Was ist das Stottern eigentlich für uns?

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    Re: Was ist das Stottern eigentlich für uns?

    mi - 29.05.2006, 16:41

    Was ist das Stottern eigentlich für uns?
    Grüß euch!

    Ich möchte zurück zum Anfang der Diskussion, obwohl sie ja noch gar nicht so richtig angefangen hat.

    Leisi hat einmal zu Diskriminierungen von uns gefragt, daraus hat sich eine Diskussion zwischen uns entwickelt, ob Stottern nun eine Behinderung sein könnte oder nicht. Im Folgenden mein Beitrag, den ich für den dialog (= die ÖSIS-Zeitschrift) geschrieben habe, als Ausgangspunkt:

    Werden wir diskriminiert?
    Wo oder wie werden wir diskriminiert?
    Diskriminieren wir uns auch selbst?
    Ein Aufruf zum Diskutieren!

    Eine Gruppe Therapiewilliger musste sich in einer österreichischen Klinik im Rahmen ihrer Stottertherapie den Kehlkopf spiegeln lassen. Ein Frosch, der dort beim Stottern die Stimmritzen schließt, konnte dadurch bei niemandem gefunden werden. Weil dort noch nie Frösche gefunden wurden, nehme ich eher an, die Klinik musste irgendeine medizinische Alibi-Untersuchung machen, um die nötigen Geldquellen für die neue Therapie zu erschließen.
    Sicher dagegen ist, dass bei einem Sommercamp Jugendlichen die Kostenübernahme der Stottertherapie aus rechtlichen Gründen von der Krankenkasse nicht gewährt werden konnte. Da das Verständnis des Sachbearbeiters da war, konnte das Sommercamp wenigstens als „Reha-Aufenthalt“ unterstützt werden.
    Eine Kehlkopf-Spiegelung im Rahmen einer Stotter-Therapie ist zwar auf den ersten Blick keine Diskriminierung (schließlich bekommen die „Stotterer“ ja mehr als die „Nicht-Stotterer“), aber eine unangenehme und in diesem Zusammenhang völlig sinnlose Untersuchung. Die mangelhafte Unterstützung von Seiten der Krankenkasse im zweiten Fall ist da schon ein größeres Problem, sie kann manche von der Teilnahme an der Therapie ausschließen.
    Bösen Willen oder Diskriminierung im eigentlichen Sinn sehe ich in keinem der beiden Beispiele.

    Einer ÖSIS-Aktivistin wurde die Ausbildung zur Logopädin verwehrt, weil sie „körperlich ungeeignet“ war. Was damit gemeint war, wurde ihr nicht einmal auf genaues Nachfragen mitgeteilt. Die Vermutung, dass die fehlende „körperliche Eignung“ nur in ihrem Stottern zu finden sein kann, ist im speziellen Fall naheliegend. Mit „Stotterern“ wird nicht einmal diskutiert, die lässt man gleich dumm sterben.
    Ob eine Ablehnung im Zusammenhang mit Stottern immer gleich eine Diskriminierung darstellt, halte ich (ohne mich auf den konkreten Fall zu beziehen) für zweifelhaft. Wer den Führerschein machen will, muss auch aus gutem Grund seine Eignung für sicheres Fahren nachweisen. Wenn aber nicht einmal der Grund für die Ablehnung genannt werden konnte, liegt der Verdacht auf Diskriminierung nahe: Warum war es notwendig, sich hinter der fehlenden „körperlichen Eignung“ zu verstecken? Konnten keine stichhaltigen Gründe wie z.B. negativer Umgang mit sich und dem eigenen Stottern oder das Fehlen eines positiven Vorbildes (dazu gehört auch das Sprech-Vorbild) belegt werden?
    Jemandem die Therapie-Ausbildung zu verwehren, der die notwendigen Voraussetzungen zur TherapeutIn nicht mit bringt, ist dringend notwendiger Schutz zukünftiger KlientInnen und keine Diskriminierung. Stottern alleine ist dagegen kein Grund dafür.

