Psychologie geschlossener Gruppen

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    Re: Psychologie geschlossener Gruppen

    mpoetschik - 13.11.2006, 12:39

    Psychologie geschlossener Gruppen
    Salam, Hallo und Schalom,

    Margaret Thaler Singer ist Professorin für Psychiatrie an der University of CaIifornia in San Francisco und im Fachbereich Psychologie der University of California in Berkeley.

    Sie tritt oft als Gutachterin vor Gericht auf, wenn Eltern versuchen, ihre Kinder aus einer geschlossenen Gruppe, also einer Sekte, einer Religion oder Weltanschauung (MLM) herauszubekommen. In den letzten Jahren hat sie mehrere Wissenschaftspreise bekommen, unter anderem vom National Institute of Mental HeaIth. Außerdem ist sie Präsidentin der American Psychosomatic Society.

    Sie schreibt:
    Zitat: Aufbau der geschlossenen Gruppe
    --------------------------------------------------------------------------------
    Man kann durchaus behaupten, daß einige geschlossenen Gruppe bestimmte Ähnlichkeiten aufweisen mit besonders fanatischen - aber etablierten - religiösen Traditionen, oder auch mit utopischen Gemeinschaften der Vergangenheit. Diese Gruppen sind keineswegs identisch, und was für die eine gilt, braucht für die andere noch lange nicht zuzutreffen. Doch ich war sehr beeindruckt, als ich im Laufe der letzten vier Jahre fast 300 Personen, die noch oder nicht mehr einer Gruppe angehörten interviewte, wie ähnlich ihre Berichte waren. So enthalten offensichtlich die Werbe- und Unterweisungspraktiken dieser Gruppen besonders ausgeklügelte Techniken zur Verhaltensänderung. Auch ist mir durch diese Interviews klargeworden, welche Schwierigkeiten ehemalige Mitglieder haben, wenn sie sich an das "Leben draußen“ wieder gewöhnen wollen oder müssen.

    Wie kommt ein ganz normales junges Mädchen oder ein junger Mann zu einer solchen Gruppe?
    Nach ihren eigenen Berichten schlossen sich viele der Gruppe in einer Krisensituation an, in der sie etwa depressiv oder verwirrt waren, ihnen das Leben sinnlos vorkam.
    Die Gruppe versprach - und lieferte auch für einige - eine Lösung für in diesem Alter häufig anzutreffende Entwicklungskrisen. Sie bieten fertige Freundschaften, fertige Entscheidungen über Karriere, Sex und Ehe und umreißen einen klaren "Sinn des Lebens“.
    Dafür erwarten sie dann totalen Gehorsam gegenüber ihren Geboten...

    Wodurch erhalten die Sekten die Ergebenheit ihrer Anhänger aufrecht?
    Zum einen durch das Argumentationssystem ihrer Ideologie, zum andern durch sozialen und psychologischen Druck. Zum dritten durch Praktiken, die - bewußt oder unbewußt - auf Konditionierungstechniken hinauslaufen, durch die sie die Aufmerksamkeit und Kritikfähigkeit einschränken, persönlichen Beziehungen Grenzen setzen und logisches Denken abwerten. Anhänger und Ausgestiegene bechreiben, wie sie ständig ermahnt wurden und üben mußten, einen ekstatischen religiösen Zustand zur Bewußtseinsänderung zu erreichen und dahin zu gelangen, automatisch jedem Gebot zu gehorchen. Stundenlang wird gebetet, gesungen oder meditiert (in einer bestimmten Zen-Sekte zum Beispiel mehrere Male jährlich 21 Stunden lang an 21 aufeinanderfolgenden Tagen), manchmal gibt es Vorträge, die sich über einen Tag und eine Nacht hinziehen.
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    Glück und Zweifel
    Während der Zeit in der Gruppe werden die Mitglieder völlig von ihrer Familie und von Kontakten zur Außenwelt ferngehalten; die "nicht konvertierte“ Außenwelt wird moralisch hart verurteilt, das Sexualverhalten eingeschränkt. Alles zielt darauf ab, die Bindung der Anhänger an die Ziele der Gruppe - in den meisten Fällen auch an einen mächtigen religiösen Führer - zu stärken.
    Einige Aussteiger waren glücklich während ihrer Mitgliedschaft, befriedigt, ihr gequältes Selbst in ein selbstloses Ganzes zu tauchen.
    Waren sie erst einmal dem Gruppenideal verpflichtet, dann begrüßten sie die Unterweisungsprozeduren, die sie an die Gruppe banden und die mit der Zeit alle anderen Bindungen oder Informationen ausschlossen.
    Allmählich jedoch fühlten sich einige unserer Gruppenmitglieder vom Leben in der Sekte / Religion oder Weltanschauung enttäuscht, stellten fest, daß sie sich den Anforderungen nicht unterwerfen konnten oder waren verbittert über die Widersprüchlichkeiten zwischen Theorie und Praxis. Einige dieser jungen Leute hatten die Gruppe allein oder mit Hilfe von Familienmitgliedern oder Freunden verlassen, die sie von irgendwelchen Orten außerhalb der Sektenhauptquartiere abholten. 75 Prozent unserer Teilnehmer an den Diskussionsgruppen hatten jedoch ihre Gruppe nicht völlig aus eigenem Willen verlassen: In den meisten Fällen war von den Gerichten eine Vollmacht ausgestellt worden, eine Art Vormundschaft über den jungen Erwachsenen, die es ermöglichte, den Betreffenden zwangsweise aus der jeweiligen Gruppe herauszuholen.
    Einige Sekten widersetzten sich dem energisch, manchmal entfernten sie sogar bestimmte Mitglieder aus dem betreffenden Bundesstaat, andere nahmen dies stillschweigend hin. (Anm.: Wieder andere faellen sogar Todesurteile gegen solche Apostathen)
    Viele unserer Gruppenteilnehmer sagten uns, daß sie dankbar waren für das Eingreifen von außen und bereits auf Rettung gehofft hatten. Sie selbst hätten sich nämlich machtlos gefühlt, ihrem eigenen Verlangen zu folgen und die Gruppe zu verlassen, aufgrund des enormen psychologischen und sozialen Drucks der anderen Mitglieder und des Führers. Versuchten sie es doch einmal, dann hatten sie einerseits Schuldgefühle ("ich lasse die anderen im Stich“) und andererseits Angst vor Vergeltungsmaßnahmen, vor einer "Exkommunikation“. Außerdem waren sie sich nicht sicher, ob es ihnen gelingen würde, sich in der Welt "draußen“ wieder zurechtzufinden. In einer Welt, die sie so lange verachtet hatten...

