Krümels-Bücherwelt ...

... ein Literaturforum der anderen Art

Ishiguro, Kazuo - Damals in Nagasaki




Ishiguro, Kazuo - Damals in Nagasaki

Beitragvon marilu » 23.03.2009, 18:12

Originaltitel: A pale view of hills

Schon wieder ein Roman über ein Einwandererschicksal. Seit Anfang des Jahres scheine ich unbewusst bei meinen Einkäufen ein Händchen für solche Geschichten zu haben. Da ich den Roman kaufte, ohne auf den Inhalt zu achten - ISHIGURO auf dem Einband reicht bei mir inzwischen für die Kaufentscheidung...

Die Japanerin Etsuko lebt in England und genießt den Besuch ihrer Tochter Nikki - auch wenn der Anlass des Besuchs ein trauriger ist: Etsukos erste Tochter Keiko, noch in Japan geboren hat sich das Leben genommen. Etsuko wird von Träumen geplagt und ihre Erinnerungen führen sie zurück in das Nachkriegs-Nagasaki ihrer Jugend. Diese Erinnerungen werden dem Leser in der Form von Rückblenden präsentiert und nach und nach enthüllt sich Etsukos Vergangenheit. Einen besonderen Stellenwert nimmt in ihren Überlegungen die rätselhafte alleinerziehende Nachbarin Sachiko ein. Während Etsuko mit ihrem Mann Jiro in einem der Wohnblocks der neuen Siedlung lebt, üben Sachiko und ihre Tochter Mariko in ihrem alleinstehenden Häuschen eine fesselnde Faszination auf Etsuko aus. Wie Sachiko immer wieder betont, ist ihre Anwesenheit in diesem höflichen Umfeld nur vorübergehender Natur. Sie plant, mit ihrem amerikanischen Liebhaber in die USA auszuwandern, doch erlebt eine Anzahl an Rückschlägen. Etsuko, zu diesem Zeitpunkt schwanger mit Keiko, macht zaghafte Versuche, die ältere Frau als Freundin zu gewinnen. Die Kontraste zwischen den beiden Frauen sind groß und man fragt sich bis zum Schluss, wie Etsuko letztendlich in England landete...

Diese Frage beantwortet Ishiguro nicht direkt und vieles bleibt der Fantasie seiner Leser überlassen.
Wie man es von ihm gewohnt ist, ist auch "Damals in Nagasaki" ein ruhiger, melancholischer und oberflächlich einfach zu lesender Roman, der den schnellen Leser wohl etwas unbefriedigt zurücklassen wird. Beginnt man sich mit der Thematik und den versteckten Botschaften auseinanderzusetzen, entdeckt man jedoch eine Fülle an Zusammenhängen, die einen Reiz zum Entblättern der Schichten auslösen.

Nach der Lektüre habe ich ein wenig nach anderen Meinungen recherchiert und bin dabei auf einen interessanten Ansatz gestoßen, den ich selbst zwar nicht hundertprozentig überzeugend finde, aber der nachvollziehbar ist:
So sehen einige Leser Etsuko und Sachiko als eine Person.
Für mich stellte es sich eher so dar, dass Etsuko ihre Erlebnisse auf Sachiko übertragen hat, beide aber tatsächlich eigenständige Figuren sind.


Dieses Spiel mit der Fantasie des Lesers jedoch ist umwerfend konstruiert und die Tatsache, dass beide Auffassungen nebeneinander bestehen können, sind für mich Beweis für Ishiguros Können.

Ein faszinierender, tiefgehender Debütroman, den ich sicher nochmal lesen werde!

:stern: :stern: :stern: :stern:

Bild Bild
Scharfsinnig bin ich von Montag bis Freitag. Übers Wochenende leiste ich mir den Luxus der Dummheit.
- Henry Slesar: Die siebte Maske -
Benutzeravatar
marilu
Hilfskrümel
Hilfskrümel
 
Beiträge: 2183
Registriert: 23.04.2006, 20:46
Wohnort: Hannover

von Anzeige » 23.03.2009, 18:12

Anzeige
 


Ähnliche Beiträge


Zurück zu Belletristik/Unterhaltungsliteratur/Erzählung

Wer ist online?

0 Mitglieder

cron