Krümels-Bücherwelt ...

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Stamm, Peter - An einem Tag wie diesem




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Stamm, Peter - An einem Tag wie diesem

Beitragvon Pippilotta » 30.12.2006, 19:48

[center]Peter Stamm " An einem Tag wie diesem" [/center]

zum Inhalt

Andreas ist Ende 30, Junggeselle, Lehrer in Paris. Er führt ein recht zurückgezogenes, ereignisloses und eigentlich trostloses Leben, vermeidet soziale Kontakte, scheut sich davor, tiefere Beziehungen einzugehen, er unterhält einige belanglose Affären. Auch die familiären Kontakte zu seinem Bruder beschränken sich auf Anstandsfloskeln.
Im Zuge der Geschichte bekommt man einen Hinweis, warum Andreas dieses Leben gewählt hat. Er hatte vor 20 Jahren die Liebe seines Lebens, Fabienne, kennen gelernt, aufgrund seiner Schüchternheit aber an seinen besten Freund verloren. Damals verließ er seinen Heimatort in der Schweiz um in Paris – jenem Ort, wo auch Fabienne studierte – seine Zelte aufzuschlagen.
Die nächsten 20 Jahre verbringt er in einer melancholischen Trauer um die verlorene Liebe, in einem Alltagstrott, wo jeder Tag dem anderen gleicht. Bis er eines Tages mit der möglichen Diagnose einer schweren Krankheit konfrontiert wird. Ohne das Untersuchungsergebnis abzuwarten, krempelt er von einem Tag auf den anderen sein Leben um. Er kündigt seinen Job, verkauft die Wohnung und macht sich mit einem alten 2CV auf die Reise in die Schweiz, um die Vergangenheit aufzuarbeiten.

Es ist eine grandiose, faszinierende Geschichte, die Peter Stamm hier erzählt. In nüchternem, fast kargem Stil erfährt man von dem tristen, ereignislosen Leben des Andreas. Er selber erkennt, dass er sein Leben wegwirft, doch ist er zu bequem, zu passiv und zu phlegmatisch, um es selber in die Hand zu nehmen. Es bedarf erst dieser – vermeintlich – bedrohlichen Krankheit, um ihn zum Leben zu erwecken. Seine „Reise in die Vergangenheit“ wird zu einer Reise in die Zukunft, …
Die angesprochenen Themen betreffen uns wohl alle. Es geht um vermasselte Chancen, darum, Vergangenes abzuschließen, zu bewältigen und nach vorne schauen zu können. Andreas ist derart in seiner Melancholie und Trauer gefangen, dass er seine Außenwelt gar nicht mehr wahrnimmt und so auch vermeintliche Chancen nicht wahrnehmen kann.


Das Ende sehe ich etwas ambivalent.
Einerseits hat er jetzt mit seiner Vergangenheit abgeschlossen, sie bewältigt. Er ist offen für Neues und geht nun aktiv auf seine junge Kollegin Delphine, die ihn offensichtlich sehr mag – zu.
Auf der anderen Seite ist mir dieses „Happy End“ etwas zu billig und passt so nicht zum Buch. Allerdings wird nicht näher auf die Beziehung eingegangen, sodass jeder Leser selber das Ende interpretieren kann.


:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:


Bild
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Beitragvon marilu » 30.12.2006, 21:02

kritzel... notiert! :D
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Beitragvon Pippilotta » 31.12.2006, 08:31

@ Marilu: Nur zur Vorwarnung: Es ist ein sehr, sehr ernstes Buch, vielleicht sogar ein wenig vergleichbar mit Roths "Jedermann"!
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Beitragvon marilu » 31.12.2006, 08:57

Pippilotta hat geschrieben:@ Marilu: Nur zur Vorwarnung: Es ist ein sehr, sehr ernstes Buch, vielleicht sogar ein wenig vergleichbar mit Roths "Jedermann"!


Ich habe nichts gegen "ernst", nur der Moment muss passen. Vielleicht notiere ich mir das Buch und lese es (wie den "Jedermann") in 20 Jahren, um ein tieferes Verständnis für die Fagen nach Tod und Leben nachzuvollziehen. Andererseits kann es natürlich auch sein, dass mich der Protagonist nicht erreichen wird, denn so antriebslose Leute nerven mich häufig schon (in meiner Umgebung gibt es einfach zuviele von der Sorte :-( ). Spannend finde ich es dann wieder, wenn sie auf der Schwelle zu einer Veränderung stehen - was dieses Buch ja zu bieten scheint.

Mal sehen, zumindest hat deine Rezension bewirkt, dass ich darüber nachdenke, das Buch zu lesen. Ohne sie wäre ich klar am Buch vorbei gegangen, ohne auch nur den Klappentext zu lesen.

Bei der Büchergilde gibt es ein Interviewmit dem Autoren, dass sich zwar auf seinen Erzählungenband "In fremden Gärten" bezieht, aber auch Parallelen zu der Handlung hier aufweist.
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Beitragvon Pippilotta » 31.12.2006, 09:06

Danke @Marilu, für den Link! :thumleft:
Viele der angesprochenen Gedanken und Beweggründe gelten auch für "An einem Tag wie diesem".
Peter Stamm ist übrigens beim nächsten "Literaturclub" zu Gast, ausgestrahlt wird es am Sonntag, 21.1. auf 3sat!

dass mich der Protagonist nicht erreichen wird, denn so antriebslose Leute nerven mich häufig schon


mich auch (z.B. Herr Lehmann), doch in diesem Buch traf dies eigentlich nicht zu. Es liegt vielleicht daran, dass der Protagonist selber erkennt, welches triste Dasein er führt, es ihm im Laufe der Geschichte immer mehr bewusst wird. Außerdem umfasst die Beschreibung dieses lethargischen Daseins gerade mal die Hälfte des Buches (d.h. 100 Seiten).

