War Jesus ein Vegetarier?

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    Re: War Jesus ein Vegetarier?

    Thomas - 07.12.2004, 23:28

    War Jesus ein Vegetarier?
    Vegetarier-Bund Deutschlands e.V.

    War Jesus ein Vegetarier?

    K. A. Höppl

    Um Vegetarier zu sein, muß man nicht wissen, ob Jesus oder Buddha uns in dieser Lebensweise vorangegangen sind. Es genügt, daß man selbst gute Gründe für sie hat und seiner eigenen Einsicht folgt.

    Dennoch ist es richtig und verständlich, wenn Vegetarier unter den Buddhisten nach der Ernährungsweise des „Erleuchteten" fragen, und wenn wir im Bereich des Christentums zu wissen wünschen, ob Jesus Vegetarier war. Die meisten Glieder der Kirchen pflegen die Frage unter Berufung auf die Bibel zu verneinen. Schon um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, sollten wir über das Thema etwas gründlicher Bescheid wissen.

    Natürlich kann es kein „Gesundheitsvegetarismus" sein, der hier zur Debatte steht. Uns interessiert nicht, ob Jesus aus biologischen Gründen die Fleischkost mied, sondern wie er sie ethisch-religiös bewertete.

    Die Antwort fällt auch in Vegetarierkreisen verschieden aus. Ich brauche da nur .an den Briefwechsel mit zwei Theologen zu denken, die beide fleischlos leben. Dem einen steht geschichtlich fest, daß Jesus es ebenso hielt; der andere erklärt sich „zu 80 Prozent" vom Gegenteil überzeugt.

    Dieser Meinungsunterschied kommt nicht von ungefähr. Leider sind es die historischen Überlieferungen selbst, die eine Klärung erschweren, denn ihre Auskunft ist zu lückenhaft, meist auch zu indirekt oder sonst wie problematisch. Das trifft nicht nur für außerbiblische Berichte, sondern auch für biblische zu. Von den ersteren ist meist nur Bruchstückhaftes erhalten. Auch wenn man der Meinung ist, daß die vier biblischen Evangelien das Beste der ganzen altkirchlichen Literatur darstellen, muß man bedauern, daß bei diesem Ausleseprozeß so viel anderes unterging.

    Mancher Vegetarier tröstet sich rasch damit, daß gewissermaßen als Ersatz in neuerer Zeit doch manches „Evangelium" geheimnisvoll auftauchte, das unsere Frage herrlich zu klären scheint. Ich weise nur auf zwei Beispiele hin: auf ein vermeintliches Johannesevangelium und auf das sogenannte „Evangelium des vollkommenen Lebens". Das erstere, ein altslawischer Text, den heute wohl nur wenige Fachgelehrte überhaupt noch übersetzen können, soll vor nicht zu langer Zeit von einem ungarischen Emigranten in Wien entdeckt worden sein. Dieser veröffentlichte ein Achtel davon und gab an, das Originaldokument sei in die päpstliche Bibliothek in Rom entführt worden. Was wir aus dem Bruchstück erfahren, muß den Entdecker, der als Naturheilkundiger in Amerika tätig wurde, begeistert haben: Jesus wird hier als ein Prediger geschildert, der Wasser, Sonne, Rohkost empfiehlt und im Vaterunser seine Jünger die Erde anbeten läßt. Das ist keine glaubwürdige und ernstzunehmende Berichtigung der biblischen Evangelien. Auch das zweite Dokument, jenes „Evangelium des vollkommenen Lebens" ist von allzu fragwürdigem Geschichtswert. Ein englischer Referendar will es, in aramäischer Sprache verfaßt, gegen Ende des letzten Jahrhunderts ausgerechnet in Tibet aufgefunden haben. Dieses angebliche „Urevangelium" klingt zwar an ältere Evangelienberichte in und außer der Bibel an, verrät aber deutliche Spuren einer phantastischen Religionenmischung und nimmt zu wenig Rücksicht auf das geschichtlich Mögliche. So ist z. B. zu seiner schönen Erzählung von Jesu barmherzigem Eintreten für ein mißhandeltes Pferd zu bemerken, daß in Palästina das normale Reit- und Zugtier damals kein. Pferd, sondern nur ein Esel sein konnte. Das „Evangelium des vollkommenen Lebens" reinigt ferner die ganze Jesusüberlieferung geradezu chemisch von allem „Nichtvegetarischen"; selbst da, wo Jesus ein landesübliches Fest- und Freudenmahl lediglich als Gleichnis verwendet und beschreibt, nimmt er das Wort „Fleisch" nicht in den Mund. Vom Werdegang des Heilands hören wir, daß er zunächst sieben Jahre verheiratet gewesen sei; dann habe Gott ihm die Gattin sterben lassen, um ihn für seine eigentliche Sendung freizumachen. Diese läßt ihn der Verfasser einmal in folgenden Worten aussprechen: „Wahrlich, ich sage euch, darum bin ich in die Welt gekommen, daß ich alle Blutopfer und das Essen von Fleisch der Tiere und Vögel abschaffe. Am Anfang gab Gott allen die Früchte der Bäume und der Saaten und die Kräuter zur Nahrung; doch die sich mehr liebten denn Gott oder ihre Genossen, verdarben ihre Sitten und schufen Krankheiten ihren Körpern und füllten die Erde mit Lüsten und Gewalttätigkeit." Wenn auch feststeht, daß Jesus keine Tieropfer wollte, werden ihm hier doch Worte in den Mund gelegt, die eine allzu einseitige und verengende Korrektur der alten Evangelienüberlieferung bedeuten.

    Jedenfalls möchte ich auf derartige Wunderdokumente verzichten — was nun freilich bedeutet, daß meine Ausführungen zur Frage „War Jesus Vegetarier?" dem Leser noch mehr Geduld abverlangen werden. Sie werden durch sprachliches und sachliches „Gestrüpp" der Überlieferung führen müssen, religions- und kirchengeschichtliche Probleme nicht umgehen können, kurz, umständlich und weitschweifig wirken. Nur wer die verschlungenen Wege historisch-kritischer Forschung kennt, wird das alles verstehen — aber auch ihm kann als Lohn der Geduld nicht von vornherein ein eindeutig klares Ergebnis zugesagt werden.

    Bei dieser Sachlage sind zwei ernste Einwände gut zu begreifen, die sich, gegen eine solche geschichtliche Untersuchung erheben.

