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Oates, Joyce Carol - Die unsichtbaren Narben




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Oates, Joyce Carol - Die unsichtbaren Narben

Beitragvon mombour » 09.01.2010, 22:31

Hallo,

Die unsichtbaren Narben (1987, dt. 1992)

Bild

Die Sowjets zünden 1949 ihre erste Atombombe. Das Wettrüsten zwischen den USA und den Sowjets wird so richtig angekurbelt, die Angst vor einem Atomkrieg manifestiert sich im Bewusstsein der Bevölkerung. So auch in Lyle Stevick, der in Joyce Carol Oates' Roman „Die unsichtbaren Narben“ im Jahre 1955 einen Atombunker auf seinen Garten bauen lässt. Zu seiner jüngsten Tochter Enid, seinem Engelchen:

Oates hat geschrieben:Machst du dir Sorgen wegen eines atomaren Krieges? Liegt es daran? Die Hauptsache ist doch, daß wir darauf vorbereitet sind, begreifst du das nicht, Schätzchen? Dein Papa wird wie immer für dich sorgen.


Wie immer? Am 07. Juni 1953 unternimmt Enid Maria einen Selbstmordversuch. Ihre Eltern sprechen von einem Versehen, als herauskommt, sie habe eine Überdosis Aspirin eingenommen. Unsichtbare psychische Narben möchte man nicht herauskehren. Seitdem Lyle am 30. November 1951 wegen Verdachts auf „Verbreitung kommunistischer Propaganda“ festgenommen worden ist, und ein fünfstündiges Verhör über sich ergehen lassen musste, ist für ihn die Welt nicht er so, wie sie war. Eine Narbe geht durch die Welt. Der Senator Joseph McCarthy ist von einer kommunistischen Unterwanderung der Bundesregierung überzeugt. Ein möglicher Atomkrieg droht und Mr. Stevicks Sohn Warren kommt schwerstverletzt aus dem Koreakrieg zurück. Es droht die Narbe, die die Familie noch zusammenhält, aufzubrechen:

Oates hat geschrieben:Sein Leben bestand aus Fragmenten und Scherben, Knochen und Schrapnellsplittern, fleischfetzen, er hatte sogar ein zusammengestückeltes Gesicht, wie er es nannte – die Nähte an seinen Kiefer paßten selbst nach zwei Operationen nicht richtig zusammen; durchs linke Auge sah er verschwommen, es war fast nicht, die blitzenden Plastikzähne an der partiellen Gaumenplatte waren vielleicht zu perfekt, um für echt gehalten zu werden.


Selbst das Leid, welches Warren erlitten hat, wird fleißig verdrängt. Warren gegenüber muss es doch höhnisch erschallen, wenn geglaubt wird, es mache ihm schon nichts aus, weil er stündlich dem lieben Gott Dankbarkeit erweise, dass er am Leben sei.

Ins Zentrum des Romans rückt aber das Liebesverhältnis zwischen Enid,des Vaters liebste Tochter, mit ihrem Onkel Felix. Eine brisante, unanständige Begebenheit, wenn man bedenkt, dass die Stevicks eine konservativ katholische Familie sind. Auch wenn die junge Generation sich von dieser Weltvorstellung entfernt, spuken im Geiste Warrens immmer noch Gedanken herum, Sex „sei etwas Sündhaftes und für Männer wie auch für Frauen etwas Erniedrigendes.“. Auch sonst, natürlich, diese amour fou zwischen Onkel und Nichte ist inzestiös und muss geheimgehalten werden. Im angetrunkenen Zustand verführt er sie erstmals.

Oates hat geschrieben:Er sagte ihren Namen, ihren Namen, so süß so süß so süß – dann unterdrückte er einen Rülpser, und Enid bekam Bier zu riechen.


Joyce Carol Oates zeigt, wie Männer in solch eine Misere hereinrutschen und nicht wieder heauskommen. Verantwortungslosigkeit wird angeprangert. Die Autorin predigt aber keine Moral, Felix weiß selbst, er ist ein „Mistkerl“. Alle Entschuldigungen danach, so etwas würde nie wieder passieren, verlaufen im Sande. Genau das Gegenteil erfolgt, die sexuellen Exzesse werden häufiger, und die Autorin erzählt Szenen sehr souverän und offenherzig über Erotik und Sex.

