Krümels-Bücherwelt ...

... ein Literaturforum der anderen Art

Vargas Llosa, Mario - Der Krieg am Ende der Welt




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Vargas Llosa, Mario - Der Krieg am Ende der Welt

Beitragvon Katia » 16.09.2007, 16:05

[center]Mario Vargas Llosa: Der Krieg am Ende der Welt[/center]

Das Ende der Welt: der Sertao im brasilianische Bundestaat Bahia.
Der Krieg: das brasilianische Militär gegen die Kommune des religiösen Fanatikers Ratgeber.
Die Drahtzieher: Großgrundbesitzer und Politiker in der jungen Republik Brasilien.
Die Zeit: Ende des 19. Jahrhunderts.

Der "Ratgeber" ist ein Wanderprediger, der im Laufe der Zeit eine Schar von Jüngern - Ausgestoßenen, Mißgebildeten, ehemaligen Verbrechern, den Ärmsten der Armen - um sich versammelt. Die Einführung der Steuern und der Zivilehe sehen sie als Teufelswerk an und gründen in Canudos eine Siedlung, die schon bald großen Zulauf erhält. Der Ratgeber wird als eine Art neuer Messias verehrt.
Doch nicht nur Baron de Canabrava, dem die Fazenda Canudos gehörte, hat etwas gegen diese Gemeinschaft, auch die Progressive Republikanische Partei versucht die Situation für ihre politischen Ziele auszunützen und der Kirche ist sie sowieso ein Dorn im Auge. Und dann ist da noch Galileo Gall, der schottische Weltenbummler und Revolutionär, der glaubt, die Gemeinschaft in Canudo seht für die Ideale des Kommunismus. Im Hintergrund werden Intrigen geschmiedet und an versteckten Strippen gezogen und schnell wird klar, Canudo muss weg, schon haben Tausende Menschen dort ein neues Zuhause gefunden, entziehen sich den herrschenden Autoritäten.
Der "Krieg" gegen die Gemeinschaft, der von Beginn an für die Militärs mit all ihrer Erfahrung und Waffen schon gewonnen zu sein scheint, zieht sich in die Länge, denn die Jaguncos aus Canudo kämpfen um ihr Leben mit allem Geschick, mit ihrer Ortskenntnis und allen Waffen, die sie auftreiben können.

Wie bei Vargas Llosa nicht anders zu erwarten, ist diese umfangreiche Geschichte nicht chronologisch erzählt, sondern sprunghaft und aus Sicht vieler verschiedener Figuren ohne dass der Leser den roten Faden verliert. Seine Erzählweise passt zur chaotischen Kriegsführung und dem Durcheinander, das in und um Canudos herrscht - auch zur unsicheren politischen Situation im Lande.

Über 700 Seiten lang wird gekämpft für Ideale, um das nackte Leben, vergewaltigt, gelitten, intrigiert - blutig und lebensnahe. Um so bedrückender als der Roman auf einer wahren Begebenheit beruht. Der Autor vernachlässigt dabei weder das große Ganze noch die Einzelschicksale: eine Fülle von Figuren verfolgt der Leser mit ihrem ganz individuellen Schicksal durch die Wirren der Zeit.

Mag auch die heitere Note fehlen, die ich bei Vargas Llosa so mag (z.B. die wunderbare "Tante Julia und ihr Kunstschreiber"), so hat mich dieses Buch doch sehr nachhaltig beeindruckt. Zwar hatte ich beim Lesen immer wieder den Eindruck, das Buch habe Längen und hätte auch knapper erzählt werden können, aber bei Nachklingenlassen hat sich dieser Eindruck verflüchtigt: Vargas Llosa schafft einen kompletten menschlichen Rahmen um die historischen Fakten - er hat diesem unwürdigen Krieg nicht ein sondern die vielen Gesichter gegeben, die er hatte.
Ein ernstes und bewegendes Buch von einem meiner Lieblingsautoren, das ich nur mit einer dicken Empfehlung versehen kann!

