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Becker, Jurek - Jakob, der Lügner




Becker, Jurek - Jakob, der Lügner

Beitragvon marilu » 06.05.2006, 23:30

Inhalt:

Buch der 1000 Bücher
Copyright: Aus Das Buch der 1000 Bücher (Harenberg Verlag)

Jakob der Lügner
OA 1969 Form Roman Epoche Moderne

Jurek Beckers Erstlingsroman, in den persönliche Erfahrungen einflossen, gehört zu den gelungenen Versuchen, das Grauen der Judenvernichtung während des Zweiten Weltkriegs literarisch zu verarbeiten. Becker selbst wuchs im Warschauer Ghetto sowie in den Konzentrationslagern von Ravensbrück und Sachsenhausen auf. Von 1960 bis 1977 lebte Becker, der erst nach 1945 Deutsch lernte, in Ostberlin, wo auch der Roman entstand.
Der Ich-Erzähler, Überlebender eines polnischen Ghettos, schildert die Geschichte des Ghettobewohners Jakob Heym, der durch Zufall im deutschen Polizeirevier aus dem Radio Satzfetzen einer Meldung vernimmt, die fortan das Leben im Ghetto verändern sollte: »In einer erbitterten Abwehrschlacht gelang es unseren heldenhaft kämpfenden Truppen, den bolschewistischen Angriff 20 km vor Bezanika zum Stehen zu bringen.« Jakob kennt diesen Ort nur vom Hörensagen, doch weiß er, dass Bezanika nicht sehr weit vom Ghetto entfernt liegt. Gleichzeitig wird ihm bewusst, dass diese Nachricht den Ghettobewohnern einen konkreten Anlass zum Durchhalten und Weiterleben geben würde, denn mit dem sowjetischen Vormarsch näherte sich auch die Befreiung.
Um die Glaubwürdigkeit seiner Informationen zu erhöhen, behauptet Jakob, selbst über ein Radio zu verfügen, dessen Besitz streng verboten ist. Durch die Notlüge gerät er unversehens in die Zwangslage, ständig neue Nachrichten erfinden zu müssen; sein Lügengewebe führt zu tragikomischen Situationen und das technische Medium wird zum Symbol von Verheißung und Gefahr. Einerseits schöpfen die Ghettobewohner wieder Hoffnung; sie schmieden Pläne, die Selbstmordrate ist rückläufig. Andererseits befürchten einige seiner Leidensgenossen, dass die Entdeckung des Radios durch die deutschen Besatzer letztlich alle gefährden könne.
Spoiler hat geschrieben:Jakob tritt seinen Kritikern entgegen, indem er die Wahrheit enthüllt, doch sein Eingeständnis wird nicht erkannt. Als die Lügen seine Kräfte zu übersteigen beginnen, vertraut er sich seinem Freund Kowalski an, der mit dem Geständnis scheinbar gleichgültig umgeht, in der Nacht aber Selbstmord begeht. Jakob begreift, dass er seine Leidensgenossen weiterhin mit Informationen über die bevorstehende Befreiung versorgen muss, doch schon am darauf folgenden Tag werden die Ghettobewohner ins Konzentrationslager abtransportiert. Der Roman bietet dem Leser zwei Schlüsse an: Das »blasswangige und verdrießliche, das wirkliche und einfallslose Ende« schildert den Abtransport aller Ghettobewohner. Doch gegen diesen Schluss erfindet sich der Erzähler ein hoffnungsvolles Ende aus eigener Fantasie: Zwar stirbt Jakob, der Lügner, bei seinem Fluchtversuch, aber das Ghetto wird von den russischen Truppen befreit.


Wirkung:
Die außergewöhnliche Leistung des Romans liegt in seiner unpathetischen Darstellungsweise. Becker erzählt mit distanzierter Ironie vom Alltag der Ghettobewohner und verdeutlicht umso mehr Schrecken und Irrwitz der Situation im von Deutschen besetzten Polen. Der Roman wurde 1974 in der DDR verfilmt (Regie: Frank Beyer; Titelrolle: Vlastimil Brodsky); 1999 folgte eine weitere Verfilmung mit Robin Williams in der Hauptrolle (USA, Regie: Peter Kassovitz). J. R.