    Der erste Einwand bestreitet, daß unsere Thema-Frage überhaupt noch eine Frage ist. Kann denn, so wird da argumentiert, die größte Lichtgestalt auf unserer Erde anders als vegetarisch gelebt haben? In drastischer Überspitzung drückt Geoffrey L. Rudd in seinem Buch „Why kill for food?" die gleiche Überzeugung aus: „Ein heiliger, von göttlichem Mitleiden erfüllter Gottessohn, der zum Schlachtmesser greift, um lebensfrohen Mitgeschöpfen den Hals abzuschneiden: diese Vorstellung ist ein vollendeter Widerspruch in sich selbst" (S. 84). Wir alle spüren das Gewicht dieses Arguments. Und doch kann es als „Postulat" nicht einfach die geschichtliche Feststellung ersetzen (auch G. L. Rudd verzichtet daher nicht auf die historische Untersuchung!). Sobald wir folgern: Jemand war ein großer Mann, also kann er nur dies getan und jenes unterlassen haben, geraten wir in die Gefahr, Umstände und Beweggründe zu übersehen, die das Verhalten des Großen auch einmal anders bestimmen mochten. „Wie es wirklich war", ist nie ganz sicher mit der Erwägung zu beantworten, „wie es gewesen sein muß." Wenn ein Vegetarier, ohne sich mit der Historie überhaupt abzugeben, schlankweg feststellt, Jesus habe natürlich niemals einen Bissen Fleisch gegessen, wird er kaum .der Ironie Christian Morgensterns entgehen, daß, „so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf".

    Der zweite Einwand ist nicht von solch grundsätzlicher Art. Er richtet sich nicht dagegen, daß eine geschichtliche Frage auf dem Wege der Forschung geklärt wird, sondern gegen die übliche Beschränkung auf bestimmte Forschungsmittel (Ausgrabungen, Dokumentenstudien usw.). Tatsächlich gibt es neben den akademisch anerkannten Methoden noch andere, die nachweislich, schon allerlei ans Licht brachten. Man kann sie kurz die „okkulten" (= verborgenen) nennen, weil sie nicht jedermanns Gabe und Möglichkeit sind. So können z. B. auf medialem Wege, durch Personen im Trance-Zustand, Mitteilungen über längst Vergangenes zu uns kommen — freilich nicht nur Mitteilungen, sondern auch Erfindungen. (Was aus dieser Richtung von jeher „einströmte" und sich mitunter auch in „Geheimdokumenten" niederschlug, die dann „aufgefunden" wurden, kann besser, aber auch schlechter, sein als die normale historische Überlieferung.) Wesentlicher ist, daß offenbar auch bei gesteigertem Wachbewußtsein in meditativer Konzentration eine Rückschau in die Geschichte möglich ist. Friedrich Rittelmeyer, der Begründer der „Christengemeinschaft", sprach in dem Buch „Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner" (1928, Neudruck 1953, S. 54) von „der feinen Geistigkeit, in der sich alle Vergangenheit, heute noch dem Vollerwachten lesbar, eingetragen hat." Das ist die sogenannte „Akasha-Chronik", von der mancher eine erste, ferne Ahnung bekommt, wenn ihn die „Atmosphäre" eines alten Hauses, einer Stadt oder eines Landstrichs stark berührt. Rudolf Steiner konnte, so hören wir, aus dieser unsichtbaren Chronik vieles bislang Unbekannte gleichsam „vorlesen" — freilich nur nach z. T. jahrelangem eindringendem Bemühen, dann aber auch Dinge, die etwa durch eine historische Entdeckung hinterher bestätigt wurden. Spötter nannten ihn den „fünften Evangelisten", weil er auch zur Entstehung des Christentums Ergänzendes und Berichtigendes vortrug. Er blieb ruhig dabei, daß ein unsichtbares, vom Geschehen selbst geschriebenes „fünftes Evangelium" existiere, nahm jedoch bei dessen Entzifferung für sich keine Irrtumslosigkeit in Anspruch. Für alle okkult gewonnenen Informationen dürfte gelten, daß sie nicht deshalb auszuschließen sind, weil auch bei ihnen Täuschung unterlaufen kann;

    gerade dies sollte die akademische Wissenschaft, die selbst beständig irrt, am ersten verzeihen. Ihre Problematik besteht vielmehr darin, daß sie ihrer Art nach aus dem Rahmen des allgemein Nachprüfbaren fallen müssen. Soweit sie also nicht etwa unerkannt unter die approbierten Forschungsgrundlagen geraten sind, gibt sich die Wissenschaft nicht gerne mit ihnen ab. Auf einer späteren Stufe menschlicher Bewußtseinsentwicklung, die im „Okkulten" lediglich vorausgenommen erscheint, werden sich auch die Grenzen der Wissenschaft erweitern. Für die öffentliche Diskussion von heute aber empfiehlt sich die Respektierung ihrer derzeitigen. Es hat wenig Sinn, dem Gesprächspartner Beweise zuzumuten, die für ihn noch keine sind. Nur behutsam sollten wir ihm zu erwägen geben, daß es nicht nur mehr Dinge, sondern auch mehr Offenbarungen zwischen Himmel und Erde gibt, als seine Schulweisheit sich träumen läßt.

    Damit nun „ad fontes", zu den historischen Quellen, die uns vielleicht — direkt oder indirekt — über die Lebensweise Jesu aufklären können! Ich wiederhole, daß es sich um biblische und auch um außerbiblische handelt, und daß beide nicht unkritisch gelesen werden dürfen. Letzteres wird im Blick auf die Bibel manchen befremden und muß daher verständlich gemacht werden. Mit ein paar Strichen gilt es eine wirklichkeitsgemäße Gesamtauffassung von diesem Buch zu skizzieren, das wir ja in .erster Linie zu unserem Thema befragen müssen. Nur dann wird die Auseinandersetzung mit den einschlägigen Einzeltexten einleuchtend werden.

