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Tolstoi, Lew N. - Anna Karenina




Tolstoi, Lew N. - Anna Karenina

Beitragvon marilu » 19.10.2006, 08:35

Auch wenn ich weiß, dass man dieses Buch nur unzureichend vorstellen kann, werde ich versuchen, eine Rezension zu schreiben.

Inhalt:

Klappentext
Anna Karenina ist der große Roman einer Liebe. Erzählt wird die Geschichte einer verheirateten Frau, die nach langjähriger glückloser Ehe einem jungen Offizier in leidenschaftlicher Liebe verfällt. Sie verlässt den Ehemann und den Sohn und wird fortan von der Gesellschaft als Ehebrecherin ausgestoßen und gemieden. Die Liebe, für die sie alles geopfert hat, ist das einzige, was ihr bleibt...
Spoiler hat geschrieben:doch sie hält der Realität nicht stand: Und Anna Karenina sieht keinen anderen Ausweg, als ihrem Leben ein Ende zu setzen.


Ergänzend von mir:
Beschränkte sich die Handlung auf diese Beziehung, hätten wir ein ca. 600-seitiges Buch vor uns und nicht den 1206-seitigen Schmöker, der "Anna Karenina" ist.

Wichtige Handlungsstänge finden sich auch in den Schicksalen von

Kitty Schtscherbatzkij und Konstantin Lewin,
Darja Schtscherbatzkij und Stepan Oblonski und
Alexeij Karenin und Lydia Iwanowna.

Mit Hilfe dieser Paare werden verschiedene Lebensentwürfe aufgezeigt und gegenüber gestellt. Jede Figur vertritt eine eigene Geisteshaltung, so stehen Kitty und Darja für den mütterlichen Typ. Während Kitty in einer glücklichen Ehe lebt, leidet Darja unter der Verantwortungslosigkeit und Untreue ihres Mannes.
Lewin ist ein Grübler, der das einfache Leben liebt und das Stadtleben ablehnt. Er ist auf der Suche nach sich selbst.
Stepan Oblonski ist ein Lebemann - ein Mann, der Kind geblieben ist. Einerseits sehr sympathisch, im Zusammenleben aber eine Katastrophe.
Alexeij Karenin ist ein Bürokrat, wie er "im Buche steht". Er hält sich selbst für gut und gerecht, zerbricht aber an Annas Untreue. Der Einfluss der schwärmerischen, frömmelnden Gräfin Lydia Iwanowna beeinflusst ihn sehr.

Neben diesen Protagonisten treten viele andere Charaktere auf, die für die Entwicklung der Geschichte wichtig sind.

Meine Meinung:

Ich habe schon lange nicht mehr so lange an einem Buch gelesen. "Anna Karenina" lässt sich nicht einfach wegschmökern, sondern muss zwischenzeitlich ruhen, damit man der Erzählung nicht überdrüssig wird. Die Schrift (zumindest in meiner Ausgabe) ist nicht augenfreundlich, was allein schon ein Grund war, häufige Pausen einzulegen. Aber auch der Inhalt dieses Klassikers ist nicht leicht zu verdauen.

Ich bin froh, dass mein Schulfranzösisch zum Verständnis der französischen Einschübe ausreichte.

Faszinierend, wie ausführlich Tolstoi seine agierenden Personen beschreibt und ihnen so häufig die Chance gibt, sich durch wörtliche Rede "selbst vorzustellen". Alle Charaktere haben einen tragischen Zug an sich oder man erahnt ihn bereits früh. Man merkt bald, dass Tolstoi insbesondere Konstantin Lewin für wichtig hält und Anna streckenweise in den Hintergrund stellt. Das 6. + 7. Buch entschädigen dann aber für diese "Vernachlässigung".

Wer meint, einen reinen Liebesroman zu lesen, wird enttäuscht werden. Man muss sich bewusst machen, dass es in "Anna Karenina" auch um ein Zeitporträt geht, in dem sich viele Kapitel mit der russischen Gesellschaftsstruktur, dem Glauben an Naturwissenschaft und das europäische Vorbild beschäftigen. Insgesamt entsteht so ein faszinierend genaues Panorama des russischen Lebens im 19. Jahrhundert.

Ich kann es uneingeschränkt weiterempfehlen. Das Buch war für mich einer der Lesehöhepunkte des Jahres.