Es ist aber nicht so sehr auf den Tod ausgerichtet wie z.B. Roths "Jedermann". Ich glaube, es ist auch für junge Leute eine Empfehlung!
Herzliche Grüße
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Beitragvon marilu » 31.12.2006, 12:20

Pippilotta hat geschrieben:Danke @Marilu, für den Link! :thumleft:
Viele der angesprochenen Gedanken und Beweggründe gelten auch für "An einem Tag wie diesem".


Den Eindruck hatte ich aufgrund deiner Rezension auch.

Ich lasse mich mal überraschen. Wie gesagt, ins Wunschbuch hat es es schon geschafft, wann es in meine Hände kommt, sei dahin gestellt... :wink:
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Beitragvon tom » 24.05.2007, 17:03

Das Buch lässt mich nicht los seitdem ich es gelesen habe. Ich treffe immer wieder auf Leute, die es gelesen haben oder lesen, tausche mich aus.
Meine Eindrücke sind vielfältig: Zunächst mal ist Peter Stamm ohne Zweifel ein grosser Erzähler. "In fremden Gärten" hatte ich zuvor (noch) begeistert(er) gelesen. Er trifft etwas vom "Zeitgeist" oder wie man es auch nennen will. Denn hinter Andreas stehen für mich Leere, Alltagstrott, Routine etc. so vieler unserer Zeitgenossen. Sein Hin- und Herpendeln in den Beziehungen, eine Oberflächlichkeit - prägen sie nicht häufig unsere Zeit? Und dahinter manchmal die Melancholie nach einer vergangenen Zeit (Jugend, erste Liebe)?
Das Ende ist etwas offen: es gibt eigentlich einen kleinen Lichtschimmer, die Möglichkeit einer Zukunft, so wie es Pippi andeutet. Doch das wird nur angedeutet.
Dass aber dieses Buch (auch hier in Frankreich) einen guten Empfang fand zeichnet doch aus, dass sich eben viele in dem Erzählten wieder erkennen?!
tom
 

Stamm, Peter - An einem Tag wie diesem

Beitragvon Krümel » 06.07.2007, 18:23

Schon wieder ein Roman, in dem der Protagonist aufgrund einer schweren Krankheit sein Leben ändert? Diese Thematik erscheint mir momentan sehr beliebt zu sein, und so hatte ich meine Bedenken nach den ersten Seiten. Doch hier weiß die Figur gar nicht, ob er wirklich schwer erkrankt ist. Es sind Anzeichen für eine schwere Erkrankung vorhanden, und Andreas nutzt diese um seine Leere, die er mit jeder Körperzelle spürt, endlich aus der Welt zu schaffen. Manchmal braucht es eben nur einen Anlass um etwas in Bewegung zu setzen.

Andreas führt ein beschauliches und festgefahrenes Leben. - Er ist Mitte vierzig und ledig, hat aber gleich zwei Geliebte, die er zu bestimmten Tagen trifft. Doch beide sind im gleichgültig, dennoch kann er sich nicht von ihnen lösen. – Als gebürtiger Schweizer arbeitet er in Paris als Deutschlehrer, doch viel mehr als seinen Wohnbezirk und den Weg zur Schule hat er in den 18 Jahren nicht kennen gelernt.
Irgendetwas stimmt mit Andreas nicht, das erkennt der Leser gleich. Seine Liebesunfähigkeit, Lebensunfähigkeit und sein grauer Alltag haben ihre Wurzeln in der Vergangenheit. Bei der Aufklärung dessen setzt Stamm uns bewusst den Spiegel vor, und so wird dann der Tag zu diesem. Mir hat es gefallen!

Bewertung: :stern: :stern: :stern: :stern:
BildLiebe Grüße,
Krümel



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Re: Stamm, Peter - An einem Tag wie diesem

Beitragvon tom » 13.07.2007, 16:52

Krümel hat geschrieben:Schon wieder ein Roman, in dem der Protagonist aufgrund einer schweren Krankheit sein Leben ändert? Diese Thematik erscheint mir momentan sehr beliebt zu sein...


Ja, Kruemel, mir war das nun auch aufgefallen, wie dieses Thema eines Lebenswandels durch Krankheit oder ähnliches nun öfters auftaucht: Nachtzug nach Lissabon von Pascal Mercier; In einer dunklen Nacht... von Peter Handke; und natürlich entfallen mir gerade jetzt die anderen, an die ich gedacht hatte.
Aus meiner Sicht heraus bezeichnet das doch auch eine "moderne" Art der Infragestellung und der Sinnsuche. Die Hauptperson erfährt eine Unzufriedenheit, ist nach "Mehr" unterwegs. Sehr nahe dann oft das Unterwegssein, Aufbrechen; für mich Erinnerung und moderne Parallele zum "Weg- und Pilgergedanken" in der biblischen Tradition oder auch durch die Geschichte hindurch...
tom
 



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