    Was also ist es um die Bibel? Sie ist nicht das gleichsam fertig vom Himmel gefallene, wörtlich irrtumslose Buch. Was göttlich groß und unvergänglich an ihr ist, bleibt es auch — aber mit gutem Recht versucht die kritische Bibelwissenschaft seit einigen Jahrhunderten, uns einen sozusagen erwachsenen Umgang mit ihr zu lehren. Damit treten ganz unvermeidlich auch ihre menschlich-allzumenschlichen Mängel voller ins Licht. Eine Aufzählung sämtlicher Bibelprobleme ist an dieser Stelle natürlich unmöglich. Einige Hinweise müssen genügen. Wenn ich mich beispielsweise über literarische Fragen des l. Bibelteils informieren will, greife ich zu einem Buch, das auf mehr als 1100 Seiten eine „Einleitung in das Alte Testament" bringt. Entsprechend umfangreich ist auch die „Einleitung in das Neue Testament", den kürzeren 2. Bibelteil. In seinem bedeutenden Werk „Erscheinungsformen und Wesen der Religion" schrieb Fr. Heiler 1961: „Die jüdisch-christliche Bibel führt von der Dämmerung eines primitiven El- und Jahwekultes über die israelitischen Propheten und die Zeit jüdischer Gesetzlichkeit und Enderwartung zum Evangelium Jesu und zur heilsgeschichtlichen Gnosis des Paulus und Johannes, und schließlich zum festgefügten Kirchentum der Pastoralbriefe." Das ist ein weiter Weg, schon rein zeitlich gesehen. Das Alte Testament hat zu seiner Entstehung rund ein Jahrtausend gebraucht, wovon .allein die Periode mündlicher Überlieferung seines Inhalts teilweise Jahrhunderte gedauert hat. Als es am Schluß des ersten nachchristlichen Jahrhunderts endgültig als heilige .Schrift der Juden kanonisiert wurde, waren bereits die Anfänge des späteren Neuen Testaments da, das im ganzen etwa 100 Jahre zu seiner Entstehung brauchte, aber erst rund vierhundert Jahre nach Christus als Kanon, d. h. Glaubensregel der Kirche, endgültig festgelegt und mit dem Alten Testament vereinigt wurde. Auch der Inhalt dieses 2. Bibelteils war zum Teil wenigstens jahrzehntelang mündlich überliefert worden.

    Schon dieser ganze Werdegang der Bibel und nicht erst spätere Fehler bei den unzähligen Textabschriften mußte, gelinde gesagt, zu Ungenauigkeiten führen. Allein die Behandlung der Verfasserfrage mutet recht weitherig an. Die meisten Schriften der Bibel tragen einen Verfassernamen, aber von den wenigsten ist geschichtlich sicher, welcher Einzel- oder Gruppenarbeit wir sie verdanken. Die Gestalter der heiligen Überlieferung hatten es bei dem Werk der Auslese und Weitergabe nicht leicht. Offenbar folgten sie weithin guten Glaubens dem antiken Brauch, Bücher, die entsprechend wertvoll schienen, großen Persönlichkeiten zuzuschreiben. Beim Werden des alttestamentlichen Schrifttums mußten z. B. die Gottessprüche bereits anerkannter Propheten mit dem manchmal andersartigen Geschichtsverlauf einigermaßen abgestimmt werden. Der Artikel „Schriftauslegung" in dem Lexikonwerk „Die Religion in Geschichte und Gegenwart" (3. Aufl.) betont im Blick auf jene Bearbeiter, es überrasche immer wieder, „wie frei sie mit den überkommenen Worten verfahren können . . ." Ebenso frei und kühn hat dann wiederum das junge Christentum die alttestamentlichen Schriften für seine religiösen Belange ausgewertet. Vor allem galten sie als Fundgrube inzwischen erfüllter „Weissagung", durch die ; man sich in seinem christlichen Glauben und Leben legitimiert fand. Dabei wurde aber aus dem Alten Testament häufig ungenau zitiert, ja seine eigentliche Meinung überhaupt in einem Ausmaß umgedeutet, von dem es im oben erwähnten Lexikon-Artikel geradezu heißt, „daß die neutestamentlichen Schriftsteller alttestamentliche Texte völlig ohne Rücksicht 'auf ihren ursprünglichen Zusammenhang und Wortsinn verwenden."

    Wir brauchen die Frommen von damals noch nicht für Fälscher zu halten. Die Methoden, nach denen man heilige Texte gebrauchte, waren in manchem anders. Wir müssen nur wissen, daß sich nun auch dort keine volle Zuverlässigkeit der Angaben erwarten läßt, wo es um die Jesusüberlieferung und die Anfänge des Christentums selbst geht. Wie schon angedeutet, hat es nach dem Tode Jesu Jahrzehnte gedauert, bis auch nur das erste „Evangelium" Gestalt annahm. Die Evangelien sind ja aus vielen einzelnen Überlieferungsstücken (Erzählungen, Sprüchen, Gleichnissen), die lange mündlich und einzeln 'umliefen, ganz .allmählich zusammengewachsen (nur eine „Leidensgeschichte" Jesu scheint rascher ihren Zusammenhang gewonnen zu haben). In seiner „Einleitung in das Neue Testament" schreibt Prof. W. G. Kümmel 1964: „Das älteste Traditionsgut ist mannigfach verändert worden durch Motive der Dogmatik und Apologetik, der Paränese und der Gemeindedisziplin . . ., auch durch Aufnahme von fremden Stoffen aus der Umwelt, die ursprünglich nichts mit Jesus zu tun hatten, und durch Einfügung von Orts- und Zeitangaben." In der Erwartung der baldigen Wiederkunft Christi, mit der diese Welt enden und das vollendete Gottesreich anbrechen würde, wollte man vor allem missionieren. Dabei wurde manches, was man im Glaubensumgang mit dem Auferstandenen geistig empfing, in das Erdenleben Jesu zurückprojiziert. Man war an dessen Fortüberlieferung nur insoweit interessiert, als es dem Glaubens- und Missionszweck dienen konnte. „Die Evangelien", erklärt Kümmel, „. . . sind keine Lebensbeschreibungen . . ., ihnen fehlt der Sinn für äußere und innere Geschichte des Helden, das Charakterbild, die Zeitfolge, den zeitgeschichtlichen Hintergrund . . . Worte Jesu und Tatsachen aus seinem Leben sind gesammelt und in der Form schlichter Erzählung wiedergegeben, um urchristlichen Gemeinden den Grund ihres Glaubens zu zeigen und der Mission feste Unterlagen für Predigt, Unterricht und Auseinandersetzung mit den Gegnern zu geben." Auch als das Stadium mündlicher Einzelüberlieferung von dem der Evangelien-Schreibung abgelöst wurde, blieb noch vieles im Fluß. So lesen wir bei Kümmel bezüglich der drei ersten biblischen Evangelien, die einander ähnlicher sind als dem späteren vierten und daher als „synoptisch", d. h. eine gemeinsame Schau vertretend, bezeichnet werden: „In ihrem ursprünglichen Wortlaut sind die synoptischen Evangelien uns nicht sicher erhalten. Ihr Text hat in den ersten beiden Jahrhunderten noch nicht unantastbar festgestanden. Bei ihrer Verbreitung durch den praktischen Gebrauch in Gottesdienst, Unterricht und Mission hat man auf buchstäblich genaue Wiedergabe kein Gewicht gelegt. Daher erfuhren die Evangelien ganz von selbst mannigfache Veränderungen, aber auch absichtliche Erweiterungen, Kürzungen oder Angleichungen . . . Auch dogmatische Korrekturen lassen sich bis in das 2. Jahrhundert hinauf verfolgen."

