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Atwood, Margaret - Alias Grace




Atwood, Margaret - Alias Grace

Beitragvon marilu » 24.01.2007, 10:09

Ich freue mich, euch mein erstes SUB-Wettbewerbsbuch vorstellen zu können. Ein starker Auftakt für das Jahr! :thumright:

Originaltitel: alias Grace

Inhalt:

Klappentext

Toronto, November 1843: In einem Gerichtsverfahren, das in ganz Nordamerika Aufsehen erregt, werden das 16-jährige Dienstmädchen Grace Marks und der 29 jährige James McDermott des Mordes an ihrem Arbeitgeber schuldig gesprochen. James McDermott wird hingerichtet, Grace verbringt die nächsten 30 Jahre im Gefängnis.
16 Jahre nach dem Doppelmord wird Grace von dem ambitionierten jungen Nervenarzt Dr. Simon Jordan untersucht. Jordan versucht, den Schleier der Amnesie zu lüften, der in der Erinnerung der jungen Frau den Tag der Bluttat verhüllt.
Langsam fasst Grace Vertrauen zu dem Arzt und beginnt ihm zu erzählen: von ihrer verarmten irischen Familie, von der Auswanderung nach Kanada, von dem tragischen Tod ihrer einzigen Freundin Mary Whitney. Aus diesen Erinnerungen entsteht wie aus den Flecken eines Quilts, den Grace näht, nach und nach das Muster eines Lebens, das geprägt wurde von der Suche nach Freundschaft und Vertrauen; eine Suche, die vielleicht - mit einem Mord endete.

Der 150 Jahre alte Kriminalfall um Grace Marks ist in Kanada seit langem zum Mythos geworden. Aus den spärlichen Fakten und widersprüchlichen Zeugenaussagen hat Margaret Atwood einen Roman gemacht, der, die historische Gestalt zu neuem Leben erweckt.

Ergänzend von mir:

Am 23.07.1843 ereigneten sich die Morde an Thomas Kinnear und seiner Geliebten Nancy Montgomery in Richmond Hill. Die Mischung aus Sex, Gewalt und "Aufstand der niederen Klassen gegen ihre Herren" waren für Presse und Öffentlichkeit ein berauschendes Szenario. Letzteres insbesondere vor dem Hintergrund, dass nur 7 Jahre zuvor die Rebellion von William Lyon Mackenzie niedergeschlagen worden war.

Die genauen Tatumstände lassen sich aufgrund der zahlreichen Berichterstattungen, Zeugenaussagen und verlorenen Dokumente nicht mehr rekonstruieren. So hat Margaret Atwood hier einen fiktiven Roman geschrieben, in dem sie die existierenden Fakten unverändert einbrachte, aber Lücken durch ihre Fantasie auffüllte.

Meine Meinung:

Man kann sicher darüber streiten, ob dieser Roman unter historischem Roman oder Kriminalroman eingestellt werden sollte. Ich entscheide mich für die Kategorie "Historischer Roman", denn obwohl der Mordfall im Zentrum steht, dauert es doch bis Seite 150 bis Grace erlaubt wird, sich ausführlich über ihr Leben und die Vergangenheit zu äußern. Natürlich kommt sie schon früher gelegentlich zu Wort, doch der erste Teil dient eindeutig dafür, die einzelnen Personen vorzustellen.

Ehrlich gesagt, hatte ich damit anfangs einige Probleme, weil mir nicht gleich klar wurde, worauf der Roman hinausläuft. Nachträglich habe ich mich darüber gefreut, so viele Informationen zu den einzelnen Figuren zu haben. Obwohl Graces Geschichte der Haupteil des Romans ist, gibt es doch viele andere Personen, die wichtig für die Darstellung sind. So entsteht ein umfangreicher Eindruck vom Leben im Kanada des 19. Jahrhunderts.

Die Handlung gewinnt richtig an Fahrt, sobald Grace ihre Geschichte erzählt.
Sie ist die Ich-Erzählerin des Romans. Regelmäßig steht auch der Arzt Simon Jordan im Fokus, was dem Roman eine weitere Dimension gibt. Jordan ist der demokratische, gutaussehende, junge Amerikaner, Erbe eines Industriellen, der weiß, dass ihm die Welt zu Füßen liegt. Und mit diesem Wissen geht eine gewisse Portion Arroganz einher.
Die Unterschiede zwischen Graces und seiner Weltsicht könnte größer nicht sein. Leider bleibt er in seiner Arroganz seinem Denken verhaftet - das er als das einzig Wahre betrachtet, wie so viele Männer seiner Zeit.

Interessanterweise wird nicht ein Mann im ganzen Roman sympathisch. Eventuell kann man den Hausierer Jeremiah davon ausnehmen, denn er ist wenigstens ehrlich.

Es fällt mir schwer, einzelne Dinge herauszugreifen, ohne zuviel von der Handlung vorwegzunehmen. Deshalb werde ich mich darauf beschränken, euch das Buch zu empfehlen, wenn ihr Interesse an historischen Stoffen habt, ein wenig Spannung sucht und von feministischer Literatur nicht abgeschreckt werdet.

Wie schon aus dem Klappentext hervorging, wurde Grace nach 28 Jahren begnadigt und freigelassen. Während des ganzen Romans kann man sich einerseits vorstellen, dass sie die Tat begangen hat, aber auch, dass sie unschuldig ist. Der Leser wird nicht dahingehend manipuliert, eine Meinung über die Geschehnisse zu haben. Das gefällt mir ausgesprochen gut, denn woher soll man wissen, was passiert ist, wenn nichtmal die Richter, Ärzte und die Öffentlichkeit der Zeit zu einer einheitlichen Überzeugung kamen.

