Krümels-Bücherwelt ...

... ein Literaturforum der anderen Art

Kiesbye, Stefan - Nebenan ein Mädchen




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Kiesbye, Stefan - Nebenan ein Mädchen

Beitragvon Dr.Who » 18.03.2009, 18:18

Bild

Dies ist der letzte Sommer bevor Moritz auf das Gymnasium geht und fast alle seine Freunde verlieren wird. Deswegen will man noch mal so richtig etwas erleben. Die Gegend in Norddeutschland, in der Moritz lebt, ist im Weltkrieg mit Bunkern überzogen worden. An die 40 von ihnen sind bekannt aber die Jungs hoffen vielleicht doch noch einen ungeöffneten zu finden, vielleicht mit noch intakten Waffen und auch der einen oder anderen Nazileiche darin.
Man macht sich Tagelang auf die Suche und wird auch bald fündig doch findet man mehr als man erhofft hat…

Stefan Kiesbye braucht gerade einmal 111 Seiten um ein industrielles Vorstadtidyll zu demontieren.
Dort wo andere vorsichtig und unendlich langsam mit Hobel und Feile arbeiten geht der Schreiberling dieses Büchleins gleich mit einer Abrissbirne zu Werke und jagt dem Leser ganze Brocken und Fragmente kleinbürgerlicher Bigotterie um die Ohren. In einer zweckmäßig reduzierten aber dennoch sauberen Sprache trümmert er gezielt Fassaden nieder um den Leser Einblicke in etwas zu geben dessen Wahrhaftigkeit nicht selten schmerzhaft ist. Fast spielerisch verquert er die Charaktere. Kinder die rauben, morden, vergewaltigen und töten stehen Erwachsenen gegenüber die sich nicht aus ihrer heilen und selbst gebastelten Welt getrauen. Naiv und schon fast unschuldig halten sie an Werten und Prinzipien ihrer Altvorderen fest.
Bedingungslos lässt man sich auf diesen Höllentanz ein zu dem der Autor den Leser mit einer Fährte aus Voyeurismus und zwischenmenschlichen Schicksalen auffordert.
Aber viel zu spät merkt man erst das man in die Falle getappt ist und man ab Seite 80 nicht mehr zurück kann. Man befindet sich mit den Charakteren bereits im freien Fall. Ohne Hoffnung auf Rettung regiert ab diesen Zeitpunkt das Unausgesprochene, das nur Angedeutete. Nur kleine Happen werden dem Leser vorgeworfen der sich selbst ein Bild aus seinem Fundus von Erlebten, hören - sagen, oder auch den täglichen Medialen Rauschen das uns umgibt, skizziert. Mit dem unguten Gefühl, dass dieses Bild im Kopf nicht der Fiktion des Buches entsprechen möge, liest man immer gebannter weiter.
Man frisst sich lesend immer weiter, fällt immer schneller und schneller, bis man auf der letzten Seite mit den Charakteren auf dem harten Betonboden aufschlägt.

Das einzige das dabei beruhigt ist die Tatsache daß ich, im Gegensatz zu Moritz und seinen Freunden, als Leser selbstständig, auf meinen eigenen zwei Beinen, diese Geschichte verlassen kann während alle anderen zerschmettert am Boden liegen bleiben.

Aber warum nehme ich mir dann vor beim nächsten Buch dem Schreiberling nicht mehr so leichtfertig zu folgen?

Ein absoluter Geheimtipp.
Dr.Who
 

von Anzeige » 18.03.2009, 18:18

Anzeige
 

Beitragvon Nerolaan » 07.04.2009, 13:33

Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Buch als Geheimtipp anpreisen kann, aber: ich finde, dass sich diese 111 Seiten durchaus lohnen!

Kiesbye zeigt eindrucksvoll auf diesen wenigen Seiten, dass es auf so manchen Dorf schlimmer zugeht, als in einer Großstadt.
Der Autor braucht dazu auch nicht viel; er stattet seine Geschichte eher spartanisch und auch ein wenig gefühllos aus, aber erzielt dadurch einen sehr großen Effekt.
Zwar stellt man sich irgendwie auf die Seite des Protagonisten Moritz - das liegt aber eher daran, dass die Geschichte aus seiner Sicht erzählt wird - aber man ergreift nie wirklich Partei für irgendeine Seite.
Der Autor sorgt dafür, dass man eigentlich objektiv dabei zu sieht wie sich die Jugendlichen hochschaukeln und immer gewalttäiger werden.

Zugegeben: bis Seite 94 dachte ich nicht, dass da noch viel kommt und war sogar erst sehr enttäuscht. Denn das eigentlich "geniale", das überraschende passiert erst auf den letzten Seiten. Und genau die machen das Buch doch zu etwas besonderem.

Nein, ein Geheimtipp ist es für mich nicht, aber eine durchaus lohnende Lektüre!
Benutzeravatar
Nerolaan
Weltenwandlerin
Weltenwandlerin
 
Beiträge: 2975
Registriert: 08.11.2007, 18:41
Wohnort: Aachen



Ähnliche Beiträge


Zurück zu Zeitgenössische-Literatur

Wer ist online?

0 Mitglieder

cron