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Köhler, Harriet - Ostersonntag




Köhler, Harriet - Ostersonntag

Beitragvon dubh » 06.02.2008, 20:31

Harriet Köhler, Ostersonntag
(Kiepenheuer&Witsch, Februar 2007)
ISBN 978-3-462-03764-7
224 Seiten; Euro 17.90 (geb. Ausgabe)


Kurze Zusammenfassung (von der KiWi-Verlagsseite):

Dies ist eine ordentliche Familie – hier spricht man nicht miteinander. In ihrem beeindruckenden Debüt erzählt Harriet Köhler von vier Menschen, die ihre Familie am liebsten loswerden würden. Aber es bleiben die Wut, das Unverständnis, die Angst vor dem Altwerden und die Sehnsucht nach Anerkennung und Anteilnahme.

Mehr zum Inhalt:

Episodenhaft lernt man die Gedanken- und Gefühlswelt, ja das Leben der einzelnen Familienmitglieder kennen:
Da ist Heiner, der Vater, der stets klug und wissbegierig war, doch jetzt, als Rentner, dämmert er auf der Couch vor dem Discovery Channel vor sich hin und versucht sich wie immer aus der Verantwortung zu ziehen. Früher brachte der Professor für Insektenkunde jede Menge Arbeit mit nachhause, heute verschanzt er sich notfalls hinter der Tageszeitung, damit seine Frau die Anzeichen einer beginnenden Demenz nicht bemerkt.
Diese, Ulla, war immer die schöne und perfekte Professorengattin, richtete sie das Leben der Familie doch herrlich ein - mit Tipps aus den entsprechenden Hochglanzmagazinen. Doch heute kostet sie das alleinige Leben mit ihrem pensionierten Mann immer mehr Kraft, da sind ein paar abstruse Affären nur noch wenig Trost. Aber wenn die Kinder zu Ostern kommen, dann muss alles hundertprozentig perfekt sein - eine heile Familie.
Und dann sind da noch die zwei Kinder: Linda und Ferdinand, beide in Berlin lebend, ohne sich dort jemals zu begegnen.
Linda ist die erfolgreiche, weil sehr talentierte Kolumnistin einer großen Tageszeitung. Sie empfindet ihre Eltern als peinlich, schreibt ihre Kolumnen sogar über deren Macken. Auch ihrem kleinen Bruder geht sie lieber aus dem Weg - sie sucht schon eher einen Mann.
Ferdinand hingegen treibt nur so vor sich hin: gerade mal wieder bei einer Frau rausgeflogen und seit Jahren ohne eigene Wohnung lässt er sich durch das nächtliche Berlin treiben, bis ihm eine alte Ex-Freundin begegnet, die ihn aufliest und mit ihre Bude nimmt. Als sie ihm am nächsten Morgen alte Post überreicht, ist ein Brief von seiner Schwester Friederike dabei.
Friederike, die bei einem Autounfall vor Jahren tödlich verunglückte...

Meine Meinung:

Wow, diese junge Autorin kann schreiben! Mit einer geradezu sarkastischen Präzision schildert sie eine nach außen hin normal scheinende Familie, in deren Innerstem es durchaus brodelt, allerdings im Stillen - denn es wird ja nicht kommuniziert.
Der Ton in den episodenhafen Erzählweise ist bissig-böse, aber mit so einer unglaublich guten Trefferquote, dass man nicht nur einmal lachen muss - obwohl es eigentlich zum Heulen sein mag.
Harriet Köhler gelingen die zwischenmenschlichen Betrachtungen allesamt, detailgenau schildert sie deren verkorkste Vorstellungen und Befindlichkeiten.

Dennoch: trotz eines tollen Sprachgefühls wirken mir die Figuren zu maskenhaft. Es sind schon fast ein wenig Schubladencharaktere, die einem aus der jungen deutschsprachigen Literatur irgendwie (und so ähnlich) schon bekannt zu sein scheinen.

Aber letztlich habe ich das Buch nicht aufgrund seiner Figuren so gerne gelesen, sondern schlicht und ergreifend wegen Harriet Köhlers sprachlichem Können.

Fazit: Trotz der ein oder anderen kleinen Schwäche absolut lesenswert.
Weil es zudem ein Debüt ist: :stern: :stern: :stern: :stern:

Bild

Liebe Grüße
dubh
dubh
 

von Anzeige » 06.02.2008, 20:31

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Beitragvon tom » 07.02.2008, 09:23

Hallo Dubh!