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Bild

Katia
Zuletzt geändert von Katia am 16.09.2007, 18:20, insgesamt 1-mal geändert.
Benutzeravatar
Katia
techn. Chefkrümel
techn. Chefkrümel
 
Beiträge: 3364
Registriert: 17.07.2006, 11:35
Wohnort: München

von Anzeige » 16.09.2007, 16:05

Anzeige
 

Beitragvon Katia » 16.09.2007, 16:15

Nach der "offiziellen Rezi" noch ein paar mehr private Krümelforumsbemerkungen:

Auch wenn ich in der Art wie erzählt wird Vargas Llosa sofort wiedererkannt hat, war dies mein erstes Buch von ihm, das ohne Liebesgeschichten, ohne die heitere Note erzählt ist. Ohne es zu genau wissen, könnte ich mir vorstellen, dass "Tod in den Anden" und "Das Fest des Zeigenbocks" ähnlich sind. Ich hatte im Thread "Lesungen" daher geschrieben, dass ich es nicht als ideales Einsteigerbuch empfinde, weil es meinem Bild, das ich von Vargas Llosa hatte einen völlig neuen Aspekt hinzugefügt hatte. Aber zeichnet das nicht einen guten Autor aus, dass er einen mit jedem neuen Werk zu überraschen vermag?

Ich habe dieses Buch in etwa einer Woche am Strand gelesen, es ist nichts was man einfach so nebenbei "weglesen" kann und hinterher war mir nach etwas leichterem, fröhlichem, sonnigerem - da kam mir Paul Theroux und sein "Hotel Honolulu" (Anmerkung an mich: Rezi verlinken ;-) ) gerade recht.

Katia
Benutzeravatar
Katia
techn. Chefkrümel
techn. Chefkrümel
 
Beiträge: 3364
Registriert: 17.07.2006, 11:35
Wohnort: München

Beitragvon alwin03 » 16.09.2007, 16:55

Hier passt alles zusammen.

- Fünf Sterne
- tolle Rezi
- Preis bei Booklooker (2,90€)

Danke @Katia
Ich lese zur Zeit:

--------------------------------------- ???


wENN nUr meinE sCHleChte recht(s)SchreIbunG nICHT wÄr :cry:
Benutzeravatar
alwin03
Krümel
Krümel
 
Beiträge: 2305
Registriert: 31.05.2007, 19:14
Wohnort: Ostrand des Harz

Beitragvon Karthause » 16.09.2007, 20:03

Katia, deine Rezi gefällt mir sehr gut. Nun wird es wohl so kommen, dass ich den ernsten Llosa als erstes Buch lesen werden. In den Fingern juckt es schon, aber vor Ende Oktober wird es wohl nicht werden.
Viele Grüße
Karthause

Mein Blog

Fliegen kannst du nur gegen den Wind.
Benutzeravatar
Karthause
SuB-Betreuerin
SuB-Betreuerin
 
Beiträge: 7199
Registriert: 19.04.2006, 19:07
Wohnort: Niederrhein

Beitragvon Katia » 16.09.2007, 20:09

Danke für Euer Lob über die Rezi (ich fühl mich schon im Rezischreibmarathon, eine noch, dann hab' ich meine Urlaubslektüren abgearbeitet)! Ich hoffe, das Buch gefällt Euch auch, aber bei Vargas Llosa kann ja nicht viel schiefgehen ...

Katia
Benutzeravatar
Katia
techn. Chefkrümel
techn. Chefkrümel
 
Beiträge: 3364
Registriert: 17.07.2006, 11:35
Wohnort: München

Beitragvon wolves » 17.09.2007, 09:28

Eine wirklich tolle Rezi, Katia. "Der Krieg am Ende der Welt" steht ganz oben auf meiner Wunschliste.
Ich hatte ja "Der Geschichtenerzähler" von ihm gelesen und war mehr als angenehm überrascht. Da fällt mir ein, da wollte ich eigentlich auch noch eine Rezi darüber schreiben.
Liebe Grüße
wolves


Benutzeravatar
wolves
Buchgenießerin
Buchgenießerin
 
Beiträge: 6413
Registriert: 07.11.2006, 14:51
Wohnort: Saarland

Beitragvon Monika » 12.08.2009, 17:30

Ein großartiger Roman! Mario Vargas Llosa gelingt es, eine Fülle von Figuren und Schauplätzen, verschiedene Handlungsstränge und ständig wechselnde Erzählperspektiven miteinander zu verknüpfen, ohne dass man beim Lesen die Übersicht verlöre. Die Geschichte ist erschreckend grausam und gewalttätig, aber man hat an keiner Stelle den Eindruck, der Autor zeige mehr an Brutalitäten, als unbedingt nötig wäre. Ebenso wenig führt er seine seltsamen Romangestalten als ein Panoptikum skurriler Typen vor. All diese Banditen, Mörder, Verkrüppelte, Zwerge und Schlangenmenschen, deformiert und verhärtet durch die trostlosen Existenzbedingungen im Sertão, einem bitterarmen Landstrich Brasiliens, haben ihr eigenes, trauriges Schicksal, jeder von ihnen hängt dennoch mit leidenschaftlicher Zähigkeit am Leben, getrieben von der dunklen Sehnsucht nach einem besseren, gerechteren Dasein.

