Nach knapp 200 Seiten möchte ich jetzt meine Gedanken zu „Schnee“ von Orhan Pamuk niederschreiben. Eigentlich wollte ich das bereits letzte Woche einstellen, kam dann aber leider immer wieder davon ab.
Allgemein ist dieser politische Roman sehr emotional angelegt. Wahrscheinlich empfindet jeder etwas anderes bei der Lektüre – abhängig vom eigenen Glauben, Wissen um die Situation in der Türkei und vom Islam, der individuellen Lebensauffassung. So werden meine Eindrücke sicher sehr persönlich wirken.
Eigentlich finde ich „Schnee“ leicht zu lesen, aber ich muss viele Pausen einlegen, weil mich einzelne Episoden sehr nachdenklich stimmen. Die Bürgermeisterwahl in der Provinzstadt Kars und der Selbstmord diverser Mädchen, die sich aufgrund des Kopftuchstreits umbringen, sind der unmittelbare Auftakt für die Reise des Schriftstellers Ka in die kleine Stadt. Er selbst, stark westlich geprägt, versucht scheinbar die Gründe für dieses Taten zu ergründen. In Wahrheit ist er aber auf der Suche nach seinem Glauben, was sich als gefährlicher gestaltet als er erwartet.
Als Fremder in der Stadt, begegenet er verschiedensten Menschen, die ihn skeptisch beäugen, aber doch verhältnismäßig frei mit ihm umgehen. Neue Eindrücke strömen nur so auf ihn ein: er begegnet seiner Jugendliebe Ipek wieder (die der inoffizielle Grund seines Besuchs ist), sowie seinem alten Kameraden Muhtar, der Ipeks Ex-Ehemann und Bürgermeisterkandidat von der islamistischen Wohlfahrtspartei ist… ein weiter Weg von der sozialistisch geprägten Vergangenheit der drei.
Nebenbei hat jeder der Einwohner eine Meinung zu Allah, dem Islam, der türkischen Gesellschaftsordnung und den Selbstmorden. Insbesondere die Aussagen zu den Selbstmorden sind sehr unterschiedlich. Auch innerhalb der einzelnen politischen, bzw. gläubigen Gruppierungen herrscht keine Einigkeit zur Bewertung. Sind die Selbstmorde politisch bedingt? Eine heldenhafte Tat zur Festigung des Glaubens? Eine Sünde, weil sich Muslime nicht umbringen dürfen? Eine Verzweiflungstat, weil das Leben der Mädchen in allen Bereichen ihres Lebens zerfällt?
Orhan Pamuk bringt das Geschehen wirklich sehr lebensnah zu seinem Leser: sehr gute Darstellungen bieten keine leichten Antworten und obwohl man heraushört, dass er selbst die Radikalität der Islamisten verurteilt, macht er sich doch die Mühe, möglichst viele Argumente möglichst authentisch in die jeweilige Situation einzubauen. Seine Sprache ist nicht schwer zu verstehen. Viele Bilder machen das Lesen angenehm. Zwischendurch ist auch mal etwas Mythisches dabei – blumige Erzählungen aus der türkischen Kultur.
Ich bin sehr begeistert von diesem vielseitigen Roman!
Mein eigener Glaube ist nicht sehr spruchreif, (weshalb ich ihn hier nicht zur Diskussion stellen möchte). Meine eigenen Zweifel helfen mir aber, Kas Suche nach Erkenntnis nachzuempfinden. Für mich ist Glauben etwas sehr privates und vieles, was ich in diesem Roman lese, bringt mich dazu innerlich zu schreien: „Man kann Glauben doch nicht guten Gewissens so einfach institutionalisieren!“ Das geht nicht, weil man doch niemandem ins Gehirn schauen kann und weiß, alle empfinden gleich! Versteht mich nicht falsch, das sich eine Gruppe Gleichgesinnter zusammen tut und aus ihrem Austausch Trost und Verständnis füreinander gewinnt, verurteile ich gewiss nicht. Aber sobald der Austausch durch äußeren bzw. inneren Zwang stockt, kommen mir Zweifel an dem Wert des Miteinanders.
Kann es im Interesse einer Religion sein, dass jemand sein Leben wegwirft? Sich eingemauert und drangsaliert fühlt? Wo ist das Miteinander, die Nächstenliebe und das Verständnis (für mich eigentlich eine Kernaussage egal welcher Religion). Existiert Gott? Man weiß es nicht, aber der Mitmensch, der lebt eindeutig. Sollte man ihm nicht den Respekt zollen, den man seinem „Vorbild“ entgegenbringt?!
So, jetzt habe ich mich doch hinreißen lassen, aber an manchen Stellen machen mich die immer wieder kehrenden Themen so wütend. Wie gesagt, jeder wird den Roman sicher anders bewerten. Und dies sind meine Gefühle.
Nun „muss“ ich noch den Keller aufräumen gehen und etwas Sport machen, danach aber werde ich mich wieder „Schnee“ widmen. Zumal das Pulverfass Kars anlässlich eines Theaterabends kurz vorm Explodieren steht. Hier wird bald Schockierendes geschehen!
@wolves: ich denke, wenn du den Roman irgendwann beginnst, wird er dich nicht so leicht wieder loslassen!