Nur eine Frage zum Verstaendnis: Friederike ist also eine Dritte in der Geschwisterschar, die vor Jahren gestorben ist?
tom
 

Beitragvon dubh » 07.02.2008, 09:29

tom hat geschrieben:Nur eine Frage zum Verstaendnis: Friederike ist also eine Dritte in der Geschwisterschar, die vor Jahren gestorben ist?


Hallo Tom,

ja, genau. Ferdinand trifft im Laufe des Buches seine alte Ex-Freundin wieder und diese überreicht ihm dann alte Post. Dabei ist dann auch ein (letzter) Brief seiner Schwester Friederike...
Kein wirklich unbekannter Kunstgriff, aber er ist bei "Ostersonntag" stimmig.

Liebe Grüße
dubh
dubh
 

Re: Köhler, Harriet - Ostersonntag

Beitragvon Pippilotta » 03.07.2010, 16:13

Am Ostersonntag finden sich traditionell die vier Personen, die eigentlich eine Familie bilden, zum gemeinsamen Familienessen ein. Vater Heiner, angesehener Naturkundeprofessor im Ruhestand, der seinen Tag vor dem TV-Sender „Discovery-Channel“ verbringt und seine ersten Anzeichen von Senilität und Demenz verdrängt. Mutter Ulla, zeit ihres Lebens damit beschäftigt, den Schein der „heilen Familie“ aufrecht zu erhalten und ihren Platz in der (angeheirateten) angesehenen Gesellschaft zu behaupten ist in erster Linie damit beschäftigt, erste Anzeichen des Alterns in Kosmetikinstituten, Fitnessstudien und gelegentlichen Affären zu bekämpfen. Tochter Linda, erfolgreiche Journalistin, betreut eine wöchentliche Kolumne in der sie über Alltagsprobleme schreibt, zieht hin und wieder ganz gerne eine Line Kokain wenn ihr wieder einmal die Ideen fehlen, hat einen festen Platz in der Schicki-Micki-Gesellschaft und stillt ihre innere Sehnsucht nach Anerkennung und Aufmerksamkeit in wohlwollenden Leserbriefen. Und da ist noch Ferdinand, ewig-Student und Luftikuss, der noch nichts zustande gebracht hat, und trotzdem der feinfühligste und ehrlichste der Familie ist. Und über allen hängt der Tod der Tochter und Schwester Friederike wie ein Schatten, über den aber niemand reden will und kann.
Aus ungewöhnlicher Perspektive – jeweils aus der Sicht der vier Familienmitglieder in der zweiten Person singular – wird eine typische? Familie des 21. Jahrhunderts beschrieben, das innere Seelenleben bloßgelegt, und die Unfähigkeit, miteinander zu reden, beschrieben. Genauso, wie die einzelnen Kapiteln (jeweils aus Sicht der 4 Personen) unabhängig voneinander aneinandergereiht werden, verhält es sich auch mit dem "Familienleben" der einzelnen: jeder für sich, Vermeiden einer jeden tieferen Konfrontation, und schon gar nicht den Tod der Tochter/Schwester thematisieren.
Harriet Köhlers Beobachtungsgabe ist sehr beeindruckend, und wie sie ihre Beobachtungen in Worte fasst, auch. Jedes Wort überlegt, jeder Satz ein Genuss, ohne dabei konstruiert zu wirken. Solange es solche Nachwuchsautoren im deutschsprachigen Raum gibt, brauchen wir uns um die Zukunft der deutschsprachigen Literatur keine Sorgen machen!

Harriet Köhler, geb. 1977, studierte Kunstgeschichte und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München, absolvierte einen Lehrgang für Kriegsberichterstatter der Bundeswehr, arbeitete als freie Autorin u.a. für Die Zeit, Tagesspiegel und den Musiksender MTV. 2007 erschien "Ostersonntag", 2010 ihr zweiter Roman "Und dann diese Stille". Harriet Köhler lebt in Frankfurt am Main.

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Re: Köhler, Harriet - Ostersonntag

Beitragvon Coco » 04.07.2010, 07:34

Danke Pippi! .... auf den Wunschzettel gewandert!
Liebe Grüsse
Coco

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Re: Köhler, Harriet - Ostersonntag

Beitragvon Karthause » 04.07.2010, 09:39

Gewünscht hatte ich es mir schon, bekommen auch, nur noch nicht gelesen. :oops:
Viele Grüße
Karthause

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