, was ist dran an den Gerüchten? Zum ersten: Ich bin noch genauso auf der Suche nach der Wahrheit wie früher, daran hat sich nichts geändert. Nur glaube ich nicht mehr, daß die westliche Wissenschaft dazu noch allzuviel beitragen kann. Im Gegensatz dazu glaube ich aber, daß die uralte Yogaphilosophie das sehr wohl kann. Und dann hatte ich das Glück, einen authentischen Lehrer zu finden.

    Gobi: Du willst mir doch nicht erzählen, daß du die Probleme der heutigen Welt mit Yoga lösen willst, und deine Kritik an der Wissenschaft ist zwar nichts neues, aber sie ist gerade heute sehr unangebracht. Gut, es ist nicht mehr die Physik, die voranschreitet, aber wenn wir uns Gentechnologie und die großen Fortschritte der Gehirnforschung ansehen, dann gibt es für fähige Wissenschaftler wahrlich genug Möglichkeiten, voranzukommen. Nur eines muß man sich heute abschminken, und das ist dein hehrer Wahrheitsbegriff. Der ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Aber genau das hat auch sein Gutes, denn endlich mal wird auch die Philosophie zu einer ernstzunehmenden Sache, weil sie nämlich endlich mal aufhört zu spekulieren und weil sie endlich mal pragmatisch wird.

    Chris: Daß man sich als Wissenschaftler heute dumm und dämlich forschen kann, daran zweifle ich keine Sekunde. Aber daß man damit etwas Gutes für die Welt tut, das bezweifle ich allerdings. Ich bin sogar ganz und gar der Meinung, daß gerade die Genforschung - was ist daran eigentlich Wissenschaft? Man sollte doch Gentechnologie sagen! - daß also gerade die Genforschung nichts anderes macht, als die Probleme von morgen zu erzeugen ...

    Gobi: Das werden aber die Multiple-Sklerose-Kranken anders sehen, deren Interferon B gentechnisch erzeugt wird.

    Chris: Ja, das werden sie anders sehen, aber nur aus Unwissenheit! Weil sie diese Symptombekämpferei entweder für Heilung halten oder sich von der Wissenschaft haben einreden lassen, daß es für Multiple Sklerose keine Heilung gibt. Aber im Ernst: Natürlich wird die Schulmedizin im Sinne ihrer Funktion als Notfallmedizin oder im Sinne der Symptombekämpfung mit dem Voranschreiten der Großforschung ihre Kompetenz immer mehr erweitern - aber mit dem, was ich Heilung nenne, kommt man damit keinen Schritt weiter, oder auch mit dem, was ich eine gesunde Lebensführung des Menschen in die Sinnhaftigkeit seines Seins hinein nenne. Nein, über die vordergründigen Spiegelfechtereien sollten wir nicht reden. Und die Gehirnforschung gehört genauso dazu.

    Gobi: Jetzt spricht aber eine große Überheblichkeit aus dir! Vielleicht ist es ja einfach, weil du mit dem Rücken gegen die Wand stehst. Denn gerade die Gehirnforschung ist dabei, deiner absoluten Wahrheit und deiner Sinnhaftigkeit des Seins den Todesstoß zu versetzen. Und die moderne Philosophie hat das erkannt. Du brauchst nur mal Rorty zu lesen. Wir müssen uns diesen Absolutheits-Firlefanz endlich abschminken und mit ihm den ganzen Kantischen und idealistischen Bildungsbürger-Schmarrn. Wir müssen endlich sehen, wer wir wirklich sind, nämlich Kinder der Evolution, und wir müssen auch endlich sehen, was wir für eine Aufgabe auf der Welt haben, nämlich eine lebenswerte Welt zu schaffen für uns und unsere Kinder, und ich glaube, daß du selbst mit ähnlichen Worten unser letztes Gespräch beendet hast.

    Chris: Ja, daran erinnere ich mich noch gut! Und nochmal wie damals: Eine lebenswerte Welt zu schaffen ist noch genauso meine Intention. Nur sehe ich nicht, daß das heute geschieht. Es geschieht nicht durch Gentechnologie, durch geklonte Menschen, und es geschieht nicht durch die Gehirnforschung, nicht durch die Veränderung des sogenannten literalen Gehirns zum Erregungsgehirn, nicht durch die oberflächliche Negierung des Wesenskernes des Menschen und nicht dadurch, daß die moderne Philosophie sich schulterzuckend von ihrer wahren Aufgabe abwendet und hinter ein paar pragmatisch sozio-biologischen Scheingefechten zwischen Rorty und Habermas versandet. Und wenn du mir erklären könntest, was für dich der Unterschied zwischen Kindern der Evolution und Kindern Gottes ist, dann wäre ich dir sehr dankbar.

    Gobi: Ganz einfach, mein lieber Chris: Während die Hypothese Gott schon lange ad acta gelegt ist, ist die Evolution eine wissenschaftliche Realität.

    Chris: Eine wissenschaftliche Modellvorstellung, eine Theorie, wolltest du sagen.

    Gobi: Wollte ich eigentlich nicht! Weil es nämlich kein Widerspruch ist! Wenn du statt in alten verstaubten Schriften über Yoga zu wühlen die moderne Gehirnforschung etwas verfolgt hättest, dann wäre dir geläufig, daß alles, was wir erkennen können, nur Modellcharakter hat; was anderes ist es nämlich nicht, was unser Gehirn leistet - unsere sogenannte Wirklichkeit ist nur Realmodell, und in diesem Sinn ist dann deine Einschränkung keine Einschränkung mehr.

    Chris: Sag mal, Gobi, ist dir eigentlich aufgefallen, wie emotional wir schon am Anfang unseres Gespräches geworden sind, wie sehr hier etwas zu entstehen scheint, das einem Zweikampf mehr ähnelt als einem Gespräch?

    Gobi: Ich finde es nicht schlimm, emotional miteinander zu sprechen, und gerade wir beide wissen ja, daß das unserer Freundschaft keinen Abbruch tut.

    Chris: Nein, Gobi, um unsere Freundschaft geht`s hier wirklich nicht, da habe ich keine Bange ...

    Gobi: Aber vielleicht willst du ja nur ablenken, weil du so recht keine Argumente mehr hast.

    Chris: Nein, auch ablenken will ich nicht. Ich spreche unsere Emotionen deshalb an, weil diese Metakommunikation viel mehr zur Kommunikation dazugehört und viel mehr zu unserem Thema dazugehört, als du zu ahnen scheinst. Du meinst doch, daß wir heute, nach Nietzsches „Gott ist tot“ und mit Rortys Philosophie in der Tasche erst anfangen, in das Reich der Freiheit durchzustarten?

    Gobi: So könnte man`s sagen, ja.

    Chris: Und ich meine, daß wir gar nicht sehen, wie sehr wir uns immer mehr im Reich der Unfreiheit einrichten. Wie können wir denn versuchen, ein Gespräch über das Absolute, über die Wahrheit, über das Ding an sich zu führen, wenn sich dieses Gespräch auf der Basis all unseres Seelenmülls mit Projektionen auflädt und wir mit den Begriffen der Philosophie nur noch Stellvertreterkriege führen? Wir müssen doch lernen, unsere Suche nach der Objektivität - um mal ein Lieblingswort von Rorty zu verwenden - mit einer Analyse unserer selbst zu verbinden.

    Gobi: Also nun mal langsam. Ich bin dir ja dankbar, daß du „unserer selbst“ gesagt hast und nicht „unseres Selbst“ - denn dieses Selbst, dieses Absolute, das gibt es ja gerade nicht, wie die neuere Forschung zeigt. Und in dieser Hinsicht gehe ich auch ganz mit Rorty konform. Wenn es aber dieses Selbst nicht gibt, dann bin ich eben im Moment so, wie ich bin, dann bin ich eben auch gerade meine Emotionen, und dann können wir auch unser Gespräch emotional führen - weil es ja eben kein Gespräch über irgendein Absolutes sein kann, weil es das ja nun nicht gibt. Wir leben im Moment einfach nur „emotionales Gespräch“, und das ist alles.

    Chris: Da haben wir schonmal einen Unterschied in unseren Auffassungen klar umrissen. Du glaubst dich also ohne Zentrum ...

    Gobi: Weiß mich ohne Zentrum!