    „Dogmatische Korrekturen" — das läßt aufhorchen, ist doch damit schon für die Frühzeit der Kirche auf ein Ringen zwischen „Rechtgläubigkeit" und „Ketzerei" hingedeutet. Wir stoßen hier auf eine der wichtigsten Tatsachen, die für die Gestalt des Neuen Testaments maßgebend wurden. Man muß die schone Vorstellung fahren lassen, als habe auch nur im Urchristentum volle Einigkeit der Glaubens- und Lebensauffassung geherrscht. Schon das Spätjudentum der Zeitenwende war keine einheitliche religiöse Größe, sondern schloß sehr verschiedene Strömungen in sich; die Anhänger Jesu in seiner Mitte, d. h. die sogenannte Urgemeinde, galten zunächst als innerjüdische „Sekte der Nazoräer". Sehr bald kam es dann auch in dieser Urzelle des Christentums selbst zu Richtungsunterschieden, die sich später in der frühkirchlichen Entwicklung verstärkt fortsetzten. Der geschichtlich Denkende wird auch kaum etwas anderes erwarten. Weder Judentum noch Christentum konnten sich in sturmfreien Räumen der Welt- und Geistesgeschichte entwickeln, und die sogenannte „schlichte biblische Frömmigkeit" hat in der Bibel selbst keine unbedingte Grundlage. Wir sahen bereits, welch weiter geistiger Weg dem langen zeitlichen Werden dieses Buches parallel läuft. Dabei zeigt, wie nun mit Friedrich Heiler ergänzend vermerkt sei, das Alte Testament „enge Berührungen mit Religionen der gesamten vorderasiatischen Umwelt, besonders der ägyptischen und mesopotamischen, aber auch mit der persischen und hellenistischen Religion; das Neue Testament ... ist nicht verständlich ohne den Zusammenhang mit der hellenistischen Philosophie, Gnosis und Mystik und mit den orientalischen Mysterienkulten . . ." („Erscheinungsformen und Wesen der Religion"). Richten wir den Blick noch einmal auf das allererste Christentum, so ist in etwa noch historisch auszumachen, daß man schon bald über folgende Punkte uneins wurde: die Lehre von der Person und Botschaft Christi, das Recht, als Apostel aufzutreten, Missionierung und Aufnahmebedingungen für nichtjüdische Konvertiten. In der Ablehnung des alttestamentlichen Opferkultes war man zwar einig; doch in der Frage, wieweit das heilige Gesetz Israels, die „Thora", im übrigen weiter gelten sollte, schieden sich freiere und konservativere Strömungen; letztere erscheinen etwa mit den Namen Petrus und vor allem Jakobus verbunden, erstere hauptsächlich mit Paulus. Schon im 2. Jahrzehnt nach Jesu Tod mußte ein „Apostelkonzil" in Jerusalem tagen, um wenigstens eine der Streitigkeiten zu schlichten. Man scheint sich damals auf einige Bedingungen geeinigt zu haben, die Nichtjuden beim Übertritt zum Christentum erfüllen sollten. Sie brauchten sich nicht beschneiden zu lassen, mußten jedoch verzichten auf den Genuß von Götzenopferfleisch, wie es auf heidnischen Märkten feilgeboten wurde, ferner auf das Fleisch von Tieren, die nicht rituell geschachtet oder auf der Jagd mit Schlingen gefangen und getötet worden waren; auch mußten sie wilde Ehen oder solche in verbotenen Verwandtschaftsgraden meiden. Die Regelung war ein Kompromiß und änderte wenig am Fortdauern der Richtungskämpfe. Der Religionswissenschaftler Hans Joachim Schoeps unterstreicht in seinem Buch „Theologie und Geschichte des Judenchristentums" (1949), „wie komplex das Phänomen des Urchristentums in Wirklichkeit gewesen ist ... Alle Divergenzen der Folgezeit sind in der Urgemeinde bereits potentiell angelegt gewesen."

    Aus alledem konnte schließlich nur ein Neues Testament hervorgehen, das als Geschichtsdokument einseitig ist. Wir haben bereits vermerkt, daß bei seiner allmählichen Durchsetzung in den ersten Jahrhunderten nach Christus allerlei anderes Schrifttum weithin unterging. Dabei war sicher viel Fragwürdiges — aber eben doch auch Erhaltenswertes, dem nachzutrauern bleibt. Der bekannte Neutestamentier Prof. E. Stauffer erinnerte 1959 in seinem Buch „Die Botschaft Jesu damals und heute" daran, „wie kaltblütig die maßgeblichen Männer der maßgeblichen Kreise oder Kirchengebiete gewisse Jesusüberlieferungen unterdrückt haben... Die ketzerischten Jesusworte sind vermutlich für alle Zukunft verloren. Was übrig blieb, hat man im Sinn der herrschenden Praxis überarbeitet, bald mehr bald weniger energisch." So kam es zu einem neu-testamentlichen Kanon, von dem Schoeps (s. o.) mit Grund feststellt, daß er „als ein tendenziöses Kunstprodukt . . . angesehen werden muß, mit dem die in den frühzeitlichen Richtungskämpfen siegreich gebliebene Gruppe ihre Sicht der Dinge durchgesetzt und diejenigen unter den ihr vorliegenden literarischen Dokumenten kanonisiert hat, die ihr akzeptabel schienen, wahrend alles andere am Wege liegen blieb und daher zumeist unterging." („Das Judenchristentum", 1964) Als kleine Illustration dazu sei das Schicksal jener meisterhaften „Evangelienharmonie" erwähnt, die Tatian, ein edler syrischer Christ des 2. Jahrhunderts, aus den uns bekannten vier Evangelien gestaltet hatte. Er gehörte zu den Kreisen der sogenannten „Enkratiten", die Fleisch und Alkohol ablehnten. In sein Werk hatte er auch einige der offiziellen Kirchentradition weniger gemäße Jesusüberlieferungen aufgenommen. Schon bald wurde er als „Ketzer" angeprangert, und seine „Evangelienharmonie" sozusagen „auf den Index gesetzt". Es galt damit als fromme Tat, auf sie Jagd zu machen. Bischof Theodoret von Kyros prahlte im 5. Jahrhundert damit, persönlich mehr als 200 handgeschriebene Exemplare des Werkes vernichtet zu haben.

