Krümels-Bücherwelt ...

... ein Literaturforum der anderen Art

Ambjörnsen, Ingvar - Blutsbrüder




Ambjörnsen, Ingvar - Blutsbrüder

Beitragvon marilu » 14.07.2006, 23:40

"Blutsbrüder" ist nach "Ausblick auf das Paradies" und "Ententanz" der 3. Teil der "Elling"-Tetralogie.

Inhalt:

Elling, 32 Jahre alt und Frührentner, sammelt leidenschaftlich Zeitungsfotos von Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland. Mit seiner Mutter lebt er in einer Wohnblocksiedlung – drei Zimmer, Küche, Bad – an der Peripherie von Oslo; während sie sich um »das Praktische« kümmert, ist er für die »familiäre Ideologie« zuständig. Als die Mutter zu Beginn des ersten Romans, "Ausblick auf das Paradies", stirbt, bricht dieses System zusammen, doch dank der Errungenschaften sozialdemokratischer Stadtplanung aus den 1950er Jahren ist Elling nun keinesfalls allein: Vom Ostzimmer aus hat er den Blick auf acht weitere Blocks und die »Fenster, die zu den Menschen führten«. Elling, dem die Menschen aus sicherer Distanz am liebsten sind, kauft sich ein Fernrohr und dokumentiert in einem Journal seine Einblicke in das Leben seiner Nachbarn, von deren Fernsehgewohnheiten bis zum Zustand ihrer Topfpflanzen.
Da Elling aber angeblich »wie ein Tier« lebt und bald »im ganzen Treppenhaus der Gestank zu riechen« ist, findet er sich im zweiten Roman "Ententanz" in einer Anstalt auf dem Land wieder. Hier muss er ein Zimmer mit Kjell Bjarne teilen, einem bäuerlichen Hünen mit ausgeprägtem Sexualtrieb, dem es jedoch schwer fällt, Frauen kennen zu lernen.
In "Blutsbrüder" beziehen die beiden Männer eine betreute Wohnung in Oslo und sollen langsam lernen, wieder »in die Wirklichkeit einzusteigen«. Kjell Bjarne lernt die schwangere Nachbarin Reidun Nordsletten kennen und verliebt sich. Elling freundet sich mit dem alten und längst vergessenen Lyriker Alfons Jørgensen an und beginnt selbst zu schreiben. Den Weg in die stets gemiedene Öffentlichkeit findet er, indem er seine Gedichte im Supermarkt heimlich in Sauerkrautpackungen versteckt – als mysteriöser »Sauerkraut-Poet« schafft er es so schließlich sogar in die Zeitung.

"Elling" ist in Norwegen inzwischen zum Synonym für "leicht weggetreten" geworden; seinen Autor hat der liebenswert schrullige Antiheld in dessen Heimat "so bekannt wie Henrik Ibsen" (Erik Fosnes Hansen) gemacht. "Blutsbrüder" wurde 1999 in Oslo mit großem Erfolg als Theaterstück aufgeführt und 2001 von Petter Næss verfilmt: Elling zog in Norwegen 800 000 Besucher in die Kinos, knapp ein Fünftel der Gesamtbevölkerung, und erhielt 2002 eine Oscar-Nominierung in der Kategorie »Bester fremdsprachiger Film«. A. C. K.

Meine Meinung:

Das Buch ist wunderbar! Es gehört definitiv zu meinen Jahresfavoriten! Wer eine herzerwärmende Geschichte über eine aus der Not geborene Freundschaft lesen möchte, ist hier richtig bedient. Elling und Kjell Bjarne hatten beide eine gestörte Kindheit unter deren Nachwirkungen sie noch immer zu leiden haben. Sie haben vor vielen alltäglichen Situationen Angst und empfinden die Welt als bedrohlich. Besonders Elling reagiert häufig vollkommen überzogen und hysterisch, während Kjell Bjarne sich in sich selbst zurückzieht.

Elling ist der Ich-Erzähler, der über seine und Kjell Bjarnes erste Schritte im „echten Leben“ berichtet. Natürlich ergeben sich daraus abstruse Situationen über die man selbst nur schmunzeln würde. Doch Ambjörnsen schildert alle Episoden sehr rührend und immer um die Würde seiner Hauptfiguren bemüht.

Im ersten Drittel des Buches verspürt Elling seine Berufung zum Poeten und weil es so typisch für Ellings Gedankengänge ist, werde ich einen kurzen Abschnitt zitieren.

Ich wollte einfach versuchen, zum Hanswurst zu werden. Ja, ich fühlte mich schon wie ein Hanswurst. Wie ein tückischer Wildfang. Nicht wie ein schnöder brutaler Tropf, natürlich, nicht wie ein durchschnittlicher Schrotkugeldesperado oder so ähnlich. Nein, wie eine frank-und-freie Natur, wie einer, der ein reimloses Gedicht auf die Restaurantrechnung kritzelt, damit die Kellnerin Stoff zum Nachdenken hat. Ehe er wieder aus dem Lokal stolpert, um wieder aus dem Kelch des Lebens zu trinken. Sonne und Wind, tanzende Pollen und milden Sommerwind in sich aufzusaugen. In all den Jahren war ich eine Knospe gewesen, aber jetzt war Schluss damit! Irgendeine Dichterin hat gesagt, dass es weh tut, wenn die Knospen bersten. Das glaubte ich nicht. Genauer gesagt, ich wusste, dass es nicht so war. Ich wusste, es tat weh Knospe zu sein. Sich zu entfalten dagegen…


Katalysator dieser Entwicklung ist Kjell Bjarnes knospende Beziehung zu der Nachbarin Reidun Nordsletten. Elling gibt sich betont lässig, kann es aber z. B. nicht vermeiden, "mit den Händen hinter den Ohren und offenem Mund" ihren Unterhaltungen an der Haustür zu lauschen. Im Laufe der Handlung werden beide selbständiger und treffen auf neue Menschen, lernen sich im Alltag zu behaupten (z.B. Telefonate zu führen, ins Kino oder Lokal zu gehen, einkaufen...) und müssen sich zudem mit einer schwangeren Frau "herumschlagen"... :lol:

Gerade solche Sätze machen die Geschichte berührend und besonders. Es entstehen sehr klare Bilder im Kopf und es bleibt dennoch genug Freiraum für eigene Vorstellungen.

Deshalb von mir: :stern: :stern: :stern: :stern: :stern: + :hurra:

Bild

Und ich werde definitiv auch noch die weiteren Bände lesen! :mrgreen: Wer sich nicht an die Bücher trauen möchte, dem seien die Filme empfohlen. Eine hervorragende Bearbeitung der Romanvorlage! :thumleft:
Scharfsinnig bin ich von Montag bis Freitag. Übers Wochenende leiste ich mir den Luxus der Dummheit.
- Henry Slesar: Die siebte Maske -
Benutzeravatar
marilu
Hilfskrümel
Hilfskrümel
 
Beiträge: 2183
Registriert: 23.04.2006, 20:46
Wohnort: Hannover

von Anzeige » 14.07.2006, 23:40

Anzeige
 


Ähnliche Beiträge


Zurück zu Belletristik/Unterhaltungsliteratur/Erzählung

Wer ist online?

0 Mitglieder

cron