    Chris: Du glaubst dich also ohne Zentrum zu wissen, und ich glaube, daß es dieses Zentrum gibt, und ich glaube, daß uns die Gewißheit dieses Zentrums nur deshalb aus dem Blick geraten ist, weil wir nur den kleinen Teil unseres Geistes zum Philosophieren verwenden, der wirklich am ehesten einem Computer gleicht, weil wir darauf verzichten, uns selbst zu analysieren, um überhaupt erstmal zu ermessen, in welchem Maße wir tatsächlich frei sind, frei auch in der Erkenntnis, um erstmal zu ermessen, welches unsere Intentionen sind, weil wir es im Westen durch diesen Verzicht auf Selbsterkenntnis und Selbstveränderung nicht geschafft haben, einen Weg zur Erkenntnis des Absoluten aufzuspüren. Sobald du diesen Weg auch nur erahnen würdest, Gobi, würdest du Rorty auf den Abfallhaufen der Geschichte werfen und dankbar zugreifen, um mit der Möglichkeit der Sinnhaftigkeit deines Lebens auch die Möglichkeit eines sinnvollen Lebensweges zu gewinnen.

    Gobi: Sobald in mir eine solche Ahnung - wie du sagst - aufsteigen würde, würden all meine skeptischen Warnlampen angehen. Nicht umsonst hast du ja eben sehr bewußt das Wort „Glauben“ ins Gespräch gebracht. Du glaubst, daß das alles so ist, und ich weiß - oder dieses Zugeständnis an dich - ich glaube zu wissen, daß das alles Unsinn ist, geboren aus der Angst vor unserem „Geworfensein ins Da“. Wenn wir nur Glaubenshaltungen gegeneinandersetzen, dann wird unser Gespräch wirklich bald zu Ende sein, wie ich es anfangs prophezeit habe. Wir sollten schon langsam Fakten ins Spiel bringen, könnten ja mal die Ergebnisse der Hirnforschung näher anschauen, um dann deutlich zu sehen, daß unser Bewußtsein nur eine Gehirnfunktion ist. Und dann erübrigt sich der Rest.

    Chris: Ich denke auch, daß das ein wichtiges Thema wird, aber ich möchte vorher, bevor wir uns nämlich der Wahrheit der Gehirnforschung nähern, noch ein bißchen beim Begriff der „Wahrheit“ bleiben. Wir müssen dann ja schließlich wissen, wie wir das, was du Fakten nennst, als Erkenntnis zu bewerten haben. Mir fällt nämlich auf, daß du einerseits aus den sog. Fakten feste Wahrheiten bzgl. unseres Bewußtseins ableitest, andererseits aber einen Begriff wie „Wahrheit“ seines Absolutheitsanspruches entkleidest. Was ist denn nun die Wahrheit der Wahrheit?

    Gobi: Ich sehe, daß du Rorty nicht gründlich gelesen hast. Ich finde, er hat den Wahrheitsbegriff der heutigen Zeit am deutlichsten formuliert.

    Chris: Ich staune! Rorty hat immer und immer wieder sehr deutlich formuliert, woran er nicht glaubt, was er zurückweist, aber mit eigenen klaren Definitionen hält er sich doch sehr zurück. Aber ich weiß, was du meinst, nämlich daß Rortys Wahrheitsbegriff - wie präzise er auch immer ihn formuliert hat - das am besten trifft, was deiner Intention entspricht.

    Gobi: Ja, so kannst du`s sagen.

    Chris: Dann laß uns mal schauen, ob ich Rorty gut genug gelesen habe. Rorty sagt doch in etwa: Wichtig ist allein, daß es uns gelingt, eine menschliche Lebenspraxis zu realisieren. Deshalb auch ein Primat der Demokratie vor der Philosophie. Da es nun kein Ding an sich, keine absolute Wahrheit, keine objektive Objektivität gibt, müssen wir, wenn wir von der Wahrheit der objektiven Erkenntnis reden wollen, einen neuen Objektivitätsbegriff finden. Und diese neue Definition sei: Objektivität ist Übereinstimmung! Und zwar Übereinstimmung der Gemeinschaft der Menschen, die in der gleichen kulturellen Welt auf vergleichbarem Niveau leben. Rorty sagt doch, in einem „normalen Diskurs“ lasse sich auf dieser Basis immer Übereinstimmung erzielen. Wenn sich aber keine Übereinstimmung erzielen läßt, dann spricht er von einem „hermeneutischen Diskurs“, der dadurch gekennzeichnet ist, daß die Gesprächspartner jeweils auf der Basis vermeintlicher aber unterschiedlicher absoluter Wahrheiten stehen - und das kann nur billige Rhetorik sein und zu dem, was wir Wahrheit nennen wollen, keinen Beitrag leisten.

    Gobi: Na sieh mal an! Besser hätte ich es auch nicht sagen können. Dann ist es doch klar auf welcher Basis wir auch die Ergebnisse der Hirnforschung diskutieren können.

    Chris: Selbst wenn wir versuchen würden, auf dieser Basis zu diskutieren, es würde uns nicht so leicht fallen wie du denkst, den der Gehirnforschung zugrundeliegenden Materialismus und den Rorty`schen Relativismus zusammenzubringen.

    Gobi: Du weißt, daß Rorty für sich das Etikett „Relativismus“ zurückweist?

    Chris: Natürlich. Aber fast alle seine philosophischen Gesprächspartner nennen ihn einen Relativisten. Und da seine philosophischen Gesprächspartner seine ebenbürtigen Kulturgenossen sind, ist die Aussage „Rorty ist ein Relativist“ also eine Wahrheit im Rorty`schen Sinne.

    Gobi: Jetzt wirst du aber polemisch, denn du weißt doch sicher, daß Rorty den Begriff des Relativisten deshalb zurückweist, weil es eben kein Absolutes gibt, zu dem alles andere nur ein Relatives sein kann - und ohne Absolutes gibt es auch nichts Relatives, es gibt eben nur die Fähigkeit oder Unfähigkeit zum intersubjektiven Konsens.

    Chris: Nein Gobi, hier irrt Rorty. Wenn es ein Absolutes gibt, dann muß alles andere in Relation dazu stehen, dann ist für eine beliebige Relativität gar kein Platz mehr. Weist man aber philosophisch die Absolutheit zurück, dann befinden sich die unterschiedlichen intersubjektiven Konsense in relativer Beziehungslosigkeit nebeneinander - und das ist Relativismus.

    Gobi: Wortklauberei!!

    Chris: Mir scheint es richtig, aber in unserem Zusammenhang nicht wichtig. Wichtig ist vielmehr, daß uns nicht nur die Schwierigkeit, Materialismus und Relativismus zusammenzubringen, daran hindern wird, bzgl. der Fakten der Gehirnforschung zu einem Konsens zu kommen, sondern daß das Hindernis darin liegt, daß der Rorty`sche Wahrheitsbegriff eben nicht meiner ist. Den hat, so finde ich, Hilary Putnam schon deutlich genug widerlegt.

    Gobi: Und wie, meinst du, sollte er ihn widerlegt haben?

    Chris: Indem er daraufhingewiesen hat, daß Rorty zur Aufrechterhaltung dieses Begriffs kontrafaktische Konditionalsätze braucht. Er muß nämlich sagen: Wenn alle ebenbürtigen Kulturgenossen da wären, dann würden sie in diesem oder jenem Sinne zustimmen. Rorty selbst weist aber eine Berufung auf solche kontrafaktischen Konditionalsätze zurück - ohne zu sagen, wie ein Begründungsgefüge anders aussehen könnte. Du siehst, es ist nichts mit dem Rorty`schen Wahrheitsbegriff.

    Gobi: Nicht so schnell mein Lieber. Mir scheint, hier muß ich Rorty vor sich selbst in Schutz nehmen. Es interessiert mich nämlich nicht allzu sehr, daß Rorty was gegen kontrafaktische Konditionalsätze hat, solange sie den Rorty`schen Wahrheitsbegriff angemessen beschreiben.

    Chris: Das tun sie aber nicht! Kontrafaktische Konditionalsätze sind immer umstritten. Was würden alle diese oder jene Personen dazu sagen? Das ist doch Spekulation! Und wenn ich es festschreibe, was sie in so einem Fall zu sagen hätten, dann hätte ich dem Wahrheitsbegriff normative Vorgaben gemacht! Und das wäre ja das Letzte, was die Relativisten wollen. Ich frage mit Nachdruck: Wie kann man die immer zweifelhafte Wahrheit eines kontrafaktischen Konditionalsatzes zur Grundlage eines Wahrheitsbegriffs machen, der die absolute Wahrheit eines einfachen Aussagesatzes bezweifelt? Hier, mein lieber Gobi, beißt sich die Katze in den Schwanz! Putnam hat sehr schön und auch nicht ohne einen Schuß Ironie festgestellt, daß der ganze Relativismus in seiner Auseinandersetzung mit der Metaphysik nur bloße Rhetorik ist, weil die Mehrzahl der relevanten Kulturgenossen den Relativismus ablehnt, die Relativisten aber auf ihm bestehen und also bloß einen hermeneutischen Diskurs führen.