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

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Beitragvon Krümel » 20.10.2006, 11:56

Kleine Ergänzungen meinerseits:

Sprache
Das ist das Erste was dem Leser auffällt, die wunderbare Sprache, poetisch, ausführlich, teilweise bildhaft und sehr ausschweifend, der Russe hat Zeit und Platz, so kommt einem das vor, nicht nur vom Raum, sondern auch vom Typ her.
Tolstoi besitzt eine gewaltige Erzählkraft, er beschreibt die Figuren, Gebäude, Landschaften, Gedanken und Prägungen, einfach alles, sehr genau und ausführlich. Und da das Werk ihm große Freiheit gewährt, kommt seine Erzählkunst voll zum Tragen. (Kleine Geschichten am Rande bemerkt, spiegeln die Handlung z. B. das Pferderennen, und reflektieren den Inhalt aus einer anderen Perspektive, hier ganz eindeutig die Gedanken/Meinung des Autors, unterschwellig und raffiniert gemacht.)



Figuren
Von Beginn an hatte ich Probleme mit den Figuren, vor allem die Protagonistin Anna konnte ich über weite Strecken nicht wirklich fassen und begreifen, ihre Handlungen und Reaktionen kamen mir unnatürlich vor. Im Vergleich zum „Zauberberg“ von Th. Mann, der bewusst unnatürliche Personen schafft, kam mir dann der Gedanke, dass es sich bei Tolstoi um die gleiche Technik handeln muss. Die Handlungen und Gedanken der Figuren sollen die Zeit widerspiegeln, so dass die Anna beispielsweise als Vorkämpferin der Frauenrechte zentral im Mittelpunkt steht. Durch die Personen im Roman wird das Zeitportrait erzeugt, jede Figur zeigt eine Prägung der damaligen Zeit, sie wirken dadurch manchmal nicht nachvollziehbar, unnatürlich (z. B. warum wollte Anna die Scheidung zunächst nicht), stellen aber dadurch die Gesellschaft dar, und erzeugen damit eine gelungene Gesellschaftskritik.
Diese Kritik an der Gesellschaft ist weiträumig und vordergründig, es wird jede Richtung: Landwirtschaft, Religion, Politik, Philosophie, Standesdünkel, Adel, Bauern und Arbeiter; von Tolstoi angesprochen und erläutert.


Zwei kleinere Kritikpunkte
Ich fand vor allem den Titel überhaupt nicht passend, da die Anna Karenina eigentlich erst im letzten Drittel aus Hauptfigur wirklich zum Tragen kommt. Die Person Lewin, mit autobiographischen Zügen, ist eigentlich die zentrale Figur, und mit ihr die Gesellschaftskritik. Der Titel täuscht einen Liebesroman vor, was dieses Werk aber auf keinen Fall ist.
Der zweite Punkt ist höchstwahrscheinlich ein sehr subjektiver Eindruck: Mir war das Werk zu schwer, die unendliche Schwere/Melancholie hat mich fast erschlagen. Ein Werk von 1000 Seiten, das man nicht auf die Schnelle gelesen haben kann, ganz ohne Lichtpunkte, Schmunzeleffekte und Humor. Okay, ich bin dafür sehr empfänglich, aber diese Stimmung hat mich stark nach unten gezogen, so dass ich vorläufig keinen Tolstoi mehr lesen werde.

Insgesamt aber ist dieses Werk ein absoluter Lesetipp
:stern: :stern: :stern: :stern: (:stern:)
BildLiebe Grüße,
Krümel



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Beitragvon Karthause » 21.01.2010, 16:39