    Ein anderer Stotternder suchte v.a. aus Angst um seinen Arbeitsplatz um arbeitsrechtliche Einstufung als „behindert“ an. Sein langes, schweres und weitgehend Therapie-resistentes Stottern reichte dafür nicht aus. Erst seine Depressionen gewährten ihm als „behindert“ einen gewissen Schutz. Um vor anderen auf der Kündigungsliste auf zu scheinen, hätte das Stottern aber leicht ausreichen können.


    Wenn uns jemand für „krank“ ansehen würde, nur weil wir stottern, würden wir ihn bestenfalls fragen, welches Schräubchen bei ihm locker sei. Krank ist, wer z.B. leidend im Bett liegt, und wir stottern ja nur.
    Wir wurden schon viel zu oft für „krank“ angesehen, nur weil wir stottern, als dass wir uns das noch gefallen lassen würden.

    Wenn uns jemand als „behindert“ hinstellen würde, müsste er sich auf mindestens genauso heftigen Protest gefasst machen. Wir wurden schon viel zu oft als „behindert“ zur Seite geschoben, überfahren und als Mensch zum Zwerg gemacht, als dass wir uns das noch gefallen lassen würden.

    Wir wollen nicht krank und nicht behindert sein, auch dann nicht, wenn wir uns damit im Einzelfall etwas Wichtiges nehmen: Schutz vor Diskriminierung genauso wie positive Diskriminierung (also den Ausgleich für Nachteile durch das Stottern) z.B. durch finanzielle Unterstützung von Therapien.
    Rechtliche und finanzielle Unterstützung kann nur aufgrund rechtlicher Grundlage gewährt werden. Irgendein emotioneller Aufschrei alleine reicht nicht aus, um die Gesellschaft zum Handeln zu veranlassen. Sonst würden die lautesten Schreier alles alleine unter sich ausmachen, und wir blieben wieder einmal übrig.


    Ich fasse zusammen:

    Wir Stotternden sind nicht krank.
    Wir sind nicht gesund.
    Wir sind nicht behindert.
    Wir sind nicht nicht-behindert, wenn ich das einmal etwas holperig ausdrücken darf.
    Wir sind gar nichts.
    Aber wir stottern, und viele von uns brauchen wenigstens zeitweise Hilfe und Schutz.
    Und wir tragen unseren eigenen Teil zu manchen unserer Probleme bei, indem wir „nichts“ sein wollen.
    Behindern wir uns also doch auch selbst?


    Wer mit diesem Status Quo zufrieden ist, kann aufhören, sich mit dem Thema weiter zu beschäftigen. Ich bin es nicht. Ich bin nicht damit zufrieden, dass so viele ihren Weg ohne oder nur mit mangelhafter Unterstützung zurücklegen müssen, dass viele stillschweigend an den Rand gedrängt werden, ohne einer ernsthaften Chance, zu zeigen, was in ihnen steckt.


    Wer diskriminiert wird, kann nur für „etwas“ diskriminiert werden. Woraus besteht für uns dieses „Etwas“?
    Ich lade zur Diskussion ein:
    Wer oder was sind wir?

    Damit wir nicht um des Kaisers Bart diskutieren, muss ich die Frage noch einmal unterteilen:
    Wie sehen wir uns?
    Wie können wir uns vorstellen, von Seiten der anderen gesehen zu werden?

    Wie sehen wir uns:
    Viele alte Kränkungen nehmen Einfluss auf unser Selbstbild, sowohl das erwünschte wie das befürchtete. Ein Nadelstich reicht zu großen Emotionen. Mir geht es hier nicht um alte Emotionen, sondern um die nüchterne Frage: Wie sehe ich mich ganz persönlich als Stotternde, als Stotternder?

    Wie können wir uns vorstellen, von Seiten der Gesellschaft gesehen zu werden:
    Wie wir uns selbst sehen, ist unsere jeweilige Privat-Angelegenheit. Wenn wir von der Allgemeinheit, vom Staat etwas brauchen (und ich meine, dass viele von uns dringend etwas brauchen!) müssen wir auch sagen, wofür: Sind wir behindert, sind wir krank? Oder sind wir etwas anderes?