    Gobi: Jetzt wirst du wieder polemisch.

    Chris: Das klingt nur so. Nein Gobi, es ist wirklich aus mit dem Relativismus, und damit ist es aus mit Rorty und damit natürlich auch aus mit seinem Wahrheitsbegriff!

    Gobi: Und welches ist dein Wahrheitsbegriff? Natürlich der der absoluten Wahrheit. Und den Begriff weise ich entschieden zurück. Wir führen also ebenfalls einen hermeneutischen Diskurs, verzapfen also auch bloß Rhetorik. Prost Mahlzeit!

    Chris: Sei doch nicht so voreilig. Weißt du, was Nietzsche zur Wahrheit gesagt hat?

    Gobi: Da wirst du keine große Hilfe finden. Für Nietzsche ist die Wahrheit auch nur eine Konvention. Wir alle - so sagt er - leben in unserer Fassade und es wird uns nie gelingen in uns den Kern einer absoluten Wahrheit zu finden. Er hat wörtlich geschrieben: „Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.“

    Chris: Ich denke aber genau in diesem Zusammenhang an ein anderes Wort von Nietzsche: „Woher, in aller Welt, bei dieser Konstellation der Trieb zur Wahrheit?“. Stellst du dir diese Frage nicht auch manchmal? Intersubjektive Konsense zu finden, ist doch das Alltäglichste, was es gibt. Da brauchen wir doch gar nicht, wenn es das Absolute nicht gibt, immer wieder um die „Wahrheit“ zu streiten! Warum nur tun wir es dann? Fragst du dich das nicht?

    Gobi: Nein, und zwar, weil Nietzsche auch darauf schon die Antwort gegeben hat. Er hat gesagt - und das sehr deutlich - daß die Menschen in der Verstellung leben, weil das Leben im Darwinschen Sinn ein Krieg aller gegen alle ist. Der Mensch will aber „aus Not und Langeweile“ herdenweise existieren, und deshalb braucht es einen Friedensschluß. Und er sagt: „Jetzt ... wird das fixiert, was von nun an Wahrheit sein soll, d.h., es wird eine gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden, und die Gesetzgebung der Sprache gibt auch die ersten Gesetze der Wahrheit.“ Und damit, lieber Chris sind wir wieder fast bei Rorty und bei der modernen Sprachkritik und ich brauch mich wirklich nicht zu wundern, daß die Menschen dauernd nach einer Wahrheit suchen, die es nicht gibt.

    Chris: Also, Gobi, wenn ich deine Nietzsche-Rezeption richtig verstehe, dann spricht Nietzsche von einem Krieg aller gegen alle, den die Menschen überwinden wollen, weil sie gerne zusammenleben wollen - und deshalb konstruieren sie sich eine Wahrheit. Wie kommt es denn dann, daß Rorty und Kollegen froh darüber sind, daß wir endlich in eine neue Modernität der Gesellschaft hineinrutschen, in der man sich nicht mehr wegen irgendwelcher absoluter Wahrheiten die Köpfe einschlägt? Ich denke - und da stimme ich den Modernisten mal zu - daß man mehr Gewalt im Namen einer „Wahrheit“ ausübt als ohne Bezug auf sie. Nein, Gobi, die Nietzschesche Begründung für das gut und richtig beobachtete Phänomen der menschlichen Wahrheitssuche ist nicht stimmig. Weshalb aber dann dieses irre Bemühen - wenn es doch im Ansatz schon als erfolglos erkannt werden müßte?

    Gobi: Wie ich dich kenne, wirst du mir sicher gleich die Antwort darauf geben.

    Chris: Ich werde es zumindest versuchen. Die Antwort ist eigentlich ganz einfach. Die Menschen suchen nach der Wahrheit, weil es die Wahrheit gibt, und weil der Mensch erst mit dieser Wahrheit ein vollständiger Mensch ist und weil er deshalb einen inhärenten Antrieb zu dieser Wahrheit hat - und dieser Antrieb heißt „Spiritueller Wille“. Aber nun kommt das Entscheidende: Der Weg zu dieser Wahrheit ist nicht der Weg der Spekulation der westlichen Philosophie. Alle ahnen, ja, wissen um die Wahrheit, aber keiner kann sie philosophisch greifen. Kant spricht vom „Ding an sich“, Fichte vom „Ich“, Schelling am klarsten und Allgemeinsten vom „Absoluten“ - aber Schopenhauers Frage nach dem, wovon sie überhaupt reden, ist nur allzu berechtigt. Und dann der Nietzschesche Kraftakt des Übermenschen, der sich im wahrheitslosen Leiden einrichtet. Ja, da hat Nietzsche recht: Das Leben ohne diese Wahrheit ist Leiden!! Und genau das ist auch der Ausgangspunkt dessen, was als Samkhya-Yoga-Philosophie die Basis meines jetzigen Erkenntnisstrebens ist.

    Gobi: Aber Chris, mach mich nicht wahnsinnig! Das sind doch auch alles nur Spekulationen. Darauf kann man doch als Naturwissenschaftler keine Welterkenntnis setzen.

    Chris: Du brauchst das ja auch nicht zu tun, wenn es für dich die absolute Wahrheit nicht gibt. Aber versuch doch - trotz aller Erregung - im Gesprächsfluß zu bleiben. Ich hätte von dir nämlich eine Frage erwartet, die jetzt auf der Hand liegt und deren Beantwortung dir zeigen kann, daß es hier eben keine Spekulation ist, um die es sich handelt.

    Gobi: Da bin ich aber gespannt. Nun gut, die Frage - zumindest ist das meine Frage, die ich jetzt habe - müßte lauten: Wenn es nicht die Spekulation ist, die normale philosophische Spekulation und Argumentation, die zur Wahrheit führt - was ist es dann?

    Chris: Gut, Gobi, das ist genau die Frage. Die philosophische Spekulation erwartet die Wahrheit als Aussage. Aber die Wahrheit für den Menschen ist keine Aussage. Die Wahrheit für den Menschen ist das Erleben der Wahrheit. Und die Wahrheit für den Menschen ist ein Leben in Wahrhaftigkeit. Man könnte sagen - und so den kategorischen Imperativ des „Werde der du bist“ neu definieren - man könnte also sagen: Lebe wahrhaftig im Hinblick auf das Erleben der Wahrheit, damit du zu deinem wahren Sein findest!

    Gobi: Große, sehr große Worte - aber was ist dahinter?

    Chris: Eine tägliche Übungspraxis!

    Gobi: Ja, ich weiß, daß man beim Yoga auch üben muß. Aber wir waren in einem philosophischen Gespräch. Jetzt sind wir abgeglitten in die Welt des Glaubens, in die Welt der Irrationalität. Nur mit dem Begriff „Leiden“, mit dem du bei Nietzsche anknüpfen möchtest, kommst du nicht weit - zumal die heutige Auffassung der modernen Philosophen nicht das Leiden betont.

    Chris: Ja ist denn die Rorty`sche Ironie etwas anderes als ein übermenschlicher Versuch, sich gegen das Leiden am Nichts zu stemmen? Sind wir da nicht in irgendeiner Form wieder bei Nietzsche? Aber was ich viel wichtiger finde ist die Tatsache, daß du diesen kleinen aber entscheidenden Schritt in der Modifikation des Philosophiebegriffs nicht mitmachen willst - von der Spekulation zur Veränderung der Lebenspraxis. Und warum benutzt du das Wort „Glauben“ mit soviel Ablehnung in Stimme und Formulierung. Frag dich doch lieber mal, wie weit ein intersubjektiver Konsens ohne Rückbindung an Absolutes ebenfalls was mit Glauben zu tun hat.

    Gobi: Das hat einzig und allein etwas mit Akzeptanz von Realität zu tun. Wenn du aber von deinen Thesen sprichst, dann ist der Glaube, der dafür nötig ist, nicht allzuweit vom Kirchenglauben entfernt. Nochmal, Chris, wir haben ein philosophisches Gespräch begonnen, und ich bin froh, daß sich die Wissenschaft im Laufe der Jahrhunderte von der Kirche, von Dogmen und normativen Vorgaben befreien konnte. Ja, wir sind heute frei zu forschen, frei zu denken, und wir sind auch frei und reif, uns als die Maschinen zu begreifen, die wir sind. Ja, und wenn das kein Anlaß für Ironie ist, dann weiß ich nicht.

