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Lewycka, M. - Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Lewycka, M. - Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch

Beitragvon marilu » 26.12.2006, 23:45

Inhalt:

Peterborough, England.
Hier lebt der 84-jährige Ukrainer Nikolaj (Kolya) allein in seinem Haus, seit seine Frau 2 Jahre zuvor gestorben ist. Seine Töchter Nadeshda und Vera wohnen nicht mehr in der Stadt, halten aber den Kontakt, wenn auch beide kein besonders gutes Verhältnis zu dem Vater haben. Wegen Erbstreitigkeiten haben sich die beiden Schwestern zerstritten. Je mehr man liest, desto stärker kristallisiert sich heraus, dass das Zerwürfnisse beider Frauen tiefere Ursachen hat.

Als Nikolaj die 36-jährige Valentina kennenlernt, will er ihr erst nur dabei helfen, im Land zu bleiben. Bald stellt sich heraus, dass eine Heirat der einzige Weg ist, ihren Aufenthalt im Land zu gewährleisten und die Zukunft ihres Sohnes im "goldenen Westen" zu sichern. Valentina schmeichelt sich bei ihrem "holubchik" ("Täubchen") derart ein, dass er glaubt, sie liebe ihn. Für Warnungen oder Vernunft ist er nicht mehr zugänglich, zumal er nun auch endlich einen Sohn haben wird!

Doch das traute Heim wird bald zu einem Gefängnis. Die drei Frauen kämpfen auf raffinierte Weise um die Interessen des alten Mannes. Wie es ausgeht, werde ich nicht erzählen, weil die Unkenntnis des Endes einen großen Teil der Spannung ausmacht.

Neben der Gegenwartserzählung berichten Rückblenden über das Schicksal der Familie. Ein dritter Strang ist Nikolajs Geschichte der Traktoren, in denen unterschwellig auch immer eine Aussage zu der gegenwärtigen Entwicklung zu finden ist.

Meine Meinung:

Valentina heiratet Nikolaj, weil sie glaubt, mit ihm (pensionierter Ingenieur) eine gute Partie zu machen. Als sich herausstellt, dass er nicht über die finanziellen Mittel verfügt, die sie erwartet hat, verzichtet sie darauf, ihm gegenüber bezaubernd, liebend und bewundernd aufzutreten. Statt dessen begegnet sie ihm mit Hohn, Verachtung sowie verbaler und körperlicher Aggression. Der alte Mann wird immer dünner, flüchtet sich in ein kleines Zimmer im Erdgeschoss und verwahrlost zunehmend - ebenso wie das Haus.

Mich hat das Buch vor allem so berührt, weil es so geschehen könnte. Anfangs hatte ich gedacht, es sei lustig, aber häufig blieb mir das Lachen doch im Hals stecken. Es erging mir ähnlich wie der Tochter Nadeshda, der man anmerkt, dass sie ihren alten Vater liebt, der ihr in seiner S.e.x.uellen Lust auf Valentina aber auch auf den Geist geht! Sie versteht nicht ganz, wieso sich ihr Vater bei dem Anblick "seiner" Frau zu einem instinkgesteuerten Menschen verwandelt und von einem Moment zum anderen einfach vergisst, was sie ihm angetan hat und wieviel Angst er mitunter Minuten vorher noch vor der jungen Frau hatte. Andererseits versucht Nadeshda anfangs, Valentina nicht mit ihren Vorurteilen zu begegnen. Durch sie wird im Roman verdeutlicht, dass jede Geschichte mehrere Seiten hat.

Würden sich seine Töchter nicht in sein Leben einmischen und bestimmt gegen Valentina vorgehen, würde sich die Handlung sehr von der unterscheiden, die hier beschrieben wird. Aber gerade dadurch erlebt der Leser eine spannende Lektüre - viele Fragen stellen sich:
Ist Valentina wirkich so eine Gefahr für den Vater von Valentina und Nadeshda? Werden die beiden sie los? Kann man die Ehe annulieren lassen? Wie ist es mit Ausweisung? Scheidung? Und wer sind die anderen Männer in Valentinas Leben? etc. etc.

Ich fand das Buch sehr gelungen und mochte insbesondere das Ende sehr gerne (gerade die letzten 2 Seiten). Auch der zweite Handlungsstrang (die Vergangenheit der Familie) ist interessant zu lesen und erklärt so einiges über ihre Gegenwart.
Was die Traktorausführungen angeht, muss ich gestehen, dass ich sie zwar las, aber wenn man mich jetzt nach Angaben zu der Geschichte fragen würde, müsste ich mit den Schultern zucken - zum einen Auge rein, zum andern raus... Schulterzucken
Aber gerade im letzten Kapitel von Nikolajs "Buch" erfährt man nochmal sehr viel über seine Einstellung zu Politik und Wissenschaft, sowie wissenschaftlichem Fortschritt und der Verantwortung gegenüber der Natur und dem Menschen an sich. Das las ich genauer.

