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Nemirovsky, Irene - Suite francaise




Nemirovsky, Irene - Suite francaise

Beitragvon Pippilotta » 19.11.2007, 18:26

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Juni, 1940. Vor den Toren von Paris steht die deutsche Armee. Anhand von einzelnen Personen/Familien wird beschrieben, wie die Betroffenen panisch ihre Habseligkeiten zusammenpacken und fliehen.

Da ist die wohlhabende, angesehene Familie Pericand mit ihren wohlerzogenen fünf Kindern, deren hauptsächliche Sorge es ist, sämtliches Tafelgeschirr, Silberbesteck, die Fahrräder der Kinder und andere Besitztümer zu verstauen, und der Konvoi mitsamt den Dienstboten setzt sich in Bewegung.

Das genügsame Ehepaar Michaud, das sich in mühevoller Arbeit und mit großen Entbehrungen ein bescheidenes Heim einrichtete, verlässt sich auf das Angebot des Arbeitgebers, der sie aus Paris nach Tours führen wollte und dort Arbeit in Aussicht stellte. Diesen „Fluchtplatz“ mussten die beiden allerdings für die Geliebte des Chefs räumen und so machen sich die beiden – da auch die Bahn hoffnungslos überfüllt ist – zu Fuß auf den Weg. Inmitten der marschierenden Massen zeigen sie, dass sie das Herz am rechten Fleck haben.

Und da ist Gabriel Corte, ein Großkotz, Müßiggänger und Narziss. Die Schriftstellerei brachte ihm Geld und Berühmtheit ein, und im sich ankündigenden Krieg sieht er eigentlich nur sein „Wohlbefinden beeinträchtigt“. Doch er ist (noch) überzeugt, dass er aufgrund seines Namens und seines Bekanntheitsgrades bevorzugt behandelt wird und ihm eigentlich nichts passieren kann. Während der Fahrt durch Paris äußert er sich abfällig über den „Pöbel“, doch bald schon muss auch er erkennen, dass ihm seine Berühmtheit nicht immer weiterhilft….

Von diesen - und einigen anderen - Einzelschicksalen wird abwechselnd erzählt, ebenso kommen Jean-Marie, der Sohn der Michauds vor, der als Soldat eingezogen wurde, bei einem Bombardement verwundet und nun in einem entlegenen Gehöft von Bauersleuten betreut wird, oder Charles Langelet, Kunstliebhaber und Ästhet, der eigentlich mit dem „blutenden Europa“ gar nichts zu tun haben will.

Die Charaktere (und deren Verhalten und Reaktion angesichts des nahenden Unheiles) sind so treffend beschrieben, es ist unbeschreiblich.
Zuletzt geändert von Pippilotta am 20.11.2007, 15:19, insgesamt 1-mal geändert.
Herzliche Grüße
Pippilotta


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von Anzeige » 19.11.2007, 18:26

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Beitragvon Salome » 20.11.2007, 15:11

Wieviel Sternlein gibt es denn für das Buch?
Salome
 

Beitragvon Pippilotta » 20.11.2007, 15:18

Ich habe ja erst 100 Seiten (von 500), wollte eigentlich nur meinen (begeisterten) ersten Eindruck festhalten .... Schlussrezi mit Bewertung folgt natürlich, sobald ich durch bin (aber ich denke, 5 werdens schon werden :wink: =
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Beitragvon Salome » 21.11.2007, 06:58

Das klingt ja sehr vielversprechend! Ich schiele mal gleich ein bisschen bei Amazon rein... :wink:
Salome
 

Beitragvon Pippilotta » 01.12.2007, 18:02

Nach der "Zwangspause" aufgrund von Claudels "Graue Seelen" widme ich mich jetzt wieder der Suite francaise und setzte hier mein "Lesetagebuch" fort.

Die Thematik ist ja mit Claudel sehr ähnlich. Die Kriegswirren (hier allerdings der 2. WK), die sich mehr oder weniger auf einzelne Personen auswirken. Das Massensterben an der Front korrespondiert mit den Schicksalen von Einzelnen.

Nach wie vor werden abwechselnd die Geschichten der oben genannten weitererzählt. Der Krieg findet nun "statt", die Deutschen marschierten in Paris ein. Während der Großkotz Corte keine anderen Probleme hat, als sich über die unkooperative Blockade der Engländer die seinen Whiskey-Nachschub verleidet aufzuregen, müssen die anderen Familien die ersten Kriegsopfer beklagen.
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Beitragvon Pippilotta » 05.12.2007, 16:30

Ich nähere mich dem Ende und mache hier noch kurz einen Zwischenbericht:

Während sich der erste Teil des Buches mit dem Angriff, dem Einmarsch der Deutschen und der Flucht der Pariser Bevölkerung beschäftigt, wird im zweiten Teil die Zeit der Besatzung mit all ihren Folgen und Nebenwirkungen beschrieben.

Es ist irgendwie wohltuend, dass die Deutschen nicht die rein "Bösen" sind, dass hier keine "Schwarz-Weiß-Malerei" stattfindet.
Herzliche Grüße
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Beitragvon Pippilotta » 11.12.2007, 20:01

hier meine abschließende Rezension:

Juni, 1940. Vor den Toren von Paris steht die deutsche Armee. Anhand von einzelnen Personen/Familien – quer durch alle Gesellschaftsschichten - wird beschrieben, wie die Betroffenen panisch ihre Habseligkeiten zusammenpacken und fliehen. Die Leute reagieren ganz unterschiedlich auf die drohende Gefahr.