    Ich selbst bin noch weit von meiner persönlichen Antwort entfernt.
    Für das erste stelle ich euch einmal meine Fragen.
    Was sind eure Antworten?



    Re: Was ist das Stottern eigentlich für uns?

    Tjure - 29.05.2006, 17:09


    Hallo,
    ich meine einfach, dass es im Leben eines Stotternden Situationen gibt, in denen er etwas "besonderes" (vom Staat) braucht.

    Ob man eine gererelle Lösung finden kann und ob dies angebracht ist, weiss ich nicht. Ich habe stotternde Leute mit sehr unterschiedlicher Symptomatik und unterschiedlichem Leidensdruck kennen gelernt. Heute bin ich einem Normalsprechendem näher als noch vor 10 Jahren. Würde ich aber arbeitslos werden - dann denke ich doch, dass ich es viel schwerer hätte, wieder einen Job zu finden.

    Zur Diskriminierung:
    eine stotternde Person - Mitglied bei der Selbsthilfe - hat für den dialog einen Beitrag geschrieben. Das hatte zur Folge, dass man in google die Person mit "Stottern" in Verbindung bringen konnte. Die Person drohte mit dem Anwalt, wenn man sich nicht darum kümmert, dass der Zusammenhang nicht mehr hergestellt werden kann.
    Ja, ich emfpinde auch das als Diskriminierung, und als einen Beitrag (aus den eigenen Reihen) zur Förderung der Tabuisierung.

    Wie können wir Forderungen an die Öffentlichkeit stellen, wenn wir unser Stottern verstecken? Das frage ich mich in letzter Zeit oft.

    Ich vermute auch ein wenig Panik bei den Betroffenen. Kein Thema wird so heiss diskutiert wie dieses. Wir sind was wir sind. Dazu dürfen/sollen wir stehen - wir sind nun mal so.


    Das denkt der
    Tjure



    Re: Was ist das Stottern eigentlich für uns?

    Freak - 06.06.2006, 14:00


    Wie ich mich sehe?
    Ich wollte mein Stottern lange vor jedem verstecken und kriege diese (mit Verlaub völlig überflüssige) Verhaltensweise auch heute noch nicht aus meinem Kopf.
    Wieso? Weil ich mich minderwertig gefühlt habe und mir sehr oft sehr wehgetan wurde. Ich war total hilflos und wusste mir nicht anders zu helfen.

    Hat es was gebracht?

    Ja, viel viel mehr Angst und Druck als wenn ich einfach offen damit umgegangen wäre.

    Seit ca. einem Jahr bin ich wirklich auf einem sehr guten Weg. Wenn mich wer auf mein Stottern anspricht, kann ich auch drüber sprechen ohne vor Scham im Boden zu versinken.
    Warum ich mich dafür bis heute schäme weiß ich nicht. Das muss sich wohl so entwickelt haben.

    Wenn ich nämlich meine Situation rational betrachte, finde ich, dass ich stolz auf mich sein kann und mich alles andere als schämen muss.
    Trotz der enormen Angst und Panik vor und in Sprechsituationen habe ich mich immer wieder in solche begeben.
    Ich habe ein gutes Abi, welches ohne Stottern jedoch auf jeden Fall besser gewesen wäre. Zuoft habe ich mich nicht gemeldet, wenn ich gemerkt habe, dass mir die Antwort zu sagen, schwer fallen würde.

    Bis heute schaffe ich es aber nur sehr selten, selbst auf mein Sprechproblem zu "sprechen zu kommen". Fragt mich nicht warum. Ob spontan oder geplant. In der letzten Sekunde lenke ich immer ein. So, als wenn ich es nicht schaffen würde, eine grausame Wahrheit zu beichten.

    Und das ist das, was meiner Meinung nach das wirkliche Problem ist. Die Angst vor dem Stottern. Egal in welcher Hinsicht. Die Angst belastet. Das Stottern nervt.