    Was nach solchen „Bücherstürmen" an Gutem übrig blieb — meist kennen wir es nur noch aus einzelnen Zitaten oder sonstwie bruchstückhaft —, das ist als Korrektiv zur kanonischen Literatur umso wichtiger. Allerdings muß es genau wie diese — ich betonte das schon — kritisch gelesen und ausgewertet werden, Auch diese Dokumente waren ja keine tendenzfreie Literatur. „Dennoch sollten wir sie", mahnt Schoeps im vorhin erwähnten Buch, „in ganz anderer Weise berücksichtigen als bisher und ihre Rückspiegelung der gemeinsamen Vergangenheit mitbenutzen, um von .den Anfängen des Christentums ein realistischeres Bild zu gewinnen." Wir stimmen ihm wohl darin zu, „daß es sich für die Religions- und Geistesgesehichte um eine selbstverständliche Verpflichtung handelt, auch die Verlautbarungen der damals unterlegenen Gruppen so sorgfältig zu studieren und in ihrem Aussagewert so ernst zu nehmen wie die des kanonischen Neuen Testaments". In letzterem „verweben die . . . Evangelien Geschehnisse und Deutung in ein unauflösliches Durcheinander" und von der „Apostelgeschichte", die uns über die Anfänge des Christentums informieren will, gilt leider, daß sie „einen deutlichen Lehrzweck verfolgt und daher bereits kräftig Legendenbildung betreibt". In den außerkanonischen Überlieferungsresten begegnet, wie gesagt, ebenfalls „Dichtung und Wahrheit". Es bleibt uns nichts, als in beiden Quellen und durch sie hindurch der geschichtlichen Wirklichkeit nachzuspüren, so gut oder schlecht es geht. Gewiß hat Prof. Günther Bornkamm recht, wenn er im Vorwort zu seinem Buch „Jesus von Nazareth" (1956) von einem Weg in ein „weithin vernebeltes Land" spricht, und er beginnt das l. Kapitel nicht zufällig mit den Sätzen: „Niemand ist mehr in der Lage, ein Leben Jesu zu schreiben. Dies ist das heute kaum noch bestrittene, überraschende Ergebnis einer Forschung, die fast 200 Jahre lang eine außerordentliche . . . Mühe darauf verwandte, das Leben des historischen Jesus, befreit von aller ,Übermalung' durch Dogma und Lehre, wiederzugewinnen und darzustellen." Aber das heißt nicht, daß all diese Mühe — Bornkamm nennt sie selbst „keineswegs fruchtlos" — vergeblich war. Wenn wir auch auf eine Biographie Jesu verzichten müssen, so zeigen sich doch genügend deutliche Konturen seiner unbezweifelbar geschichtlichen Gestalt, und allerlei Einzelfragen können gerade durch die kritische Forschung einer Lösung mindestens nähergebracht werden.

    Mit der ausführlichen Erörterung zur Frage der Quellen ist nun der Weg für die weitere Behandlung unseres Themas „War Jesus Vegetarier?" freigemacht. Ich hoffe, daß den Lesern dieses Artikels dabei von selbst deutlicher wird, weshalb dieser lange „Exkurs" doch sachlich nötig war.

    Versuchen wir zunächst einmal, Jesus in seiner israelitischen Umwelt zu sehen! Schrieb dort das allgemein verbindliche Religionsgesetz (die erwähnte „Thora") eine bestimmte Ernährungsweise vor? Soweit die Frage zu bejahen ist, war es jedenfalls nicht die vegetarische. Als von Gott verfügt gilt diese nur für die paradiesische Urzeit (l. Mose 1,29). Prophetischer Ausblick auf eine ebenfalls friedevolle End- oder Heilszeit fehlt nicht (vgl. Jesaja 11,6—9). Aber für die Erdenzeit nach dem Sündenfall gilt eindeutig 1. Mose 9,1—3: „Und Gott segnete Noah und seine Söhne und sprach: Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde! Furcht und Schrecken vor euch sei über alle Tiere auf Erden und über alle Vögel unter dem Himmel, über alles, was auf dem Erdboden kriecht, und über alle Fische im Meer; in eure Hände seien sie gegeben! Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise; wie das grüne Kraut habe ich's euch alles gegeben." Dem frommen Israeliten galt diese Verlautbarung als „Gotteswort", wie sie ja auch als solches — und nicht etwa als Verordnung des Mose oder eines Späteren — formuliert ist. Die gesamte Tierwelt wird hier sozusagen auf die menschliche Speisekarte gesetzt! Das machte selbstverständlich dann doch wieder Einschränkungen nötig, und schließlich kam es zur Unterscheidung zwischen „reinen" Tieren, die man essen, und „unreinen", die man nicht verzehren durfte. Auch diese Unterscheidung wird wieder als Gottesspruch proklamiert (3. Mose 11). Verspeisen durfte man hiernach z. B. Schafe, Ziegen, Hirsche und Antilopen, d. h. alle Tiere mit gespaltenen Klauen, die zugleich Wiederkäuer sind. Kamel, Klippdachs, Hase und Schwein dagegen, die nur eine dieser zwei Bedingungen erfüllen, galten als unrein, ebenso alles, was „auf Tatzen geht", also die entsprechenden Raubtiere. Nichts für die Bratpfanne waren ferner Insekten, ausgenommen vier Arten von Heuschrecken;

    tabu waren sodann Geschöpfe, die „auf dem Bauche kriechen" (wie Schlangen und Würmer), aber auch Mäuse, Wiesel und jede Art Eidechsen. Aus dem Wasser mochte alles, was Schuppen und Flossen hat, auf den Tisch gebracht werden, aber nichts anderes. Unter den Vögeln waren als unrein zu meiden: Adler, Lämmergeier, Bartgeier, Aasgeier, die Weihe, sämtliche Falken-, Habicht- und Rabenarten, Eule und Ohreule, Uhu und Käuzchen, Strauß, Sturzpelikan, Storch, Möwe, Rohrdommel, Reiher und Wiedehopf. Verpönt war schließlich noch die Fledermaus. — Wir wissen heute, daß die 5 Bücher Mose, in denen diese Speisegesetze stehen, nicht von Mose stammen, sondern rund 900 Jahre nach ihm aus verschiedenen Einzelschriften künstlich in ein Ganzes verwoben wurden. Die Emährungsbestimmungen gehören darin dem jüngsten Erzählungsfaden, der sog. Priesterschrift, an. Diese wurde in der Forschung so genannt, weils sie offenbar aus priesterlichen Kreisen stammt, die den Tieropferkult und schon von daher auch gewisse Speiseregeln als heilige Gottesstiftung ansahen und auf den alten Gottesmann Mose zurückführten. Der orthodoxe Israelit empfing aus dieser Richtung jedenfalls keinerlei Anregung, vegetarisch zu leben. (Fortsetzung folgt)