Meine Meinung:

Erstmal war ich sprachlos! Was für ein intensiver Roman!
Jede Menge Galgenhumor vor den tristesten Umständen. Naturgemäß ist die Rahmenhandlung (Warschauer Ghetto) bedrückend und niederschmetternd, doch die Bemühungen Jakobs, seinen Leidensgenossen Mut zu geben, bilden auch für den Leser Höhepunkte. Was mag er sich jetzt überlegt haben? Gibt es eine Chance, dass seine Lügen der Wahrheit entsprechen könnten? Wie wird es nur ausgehen...
Fragen, die sich immer wieder stellen.
Einerseits liest sich der Text leicht (die Spannung zieht den Leser in seinen Bann), andererseits ist er seelisch sehr belastend - zu recht. Der Roman gehört sicher nicht zu der Kategorie: "Gelesen und beiseite gelegt"!

Die Sätze sind stellenweise zu verschachtelt, um sie beim ersten Lesen vollständig zu verstehen, weshalb man sehr aufmerksam lesen muss. Aktives Lesen ist gefordert!

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern: :thumleft:

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Zuletzt geändert von marilu am 14.04.2007, 18:11, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitragvon Karthause » 07.05.2006, 17:27

Es freut mich besonders, dass "Jakob, der Lügner" hier in diesem Forum vorgestellt wird. Ich habe es schon vor Ewigkeiten (Mitte der 70er) gelesen. Als ich deine Vorstellung las, bekam ich gleich eine Gänsehaut. Eigentlich tut es mir leid, dass das Buch bei mir seit 30 Jahren im Regal steht. Auch ich war von Beckers Roman tief ergriffen, das Warschauer Ghetto mit seinem Schrecken und Grauen einerseits und die Hoffnung auf Leben andererseits. Jurek Becker ist etwas ganz besonderes gelungen.

Marilu schrieb, es ist kein Buch, das man liest, weglegt und zum nächsten greift. Das kann ich nur unterschreiben. Ich würde "Jakob, der Lügner" als einzigartiges Zeitzeugnis beschreiben und jedem empfehlen, es zu lesen.

Danke, marilu, für deine Vorstellung.
Viele Grüße
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Beitragvon Pippilotta » 11.11.2007, 14:40

Der namenlos bleibende Erzähler in diesem Buch berichtet, dass er als 9jähriger von einem Apfelbaum fiel, acht Jahre später zum ersten Mal mit einem Mädchen – unter einer Buche – zusammen war, und kürzlich wurde seine Frau von den Nationalsozialisten unter einem Baum erschossen. Am Schauplatz dieser Geschichte, dem Ghetto von Lodz im Jahr 1944, waren Bäume streng verboten.

Jakob Heym wurde – so befand es zumindest das Kontrollorgan – nach 20 Uhr, d.h. während der Ausgangssperre – auf der Straße „erwischt“. Er hat somit beim zuständigen Wachorgan im Revier vorzusprechen, von dem allerdings noch kein Jude lebend herausgekommen ist.

Während er durch die Korridore des Reviers schleicht, hört er Stimmen aus einem Radio. Demnach sind die sowjetischen Truppen schon nahe, die Befreiung in Aussicht. Jakob hat Glück, der Wachhabende lässt ihn laufen.

Jakob ist sich bewusst, dass er mit dieser Radiomeldung vorsichtig umgehen muss, weiß aber auch, dass sie für viele Ghettobewohner lebensrettend sein kann. Die Selbstmordrate ist enorm hoch, die Leute geben auf und haben nicht mehr die Kraft zur Hoffnung oder zum Durchhalten.