    Chris: Ich merke, wie sehr du wieder emotional ausbrichst. Auf der einen Seite wirst du wieder sagen, das sei dein momentanes So-Sein. Auf der anderen Seite ist aber die Psychologie auch eine Wissenschaft, und die könnte jetzt konstatieren, daß deine Emotionen in Ängsten wurzeln. Du siehst dein mühsam aufgebautes und durch pseudooptimistische Fassade gestütztes nihilistisches Kartenhaus ins Wanken geraten. Nein, im Ernst, Gobi, ich will nicht verletzend werden, aber siehst du nicht auch - zum Beispiel bei Nietzsche - wie sehr eine Tiefenphilosophie im Westen auch die Tiefenpsychologie auf den Plan ruft? Nietzsche war ein schwer gestörter Mensch, und ohne seine Biographie können wir seine Lehren nicht verstehen und vor allem nicht richtig beurteilen. Wir könnten doch - im westlichen Sinn - erst dann wirklich philosophieren, wenn wir unseren persönlichen Schamott abgetrennt haben, wenn wir wirklich klar sehen können.

    Gobi: Nichts gegen das klare Sehen - aber du sprichst vom Glauben. Du bist es doch, der hier eigentlich die Irrationalität hereinbringt.

    Chris: Und genau das ist nicht so. Nein, laß uns hier an dieser Stelle mal genau schauen. Fangen wir beim Wort „Glauben“ an. Umgangssprachlich heißt: „Ich glaube“ „Ich halte für wahr“. Der Kirche wirft man heute vor, sie habe die Glaubenspraxis verflachen lassen. Dieser Vorwurf hat zwei Komponenten. Die eine: Die Kirche verlegt ihren Schwerpunkt langsam aber sicher von der Glaubenspraxis - was immer das heißt - auf Forderung moralischen Verhaltens und auf Sozialarbeit. Der zweite und entscheidendere: Die Kirche habe die Glaubenspraxis in sich verflachen lassen, von dem, was sie mal war, zu einem Glauben, der einfach nur ein Für-wahr-Halten ist. Das ist nun aber das Schicksal jeder Konfession, die ein Confessio - ich bekenne - in den Mittelpunkt stellt; dann ist das „Ich glaube“ natürlich schon ein eingeschränktes. Glauben als ein Für-wahr-Halten kann man nicht neben die Wissenschaft stellen, hier muß sich die Wissenschaft gegen normativen Anspruch emanzipieren. Aber hier muß sich auch der wahrhaft Glaubende gegen normativen Anspruch emanzipieren. Im Grunde wohnt jedem Confessio schon der Fundamentalismus inne, sei das nun Islam oder Christentum. Glaube in einer Philosophie, die den Menschen auf einen Erfahrungsweg führen will, weil nach ihrem Anspruch Wahrheit nicht gedacht, sondern nur erlebt werden kann, ein solcher Glaube hat ein ganz anderes Gesicht. Ein solcher Glaube ist, salopp gesagt, ein Vertrauensvorschuß. Und hier hat der Glaube drei Aspekte. Erstens: Ja, ich finde die Prämissen der philosophischen Aussagen so überzeugend, daß ich glaube, daß es wert ist, sie auszuprobieren - und zwar mit einer genügend großen Portion Frustrationstoleranz. Verkürzt: Ja, ich glaube, daß das ein für mich vernünftiger Ansatz ist. Zweitens: Wenn man auf einen unbekannten und schwierigen Erfahrungsweg geht, dann sollte man einen Führer mitnehmen ...

    Gobi: Jetzt fängst du schon mit dem Führer an ...

    Chris: Oh, wie sehr wird deine Voreingenommenheit jetzt sichtbar! Könntest du nicht auch an einen Bergführer denken? Wenn der Mensch zum Menschen werden will, ist das durchaus mit einer schweren Bergbesteigung zu vergleichen. Der zweite Vertrauensvorschuß, den ich also geben muß ist: Ja, ich habe den richtigen Führer. Und bevor du etwas sagst: Man kann genauso unfähige spirituelle Führer finden wie unfähige Bergführer. Und der dritte Vorschuß ist: Ich kann es schaffen. Es lohnt sich, anzufangen, denn auch ich kann es schaffen. Mensch zu werden, ist das Geburtsrecht jedes Menschen; also kann auch ich ein Mensch werden.

    Gobi: Und bis dahin sprichst du den Menschen ab, Menschen zu sein?

    Chris: Bis dahin spreche ich den Menschen ab, freie Menschen zu sein.

    Gobi: Und du bist frei, ja?

    Chris: Weiß Gott, noch nicht! Aber ich beginne langsam, die Stricke zu erkennen, die mich binden. Früher habe ich bei geistigen Bewegungen in mir oder bei Handlungsintentionen entweder geglaubt, das sei einfach so, was eigentlich heißt, daß ich gar nichts geglaubt habe, weil ich gar nicht reflektiert habe oder ich habe geglaubt, ich hätte es so gewollt. Heute erkenne ich sehr häufig, an welchen Stricken ich dahin geschleift werde.

    Gobi: Von wem denn? Wer schleift dich denn?

    Chris: Meine Gewohnheiten, meine Muster, meine Triebe, meine Wünsche.

    Gobi: Aber das bist doch du! Ich weiß gar nicht, was du willst! Das alles bist doch du! Weißt du, was ich glaube, obwohl ich kein Psychologe bin? Daß du eine ausgewachsene Psychose oder Neurose hast. Ich denke, du solltest mal zu einem guten Therapeuten gehen. Merkst du denn nicht, was du da redest? Jeder andere Mensch geht sich mit Freude ein Eis holen, wenn der Eiswagen klingelt, aber du läßt dich von deinen Wünschen an Ketten dahin schleifen. So kann man sich das Leben allerdings auch schwer machen. Dann ist es ja kein Wunder, daß du überall Leid siehst. Ich bin jetzt wirklich besorgt um dich.

    Chris: Lieber Gobi, deine Besorgtheit um mein Wohlergehen ehrt mich, aber ich kann dir versichern: Mir geht es auch im Erkennen der Stricke ausgesprochen gut, und ich glaube absolut nicht, daß mir ein Therapeut helfen könnte. Nein, ich bitte dich: Bleib doch einfach mal auf unserer philosophischen Gesprächsebene mit einem wohlwollenden Blick auf die Erweiterung, die der Begriff Philosophie im Yoga-Sinn erfahren muß.

    Gobi: Gut, Chris, versuchen wir nochmal, etwas Konstruktives daraus zu machen. Worauf willst du hinaus?

    Chris: Ich will darauf hinaus, daß der Hauptunterschied zwischen unseren Auffassungen darin liegt, daß du dich mit allen Bewegungen in deinem Geist identifizierst und sagst: „Das bin ich“, während ich hier sehr genau das Geschehen im Geiste differenziere und mich mehr als Zuschauer all dessen verstehe, was in meinem Geist abläuft.

    Gobi: Und das bedeutet also, daß nicht du das Eis willst, sondern daß du nur beobachtest, wie dein Geist ein Eis will?

    Chris: Genau richtig.

    Gobi: Und warum will der Geist das Eis?

    Chris: Weil er entsprechende Erfahrungen gespeichert hat, die als Resonanzphänomen mit dem Läuten der Eiswagenglocke angeregt werden. Und dann schwingen bestimmte Gedankenmuster im Geist und werden aktiv, und dann sind Gedanken da wie: „Das ist der Eiswagen von Luigi.“ „Luigi hat das beste Schokoladeneis der ganzen Stadt.“ „Und die Kugeln bei Luigi sind besonders groß.“

    Gobi: Mir läuft schon beim bloßen Zuhören das Wasser im Munde zusammen.

    Chris: Siehst du, genau das ist der Mechanismus. Wie beim Pawlowschen Hund.

    Gobi: Ja, aber das ist doch nicht schlimm. Wir sind Kinder der Evolution und damit natürlich irgendwo Pawlowsche Hunde.

    Chris: Aber wenn du am Computer arbeitest, wenn du Auto fährst oder mit Aktien spekulierst, dann hast du nicht das Gefühl ein Hund zu sein? Machst du dann etwas typisch Menschliches? Wenn wir den Hund in uns an vielen Punkten überwunden haben um Mensch zu sein, sollten wir dann nicht auch den Pawlowschen Hund überwinden, um zu schauen, wie der Mensch seine Ernährung und meinetwegen auch, wie der Mensch sein Vergnügen und seine Freude realisieren kann, realisieren kann als Mensch und nicht als Tier. Du sagst, wir sind Kinder der Evolution, aber fällt dir gar nicht auf, wie oft wir uns hinter solchem Worttrug verstecken, wenn wir einfach nur zu bequem sind, genau hinzuschauen.

    Gobi: Aber verwendest du nicht zu viel Mühe am falschen Objekt? Sag doch einfach: Ich will ein Eis - und genieße!