Ich empfehle das Buch gerne weiter!

:stern: :stern: :stern: :stern:

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Zuletzt geändert von marilu am 14.04.2007, 18:05, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitragvon Voltaire » 27.12.2006, 00:13

Okay! Aufgrund deiner Rezi werde ich das Buch dann kaufen - ich schleiche eh schon seit einiger Zeit um dieses Bich herum! Ganz herzlichen Dank für deine Beurteilung.
Voltaire
 

Beitragvon Coco » 06.04.2007, 18:09

Meine Gedanken:

ja, wir kennen sie alle, sehen sie durch unsere Strassen gehen, die Valentinas aus Russland, Rumänien, der Ukraine und anderen Ländern die früher in unserem Schulatlas nur eine grosse rote Fläche waren.
Da gehen sie mit ihren durch zuviel Wasserstoffperoxid struppig gewordenen Haaren, den grell geschminkten Gesichtern, den wildesten Outfits aus diversen 1-Euro-Läden...... und ja, sie haben natürlich nur eines im Kopf: Konsum, Konsum, Konsum, nicht eine Scheibe, nein viele vom grossen Kuchen des Kaptitalismus abzubekommen.

Zunächst war ich enttäuscht von diesem Buch, einfach hinzugehen und sich klassischer Klischees zu bedienen: oben erwähnte Valentina sucht sich alten geilen Bock, heiratet für die Aufenthaltsgenehmigung, nimmt ihn aus und schickt ihn in die Wüste.
Aber dennoch hat mich von Anfang an etwas gerührt. Bei weiterem Lesen wurde es immer klarer und ich schämte mich fast ein wenig, dass auch ich diesen Klischees so aufsitze.

Zunächst zu Valentina, bzw. den Valentinas die wir kennen:
kaum einer von uns (aufgeklärten, intelligenten, modisch geschulten, stilsicheren, durch zahlreiche New-Age- und Esoterik-Kurse geschulten Kapitalisten) haben irgendeine Ahnung, wie ein Lebensalltag in der Ukraine (Russland, Rumänien usw.) aussieht, wie es ist, nahezu "nichts" zu haben (also auch keine Kosmetik und modische Kleidung), keine Arbeit zu haben, es auch durch Leistung zu nichts bringen zu können, Korruption täglich miterleben zu müssen - dabei aber zu wissen, dass nur ein paar Kilometer weiter das Leben ganz anders ausschauen könnte .... ich denke, ich brauche hier nicht weiterzuschreiben .....

2. Klischee: der geile alte Bock, der sich in seinem Begehren um eine junge Frau lächerlich macht.
Nikolei hat 84 Jahre gelebtes Leben hinter sich (ein Lebensweg, den die meisten von uns sich nicht vorstellen kann, geprägt von Hunger, Krieg, Folter, Verschleppung .....), nun ist er alt, sehr alt. Aber er lebt noch. Und warum soll er keine junge Frau begehren, sein sexuelles Verlangen mehr spüren ? Wie werden wir sein, wenn wir 84 sind ?

Je mehr ich las, desto näher kamen mir alle Protagonisten, Nicolei, seine Töchter, die sich so fern und doch so nah sind, Valentinas aus der Ukraine angereiste Ehemann, der in froher Eintracht mit Nicolei den Rolls Royce wieder flott macht, der glatzköpfige, prolige Kneipenwirt, der mit Valentina händchenhaltend und weinend in der Kneipe sitzt - ja, und auch sogar Valentina selbst. An manchen Abenden, die pflaumenweinseelig dahin gingen wäre ich gerne dabei gewesen - so unterschiedliche Menschen, die sich so nah sein können, die in diesem Moment einfach "sind" und nicht "gerne wären".

Alles in allem, eine gute Unterhaltungslektüre die aber dennoch "nachwirkt", bei der ich mich mit meinen "Menschen-Bewertungs-Kriterien" ganz fest an die eigene Nase packen muss.