    "War nun im „heiligen Land" zur Zeit Jesu mehr Gelegenheit gegeben, so etwas wie „religiösen Vegetarismus" kennenzulernen? Wenn wir die herrschenden Vertreter der Tempel- und Synagogenfrömmigkeit ansehen, die uns das Neue Testament benennt, so ist die Frage zu verneinen. Die Sadduzäer, eine Art aristokratischer Priester-Partei, hielten die schriftliche Thora mit ihren nichtvegetarischen Speisevorschriften für ebenso verbindlich, wie das die Pharisäer, eine starke religiöse Laien-Genossenschaft, taten, die dazu noch viele mündlich überlieferte Regeln und Lehren einschärften und sich an kasuistischer Auslegekunst nicht genug tun konnten. Fast alle „Schriftgelehrten" waren Pharisäer. Wir treffen da u. a. natürlich kultische Fasten- und Reinigungsvorschriften — aber keinerlei Vegetarismus. Einfluß und Ansehen gerade der Pharisäer waren groß; sie, deren Name „die Abgesonderten" bedeutet, wollten die echten, strengen Israeliten sein, und eben deshalb sonderten sie sich kompromißlos ab von allen. „Heiden", aber auch von den Sadduzäern, die sich der griechisch-römischen Kultur allzu weltförmig anpaßten, und vom gesetzesunkundigen „großen Haufen". Mit „Sündern" aller Art wollten sie eben nichts zu tun haben. Ihre zum Teil schon in grotesken Formalismus ausartende religiöse Bemühung war sicher oft sehr ernst gemeint — wohltuender aber als sie berühren uns jene ebenfalls weit verbreiteten „Stillen im Lande", schlicht-fromme Leute ohne große theologische Bildung, die sich gern die „Ebionim" (d. h. Armen) nannten, weil manche alttestamentlichen Stellen solchen den Trost und die Hilfe Gottes besonders zusagten. Von ihnen sagt Hans Lietzmann in der „Geschichte der Alten Kirche" (1937, Bd. I, S. 27): „In der Politik machen sie keinen Lärm und Bücher schreiben sie nicht... Und doch ist bei ihnen der Wandel der Weltgeschichte entsprungen: in ihrer Mitte ist Jesus geboren und .aufgewachsen." Man muß annehmen, daß in diesen Kreisen auch viel materielle Armut herrschte, die zu einfacher Lebensweise zwang; ob es in nennenswertem Umfang die vegetarische war, wissen wir nicht. Eher mag man nach (religiös bedingtem) Vegetarismus bei den „Nasiräern" (= Gottgeweihten) fragen, die auch keine organische Gruppe waren, aber durch die Jahrhunderte bis in Jesu Zeit immer wieder in Israel auftraten (Johannes der Täufer gehört zu diesem Typ, und Nasiräergelübde kommen gelegentlich noch bei den ersten Christen vor). Nur ist eben nicht überliefert, ob auch die Fleischenthaltung zu den besonderen Lebensregeln der Nasiräer zählte (Rudolf Steiner scheint es angenommen zu haben).

    Doch nun gab es ja in Jesu Tagen noch eine besondere ordensartige Gemeinschaft in Palästina und dessen Randgebieten, in der man nach der Überlieferung mindestens teilweise vegetarisch lebte. Das waren die sogenannten Essäer oder Essener (ihr Name bedeutet einfach „Fromme"). Sie sind zwar im Neuen Testament nirgends direkt erwähnt, dennoch weist dieses Buch ganz deutlich die mittelbaren Spuren ihrer Existenz auf, weil manche typischen Züge ihrer Frömmigkeit und Lehre im Urchristentum wiederkehren (von den Gründen dieses bedeutsamen Vorgangs wird später die Rede sein). Auch läßt sich an einigen verwehten Spuren in den Evangelien noch eine Ahnung gewinnen, daß Jesus und seine Jünger mit dem Essenertum in Kontakt gestanden haben, öffentliche Streitgespräche jedenfalls, wie sie zwischen Jesus einerseits und Sadduzäern, Pharisäern und Schriftgelehrten andererseits an der Tagesordnung waren, gab es zwischen ihm und den Esseinern offensichtlich nicht. Damit ist weder behauptet, daß Jesus selbst zu ihnen zählte, noch ausgeschlossen, daß er sie überbot und korrigierte, falls er zuvor doch einer der Ihren gewesen wäre. Die hier waltende Beziehung mutet aber irgendwie positiver und zugleich geheimnisvoller an als Jesu Verhältnis zu den anderen genannten Gruppen. Kein Geringerer als der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber meinte von den Essenern sogar sagen zu können: „Aus ihnen wird der Menschenkreis geboren, der den großen Nazarener trägt." (Diese Äußerung begegnet als Zitat in der Flugschrift von Dr. C. A. Skriver „Jesus und die Essäer".)

    Damit wäre über die „Herkunft" Jesu schon viel Genaueres ausgesagt, als wir vorhin im Zusammenhang mit den „Ebionim" hörten. Um das aber einigermaßen abschätzen zu können und sich ein Urteil darüber zu bilden, muß man sich wenigstens kurz vergegenwärtigen, wer die Essener eigentlich waren und was sie wollten. Die rabbinische Literatur schwieg sie tot, denn seit der Synode von Jabne, die nach dem Jahr 70 n. Chr. stattfand, setzte sich im Judentum als Orthodoxie vollends der Pharisäismus durch. Glücklicherweise sind uns aber über sie Berichte sowohl von zwei Schriftstellern des ersten nachchristlichen Jahrhunderts (dem römischen Gelehrten Plinius dem Älteren und dem jüdischen Historiker Flavius Josephus) als auch von dem jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien (ca. 25 v. Chr. bis ca. 50 n. Chr.) erhalten. Einiges Wichtige, das wir durch sie noch nicht erfuhren, ist in den letzten 20 Jahren überraschend auf andere Weise zutage getreten; davon wird noch zu sprechen sein.