    In letzter Zeit werde ich immer selbstbewusster und obwohl ich für einen Stotterer immer recht selbstbewusst war, sehe ich voller Ärger zurück, weil ich mich maßlos darüber ärgere, mich so sehr von meinem Stottern beeinflusst lassen zu haben.

    Früher hätte ich gesagt, ich sei behindert. Denn das Stottern hat mich sehr oft in meiner Lebensführung und meinen Handlungen behindert.
    Seit ich jedoch immer lockerer werde, immer selbstbewusster (und älter ;) ), je mehr ich mich über das Stottern informiere, desto rationaler sehe ich das Stottern.

    Und bevor ich mich noch mehr verquatsche, komme ich mal zu meinem Fazit:

    Ich sehe mich als Menschen, der unter anderem stottert.

    Ich will nicht mehr, dass die erste Eigenschaft, die ich und andere mit mir in Verbindung bringen, mein Stottern ist.
    Ich habe so viel drauf.
    Ich habe einige andere Probleme als das Stottern. Und das Stottern gehe ich seit längerem an wie alle meine Probleme.

    Mein Stottern ist nur eine Eigenschaft unter vielen. Ich würde mich darauf einlassen, mich als sprechbehindert bezeichnen zu lassen. Denn mein Sprechen ist ja behindert.

    Aber ich bin gerade - endlich - nach langer Zeit auf einem guten Weg, mich in meiner Lebensführung überhaupt nicht mehr von meinem Stottern beeinflussen zu lassen.

    Und was passiert gerade? Mein Sprechen wird immer flüssiger. Ich mache die besten Fortschritte meines Lebens seit ich das Stottern nicht mehr als mein Hauptproblem betrachte, obwohl ich mich natürlich auch intensiv um Besserung bemühen möchte (was gerade zeitlich nicht geht).

    Ich habe das Gefühl, dem Stottern langsam seine Macht über mich entziehen zu können.

    Ich gestehe, ich hatte gerade 10 Minuten zu viel Zeit und bin etwas ausgeschweift.

    Das tut mir Leid. :oops:

    Also:

    Ich bin sprechbehindert. Das ist ein Fakt. Aber ich kann mich nicht damit anfreunden, über das Stottern identifiziert zu werden.



    Re: Was ist das Stottern eigentlich für uns?

    mi - 06.09.2006, 11:44


    Hallo Tjure, hallo freak, hallo alle anderen!

    Jetzt hab ich mir lange Zeit gelassen! Aber ich wollte noch warten, welche Meinungen noch kommen, bevor ich was dazu schreibe.

    Zu Tjure:
    Ja, ich fürchte auch, dass wir aus dem Mausloch müssen, um der Diskriminierung zu entgehen. Und dabei kann schon einmal passieren, dass jemand im Einzelfall auch einmal diskriminiert wird.
    Wie wir aus dem Mausloch kommen, ist wieder eine andere Sache. Selbst halte ich Aktionen wie den Button "Ich stottere, na und?" für zweischneidig, weil wir einerseits damit Gesprächanlässe über das Stottern anbieten, andererseits: Was interessieren mich z.B. die Hämorrhoiden der anderen? (Wenn ich jetzt an einen möglichen Button "Ich habe Hämorrhoiden, na und?" denke.) Der Mensch ist es, der mich interessiert. So eine Art, das Stottern zum Thema zu machen, wird schnell zur Zwangsbeglückung und macht leicht das Stottern wieder zu einem Schild, der vor sich hergetragen wird. Und die Person, die hinter dem Stottern steht, geht dahinter unter, wie gehabt und gewohnt.
    Und wenn sich niemand zu seinem Stottern bekennt, wenn es also "niemand stotternden" gibt, gibt es auch keinen Handlungsbedarf für die Gesellschaft. Wir werden also immer wieder einmal eins auf die Nase riskieren müssen, fürchte ich.