Daher bekommt "Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch" von mir

:stern: :stern: :stern: :stern:

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Beitragvon Pippilotta » 06.04.2007, 18:20

@Coco: die Sterne findest du unter den Smilies im Link "weitere Smilies ansehen" :wink:

Da ich ja in unmittelbarer Verwandtschaft eine Ukrainerin habe (mein Bruder ist mit einer verheiratet) nur zur Klarstellung: er ist 38, sie ist 38!, kenne ich die Zustände in der Ukraine sehr gut aus authentischen Erzählungen. Manche Zustände sind wirklich unvorstellbar! Ich muss aber auch dazusagen, dass meine Schwägerin zur "privilegierten" Schicht gehörte, sie hat sogar studiert, und kennt vielleicht die großen Probleme der untersten Schichte weniger. Ich muss aber auch sagen, dass sie "am Boden" geblieben ist und nicht dem Kapitalismus verfallen! :wink:

Das Buch macht mich sehr neugierig, vielleicht wäre es auch was für meinen Bruder/Schwägerin!
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Beitragvon Coco » 07.04.2007, 10:05

:D danke Pippilotta, ich habe die Sterne dann doch noch gefunden :D

ich glaube dass sich die widrigen Lebensumstände in den "Ost-Staaten" nicht nur auf Bauern und Arbeiter beschränken. Durch etliche Gespräche mit Menschen aus diesen Ländern war es wohl nicht so besonders schwer zu studieren, dass wurde staatlich gefördert. Aber ein abgeschlossenes Studium war nie ein Garant für ein sorgenfreies Leben, insbesondere dann nicht mehr als der "Eiserne Vorhang" weg war.
Eine dieser "spektakulären" Geschichten ist mir selbst begegnet. Ich hatte, als ich eine kurze Zeit als Schneiderin gearbeitet habe, eine rumänische Arbeitskollegin. Der erste Eindruck: blondierte Haare, hellblauer Lidschatten bis zu den Brauen, Schuhe mit enorm hohen Absätzen, Fingernägel in einer Länge bei der ich mich fragte, wie sie damit ganz normal durch den Alltag kam.
Nach und nach erzählte sie mir ihre Geschichte: sie hatte in Rumänien studiert und war Kunstgewerbelehrerin. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus wurde die Schule geschlossen, sie war arbeitslos (zudem hatte sie noch 2 kleine Kinder, der Mann war weg) - so begann sie nach und nach eine kleine Schneiderei aufzubauen, mit der sie so recht als schlecht überleben konnte. Doch dort folgten Schutzgelderspressungen und sie musste wieder schliessen.
Nach Deutschland kam sie über eine Scheinehe (sie hat das nie so ausgeprochen, aber es war klar), hier lebte sie in einem möbilierten Zimmer nähe unserer Arbeitsstelle und schickte das meiste Geld (kann sich einer vorstellen, was eine Schneiderin verdient ?) zu ihren Eltern, bei denen auch ihre Töchter lebten. Wie sehr sie gelitten hat merkte ich immer dann, wenn eine der Töchter bei uns auf der Arbeit anrief, meine Kollegin hatte solches Heimweh und solche Sehnsucht nach ihren Töchtern.
Das ist schon Jahre her aber mich hat es damals so erschüttert.

Ja Pippilotta, gib dieses Buch doch einmal Deiner Schwägerin, es wäre bestimmt interessant zu hören, was sie dazu zu sagen hat.

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Beitragvon schnecke » 07.04.2007, 14:37

Mir hat das Buch sehr gut gefallen, ich habe mich aber in erster Linie am Gedankenstrang der Verantwortung von Kindern für ihre Eltern festgemacht: wie weit darf man sich als Tochter einmischen? Das hat mich am meisten fasziniert.

Der beste Freund meines Mannes ist auch mit einer Ukrainerin verheiratet (er 38, sie 25), und da finde ich keine Gemeinsamkeiten zum Buch, auch wenn die beiden ihrerseits einige "Zweckehen" kennen, die aber von beiden Seiten bewusst eingegangen wurden. Die Frau unseres Freundes hat 6 Jahre gebraucht, bis sie Fuß gefasst und die Sprache gelernt hatte, sie war immer freundlich und bescheiden, und beide fahren oft genug in die Ukraine, damit sie nicht allzusehr Heimweh hat.

(Beide würden leider nicht allzu gerne so ein Buch lesen...)
schnecke
 

Beitragvon Pippilotta » 09.07.2007, 18:14

Beinahe fiel ich auch darauf hinein - auf das, mit dem die Autorin wohl insgeheim spekulierte. Dass dieses Buch ein Abklatsch von herkömmlichen KLischees und Vorurteilen ist.
Nach den ersten Seiten wollte ich es entnervt zur Seite legen, doch ich las zum Glück weiter denn das Buch verbirgt mehr Tiefgang, als der Klappentext zu erkennen gibt.

Mir kam es zwar phasenweise auch sehr konstruiert und übertrieben vor, aber ich denke, das war so gewollt. Ein bisschen hält es einem den Spiegel vor, sie man selber umgeht mit den Menschen aus dem Osten und wie selbstgerecht wie hier im goldenen Westen sind.
Ein nettes Buch für zwischendurch, bei dem man aber jedenfalls auch auf die Zwischentöne achten soll!

:stern: :stern: :stern: ( :stern: )
Herzliche Grüße
Pippilotta


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