    Chris: Aber wer ist dieses „Ich“, das jetzt ein Eis will? Mein Körper nicht; der pflegt mir über Hunger, Durst, Appetit, Müdigkeit usw. ziemlich genau mitzuteilen, was er braucht. Und ist es der Geist, der das Eis will?

    Gobi: Das hattest du gesagt.

    Chris: Ich hatte aber auch gesagt, daß ich den Geist genauer anschauen will. Was habe ich zehn Sekunden vor dem Klingeln des Eiswagens getan? Vielleicht ein schönes Buch gelesen. Mein Geist hat dabei gelacht, war voll befriedigt, hat nichts anderes gebraucht. Und nun die Klingel. Und womit tritt die Klingel in Resonanz? Mit Einprägungen und Mustern und Erfahrungen aus der Vergangenheit. Wer sich jetzt zu Wort meldet ist nicht das aktuelle „Ich genieße das Buch“, sondern ein altes Ich, was irgendwannmal ein Eis von Luigi genossen hat. Meine Vergangenheit schleift mich an Stricken aus meiner Gegenwart davon. Und das mein lieber Gobi, machen wir andauernd. Wir lassen uns ständig von unserer Vergangenheit schleifen. Wichtig ist doch aber nur: Was ist hier und jetzt?!

    Gobi: Ich kann dir in dem was du meinst durchaus folgen, aber ich frage trotzdem: Was ist so schlimm daran? Muß ich mich fragen, ob meiner Vergangenheit oder meiner Gegenwart das Wasser im Munde zusammenläuft? Was ist schlimm daran, einfach ein Eis zu essen und zu genießen?

    Chris: Am Eis von Luigi ist wirklich nichts schlimm, wenn man nicht päpstlicher als der Papst sein will, schlimm ist nur, daß wir im Allgemeinen völlig unbewußt handeln, angetrieben von Motivationen, die wir nicht kennen. Und der ganze desolate Zustand der Welt sollte eigentlich dazu dienen, uns das vor Augen zu führen. Gobi, wir haben zwei Antriebskräfte in uns, den spirituellen Willen mit all seinen Derivaten, die Kraft, die uns zum Menschen machen will, und die von den Einprägungen des Geistes durch sinnlichen Reiz aufsteigenden Gedankenwellen, die Welt der Wünsche und Triebe, die eigentlich in unserer Vergangenheit wurzeln. Unbewußt zu sein heißt, den Wünschen nachzugeben und dadurch die Einprägungen zu vertiefen und das Netz zu verfestigen, in dem wir uns fangen. Und fangen tun wir uns, weil so der Frust, die Angst, die Aggression vorprogrammiert sind. Esse ich unbewußt das Eis, dann werde ich nächstesmal noch weniger widerstehen können. Und dann klingelt Luigi irgendwann, und ich habe kein Geld, weil ich meinen Job verloren habe, aber Müller, der hat immer Geld und kann sich ein Eis holen. Was mache ich mit diesem frustrierten Wunsch und dem Neid auf Müller? Oh, keine Bange. Das ist nicht der erste Frust, der erste Neid; auch dafür haben wir schon Muster geprägt, und wieder steigen Gedankenwellen auf und mein Verhalten ändert sich, und meine Aggressionen suchen einen Aufhänger, und den finden sie dann in der Frau, den Kindern, den Freunden, und auch dafür haben wir Mechanismen geprägt, und wir verstricken uns mehr und mehr - und all das ist unbewußt. Und du sagst: „Das bin ich!“. Und ich sage :“Das will ich nicht sein!“ Das lieber Gobi, hat Nietzsche nicht durchschaut; er hat das Netz als Leiden erkannt und gesagt: Der Mensch muß zum Übermenschen werden, um dieses Leiden zu ertragen. Aber da gibt es andere, die sagen: Es gibt ein Mittel gegen das Leiden. Ist das nicht eine faszinierende Aussage? Was für Implikationen, wenn sie wahr ist - was immer Wahrheit ist! Sollte die Gewichtigkeit dieser Aussage nicht verleiten, hier einen deutlichen Blick zu riskieren?

    Gobi: Ich beginne langsam zu verstehen, worauf du hinauswillst. Und diesen Blick, den hast du riskiert?

    Chris: Den habe ich riskiert. Und ich habe gefunden, daß es lohnt, den Vertrauensvorschuß, von dem ich vorhin sprach, aufzubringen und erste Schritte der Erfahrung zu tun.

    Gobi: Und den Vertrauensvorschuß, verstehst du so, daß er zunächst nur so weit zu reichen braucht, wie es nötig ist, erste Erfahrungen zu machen? Und wenn die Erfahrungen vielversprechend sind, dann erhöhst du den Vorschuß?

    Chris: Ganz richtig. Die Erfahrung verifiziert die theoretischen Konstrukte, nach denen ich die ersten Schritte getan habe. Ausgangspunkt der Samkhya-Yoga-Philosophie sind die Samkhya-Philosophen; die haben vor Jahrtausenden begonnen, den Menschen und den menschlichen Geist genau zu untersuchen, und sie haben drei Dinge festgestellt. Erstens: Das menschliche Leben ist Leiden, geformt aus den Mustern, die ich eben am Beispiel des Eiswagens skizziert habe. Zweitens: Alle natürlichen Heilmittel versagen bei der Aufgabe, dieses Leiden zu lindern; es gibt keine Wunscherfüllung, keine Arznei, nichts, was gegen das Leiden helfen kann.

    Gobi: Bis hierhin ist es fast Nietzsche.

    Chris: Genau. Bis hierhin ist es fast Nietzsche. Aber jetzt wird es anders. Nämlich drittens: Wenn du erkennst, wer du wirklich bist, wenn du erkennst, daß du ein freies Bewußtsein bist, das eigentlich gar nicht leiden kann, wenn du erkennst, daß du dich nur durch falsche Identifikation selber in das Leiden hineinfesselst, dann befreist du dich aus dem Leiden.

    Gobi: Das ist allerdings eine Verheißung. Wenn sie denn nur wahr wäre.

    Chris: Man kann im Grunde sagen: Die Samkhya-Philosophen haben eine umfassende Landkarte des menschlichen Geistes angelegt, und in dieser Landkarte ist der Punkt eingetragen, an dem sich alles löst, an dem der Mensch zum Menschen werden kann. Und nun kommen die Yogis. Sie sagen genau wie du: Mensch, das ist wirklich eine Verheißung. Nur sie fügen noch etwas hinzu. Sie sagen nämlich: Das was ich in deiner Landkarte sehe, lieber Samkhya-Philosoph, das sieht mir sehr vernünftig aus, und die Verheißung ist wunderbar. Komm, gib mir deine Karte, ich will dir einen Vertrauensvorschuß geben und mich auf den Weg machen, und wenn ich zurückkomme, dann werde ich dir erzählen, was ich erlebt habe.

    Gobi: Und dann macht sich der Yogi also auf den Weg - mit der Landkarte des Samkhya-Philosophen in der Hand?

    Chris: Ja, so müssen die ersten Yogis losgezogen sein. Und sie sind wiedergekommen, und sie haben erzählt.

    Gobi: Und? Stimmte die Landkarte? War der Vertrauensvorschuß berechtigt?

    Chris: Die Karte stimmte. Und die Yogis haben den Punkt gefunden, und sie haben gefunden, daß dort alles Leid aufhört und das Reich der Freiheit beginnt. Und sie haben den Punkt asamprajnata samadhi genannt.

    Gobi: Haben sie denn dann wenigstens einen vernünftigen Reiseführer geschrieben, daß die, die später aufbrechen wollen, es leichter haben?

    Chris: Genau das haben sie getan. Die Yoga-Literatur, das sind die Reiseführer. Und wenn heute so ein Meister vor dir steht, in der einen Hand die Landkarte, in der anderen die diversen Reiseführer - unter anderem auch seinen eigenen - und du siehst ihm ins Gesicht und merkst: Ja, der ist wirklich angekommen, dann bist du wohl zu einem kleinen Vertrauensvorschuß deinerseits bereit. Und dann studierst du Karte und Führer, und du machst die ersten zaghaften Schritte, und du siehst, daß deine Unterlagen stimmen, und du vergrößerst deinen Vertrauensvorschuß, und du erkennst immer mehr von den Stricken, die dich halten, und du schaust zurück, schaust dorthin, wo du hergekommen bist und verstehst jetzt besser, warum die Welt so ist wie sie ist ...

    Gobi: ... dann sieht das sehr nach Sekte und nach fundamentalistischer Besserwisserei aus. Versteh mich recht. Es klingt verständlich, vernünftig und verlockend, was du sagst, aber es klingt auch irgendwie gefährlich.