    Einige Gruppen schreiben buchstäblich jede einzelne Tätigkeit des Tages vor:
    - Was und wann zu essen ist,
    - welche Kleidung man tragen muß,
    - was bei Tag und was bei Nacht zu tun ist;
    - das Duschen,
    - die Reinigungsprozeduren;
    - die Schlafpositionen.
    Der Verlust einer Lebensform, in der alles geplant ist, schafft eine "Zukunftsleere", wie einige unserer Gruppenmitglieder es ausdrücken, eine Leere, in der sie plötzlich ganz allein dastehen uind ihre Zukunft planen und leben müssen.

    Jemand sagte: "Freiheit ist großartig, aber viel Arbeit.“
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    Veränderter Bewußtseinszustand
    Von dem Zeitpunkt an, zu dem Interessenten ins Domizil der Gruppe eingeladen werden - zum "Ashram“, "unserem Landhaus“, der "Familie“, dem "Center“, dem "Gemeindehaus", der "Synagoge" oder der "Moschee" - ebenso wie nach der Aufnahme, werden sie in einen Zyklus langer, sich wiederholender Vorträge eingespannt. Diese bestehen aus hvpnotischen Metaphern und ekstatischen Gedanken, stundenlangem Singen in halbwachem Zustand, die Aufmerksamkeit fesselnden Liedern und Spielen, und nicht zuletzt aus Meditationen. Mehrere Gruppen pflegen ihre Mitglieder mit Kopfhörern ins Bett zu schicken, damit sie auch während des Schlafens noch Predigten hören, nachdem bereits stundenlang Ermahnungen des Sektenführers auf Tonbändern in wachem Zustand angehört worden waren. (Anm.: Oder sie werden von einer Moscheee per Lautsprecher in ohrenbetaeubender Lautstaerke nachts stundenlang berieselt)
    All dies sind Praktiken, die einen veränderten Bewußtseinszustand, nämlich Ekstase und Beeinflußbarkeit, erzeugen.

    Viele, die das einmal mitgemacht haben, stellen nach dem Verlassen der Gruppe fest, daß eine Reihe von Bedingungen - etwa Streß, ein Konflikt, ein depressives Tief, bestimmte bedeutungsvolle Worte oder Ideen - dazu führen können, daß sie in den tranceähnlichen Zustand zurückkehren, der ihnen von den Sektentagen her bekannt ist. Sie erzählen, daß sie dann in die vertraute, unerschütterliche Lethargie fallen und HaIluzinationen haben, als hörten sie noch die Ermahnungen des Gruppensprechers. Diese Empfindungen des "Abgleitens“ - ganz ähnlich wie die flashbacks (Rückhlenden) von Drogenabhängigen - erscheinen am häufigsten unmittelbar nach dem Verlassen der Gruppe, bei einer Reihe von Leuten jedoch noch Wochen oder Monate später.
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    Elitedenken
    "Sie bringen Dich so weit, daß Du glaubst, nur sie allein wissen, wie die Welt zu retten sei!“, erinnert sich ein Mitglied. "Du glaubst, Du gehörst zur Vorhut der Geschichte ... Du wurdest aus der anonymen Masse auserwählt, dem Messias beizustehen ... als Erwählter stehst Du außerhalb des Gesetzes ... schließlich glaubst Du selbst in aller Demut und Ekstase, Du bist für Gott, die Geschichte und die Zukunft wertvoller als andere Menschen.“
    Offensichtlich ist eine der bittersten Ernüchterungen beim Austritt aus der Gruppe, daß auch das Gefühl auserwählt zu sein, Mitglied einer Elite zu sein, aufhört.

    Wie ich finde, eine bedrueckende Analyse dessen, was wir als gelebte Religion, Sekte oder Weltanschuungsideologie bezeichenen.

    LG
    Martin



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