    Zu Freak:
    Danke auch dir für deinen sehr persönlichen Beitrag!
    Du hast sehr gut deine Entwicklung vom "Stotterer" zum "Stotternden" beschrieben, also von einem Menschen, für den das Stottern ein zentrales Element seines Seins ist, zu einem Menschen, der unter anderem auch stottert, wenn ich das einmal so salopp sagen darf.
    Ganz interessant daran finde ich, dass du mit einer Einstufung als sprechbehindert" leben könntest, das sehe ich als wichtigen Beitrag! Dazu übrigens: Von sehr vielen Behinderten weiß ich definitiv, dass sie genauso wenig wie wir über ihre Behinderung definiert werden wollen. Ich sehe daher aus diesem Blickwinkel für mich keine Notwendigkeit, mich abzugrenzen.

    wollen sich andere auch an der Diskussion beteiligen? Eure Meinungen interessieren mich sehr!

    lg!
    mi



    Re: Was ist das Stottern eigentlich für uns?

    Freak - 25.09.2006, 11:23


    Schade, dass hier nicht mehr Beiträge kommen. Das Thema ist wirklich recht interessant.



    Re: Was ist das Stottern eigentlich für uns?

    mi - 26.09.2006, 11:33


    Hallo!

    Ja, das finde ich auch!

    Deshalb meine neue Frage:
    Wie steht ihr Nicht-Stotternden im Forum dazu? Das wäre auch ausgesprochen interessant!

    lg mi



    Re: Was ist das Stottern eigentlich für uns?

    Müri - 26.09.2006, 19:55


    Hallo mi,

    also wenn ich mal kurz meine Meinung dazu sagen kann.
    Ich sehe das ähnlich wie bei anderen "Hinderungen". Das Stottern
    an sich ist nicht messbar, denn so wie ich es bei Tjure wahrnehme,
    drückt es ihn eher innen, als jetzt körperlich, bzw. hörbar.

    Das heißt, es kann jemand stark stottern und es stört ihn in dem
    Sinne nicht so extrem, als er von seiner Art her ein Mensch ist, der
    nicht dem Opferwahn verfallen ist (ich übertreibe) und sich an jeder
    gestotterten Silbe aufhängt und leidet. Dann kann jemand nur recht
    selten hörbar stottern und leidet aber gerade dann sehr viel, weil
    er doch im Alltag fast als Normalsprecher durchgeht und aber starke
    Ängste aussteht, entlarvt zu werden.

    Wem geht es schlechter? Wer braucht Hilfe und Unterstützung,
    eventuell auch eine Art rechtliche "Schonung"?

    Ich denke, wenn einen Stottern an sich sehr stark z.B. bei der
    Berufsfindung hindert, weil man wirklich schwer verstehbar ist (das
    ist halt, was ich wahrnehme auf den Treffen, dass ich manch einen
    halt einfach so schwer verstehe, dass eine Kommunikation extrem
    erschwert ist, mit anderen spreche ich normal, auch wenn ich starkes
    Stottern wahrnehme, ein anderes Stottern, dass die Kommunikation
    nicht so drastisch einschränkt), wenn es also so stark ist, kann ich mir
    schon vorstellen, dass ein Behindertenstatus sinnvoll wäre. Eventuell
    in der Form einer zeitlich begrenzten Variante. Denn was ich schräg
    fände wäre "behindert auf immer"-Stempel drauf und ab ins soziale
    Exil, weil es ändert sich an deiner Kommunikations-Unfähigkeit ja
    eh nichts mehr.

    Ich denke da gerade an meine liebe Freundin, die bis vor kurzem
    praktisch gehörlos war. Sie hat nun mit über 50 ein Implantat bekommen
    und hört jetzt wieder so gut, dass sie Wassertropfen von am Boden
    schleifenden Schlapfen unterscheiden kann, dass sie auch jemanden
    verstehen kann (wenn auch mit Mühe), dessen Lippen sie nicht sieht.
    Da hat sich was getan, wo sich vermeintlich nichts mehr hätte tun können.

    Zum Thema diskriminieren:

    Für mein Empfinden ist Diskriminierung zweiseitig und zum großen Teil
    besteht sie aus Gefühlen. Zum kleineren Teil aus tatsächlicher Ungerech-
    tigkeit.