    Chris: Was ist das, was in deinen Ohren gefährlich klingt? Es ist die mitschwingende Aufforderung, selbst die Verantwortung zu übernehmen. Der Pawlowsche Hund schwimmt in der Welt wie der Korken auf dem Wasser. Hier muß man aber selber aktiv werden, in gewisser Weise gegen den Strom schwimmen, um zur Quelle, nämlich der Quelle des Bewußtseins zu kommen. Mit Sekte und Fundamentalismus hat das nichts zu tun.

    Gobi: Ich bin mir da noch nicht so sicher, aber im Moment sind es mehr meine Gefühle, die aufgewühlt sind; argumentativ kann ich das noch nicht fassen.

    Chris: Eine Sekte macht dich unfrei, indem sie dich in ein dichtes dogmatisches Netz hüllt - das gibt es im Yoga nicht; und der Fundamentalismus will die Gesellschaft unfrei machen, indem er sie alle unter seine Knute zwingen will - und auch das will Yoga nicht. Es ist ein ganz individueller und stiller Weg, auf dem ich Stück für Stück meine eigene Freiheit erkämpfe.

    Gobi: Und dann kommt das große Wahrheitserlebnis?

    Chris: Schon auf dem Weg kommen viele kleine Wahrheitserlebnisse; sie heißen in der Yoga-Philosophie samprajnata samadhi, d.h. samadhi mit Weisheit. In gewisser Weise erfahre ich in diesen Zuständen die Dinge an sich und erfahre damit, daß es das Ding an sich tatsächlich gibt. Es ist sehr eindrucksvoll, entsprechende Schilderungen zu lesen, z.B. in den verschiedenen Kommentaren der Yoga-sutras. Aber davon bin ich noch weit entfernt, wirklich, sehr weit. Aber da sitzen dann meine Lehrer vor mir, und sie erscheinen mir so glaubhaft wie der alte erfahrene Bergführer, dem ich auch die Erlebnisse glaube, von denen er berichtet und dem ich mich anvertraue.

    Gobi: Und jetzt sagst du: Diese Gewißheit, daß es die Dinge an sich, daß es das Absolute, daß es diesen Punkt gibt, an dem das Leiden verschwindet, das sei als fester Aspekt des Menschlichen im Menschsein verankert und treibt die Menschen immer wieder auf den Weg, die Wahrheit zu suchen?

    Chris: So ist es. Und es ist der Frust des jahrhundertelangen Nichtfindens, gepaart mit aufklärerischer Hybris, was den Menschen in den kompensatorischen Größenwahn eines Nietzsche, in die Ironie eines Rorty und in die vielen mechanistischen Versuche treibt, das Bewußtsein als Funktion der Maschine Gehirn zu begreifen.

    Gobi: Wenn sich aber nun zeigen läßt, daß das Bewußtsein nur eine Funktion des Gehirns ist, dann muß irgendwo in all dem, was du erzählst, ein Pferdefuß sein.

    Chris: Dann müßte da irgendwo ein Pferdefuß sein. Es wird sich aber so nicht zeigen lassen. Gezeigt wäre es erst, wenn sich alle Phänomene, die mit Bewußtsein zusammenhängen, aus der Funktion des Gehirns erklären lassen. Und das wird nicht gehen.

    Gobi: Was macht dich da so sicher?

    Chris: Allein schon die Unsicherheit, mit der die modernen amerikanischen Philosophen sich dieses Themas annehmen. Es sind nur einige, die diese Abhängigkeit des Bewußtseins, diese Reduzierung auf Gehirnfunktion tatsächlich glauben - und da ist es dann tatsächlich ein Glauben im Sinne eines Für-wahr-Haltens. Andere haben aber sehr schöne Gedankenexperimente angegeben, die das Gegenteil nahelegen - und ich sehe nicht, wie man das widerlegen wollte.

    Gobi: Und was wäre so ein Gedankenexperiment?

    Chris: Zum Beispiel hat Thomas Nagel ein sehr einfaches und schönes angegeben: Stell dir vor, die Menschen seien wirklich Maschinen, dort drüben sitzt die Maschine Gobi, hier sitzt die Maschine Chris, und draußen laufen noch jede Menge anderer Maschinen rum. Jetzt seien die Maschinengehirne so beschaffen, daß sie etwas wie Bewußtsein erzeugen können. Was aber soll dieses Bewußtsein sein? Aus der Funktionalität der Maschine läßt es sich nicht erklären, die sei ja in höchster Komplexität gegeben. Wir können also von außen gar nicht angeben, was ein Bewußtsein eigentlich sein soll, wir können nur spüren, daß wir selbst eins haben. Hier steckt also schon ein großes Verständnisproblem. Wir wollen aber annehmen, daß in den Maschinen irgendetwas ablaufen kann, so daß sie nicht nur funktional sagen können: „Hey, das bin ja ich!“, sondern daß da auch irgendwas oder irgendwer ist, der das empfinden kann. Aber wer ist das? Das psychische Phänomen, daß sich aus der Prämisse: „Gehirnmaschinen können Bewußtsein entwickeln.“nicht ableiten läßt, ist die schlichte Tatsache, daß ICH - diesmal Ich groß geschrieben - daß ICH mich ausgerechnet in der Maschine Chris wiederfinde. Warum, verdammt noch mal, kann ich nicht der Bewußtseinszipfel sein, den die Maschine Gobi entwickelt hat? Oder irgendein anderer? Und warum muß ICH überhaupt Bewußtseinszipfel spielen?

    Gobi: Vielleicht weil dieses ICH eine bestmögliche Entsprechung ausgerechnet zur Maschine Chris ist.

    Chris: Und genau das geht nicht. Dieses ICH kann überhaupt gar nichts aus sich heraus sein, was man der Maschine gegenüberstellen könnte, weil es ja nur eine Funktion der Maschine ist. Es gibt da also genausoviele psychische Realitäten, die sich aus dem Maschinen-Ansatz nicht erklären lassen, wie es Menschen auf der Erde gibt - alles natürlich unter der Voraussetzung, daß die anderen Menschen ein Bewußtsein haben, wie ich es habe.

    Gobi: Also, ich habe eines! Aber nochmal: Die Tatsache, daß ICH groß geschrieben als Bewußtsein in der Maschine Gobi stecke und nicht beispielsweise in der Maschine Chris, soll den Maschinen-Ansatz widerlegen? Ist das nicht ein bißchen einfach? Kann man nicht einfach sagen, die Maschine Gobi habe ein Bewußtsein entwickelt?

    Chris: Nein, das könntest du nur sagen, wenn du damit auch erklären könntest, warum das ICH, groß geschrieben, von dem du eben sprachst, sich ausgerechnet in der Maschine Gobi erfährt. Auf eine Eigenschaft des ICH kannst du es nicht reduzieren. Schon dein erster spontaner Einwand, nämlich, daß das ICH eben gewisse Eigenschaften haben müsse, die zu der jeweiligen Maschine passen und das darin ein Auswahlmechanismus läge, zeigt doch, wie ein Mensch sein ICH als ein ganz Eigenständiges empfindet.

    Gobi: Aber diese Empfindung ist keine ausreichende Erklärung.

    Chris: Nein, aber diese Empfindung muß ausreichend erklärt werden, weil sie nämlich als wichtigstes psychisches Phänomen das wichtigste Phänomen überhaupt auf Erden ist.

    Gobi: Ich kann im Moment nicht dagegen sprechen, aber ich kann mir auch nicht vorstellen, daß es so einfach sein soll.

    Chris: Wir haben also ein Phänomen, oder besser: so viele Phänomene, wie wir Menschen auf der Welt haben und hatten, die du im Moment aus der Maschinen-Theorie heraus nicht erklären kannst. Ich kann es auch nicht, und Thomas Nagel kann es auch nicht. Aber ich könnte dir, wenn wir genügend Zeit hätten, zeigen, daß Samkhya-Yoga im Gegensatz zur Maschinen-Theorie das sehr wohl kann.

    Gobi: Was sich aber als Wahrheit nicht zeigen, sondern nur erfahren läßt.

    Chris: Daß das Konzept ein sehr schlüssiges ist, das kann man nachempfinden, wenn man es studiert. Daß es wahr ist, diese Gewißheit wird man erst durch Erfahrung erlangen.

    Gobi: Und bis dahin muß man einen Vertrauensvorschuß geben.

    Chris: So ist es.