Oates hat geschrieben:Er sagte ihr, sie könne nicht schwanger werden, die Blutung wasche alles weg; es sei die beste Zeit zum Bumsen, und die Frauen seien da richtig scharf darauf, Enid wolle es ja genauso wie er. Und er müsse keinen Pariser überziehen drüberziehen; das Drum und Dran mit der Empfängnisverhütung habe er allmählich satt,...


Sehr plastisch vor dem Hintergrund der 1950er Jahre entwirft Oates auf fast 600 Seiten einen fesselnden Einblick in eine Familie aus den USA. Literarisch werden die Narben, die die Eltern nicht wahrhaben wollen, vor Augen geführt. Der Autorin gelingt es in fantastischer realistischer Manier, Probleme und Konflikte ohne zu moralisieren oder zu psychologisieren herrlich aufs Papier zu bringen, besonders natürlich die Affäre von Enid und Felix, dieser Tanz zwischen den Gefühlen, dieser „Miskerl“, all das ist mit Genuss zu lesen.

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

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Beitragvon Karthause » 09.01.2010, 23:44

Mein Lesejahr begann mit dieser Autorin, ich las "Zombie" von ihr und bin auf weitere Bücher von Oates gespannt. Da kommt mir deine Rezension wie gelegen. Danke, du hast es wieder einmal geschafft, mich neugierig zu machen. Das Buch ist auf die Wunschliste gekommen. Ich las von der Vielseitigkeit der Autorin, das scheint ja wirklich so zu sein.
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Beitragvon mombour » 09.01.2010, 23:51

Hallo Karthause,

ich las in deinem Blog die Rezi zu "Zombie". Da dachte ich mir, ich setze die Rezension mal hier hinein. Der Sprachstil ist in "Zombie" ein ganz anderer wie in den unsichtbaren Narben. Die Autorin ist sehr wandlungsfähig und schreibt unter diversen Pseudonymen. Vor einigen Jahren habe ich sie in Göttingen bei einer Lesung gesehen. Damals las sie aus "Blond" vor, ein Roman um Marilyn Monroe.

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Beitragvon Coco » 10.01.2010, 06:23

Eine Autorin, auf die ich schon lange neugierig bin. Danke für die Rezi, so wurde sie mir wieder in Erinnerung gerufen.

Unter welchen Pseudonymen schreibt sie denn?
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Beitragvon mombour » 10.01.2010, 08:29

Unter dem Pseudonym Rosamond Smith schreibt sie Thriller. Die Romane unter dem Namen Lauren Kelly sind nicht auf deutsch erhältlich (siehe wikipedia).
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Beitragvon Karthause » 10.01.2010, 09:20

Nachdem mir "Zombie" doch recht gut gefallen hat, habe ich - weil es bei Jokers gerade so günstig war - "Du fehlst" von Joyce Carol Oates gekauft. Eine Mutter-Tochter-Geschichte ist zwar nicht mein Lieblingslesestoff, aber wenn sie mich damit überzeugt, ist der Weg für ihre anderen Bücher offen. Wenn nicht gehts zu Tauschticket.
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Beitragvon mombour » 10.01.2010, 13:56

Karthause hat geschrieben: aber wenn sie mich damit überzeugt, ist der Weg für ihre anderen Bücher offen. Wenn nicht gehts zu Tauschticket.


Bei Joyce Carol Oates ist es eben gefährlich von einem Buch ausgehend auf andere zu schließen. Es wäre nicht ratsam, wenn dir "Du fehlst" nicht gefällen würde, von der Autorin dann abzulassen. Oates hat gute und weniger gute Romane geschrieben, da gibt es wirklich Gefälle. Man muss sich die guten heraussuchen. "Du fehlst" scheint, wie ich recherchiert habe, nicht zu den so gelungenen Romanen zu gehören. Bei Joyce Carol Oates studiere ich immer diverse Rezensionen, bevor ich zuschlage. Im allgemeinen mag ich ihre Bücher, na ja, ich habe auch nur ein Bruchteil ihres umfangreichen Werkes gelesen.

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Beitragvon Coco » 10.01.2010, 14:20

mombour hat geschrieben:Unter dem Pseudonym Rosamond Smith schreibt sie Thriller. Die Romane unter dem Namen Lauren Kelly sind nicht auf deutsch erhältlich (siehe wikipedia).



Danke!
Liebe Grüsse
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