    Es ist sicher Tatsache, dass Diskriminierung im Sinne von Ungerechtigkeit
    besteht, aber ich glaube, in der Zwischenmenschlichkeit ist es oft eine
    Projektion. Klar, manche Jobs bekommt man nicht, weil man stottert,
    dick ist, Ausländer ist, Frau ist...
    Manche bekommt man aber auch deshalb nicht, weil man der Schwieger-
    mutter des Personalchefs ähnlich ist und er da eine total Aversion hat.
    Pech gehabt. Das ist zwar doof und unproduktiv und der Personalchef
    sollte lieber Therapie machen oder seiner Schwiegermutter die Meinung
    sagen, als mich nicht einzustellen, aber so ist das Leben, wir sind alle
    nur Menschen.

    In der Zwischenmenschlichkeit, im Alltag, im Umgang mit Stotterern
    stelle ich beides fest. Manche Menschen sind einfach doof und haben keine
    Lust, sich auf die Bedürfnisse von Stotterern einzustellen (eben einfach
    20 Sekunden länger warten, bis der Satz zu Ende gesagt ist), vielleicht
    (sogar wahrscheinlich) wissen sie es nicht genau, was besser wäre. Dem
    Stotterer die lästige Situation verkürzen und raten, damit er es nicht
    fertig sagen muss. Oder doch lieber abwarten? (Ich weiß, dass beides
    richtig sein kann, kenne solche und solche Stotterer!)
    Und nun, wie verhalte ich mich, ohne, dass der Stotterer gleich glaubt,
    ich diskriminiere ihn? Tu ich das, weil ich keine Spezialistin im Umgang
    mit Stotterern bin?

    Ich kenne es auch von mir, dass ich meistens loslächle, wenn jemand
    zu mir kommt, mich anspricht und dabei stottert. Ich freu mich, dass
    die Person den Mut hatte, mich anzusprechen, weil ich weiß, dass das
    nicht die Regel ist. Und was fühlt jetzt diese Person?
    Ich belächle sie? Lache sie aus? - Projektionen. Es können sich halt viele
    nicht vorstellen, dass so eine Buchhändlerin, die den ganzen Tag vor sich
    hin plappert, eine Freude hat, wenn jemand kommt und stottert und
    länger braucht, bis die Frage herausen ist.

    Naja. das war jetzt ein bisschen konfus und ich muss leider schon aufhören,
    weil Tjure jetzt den PC braucht, aber wenn ihr Fragen habt, komme ich
    gern noch auf das Thema zurück.

    Liebe Grüße
    Müri



    Re: Was ist das Stottern eigentlich für uns?

    pips - 29.09.2006, 14:06


    hallo mi,

    ich hab schon paar mal angefangen zuschreiben, aber im grunde kann ich nur wiederholen, was schon geschrieben wurde. :oops:

    Ich sehe mein stottern nicht als behinderung.
    ich bin im sprechen oft behindert, aber es ist keine wirklich konstante störung.
    also, ich meine, es ist mal so mal so und wenns mies ist, dann denke ich nicht:
    "Tja, Ok, du bist halt behindert, wat soll`s, besser kannste es halt nicht!" ,
    sondern ärgere mich, weil ich ja weiss, dass ichs auch besser kann ;) .
    Behindert zusein bedeutet für mich u.a. auf dauer eine beeinträchtigung zuhaben,
    die mich in meiner lebensqualität einschränkt und ich keinen einfluss auf besserung oder gar heilung habe.
    jo, und das seh ich bei mir nicht so...

    Aber eine genaue definition hab ich auch noch nicht gefunden, mi :lol:
    Ich bin nicht krank oder behindert. Mir fallen nur so künstliche umschreibungen ein, "gehindert", "beeinträchtigt"... :drunken:

    Diskriminiert wird man in so vielen Bereichen und ich denke,
    jeder hat das recht auf schutz davor.
    Sei es der/die homosexuelle, der/die rolli-fahrerIn, etc.pp...
    das hat für mich nicht wirklich was mit behinderungen zutun.
    Also, dass ich mir den stempel "behindert" aufdrücke,
    damit ich im falle der diskriminierung recht auf einspruch und/oder irgendwelche vorteile habe,
    halte ich in meinem fall für unberechtigt.
    Verallgemeinern möchte da auf garkeinen fall, denn ich kann sehr gut verstehen,
    dass einige (vorallem sehr starke) Stotterer das anders sehen und sich als behindert einstufen/-lassen.

    lieben gruss,
    pips



    Re: Was ist das Stottern eigentlich für uns?

    mi - 30.09.2006, 15:11


    Grüß euch!