    Gobi: Also, ich finde alles sehr eindrucksvoll, was du sagst, aber ich hoffe, du kannst verstehen, daß es für einen Vertrauensvorschuß meinerseits noch nicht reicht. Ich habe vielmehr im Moment das Gefühl, daß durch deine Worte viele Fragen im Raum stehen, die alle beantwortet werden müßten, wenn wir irgendwie einen Schritt vorankommen wollen. Ich frage mich, ob das alles wahr ist, ob ich das alles für wahr nehmen kann und das, wo ich doch weiß oder doch zu wissen glaube, daß es „wahr“ in einem absoluten Sinn nicht gibt. Und trotzdem brauchen wir an solchen Stellen eine Wahrheit. Das ist ein Dilemma, wirklich ein Dilemma. Und dieses Dilemma zeigt, daß wir irgendwie mit dem Wahrheitsbegriff noch nicht fertig sind. Du hattest doch das Thema vorhin so schön umrissen, als du den kategorischen Imperativ - und auch das ist noch ein Thema, nämlich ob es so etwas überhaupt gibt - als du also das „Werde der du bist“ umformuliert hast. Was hattest du da noch gleich gesagt?

    Chris: Ich hatte gesagt: Lebe wahrhaftig im Hinblick auf das Erleben der Wahrheit, damit du zu deinem wahren Sein findest.

    Gobi: Klingt gut, klingt wirklich gut. Aber was soll es bloß sein? Wie soll es bloß weiterbringen? Über das Erleben der Wahrheit, so wie du es verstehst, haben wir schon gesprochen, und das „Lebe wahrhaftig“ kann ja nur heißen, immer die Wahrheit zu sagen, aber damit haben wir immer noch keine Antwort auf die Frage, ob das alles wahr ist, was du sagst.

    Chris: Ich finde es interessant zu sehen, wie du jetzt, wo du verunsichert bist, nach einer absoluten Wahrheit suchst, um dich daran festzuhalten. Und jetzt muß ich leider der sein, der sie dir immer wieder wegnimmt. Und damit will ich gleich mal anfangen. Du sagst: Lebe wahrhaftig kann nur heißen, immer die Wahrheit zu sagen. Aber wie willst du immer die Wahrheit sagen, wenn es die Wahrheit nicht gibt?

    Gobi: Nein, Chris, so einfach nicht. Das ist doch jetzt wirklich nur im moralischen Sinne, im Sinne einer Alltagssituation gemeint. Wenn ich sehe, wie ein Junge im Lebensmittelgeschäft an der Ecke einen Apfel klaut und ich sage: „Der Junge hat einen Apfel geklaut.“, dann habe ich eindeutig die Wahrheit gesagt.

    Chris: Greifen wir doch dieses Beispiel mal auf. Nehmen wir an, ich hätte diesen Jungen gesehen, und ich würde dir sagen: Du, da war ein Junge, der hat bei Tante Emma an der Ecke als Tante Emma mal weggeguckt hat, einfach einen Apfel geklaut und ist damit verduftet. Was löst diese gesagte Wahrheit in dir aus?

    Gobi: Das löst in mir das Gefühl aus, daß der Junge mal gründlich übers Knie gelegt gehört.

    Chris: Jetzt sage ich dir diese Wahrheit einmal anders: Du, die haben eben einen Jungen aufgegriffen, der seit zwei Tagen nichts zu essen gekriegt hat und aus lauter Verzweiflung bei Tante Emma einen Apfel gegrapscht hat. Was löst das bei dir aus?

    Gobi: Mitgefühl! Jetzt würde mir der Junge leid tun.

    Chris: Und wenn ich sage, daß sie eben einen Jungen aufgegriffen haben, der bei Tante Emma einen Apfel geklaut hat, obwohl er 20 DM in der Tasche hatte?

    Gobi: Dann würde ich denken: Wie kann man so leichtfertig seine Zukunft aufs Spiel setzen?

    Chris: Und wenn der Junge die 20 DM nicht anbrechen wollte, damit er seiner Mutter, wenn er sie heute nachmittag im Krankenhaus besucht, einen schönen Blumenstrauß mitbringen kann und daß das auch der Grund ist, warum er so lange nichts gegessen hat?

    Gobi: Gut, gut, ich verstehe. Hinter diesen verschiedenen Geschichten, die so unterschiedliche Gefühle bei mir auslösen, steht nur eine Wahrheit, die sich nie so, wie sie ist, vollständig aussagen läßt. Also kann - und das wolltest du mir wohl zeigen - in Wahrhaftigkeit leben nicht heißen, die Wahrheit zu sagen.

    Chris: So ist es. Daß das Wort „wahr“ ein schwieriges Wort ist, daß haben auch deine modernen Philosophenfreunde erkannt. Rorty hat es sich eindeutig zu einfach gemacht. Aber die Vorsicht, die man walten lassen muß, die hat Collingwood in seiner Autubiographie deutlich gemacht. Dort hat er geschrieben:

    Wenn ein Satz „wahr“ genannt wird, ist damit ... gemeint:
    (a) der Satz gehört zu einem Frage-und-Antwort-Komplex,
    der als Ganzes im angemessenen Sinne des Wortes „wahr“ ist;
    (b) im Rahmen dieses Komplexes ist er eine Antwort auf eine
    bestimmte Frage; (c) die Frage ist keine törichte, sondern eine,
    wie wir normalerweise sagen, vernünftige oder gescheite Frage,
    die sich in meiner Terminologie wirklich „stellt“; (d) der Satz ist
    die „richtige“ Antwort auf diese Frage.

    Ja, und wenn das alles gegeben ist, dann ist es nach Collingwood nicht „wahr“, sondern dann wird es „wahr“ genannt. Nein, an das Leben in Wahrhaftigkeit müssen wir anders herangehen.

    Gobi: Und wie lebe ich nun wahrhaftig?

    Chris: Da sind zwei Dinge wichtig. Das eine ist, nicht zu lügen. Wir können zwar die Wahrheit nicht erkennen - die Lüge in uns, die erkennen wir immer. Und das zweite ist: Lebe so, daß Denken, Sprechen und Handeln im Einklang sind.

    Gobi: Das mit der Lüge ist klar, aber warum nennst du das andere ein Leben in Wahrhaftigkeit? Was hat es mit dieser Einheit von Denken, Sprechen und Handeln auf sich?

    Chris: Das ist genau die Art, eine Situation zu bestehen, die dich dem Erlebnis der Wahrheit in maximaler Weise näher bringt. Du kannst fast sagen, es ist der Kompaß, der uns zu Landkarte und Reiseführer noch fehlt.

    Gobi: Ja Chris, was soll ich da noch sagen? Es gibt zwar viele Punkte, wo genauer nachzufragen wäre, aber es gibt keinen Punkt, gegen den man argumentieren könnte, weil, ja, weil einfach all das, was du sagst, nicht im Reich der Argumentationen liegt. Was bleibt denn dann noch? Eigentlich kann man nur noch, ja, wirklich nur noch ...

    Chris: ... nur noch einen Vertrauensvorschuß geben.

    Gobi: Ist das eigentlich noch ein philosophisches Gespräch, was wir führen? Kommt dir dein Verhalten nicht selbst ein bißchen missionarisch vor?

    Chris: Wirklich nicht. Ich habe doch eben nur ausgesprochen, was du selber gedacht hast.

    Gobi: Das ist wohl wahr. Aber war deine ganze Diskussionsführung nicht darauf angelegt, mich in diese Ecke zu drängen?

    Chris: Ich dränge wirklich niemanden. Ich habe überhaupt keinen missionarischen Anspruch. Aber wenn wir beide zusammen sind, dann führen wir eben gerne philosophische Gespräche, und die Richtung unseres Gespräches, die hast eigentlich weitgehend du vorgegeben. Wenn du jetzt genau an dem Punkt stehst, wo du stehst, dann hast du dich selber da hinmanövriert. Wenn dich etwas von dem, was ich gesagt habe, berührt hat, dann war eben etwas in dir, das sich hat berühren lassen. Es ist einfach auch in dir eine starke Intention, nach der Wahrheit und nach dem Sinn zu suchen. Auch du, mein Lieber, träumst den Traum vom Absoluten. Wenn ich, als du auf die Gehirnforschung losgehen wolltest, erstmal den Wahrheitsbegriff abklären wollte, dann nur deshalb, damit wir dann im Gespräch einen Maßstab in der Hand haben, damit wir überhaupt wissen, wovon wir reden.

    Gobi: Richtig, das ist es, das fällt mir jetzt auf: Wir haben überhaupt noch nicht über die Wissenschaft geredet. Und ich bin nach wie vor der Meinung, daß es hier riesige Betätigungsfelder gibt und wir vielleicht manches finden würden, was dich in deiner Argumentation in die Enge treiben könnte.