:stern: :stern: :stern: :stern: ( :stern: )

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Beitragvon Siebenstein » 24.01.2007, 10:46

Schöne Rezension, danke Marilu!

Ich hätte das Buch auch fast in meine SUB-Liste 2007 aufgenommen, denn es steht schon mindestens zwei Jahre ungelesen bei mir im Regal. :?
Nach deiner Rezi freue ich mich, das Buch noch vor mir zu haben.

Liebe Grüße
Siebenstein :wink:
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Beitragvon marilu » 24.01.2007, 10:52

@Siebenstein:

ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es dir gefällt! Ich freue mich, dass ich von der Autorin noch einige Bücher zu entdecken habe! Sie ist für mich jedemal wieder eine Entdeckung! :thumright:

Lass dir Zeit dafür und lies es am besten dann, wenn du dich darauf ganz einlassen kannst. Dann fällt dir bestimmt auch der Einstieg leichter als er mir gefallen ist.
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Beitragvon wolves » 24.01.2007, 14:09

Auch von mir vielen Dank für deine Rezi. Ich habe mich ja schon sehr darauf gefreut. So ist mir das Buch wieder ein wenig mehr in Erinnerung gekommen und ich hoffe für mich auf ein baldiges re-read.
Liebe Grüße
wolves


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Beitragvon Nerolaan » 10.11.2007, 19:53

Oh, ich habe im Sommer ein Englischseminar besucht und musste dafür dieses Buch lesen.

Ich bin mal so frei und veröffentliche meine Rezi, die ich kurz nach dem Lesen verfasst habe :-)

Grace Marks ist gerade mal 15 Jahre alt, als sie wegen dringendem Mordverdacht zusammen mit James McDermott in den Vereinigten Staaten 1848 festgenommen wird.
Beide sind aus Kanada geflohen.
Während MacDermott wegen Mord gehängt wird, sitzt Grace 15 Jahre im Gefängnis als der junge Dr. Simon Jordan anfängt sich mit Grace zu beschäftigen, um herauszufinden, ob sie wirklich verrückt ist oder ob sie alles nur vortäuscht und vor allem: kann sie sich wirklich kaum bis gar nicht an den Tatabend erinnern?

Margaret Atwood erzählt die Geschichte der vermeidlichen Mörderin Grace Marks, die es in der Tat gegeben hat und der man 1848 den Mord an ihrem Arbeitgeber vorwirft.
Atwood geht es dabei eher weniger darum um diesen Charakter eine möglichst spannende Geschichte zu spinnen, als viel mehr darum zu zeigen wie „Geschichte gemacht“ wird.
Um dies zu verstehen muss man ein wenig zwischen den Zeilen lesen, doch wer dies tut erkennt schnell, dass Geschichte – egal ob es sich dabei um Geschichtsbücher handelt, die für sich die Eigenschaft wahr zu sein beanspruchen oder historische Romane – ist immer Historiographische Metafiktion, denn selbst Geschichtsbücher können nicht 1:1 stimmen, denn vieles ist aus dem Zusammenhang konstruiert, weil es einfach so „stimmen muss“.Doch ist dies auch tatsächlich der Fall? Letztendlich werden wir doch nie wissen, wie es nun wirklich war...

Trotz diesem sehr philosophisch anmutenden Hintergedanken, ist dass Buch leider keins, dass einen wirklich vom Hocker reißt. Sicher, eine gute Geschichte muss auch nicht vor Action überquellen, aber hier hat sich Atwood ein wenig zu viel Zeit gelassen, denn das Buch weißt regelmäßig Längen auf, die es nicht leicht machen, dass Buch richtig auf sich wirken zu lassen und der Leser sehr schnell der Ansicht verfällt, dass das Buch langweilig sei. Dem Buch hätte somit eine Kürzung von ca. 100-150 (Gesamtumfang ca. 540 Seiten) sicherlich sehr gut getan.
Das einzige wirklich gute: Man weiß bis zum Schluss nicht, ob Grace den Mord nun begangen hat..oder nicht... ?!
Wer das Buch im Original lesen möchte (Originaltitel: Alias Grace) sollte dies ruhig tun, denn Atwood hat einen Schreibstil, der selbst für nicht Englisch Geübte ein leichtes sein dürfte.

:stern: :stern: :stern:
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Beitragvon Pippilotta » 17.01.2010, 09:08

Faszinierend an diesem Buch fand ich, dass es auf wahren Umständen basiert. Das Leben der Grace Marks ist nach wie vor ein historisches Rätsel. Die Lebensumstände - angefangen von der Überfahrt der irischen Familie nach Canada, über den Tod der Mutter,dem Barbarentum des Vaters bis hin zu den Zuständen in den Herrschaftshäusern - sind großartig und sehr anschaulich beschrieben. Atwood bedient sich der (einfachen) Sprache des Dienstmädchens, was dem Buch nochmals Authentizität verleiht. Interessant fand ich auch die Beschreibung der Anfänge der Psychiatrie (Persönlichkeitsspaltung, Hypnose).

Insgesamt hat mich aber das Buch etwas enttäuscht. Die Ausführungen rund um Quilt, Hausarbeit und Dienstmädchendasein mögen zwar authentisch sein, mich haben sie aber bisweilen gelangweilt. Insgesamt zu ausufernd, zu langatmig, stets wiederholend. Für Liebhaber von historischen Romanen ist dieses Buch sicherlich ein Tipp, ich wende mich aber dann lieber wieder den zeitgenössischen Büchern zu.

:stern: :stern: :stern:
Herzliche Grüße
Pippilotta


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