Da ist z.B. die Familie Pericand, eine sehr angesehene, wohlhabende und fromme Familie. Als die ersten Bomben fallen zeigt die Mutter ihr ganzes Organisationstalent. Tafelgeschirr, Silberbesteck, Fahrräder und sämtliche Wertgegenstände werden verstaut und ein Konvoi mitsamt den Dienstboten verlässt Paris. Anders das bescheidene Ehepaar Michaud. Sie packen nur ihre wichtigsten Habseligkeiten zusammen und machen sich zu Fuß (die Züge sind längst übervoll) auf den Weg aus der Stadt. Dabei stoßen sie auf die Ärmsten der Gesellschaft, zeigen Mitgefühl und helfen, wo sie nur können.
Auch der bekannte Schriftsteller Gabriel Corte muss sein prunkvolles Haus mitsamt dem liebgewonnenen Luxus verlassen. Für ihn stellt der Krieg eine „Störung seines Wohlbefindens“ dar. Allerdings sieht er keine Gefahr und ist sich sicher, dass ihm sein Bekanntheitsgrad sämtliche Türen öffnen wird und er auch die Obrigkeiten für seine Zwecke einsetzen kann. Unwirsch und rücksichtslos macht er sich lustig über den „Pöbel“, der durch die Straßen von Paris flüchtet, ehe er eines Besseren belehrt wird ….

Irene Nemirovsky beleuchtet ein breites Spektrum von Charakteren angesichts der Bedrohung der deutschen Armee, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Menschliche Abgründe, motiviert von Egoismus, Neid und Hass stehen aber einer unendlichen Menschlichkeit, Einfühlvermögen, Hilfsbereitschaft, Verzweiflung und Demut gegenüber.

Während sich der erste Teil des Buches mit den Konsequenzen rund um den Einmarsch der deutschen Truppen im Juni 1940 beschäftigt, so steht im Mittelpunkt des zweiten Teiles ein von Deutschen besetztes französisches Dorf im Sommer 1941. In jedem Haus ist ein Soldat stationiert und hat sich die Bevölkerung damit zu arrangieren. Die Gefühle den „Feinden“ gegenüber schwanken zwischen Hass, Ablehnung, Rache, aber auch Wohlwollen, Zuneigung, sogar Liebe. Es ist sehr beachtlich und beeindruckend zu lesen, dass Nemirovsky – als Jüdin - hier keine Wertung vornimmt. Dass es keine „Guten“ und keine „Bösen“ gibt und sie zum Teil sehr hart und schonungslos mit ihren französischen Landsmännern ins Gericht geht.

Das Buch wäre als 5-teiliges Werk geplant gewesen, leider konnte Irene Nemirovksy nur 2 Teile fertigstellen. Sie starb im August 1942 in Auschwitz. Das Manuskript zu „Suite Francaise“ wurde von ihren Töchtern gerettet, entziffert und veröffentlicht. Im Anhang des Buches angeschlossene Tagebuchaufzeichnungen und Notizen zu „Suite Francaise“ geben einen eindrucksvollen Einblick in ihr Vorhaben, ihre Motivation zu diesem wahrlichen Meisterwerk und den geplanten Inhalt der weiteren 3 Teile. Ebenfalls angeschlossen ist ein Konvolut an Korrespondenz in den Jahren 1936 bis 1945 sowie ein sehr berührender Aufsatz über das Leben der Irene Nemirovsky, verfasst von Myriam Anissimov.

Ein ganz beachtliches, großartiges Buch, ein außergewöhnliches Sittengemälde, wohl mein Highlight 2007!

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Beitragvon Krümel » 11.12.2007, 21:31

Danke für diese aussagekräftige Rezi, sie wird zum Wochenende im Blog erscheinen :D
BildLiebe Grüße,
Krümel



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Beitragvon Salome » 12.12.2007, 17:53

Tolle Rezi, tolle Autorin, muss ich haben!! :D
Salome
 

Beitragvon Wirbelwind » 06.01.2008, 00:16

"Suite francais" - mein erstes Buch 2008.
Besser hätte das Jahr nicht anfangen können.
Vor dem Lesen hatte ich ein mulmiges Gefühl zu sehr mit dem bösen Deutschen konfrontiert zu werden. Dafür bestand kein Grund. Die Autorin ließ erstaunlicherweise keine Schwarz/Weiß-Malerei zu, sondern nimmt ihre Landsleute im gleichen Maße unter die Lupe.
Sehr schön ist die Herausarbeitung der einzelnen Charaktere.
Ein berauschend schöner, vielschichtiger, ergreifender und tiefsinniger Roman, der keine menschliche Seite ausläßt. Wichtig erscheint mir auch die Darstellung, dass Krieg im Herzen nicht immer diktierbar ist.
Hochinteressant in der Anlage auch die Briefe, Tagebucheintragungen und das Nachwort.
Unumstritten ein 5 Sterne Buch. Von Irene Nemirovsky möchte ich auf jeden Fall noch mehr Bücher lesen.

Liebe Grüsse
Wirbelwind

:lesen5: Ford Madox Ford, Manche tun es nicht
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Beitragvon Pippilotta » 06.01.2008, 20:56

Es freut mich, dass es Dir auch so gut gefallen hat!

Ich fand es auch sehr bemerkenswert, dass dieses Buch keine "Abrechnung" mit den Deutschen ist. Umso mehr, wenn man sich die Biografie der Schriftstellerin ansieht (Jüdin mit Wahlheimat Frankreich) - sie hätte - verständlicherweise - allen Grund dafür!
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Beitragvon Wirbelwind » 07.01.2008, 16:37

Das denke ich auch.

Liebe Grüsse
Wirbelwind
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