    Chris: Die Betätigungsfelder bestätige ich dir gern. Und daß Wissenschaft spannend sein kann, Spaß machen kann und daß man als Wissenschaftler nicht unbedingt unmoralisch handeln muß, das will ich dir auch gerne zugeben. Aber ich bezweifele - und das habe ich ja vorhin schon angesprochen - daß die Wissenschaft etwas für den Menschen in seinem Menschsein Entscheidendes erforschen könnte. Und wenn uns eines fehlt und die Ursache all unserer Probleme ist, dann ist es die Unvollständigkeit unseres Menschseins. Das ist das eigentliche Wissen, worauf es ankommt. In der Samkhya-Yoga-Philosophie wird hier von vidya, dem wahren Wissen gesprochen ...

    Gobi: Also doch das wahre Wissen, was ihr im Gegensatz zu uns Dummbatzen zu haben meint.

    Chris: Nicht doch! Werd doch nicht unsachlich und polemisch. Es muß doch aber deutlich gemacht werden, daß es hier um zwei unterschiedliche Kategorien von Wissen geht. Beim Tun der Wissenschaft ist - umgangssprachlich, nicht informationstheorethisch - zwischen Information und Wissen kein deutlicher Unterschied. Wir sprechen von Informationsflut, sagen aber auch, daß sich unser Wissen in soundsoviel Jahren verdoppelt. Diese Art Wissen, dieses Informations-ähnliche Wissen hat zur Folge, daß heute in den Büros nicht mehr mit Letraset und Tipp-Ex hantiert wird, sondern mit Word und Excel, aber die Hantierenden sind die gleichen Dummbatze geblieben - Dummbatze in Bezug auf das Wissen um den Sinn ihres Lebens - wie sie vorher waren. Sie haben früher zu ihrem Emotionsgebrodel gesagt: „Das bin ich!“ und sie sagen es heute auch noch. Jemand kann vormittags den Nobelpreis verliehen bekommen und abends besoffen seine Frau verprügeln. Vidya schließt von irgendeinem Punkt an sowas aus. Auf einigen Schritten Yogaweg hat sich in dir mehr verändert als im Verlauf eines ganzen Studiums.

    Gobi: Ich merke sehr wohl, daß du dich verändert hast.

    Chris: Meinst du das wieder polemisch?

    Gobi: Nein wirklich nicht! Und wenn manches polemisch klingt oder verletzend - es ist nicht so gemeint. Aber für mich ist die Situation vertrackt: Ich kann nicht gegen dich argumentieren, ich kann aber auch nicht sagen, daß du nur Glaubenssätze verbreitest. Denn auf diesen Vorwurf würdest du antworten: Hier gibt es nichts zu glauben, hier ist nur ein kleiner Vertrauensvorschuß zu leisten, und dann gilt es Erfahrungen zu machen. Und dann kann man ja selber gucken. Und diese Aufforderung steckt zumindest implizit in unserem Gespräch und verunsichert mich. Ich würde mich wirklich wohler fühlen, wenn wir friedlich über die außerordentlich großen Möglichkeiten der modernen Wissenschaft reden könnten.

    Chris: Das glaube ich dir gerne. Das kleine Wörtchen „friedlich“, das dir rausgerutscht ist, zeigt deutlich, wie der Hase läuft. Alles fühlt sich gut an, solange man sich nicht zu bewegen braucht, aber dieses Gut-Anfühlen verschleiert nur die einzige Realität in so einem Leben, und das ist die Realität des Leidens.

    Gobi: Ich fühle mich aber meistens recht wohl. Wie paßt das mit der Leidens-Realität zusammen, von der du sprichst?

    Chris: Ich habe mal ein sehr schönes Gedicht von Salvatore Quasimodo gelesen:

    AN DIE NACHT

    Aus deinem Muttergrund
    steige ich erinnerungslos
    und weine.

    Engel wandeln schweigend
    mit mir; die Dinge haben keinen Atem;
    zu Stein verwandelt jede Stimme
    Schweigen begrabener Himmel.

    Der erste deiner Menschen
    weiß nichts vom Leiden, aber leidet.


    Ja Gobi, der Mensch weiß nichts vom Leiden, aber leidet! Wenn jede Wunscherfüllung einen neuen Wunsch gebiert, einen stärkeren, wenn die erste Verdrängung einen Mechanismus gebiert, der dann zunehmend wie geschmiert läuft, wenn der Frust nicht erfüllbarer Wünsche sich als Aggression Ventile sucht, wenn das Fehlen jeglicher Initiation statt richtiger Männer nur noch kompensierende große Jungen hervorbringt, wenn dann auch die Liebe zur sex-machine wird, weil man mit Sex so herrlich kompensieren kann, wenn die Freude zum Vergnügen und das Vergnügen schal wird, wenn das schale Leben die ersten Depressionen hervorbringt, wenn die zeichengebenden Wehwehchen sich nur noch als Diskussion über die Gesundheitsreform Gehör verschaffen, ja, Gobi, dann sagen alle Menschen: „Das bin ich! Das bin ich!“ Und sie merken nicht wie sie leiden. Sich einzugestehen, daß man leidet, das ist der erste ganz große Schritt. Aber wenn man das Leid beenden will, dann darf es nicht der letzte bleiben.

    Gobi: Ich weiß nicht mehr, was ich dazu sagen soll, so recht scheinst du zu haben.

    Chris: Dann will ich dir nochwas erzählen. Wir haben eben über vidya gesprochen, über das wahre Wissen. Was haben die ersten Yogis gebraucht, um dieses Wissen hervorzubringen? Technik? Zivilisation? Wissenschaft?. Das Wort vidya, Gobi, stammt von der Wortwurzel vid ab. Aus der indogermanischen Sprachfamilie ist aus dieser Wortwurzel auch das griechische „Idee“ entstanden. Platonische Ideen sind etwas sehr Hehres, wir hätten sie vorhin genausogut zum Thema des Absoluten, zum Thema des Dings an sich ansprechen können. Ja, die Platonischen Ideen sind herrliche Philosophie, aber sie haben nicht mehr die Qualität von vidya, denn sie sind schon spekulative Philosophie. Platon lehrte in seiner Akademie, das ist schon etwas anderes als die wandernden Mönche Indiens, aber die Akademie reihen wir gerne noch unter Kultur und nicht unter Zivilisation und Technik. Tja, Gobi, und dann stammt aus der Wortwurzel vid noch das lateinische video: ich sehe. Es paßt gut zur römischen Militärmaschinerie, daß das Sehen nur eine unserer Sinnesfähigkeiten ist und nicht mehr unbedingt Ausdruck des Erkennens. Aber sehen, ja, das konnten die Römer noch. In unserer technischen Zivilisation denke ich allerdings nur noch an den Videorecorder. Er ist sicher eine wissenschaftlich-technische Meisterleistung - aber das Sehen, das haben wir gründlich verlernt. Ich meine dabei gar nicht mal die Porno-Konsumenten, die eifrig aufs Genital glotzen, ich meine schlichtweg jeden, der so ein Gerät hat. Ich will dir ein Beispiel dazu erzählen. Ich habe in Indien gesehen, wie eine spirituell hochentwickelte Tänzerin die heilige saundarya lahari vor ihrem Lehrer Swami Veda getanzt hat. Swamiji hat ihr hinterher als höchstes Lob gesagt, ihr Tanz hätte ihn in Meditation versetzt, und sie hat ihm die Füße geküßt. Ich habe ergriffen und gebannt zugeschaut. Vor mir stand eine junge Frau mit einer dieser kleinen elektronischen Videokameras, einer technischen Meisterleistung, wenn du mich fragst. Sie hatte ihren Blick dauernd auf den gleißend hellen kleinen Kontrollschirm geheftet, um eine möglichst gute Aufnahme zustande zu bringen. Zu Hause wird sie stolz diesen Film zeigen, um ihre Angehörigen teilhaben zu lassen, an dem, was sie in Indien gesehen hat. Aber hat sie wirklich die saundarya lahari getanzt gesehen? Ist dieses wirkliche Sehen nicht mit einer Video-Aufnahme völlig unvereinbar? Vom Faustkeil zur Nanotechnik, Gobi, aber auch von vidya zum Videorecorder. Das genau ist das Thema.

    Gobi: Ich bin im Moment sehr berührt und auch sehr angefüllt.

    Chris: Dann laß uns für heute unser Gespräch mit einem Epilog beenden:

    Du beklagst Dein Schicksal, Mensch?
    Mach die Augen auf und siehe:
    Du hast eine Bestimmung!
    Werde der du bist!
    Mache Deine ersten Schritte, sieh
    die Zeichen am Weg und nimm
    den ersten spiegelnden Glanz in Dir,
    den ersten Hauch der Glückseligkeit
    als Verheißung
    der Göttlichen Gnade.

    Dann wird es bald keine
    Grenzen mehr geben.
    (Februar 1999)



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