    Hören wir einige zusammenfassende Kurzschilderungen essenischen Lebens und Glaubens! In seiner „Geschichte der Philosophie" (Bd. l, S. 186/187) schreibt Karl Vorländer: „Die jüdische Sekte der Essener oder Essäer, die, um die Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus entstanden, zur Zeit ihrer Blüte im l. Jahrhundert nach Christus 4000 Anhänger zählte, zeigt folgende Züge: äußerste Einfachheit der Lebensweise, Wahrhaftigkeit, Sittenstrenge, Enthaltsamkeit von Wein, Fleisch und Ehe, das Verbot des Schwörens, tägliche Waschungen, gemeinsame Mahle, Gütergemeinschaft, völlige Verwerfung der Sklaverei, unbeschränkte Mildtätigkeit; dazu strengen Ordensgeist und hierarchische Gliederung, so daß der Vergleich mit einem christlichen Mönchsorden naheliegt. Ihre Geheimlehren sind außerhalb ihres Kreises nicht bekannt geworden." Der Kirchenhistoriker Hans Lietzmann, der sich in seiner „Geschichte der Alten Kirche" (Bd. I, S. 22 ff.) eingehend mit den Essenern befaßt, erklärt zu ihrer Ehelosigkeit berichtigend: „Eine besondere Sekte unter ihnen duldet die Ehe um der Fortpflanzung willen." Ferner lesen wir bei diesem Autor: „Die Essener sind ein richtiger Mönchsorden, der in den .Städten und vornehmlich den Dörfern Palästinas seine Klöster angelegt hat... Ihre Kleidung trägt die weiße Farbe des Lichts. Reinheit ist das hervorstechende Gebot ihrer Lebensführung... Moses und sein Gesetz steht bei ihnen hoch in Ehren, und den Sabbath feiern sie durch strenge Arbeitsruhe. Aber die Tieropfer verwerfen sie und senden an . ihrer Statt Weihgeschenke in den Jerusalemer Tempel: ihre eigenen heiligen «Gebräuche erscheinen ihnen als die besseren und wahren Opfer. Sie widmen sich vorwiegend dem. Ackerbau und wollen von Handel, Schiffahrt und Kriegswesen nichts wissen. Den Eid verwerfen sie, weil sie auch ohnedies grundsätzlich .die Wahrheit sagen..." Wie weit der Orden verbreitet war, erfahren wir besonders gut aus der „Geschichte der israelitischen und jüdischen Religion" (1922), in der Gustav Hölscher auf S. 208 berichtet: „Essäerkolonien gab es zu Beginn der Kaiserzeit in vielen Städten und Dörfern Judäas, im besonderen in Jerusalem und westlich vom Toten Meer oberhalb Engedi, aber wahrscheinlich auch im ganzen Ostjordanland bis hin zum Antilibanon, vielleicht auch sonst in Syrien. Die Zahl der Essäer muß recht bedeutend gewesen sein." Zu dieser Zahl ist zu bemerken, daß mit den überlieferten 4000 (s. o.) Ordensmitgliedern nach damaligem Brauch nur Männer angegeben waren, und ferner, daß eben diese nicht alle ehelos lebten.

    Dies Bild solcher „Christen vor Christus" berührt im ganzen so erfreulich, daß es manches Sonderbare und vielleicht sektenhaft Enge an ihrem Auftreten überstrahlt. Wir brauchen diese weniger verständlichen und sympathischen Züge nicht zu retuschieren. Eigenartig sind z. B. ihre Vorstellungen vom nahe bevorstehenden Weltende, von drei großen Gestalten, die kommen werden (der große Prophet, der gesalbte Hochpriester aus dem Hause Zadok; der Messiaskönig aus dem Hause David) und von anderem, das ihre „Theologie" enthält. Priesterlicher und sonstiger Rang wird streng gewahrt, unablässig wird das Studium der mosaischen Gesetzbücher eingeschärft; der Sabbat gilt mehr als das Leben und wird mit kleinlicher Ängstlichkeit beobachtet. Wir finden Spuren einer Sonnen-Verehrung, viel astrologisches Bemühen und einen eigenen Festkalender, der als einzig richtige himmlische Offenbarung gilt. Die Ordenszucht erscheint in manchem rigoros und verständnislos, und befremdet nimmt man von Erscheinungen wie der .ausführlichen „Kriegsregel" Kenntnis, die in regelrechter Militärsprache Anweisungen für den Endkampf zwischen den „Söhnen des Lichts" und den „Söhnen der Finsternis" auf dieser Erde gibt. Ist sie nur symbolisch gemeint, .da dem Essener sonst doch selbst die Herstellung von Kriegsgerät strikt verboten ist? So bleiben manche Fragen — und fraglich vor .allem wirkt der totale Rückzug aus der unreinen Welt, der sich nach außen schon in den Reinigungsriten dokumentiert. „Wer aus der unreinen Außenwelt in den Orden eintritt", schreibt Hans Lietzmann (a.a.O., S. 23), „muß sich, baden; desgleichen der vollberechtigte Esseiner, der einen Novizen..., geschweige denn einen Nichtessener, berührt hat." Unwillkürlich kommt einem der Reinigungsfanatismus der Pharisäer ins Gedächtnis — und nicht völlig zu Unrecht, denn beide Gruppen, Essener und Pharisäer, dürften ihre gemeinsamen geistigen Ahnen in den „Chassidim" der Makkabäerzeit haben, die sich im 2. Jahrhundert v. Chr. von einer verweltlichten Frömmigkeit kompromißlos abwandten. Auch für den Essener — der in besonders ausgeprägtem „Dualismus" zwischen einer göttlich-guten und einer teuflisch-bösen Welt den Trennungsstrich zog — war es oftmals zu schwer, nur das Böse und nicht die Bösen zu hassen.

    So waren diese Menschen beides: Kinder einer erstrebten lichteren Welt — und doch auch Kinder dieser Erde und ihrer Zeit. Ihre irdisch-geschichtlichen Konturen hat uns ein epochales Ereignis der Religionsforschung neuerdings klarer erkennen lassen. Wie bekannt, wurden von 1947 bis 1956 in 11 Höhlen nahe der Nordwestecke des Toten Meeres hebräische Handschriften gefunden, die weltweites Aufsehen .erregten. Es handelte sich sowohl um biblische als auch um andere Texte. In den letzteren interessieren besonders die Aussagen über die „Leute von Qumran" selbst. So wurden die Schreiber bzw. Abschreiber der Dokumente zunächst genannt, weil deren Fundorte nahe bei dem Ruinenhügel Chirbet Qumran lagen. Als dann auf dem Hügel selbst, über dem tiefeingeschnittenen Wadi Qumran, der Hauptteil einer großen Siedlung ausgegraben war, die offenbar das Zentrum eines Ordens darstellte, wußte man, von woher die Schriftrollen in ihre Verstecke gebracht worden waren. Dabei zeigte sich rasch, daß die „Leute von Qumran" gar nicht so unbekannt waren; denn was Josephus, Plinius der Ältere und Philo berichtet hatten, war „in allem Wesentlichen durch die Texte von Qumran bestätigt". (Die Rel. i. Gesch. u. Gegwt., 3. A.) Mit anderen Worten: man hatte das Stammkloster des Essenerordens entdeckt! Dagegen spricht auch die Tatsache nicht, daß in den Qumran-Texten der Name „Essener" fehlt, .der ohnehin kaum als Selbstbezeichnung des Ordens gelten kann (die „Frommen" wurden sie eben wohl von .der Umwelt genannt). „Es ist heute so gut wie allgemein anerkannt, daß es sich bei den Leuten von Qumran um die essenische Gemeinde handelt." (Die Rel. i. Gesch. u. Gegwt., 3. A.)