Jakob vertraut diese Meldung seinem Freund an. Um glaubwürdiger zu sein gibt er an, selbst ein Radio zu besitzen. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Als Jakob erkennt, wie plötzlich Hoffnung und Lebensmut in die Ghettobewohner kommt, gibt es für ihn kein zurück mehr. Nach und nach versucht er, an Nachrichten heranzukommen, versucht, den Leuten Hoffnung zu geben, nach dem Motto „ich werde, wenn es gut geht, ein paar Gramm Nachrichten entführen und mache euch eine Tonne Hoffnung draus.“

Jurek Becker erzählt auf tragisch-komische Weise die Geschichte des Jakob Heym. Anhand des Erzählers – der selbst Ghettobewohner war, überlebte und seine eigene Geschichte miteinfließen lässt - werden mit vermeintlicher Leichtigkeit, fast Irrwitz die Zustände im Ghetto beschrieben, wenn auch dem Leser oftmals das Lachen im Halse steckenbleibt. Der Erzähler nimmt zwischendurch immer wieder Kontakt mit dem Leser auf und weist somit nochmals eindringlich auf den Wahnsinn und die Schrecken dieser Zeit hin, besonders augenfällig wird dies mit der Beschreibung des „doppelten Endes“.

Ein Buch, das tiefe Spuren hinterlässt, ein großartiges Buch!

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Den Film mit Robin Williams habe ich zwischenzeitig auch gesehen, ebenfalls großartig!

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Beitragvon Karthause » 05.03.2009, 19:17

Ghetto von Lodz Ende 1944. Jakob Heym wurde auf der Straße vom Scheinwerferlicht des deutschen Kontrollturms erfasst. Der Posten behauptete, Jakob sein nach der Ausgangssperre ab 20 Uhr unterwegs gewesen. Da der Besitz von Uhren den Juden im Ghetto verboten war, konnte er sich nicht rechtfertigen. Ein Widerspruch hätte auch tödlich sein können. So sollte er sich beim Wachhabenden des Reviers melden. Als eine Tür geöffnet wurde, hörte er folgende Nachricht:

„In einer erbitterten Abwehrschlacht gelang es unseren heldenhaft kämpfenden Truppen, den bolschewistischen Angriff zwanzig Kilometer vor Bezanika zum Stehen zu bringen.“

Diese Information wollte Jakob eigentlich für sich behalten. Denn aus dem deutschen Polizeirevier kam man als Jude entweder als Spitzel oder als toter Mann heraus.

Als am nächsten Tag Mischa, mit dem Jakob auf dem Güterbahnhof Züge entladen musste, aus Hunger und Verzweiflung Kartoffeln stehlen wollte, hielt er ihn aber mit seinem Wissen vom Frontverlauf davon ab. Als Mischa ihm aber nicht glaubte, sagte Jakob: „Ich habe ein Radio!“ Das aber zu besitzen war bei Todesstrafe verboten. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Nachricht und Jakob war in seiner Lüge gefangen. Schnell bemerkte er, die Ghetto-Insassen schöpften neue Hoffnung, sogar die Selbsmordrate sank. Er brauchte jetzt immer neue Meldungen, denn die Nachfragen wurden immer dränger, ebenso wie die Angst seiner Leidgenossen vor der Entdeckung des Rundfunkempfängers durch die Gestapo.

Jurek Becker kennt das Ghetto von Lodz aus eigenem Erleben. Er wuchs dort auf. Mit „Jakob der Lügner“ gelang ihm ein ganz besonderer Roman. Der anonym bleibende Erzähler berichtet in wechselnden Perspektiven in der Ich- und in der Wir-Form. Dabei verfällt er nicht in Pathos, sondern bedient sich eines tragikomischen Erzählstils. Er schildert ungeschönt den Alltag und die Lebensbedingungen im Ghetto, vermeidet dabei aber jegliche Effekthascherei. Die gesamte Erzählung wirkt dadurch so ungemein authentisch.
Mein Fazit: „Jakob der Lügner“ ist ein bewegender Roman über das Leben im Ghetto von Lodz. Dieser ernsten Thematik hat Becker durch seinen Stil eine Leichtigkeit gegeben, die in ihrer Art für mich in der Literatur unerreicht ist.

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:
Viele Grüße
Karthause

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