    Mei, ob wir unbedingt "behindert" sein wollen, sollen oder müssen, um, wenn nötig, Unterstützung etc. zu bekommen, traue ich mich nicht zu behaupten. Dazu spreche ich kommende Woche (endlich!) mit einem Behindertenanwalt, um dazu mehr Licht ins Dunkel zu bringen (und dann schreibe ich hier, was dabei herausgekommen ist).

    Ja pieps, ich stimme dir zu, dass die Probleme der meisten von uns nicht mit denen von jemandem, der wegen einer Querschnittlähmung im Rollstuhl sitzt, vergleichbar sind. Das eine Problem ist mehr oder weniger veränderbar, das andere nicht. Aber auch Behinderungen sind nicht so statisch, wie wir sie oft wahrnehmen. Mein Kind mit intellektueller Behinderung hatte zu Beginn eine Broca-Aphasie, d.h., es konnte Sprache zwar verstehen, aber selbst nicht sprechen. Im Lauf der Jahre konnte sie diese Aphasie zu einer Dysphasie verändern, sie spricht also auffällig und viel einfacher, als sie "normalerweise" sprechen können sollte, aber -sie spricht.
    Natürlich würde eine "Behinderung" bei den meisten von uns (zu recht!) nicht festgestellt werden, weil wir einfach zu wenige Probleme im Leben hätten, was ist aber bei den anderen, die zumindestens zeitweise Unterstützung oder Hilfe brauchen? Mit den Logopädierechnungen meines Kindes kann ich auch zum Behindertenreferat gehen (und bezahle übrigens auch dann noch noch einen sehr spürbaren Rest!), wegen Stotterns geht da z.B. nicht.
    Aber ich traue mich nach wie vor weder zu sagen, welche Einstufung Vorteile bringen könnte, noch ob überhaupt.

    müri hat, finde ich, zwei ganz wesentliche Beiträge eingebracht:
    Nur, weil wir "etwas haben", also irgendwie auffallen, brauchen wir noch lange nicht behindert zu sein. Viel von dem, was uns hindert, behindert alleine im eigenen Kopf. Das ist ein rein individuelles Problem und noch keine Behinderung.
    Der andere Beitrag ist vielleicht noch wichtiger:
    Augenmaß in der Diskusssion ist wichtig. Aus der Aversion eines Personalchefs ist genausowenig eine Diskriminierung konstruierbar, selbst, wenn sie de facto stattfindet, wie aus einem auffälligen Blick nach einem Stotterereignis. Wenn wir alles feinst zerreden, bleiben uns nur mehr ungenießbare Brösel.... :o

    Wenn ich daran denke, dass möglicherweise das Behindertengesetz Schutz und Hilfe geben könnte, meine ich z.b. Stotternde, die so schwer stottern, dass sie Hilfe von außen brauchen.
    Für die meisten von uns würde sich dagegen kaum etwas ändern. Höchstens, wenn sie z.B. eine Ausbildung machen wollten, die früher für "Stotterer" verboten war. Da könnten die Chancen stark steigen, weil niemand mehr, wie bei mir, den Kopf für eine zweifelhafte Entscheidung hinhalten müsste, um eine Chance zu geben. Ob die Arbeit in der Selbsthilfe (finanziell?) leichter wäre, traue ich mich auch nicht zu sagen. Auf jeden Fall möchte ich zusammen laut nachdenken, was sein könnte und daraus abgeleitet, was wir wollen!

    Selbst fühle ich mich übrigens gar nicht mehr behindert (und mein behindertes Kind übrigens auch nicht)!

    lg! mi



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