Man kann das „Entzücken der Seele“ nachempfinden, das diese benachteiligten und ausgestoßenen Menschen fühlen, als der charismatische Ratgeber unter ihnen auftaucht und ihnen einen Ausweg aus ihrem irdischen Elend verheißt. Mario Vargas Llosa lässt unter den vielen fiktiven Biographien, die er schildert, die Herkunft und Lebensumstände des historischen Antônio Conselheiro bewusst im Dunkeln, so dass er dem Leser ebenso rätselhaft und entrückt erscheint wie seinen Anhängern. Die „Gemeinschaft der Ärmsten“, darunter brutale Mörder und Vergewaltiger, lebt, von der Hoffnung auf einen gerechten Lohn im Jenseits erfüllt, in christlicher Eintracht zusammen, lässt dem Feind gegenüber aber keinerlei christliche Milde walten. Der „Antichrist“ wird nicht nur abgeschlachtet, seine Leiche wird auch noch durch das Abschneiden von Nase und Genitalien geschändet, was besonders perfide ist, da ihm dadurch jegliche Möglichkeit auf göttliche Gnade genommen wird.

Beim Kampf um die Siedlung Canudos kommt es zum blutigen Zusammenprall ganz unterschiedlicher Weltbilder und Handlungsweisen, wobei alle Beteiligten, ob es die Aufständischen, das Militär oder die verschiedenen politischen Gruppierungen sind, Recht und Unrecht zugleich haben. Denn jede Partei beurteilt die Lage zum Teil durchaus realistisch und kann gute Argumente gegen die Gegenseite ins Feld führen, aber gleichzeitig wird ihre Einschätzung von Irrtümern, Lügen, Unwissenheit und Fanatismus getrübt. Da jeder seine - in großen Teilen fiktive - Weltsicht für die einzig richtige hält, ist eine Verständigung von Anfang an nicht möglich, es wird nicht einmal der Versuch dazu unternommen. Am Ende wird Canudos mit ihren nahezu fünfundzwanzigtausend Bewohnern auf brutale und völlig sinnlose Weise ausgelöscht.

Sehr gekonnt hält der Roman die Balance zwischen der Schilderung der vielen einzelnen Schicksale und Episoden, die einen von Seite zu Seite fesselt, und der zugleich ständig steigenden Spannung, die mit jedem Versuch des Militärs, Canudos einzunehmen, größer wird und schließlich in der letzten entscheidenden Schlacht gipfelt. Dabei ist er von einer solchen Intensität und vor allem auch Plastizität, dass ich besonders im zweiten Teil wiederholt das Gefühl hatte, mitten im Sertão zu stehen und das Geschehen unmittelbar um mich herum zu erleben.

Es war mein erstes Buch von Mario Vargas Llosa. Ich freue mich schon auf die anderen!

Katia hat geschrieben: Ich hatte im Thread "Lesungen" [...]geschrieben, dass ich es nicht als ideales Einsteigerbuch empfinde, weil es meinem Bild, das ich von Vargas Llosa hatte einen völlig neuen Aspekt hinzugefügt hatte. Aber zeichnet das nicht einen guten Autor aus, dass er einen mit jedem neuen Werk zu überraschen vermag?


Vor allem ist es eine Sache der Perspektive. Diese grausame, mit großer Intensität geschriebene Geschichte ist mein Einsteigerbuch, und ich frage mich, wie Vargas Llosas Romane mit der "heiteren Note" dagegen ankommen können. Aber ich glaube, mit "Tante Julia" kann man nichts falsch machen, oder? :wink:

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:
Gruß Monika


Sigrid Damm - Ich bin nicht Ottilie
Jean-Luc Bannalec - Bretonische Verhältnisse
Jung Chang - Wilde Schwäne

Benutzeravatar
Monika
Buchstaplerin
Buchstaplerin
 
Beiträge: 831
Registriert: 19.01.2009, 10:35
Wohnort: Italien

Beitragvon Gast » 12.08.2009, 18:50

Nein, mit "Tante Julia" kann man nichts falsch machen und ein andere, ebenso wunderbare Seite von Vargas Llosa kennenlernen. :D

Katia
Gast
 



Ähnliche Beiträge


Zurück zu Zeitgenössische-Literatur

Wer ist online?

0 Mitglieder

cron