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Gogol, Nikolai - Die toten Seelen




Gogol, Nikolai - Die toten Seelen

Beitragvon chip » 28.08.2009, 21:58

Was ist schon eine Seele wert, wenn der Held der Geschichte vor den Gutsbesitzern Russlands tritt und wie Mephisto um die Seelen seiner Bauern feilscht? Nicht so viel wie man annehmen könnte, kriegt er sie meist schon geschenkt. Sein Augenmerk liegt auf die Namen und Seelen verstorbener Bauern, die in den Revisionslisten noch als lebend verzeichnet sind und für die der Gutsbesitzer bis zur nächsten Revision weiterhin Kopfsteuer zahlen muss. Aus dem Grund sind viele der Eigentümer dankbar, ihre Unterschrift unter dem Kaufvertrag setzen zu können. Der Leser erfährt erst spät, was den Helden antreibt, wie sein Lebenslauf aussieht und was es mit dem Kauf der Seelen auf sich hat – doch wird ihm sehr früh klar, dass er betrügt und über eine ausgeprägte teuflische Ader verfügt. Kein wahres Wort verlässt seine Lippen, keine Geste ist aufrichtig. Er übt seine Rolle in Perfektion aus, blendet seine Mitmenschen, indem er ihnen nach dem Mund redet, ihnen Interesse vortäuscht. Jedes seiner Reuebekenntnisse ist verflogen, sobald die sündhaften Luxusgüter der westlichen Welt seinen Blick streifen. Er schließt Bekanntschaft mit den Beamten, Politikern und Stadtverwaltern der Stadt, reist von Hof zu Hof um die Gutsbesitzer von seinem Vorhaben zu überzeugen. Diese aber reagieren und handeln ihrerseits eingegrenzt durch die Fesseln ihrer verwerflichen Eigenschaften. Geiz, Aberglaube, Wollust und Völlerei – um nur einige zu nennen, werden durch sie auf glänzende Weise karikiert, mit sehr viel Witz und Augenzwinkern vorgeführt. Dabei wirken diese stereotypen Menschen ironischerweise selbst wie leblose Gestalten. Oscar Wilde schrieb im „Brief aus dem Gefängnis“ an seinem Freund Alfred Douglas ziemlich treffend über ihn, was man auch für jene Gutsbesitzer hätte nutzen können, um sie zu beschreiben:
„Man kann Verblendung so weit treiben, dass sie grotesk wird, und eine phantasielose Natur, wenn nichts geschieht, was sie aufrüttelt, wird schließlich zu völliger Fühllosigkeit versteinern, so dass der Leib zwar essen und trinken und seinen Genüssen frönen mag, die Seele aber, die er beherbergt, wird gänzlich abgestorben sein, wie die Seele des Branca d’Oria bei Dante.“

Überhaupt verfügt Gogol über eine große Menschenkenntnis, weiß um deren Schwächen und Eigenarten, die er in grotesken Szenen und Beschreibungen auf die Spitze treibt; durch seine überzeichnete Weise wird umso deutlicher, dass der Mensch nur eine groteske Abbildung seiner Selbst darstellt. Der erste Teil des Buches ist faktisch ohne positive Figuren besetzt, was nicht bedeuten soll, dass diese Figuren grundlegend schlecht sind. Wenn der Geizhals den Schimmel vom Zwieback kratzt, um ihn dem Gast vorzusetzen, zeigt es die hilflose Versklavung seiner Lebensart. Doch schon der zweite Teil lässt hingegen einige viel versprechende Lichtblicke zu, sofern dieses löchrige Manuskript dies gestattet. Der fehlende Rest wurde Opfer der Flammen.

„Der jetzige feurige Jüngling wiche voller Entsetzen zurück, zeigte man sein Bild im Alter. Wenn ihr die sanften Jünglingsjahre verlasst und in das raue, hart machende Mannesalter eintretet, so nehmt alle menschlichen Regungen mit, lasst sie nicht am Wegrand liegen, ihr hebt sie dann nicht mehr auf! Furchterregend, entsetzlich ist das vor euch liegende Alter, und es gibt nichts wieder heraus oder zurück! Barmherziger als es ist das Grab, auf dem Grab steht: Hier liegt ein Mensch begraben! Doch nichts liest man in den kalten, gefühllosen Zügen des unmenschlichen Alters.“