Anna Arkadjewna Karenina kommt von Petersburg nach Moskau, um im Ehestreit ihres Bruders Stepan Oblonski (Stiwa) zu vermitteln. Kitty, Stiwas Schwägerin, ist in den Grafen Wonski verliebt und hat in Erwartung seines Antrages den Heiratsantrag des Gutsbesitzers Konstantin Lewin abgelehnt. Auf einem Ball trifft Anna Wronski wieder, er hat nur noch Augen für die verheiratete Anna und die junge Kitty versinkt in ihrem Unglück. Anna, nur nach außen scheinbar glücklich mit dem hohen Staatsbeamten Alexej Karenin verheiratet, stürzt sich in eine Affäre mit dem jungen Offizier. Diese Liaison bleibt nicht ohne Folgen, Anna bringt ein Mädchen zur Welt. Mit ihrem Ehemann kann sie nicht weiter zusammenleben, sie verlässt ihn und den gemeinsamen Sohn, lässt alle Konventionen hinter sich und ist bereit den Preis zu zahlen. Für die Gesellschaft ist sie damit untragbar geworden. Gesellschaftlich fallen gelassen, moralisch verurteilt und isoliert lebend, den Sohn vermissend und die Tochter nicht liebend, wartet sie auf die Einwilligung des Ehemannes in die Scheidung. Doch er versagt ihr diese. Auch in der Beziehung zu Wronski ist große anfängliche Verliebtheit gewichen, Eifersucht, Unverständnis, Wut haben im Alltag Einzug gehalten. Man spürt ihre innere Zerrissenheit. Für Anna erscheint die Situation ausweglos.
Kitty hat nach einem längeren Kuraufenthalt in Deutschland erkannt, dass ihr Herz doch für Lewin schlägt. Beide heiraten und schon bald wird der erste Sohn geboren. Er ist zwar glücklich, die Frau, die er aufrichtig liebt, geheiratet zu haben, zufrieden ist aber auch er nicht. Er strebt nach Veränderungen im Landleben und arbeitet an einem Buch über seine sehr fortschrittlichen Visionen zur Modernisierung Landwirtschaft.
Stiwa und Dolly Oblonski stellen das Bindeglied zwischen diesen zwei Handlungssträngen dar. Beide haben sich arrangiert, der Ehebruch Stiwas, der zu Beginn des Romans die Ehe fast hat zerbrechen lassen, ist kein Thema mehr. Beide leben mehr oder weniger ihr eigenes Leben, geprägt durch ständige Geldprobleme, denn Stiwa ist noch immer der Lebemann, inzwischen nur diskreter.
„Anna Karenina“ ist für mich ein Meisterwerk, das Buch der Bücher, schon x-mal gelesen ist mir dafür kein Superlativ zu platt. Tolstoi ist ein begnadeter Beobachter und meisterhafter Erzähler. Er schafft es Szenen so mit Worten zu illustrieren, dass sie einem wie ein Film vor Augen ablaufen, genannt seien dafür stellvertretend das Pferderennen, Lewins Jagd im Schnepfensumpf und Dollys Besuch bei Anna. Seine Protagonisten sind alle lebensechte Menschen, sie haben Stärken und Schwächen. Kein einziger ist nur gut oder nur schlecht. Dabei beschreibt er die Charaktere ausgefeilt, facettenreich und psychologisch fundiert, so dass der Leser bei ihnen mühelos eine Entwicklung verfolgen kann. Lew Tolstoi breitet in diesem Mammutwerk verschiedene Lebensphilosophen und Lebensstile aus. Setzt sich mit der Familie und dem Sinn des Lebens an sich auseinander und baut darum die Geschichte um die drei adligen Familien auf.
Der Roman hat mehrere Handlungsstränge, zwischen denen wechselt Tolstoi immer wieder in seiner Erzählung, so dass das Schicksal seiner Hauptpersonen auch aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird. Aber er arbeitet auch deutlich das Verbindende und Trennende zwischen den einzelnen Familien heraus, so dass wirklich der Eindruck entsteht, man kenne alle Protagonisten schon seit Jahr und Tag. Die Beschreibungen von Personen und Szenarien sind meist sehr umfangreich, bildhaft und detailliert. Aber beim Lesen der fast 1.300 Seiten kam nie Langeweile oder Ermüdung auf. Ich habe immer den Drang verspürt, mehr zu erfahren und weiter am Leben der Familien teilzunehmen. So wird dann letzten Endes deutlich, dass die glücklichen Familien einfach nur glücklich sind, sich die unglücklichen Familien jedoch in ihrem Unglück von einander unterscheiden.
Immer wieder werden „Effi Briest“, „Madame Bovary“ und „Anna Karenina“, die großen Ehebrecherinnen in der Literatur, miteinander verglichen. Für mich ist Tolstois Werk auf Grund seiner Erzählkunst und seines Einfühlungsvermögens in die Charaktere der herausragende Roman.
Mein Fazit: Dieses wunderbare Buch werde ich wohl noch einige Male lesen und genießen. Etwas besseres und ausgereifteres habe ich in der Literatur noch nicht gefunden. Es waren für mich wieder Lesestunden voller Freude und Leselust.

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:
Viele Grüße
Karthause

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Beitragvon Krümel » 21.01.2010, 17:44

Oh die Anna ist noch nicht im Blog :mrgreen: Danke!
BildLiebe Grüße,
Krümel



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