Gogol wird nicht müde, vor den Gefahren der Verlockung des Bösen zu warnen. Er sieht den russischen Charakter in Drangsal, den er so wohlwollend ehrt und schätzt, ein Patriot seiner Herkunft. Das Buch ist durchtränkt von der Leidenschaft zu seinem Volk, seinem Land und es macht einfach Spaß, ihm dabei zuzuhören. Die Versuchungen westlicher Einflüsse schreibt er dem Teufel zu und kennt die Handhabung, ihnen zu entgehen:

„Ich weiß aus Erfahrung, Bruder: All die dummen Gedanken kommen einem nur in den Kopf, wenn man nicht arbeitet.“

Zu der Frage, ob man seine Zeit einem Fragment opfern soll, ihr kann ich heftig nickend zustimmen. Im ersten vollständigen Teil ist alles enthalten, was zu erfahren sich lohnt. Die Fortsetzung stellt den zukünftigen Werdegang Tschitschikows dar, der wohl zum ersten Mal mit einem frommen Menschen zusammentrifft, der aus Dostojewskis Feder entsprungen sein könnte. Insofern ist es nicht zu tragisch, wenn die Geschichte hier endet. Die Gefahr, in allzu christlich geprägten Ideologien zu stranden, wäre an dieser Stelle nicht gering.
:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Gruß,
chip

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Beitragvon Karthause » 28.08.2009, 22:23

"Die toten Seelen" habe ich in jungen Jahren gelesen und war einfach begeistert. Vor 2 Jahren habe ich einen re-read gestartet, der ging leider in die Hose. Ich weiß bis heute nicht woran das lag. Aber wenn ich mal viel Ruhe habe, werde ich noch einmal einen Versuch starten.
Viele Grüße
Karthause

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Beitragvon Krümel » 08.10.2009, 10:26

Bei diesem Werk handelt es sich um ein Fragment. Angedacht waren ursprünglich drei Teile (der erste liegt abgeschlossen vor, der zweite Teil wurde begonnen, der dritte fehlt gänzlich) einer Schwarz-Weiß-Malerei: Ein Protagonist unter äußerst schlechten Voraussetzungen, finanziell sowie charakterlich, der im nächsten Teil wesentlich günstigere Bedingungen vorfindet und eine Synthese als Schluss.

Da ich nie eine Einleitung oder sonstiges Material vorab lese, ist mir diese Schwarzseherei gar nicht aufgefallen. Mit Tschischikow sah ich einen typischen Geschäftsmann mit allen seinen Raffinessen, die dazu gehören, heute wie wohl auch damals, um Erfolg zu haben, eben ein Heuchler oder Schmeichler, ja ein Schleimer.

Die Voraussetzungen, die Gogol diesem Helden mit an die Hand gibt, sind denkbar ungünstig. Wenn man zu Geld und Kapital gelangen möchte und bei Null beginnen soll, das ist es eine wahre Herausforderung! „Tote Seelen“ kaufen und damit ein Kreditgeschäft zu tätigen klingt äußerst schlau, diese Idee hatte es mir wirklich angetan.

Erst im zweiten Teil als Gogol dann ins Idealistische, wenn ich nicht sogar ins Kitschige sagen möchte, abdriftet, wurde mir dann dieses geplante Spiel bewusst. So was erzeugt man auf Papier, sind Wunschgedanken von Idealisten oder Weltverbesseren, aber in der Wirklichkeit undenkbar.

„Im ersten Teil ist alles enthalten, was zu erfahren sich lohnt.“ Ja, weil er die Realität spiegelt und kein bloßes Kunstwerk oder Machwerk ist. Aber man kann dieses Werk nicht nur auf diesen ersten Teil reduzieren.

Mein Gedanke ist es, dass Gogol an seiner Theorie gescheitert ist. Denn wäre es so einfach, den goldenen Mittelweg für die Menschheit zu erfinden oder zu finden, die Welt wäre ja eine andere. Da aber die Antithese, wenn der erste Teil die These ist, reine Illusion und Utopie ist, wird es verständlicher Weise auch keine Synthese geben können.
Für mich bleibt dieses Werk ein bloßes Fragment, aber ein äußerst interessantes Bruchstück, welches sich lohnt zu lesen, allerdings im Ganzen, nicht nur den vollendeten ersten Teil.

Bewertung: :stern: :stern: :stern: :stern:
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Beitragvon chip » 14.10.2009, 11:53

Krümel hat geschrieben:Erst im zweiten Teil als Gogol dann ins Idealistische, wenn ich nicht sogar ins Kitschige sagen möchte, abdriftet, wurde mir dann dieses geplante Spiel bewusst. So was erzeugt man auf Papier, sind Wunschgedanken von Idealisten oder Weltverbesseren, aber in der Wirklichkeit undenkbar.

Man hat das Gefühl zu wissen, wie es weiter gehen wird. Aber von Reue ist im vorhandenen Teil nichts spürbar. Sie wäre wohl gekommen und vielleicht auf eine nachvollziehbare Weise, durch ein Unglück oder ein einschneidendes Erlebnis, vielleicht erst auf dem Sterbebett ...

„Im ersten Teil ist alles enthalten, was zu erfahren sich lohnt.“ Ja, weil er die Realität spiegelt und kein bloßes Kunstwerk oder Machwerk ist. Aber man kann dieses Werk nicht nur auf diesen ersten Teil reduzieren.

... aber da mir der Rest des Buches verwehrt blieb, wäre alles weitere nur Spekulation. Der erste Teil kann als eigenständiges Werk angesehen werden, weil er einen Anfang und ein Ende aufweist.
Mein Gedanke ist es, dass Gogol an seiner Theorie gescheitert ist.
Wieso? Und welche Theorie meinst Du?
Denn wäre es so einfach, den goldenen Mittelweg für die Menschheit zu erfinden oder zu finden, die Welt wäre ja eine andere. Da aber die Antithese, wenn der erste Teil die These ist, reine Illusion und Utopie ist, wird es verständlicher Weise auch keine Synthese geben können.

Das müsstest Du bitte umformulieren. Ich kann Dir nicht folgen :oops:
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Beitragvon Krümel » 14.10.2009, 12:49

chip hat geschrieben: Wieso? Und welche Theorie meinst Du?


Also in meiner Ausgabe steht im Nachwort: Dass der erste Teil abgedruckt wurde und Gogol am zweiten arbeitete, der im Gegensatz zum ersten Teil bessere Bedingungen für diesen Tschischikow aufweisen sollte. Wir lesen ja auch, dass er Geld einfach geliehen bekommt, ihm verziehen wird, alle Mitmenschen sind gut zu unserem Held (das fand ich ja auch wahnsinnig idealistisch). Der geplante dritte Teil, der ja abhanden kam, sollte dann die Synthese aus 1 und 2 beinhalten, also was wird aus Tschischikow?

Irgendwie hat wohl Gogol eingesehen, dass sein Konzept nicht hinhaut, utopisch ist, nicht machbar...
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Beitragvon chip » 15.10.2009, 03:35

Ihm wird verziehen, weil er verspricht sich zu bessern. Verzeihen gehört zum Reifeprozess dazu. Dass er es nicht auf Anhieb schafft, sondern in alte Gewohnheiten verfällt, finde ich realistisch und somit nicht gleich als Defizit zu deuten.
Irgendwie hat wohl Gogol eingesehen, dass sein Konzept nicht hinhaut, utopisch ist, nicht machbar...

Kann man nicht sagen, solange man es nicht gesehen hat. Die Qualität hat in der Fortsetzung nachgelassen und das Manuskript wurde deshalb ins Feuer geworfen?
Ein Mensch kann sich nicht ändern? Bei Raskolnikow bin ich mir sogar ziemlich sicher, dass er sich nicht mehr ändert. So wie es bei Tschitschikow viel Überzeugungskraft braucht, um ihn zu ändern. Aber er hat nun keine Sonja an seine Seite ... :wink:
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Beitragvon Krümel » 15.10.2009, 12:20

chip hat geschrieben: Bei Raskolnikow bin ich mir sogar ziemlich sicher, dass er sich nicht mehr ändert. So wie es bei Tschitschikow viel Überzeugungskraft braucht, um ihn zu ändern. Aber er hat nun keine Sonja an seine Seite ... :wink:


:grübel :grübel2: :grübel1: und Häh?
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Beitragvon chip » 15.10.2009, 15:56

Krümel hat geschrieben: :grübel :grübel2: :grübel1: und Häh?

Na, der Held aus Schuld und Sühne. Dostojewski ...
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Beitragvon Krümel » 15.10.2009, 17:54

chip hat geschrieben:
Krümel hat geschrieben: :grübel :grübel2: :grübel1: und Häh?

Na, der Held aus Schuld und Sühne. Dostojewski ...


Aso, noch nicht gelesen :lol:
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