    Manche Datierungen der Essener-Geschichte schwanken zwar auch jetzt noch etwas. Ihr Ursprung ist aber zweifelsfrei darin zu sehen, daß im 2. Jahrhundert v. Chr. eine Priestergruppe .den Jerusalemer Tempel dienst aufgab oder aufgeben mußte, weil sie das Hohepriestertum .der Makkabäer bzw. Hasmonäer ablehnte. Diese, die in widerlicher Weise weltliche und geistliche Macht zugleich ausübten, zählen in ihrer Macht- und Blutgier tatsächlich zu den traurigsten Erscheinungen der Religionsgeschichte. Die opponierende Gruppe stammte aus dem alten Priesteradel der Zadokiten. Das mag sich die Gemeinde in Qumran ständig vor Augen gehalten haben, indem ihre Glieder sich „die Söhne Zadoks" nannten. Möglich .aber auch, daß der große Lehrer und Führer, der den Exulanten geschenkt worden war, Zadok hieß. In den qumranischen Dokumenten heißt .er stets nur „Lehrer der Gerechtigkeit". Fraglos mit Recht, denn er muß .eine sittlich hochstehende, entschieden-religiöse Führerpersönlichkeit gewesen sein. Sein Jerusalemer Gegenspieler wird ebenfalls nicht mit Namen genannt, sondern immer als der „Frevelpriester" bezeichnet. Etwa um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. mag es in Jerusalem endgültig zum Bruch gekommen sein. Die protestierende Priestergruppe und ihr Anhang konnte keinen religiösen Sinn mehr im dortigen Tempeldienst erblicken. John M. Allegro, Mitglied der Forschungskommission für Qumran, beschreibt ihren Standpunkt in seinem Buch „Die Botschaft vom Toten Meer" (S. 99): „Zunächst war es... der Dienst eines illegitimen Hohenpriesters, der das Tempelopfer wertlos machte, aber in den Dokumenten von Qumran finden wir noch einen anderen, größeren Unterschied zwischen der Sekte und .der Jerusalemer Priesterschaft... Im Qumran lebte die Gemeinde nach einem anderen Kalender als dem, der in Jerusalem benutzt wurde, d. h. also, daß in den Augen der Sektenmitglieider die Tempelriten dort an den falschen Tagen des Jahres vollzogen und dadurch in ihrer Wirksamkeit hoffnungslos geschwächt wurden."

    So erklärt sich der mutige Aufbruch in die Wüste, die in Israel von jeher als Ort der Gnade und der Gottesbegegnungen gegolten hatte. „Die Gemeinde glaubte, wie ihr Lehrer es vermutlich selbst behauptet hatte, er habe von Gott den besonderen Auftrag erhalten, ... eine engverbundene Gemeinschaft der Gläubigen in die Wüste zu führen, um dort mit ihnen während der Zeit der Ungläubigkeit bis zum Ende der Zeiten und zum Anbruch des Reiches Gottes unbefleckt und rein auszuharren. Dann würden er und seine Jünger den Kern des neuen Israel bilden, und das die ganze Menschheit umfassende Tausendjährige Reich würde anbrechen( „Allegro, a. a. 0., S. 82). Es mag mehrere Jahre gedauert haben, bis aus einer kleinen Halb-Oase bei Qumran eine wirkliche Oase geschaffen war und jene Feld-, Garten- und Weidewirtschaft bestand, die nach dem Ergebnis der Ausgrabungen eine (wohl immer noch karge) Existenzmöglichkeit bot. Erst dann konnte vom Halbnomaden-Dasein zur festen Ansiedlung in einem meisterhaft angelegten Ordenszentrum übergegangen werden. Es bot etwa 200 Menschen Raum. Das „Nachwuchsproblem" dürfte sich im wesentlichen dadurch gelost haben, daß immer wieder Novizen eintraten, die aus der „Welt" (des palästinensischen und außerpalästinensischen Judentums) kamen. Münzfunde scheinen zu beweisen, daß die Klosterstätte von etwa 135 v. Chr. bis 31 v. Chr., dem Jahr ihrer Vernichtung durch Erdbeben und Feuer, und dann wieder von kurz vor der Zeitwende bis 68 n. Chr., dem Jahr der endgültigen Zerstörung durch die Römer, von dem Orden besiedelt war. Unter fester priesterlicher Leitung hatte dieser auch nach dem Tode des „Lehrers der Gerechtigkeit" seine Ausdauer und Lebenskraft bewiesen. In der l. Hälfte des letzten vorchristlichen Jahrhunderts scheint er sich in Ortsgruppen auch im Lande westlich des Jordans verbreitet zu haben. Diese „ließen sich nieder, teils dem Prinzip der Ehelosigkeit, teils dem Ehe-Prinzip ergeben". Dabei „scheint sich eine allmähliche Änderung der starren Absonderung ausgebildet zu haben". Das Ordenszentrum trat nun an Bedeutung zurück. „Philo und Josephus, die in der l. Hälfte des l. nachchristi. Jahrhunderts die Essener kennenlernten, berichten nichts über das Stammkloster am Toten Meer, wohl ein Beweis, daß es keine Mittelpunktstellung mehr einnahm. Aber man hat es nicht aufgegeben." (Zitate aus: Hans Bardtke, Die Handschriftenfunde am Toten Meer, S. 195/196.) Längst war der „Lehrer der Gerechtigkeit" eine Gestalt der Vergangenheit — aber sein Name behielt seine Leuchtkraft. Über sein irdisches Ende weiß man Sicheres nicht. Den Qumran-Schriften zufolge hat ihn der „Frevelpriester" bis in das „Haus seiner Zuflucht" in der Wüste verfolgt, wohl, weil die Seinen in ihm den wahren Hohenpriester sahen. Ob man bestimmte Hinweise aber dahin auslegen kann, daß er zum Märtyrer wurde, indem sein Jerusalemer Widerpart ihn lebendig an einen Pfahl hängen, d. h. kreuzigen ließ, ist umstritten; unsicher auch, welchem der Hasmonäer dieser Mord dann zuzuschreiben wäre. (Es sei erlaubt, am Rande Rudolf Steiners Meinung zu vermerken. Er sah im „Lehrer der Gerechtigkeit" Jeschu ben Pandira, den er für eine überragende Persönlichkeit hielt. Dieser lebte rund 100 Jahre vor Jesus Christus. Noch als jüngerer Mann wurde er von seinen Jerusalemer Gegnern am Vorabend eines Passa-Festes gesteinigt und dann an einen Pfahl gehängt. Der Talmud, der davon berichtet, nennt ihn Nazoräer, womit er wohl als „Christ vor Christus" disqualifiziert werden soll. Jüdische und christliche Theologen haben die Stelle irrtümlich auf Jesus Christus bezogen, und in vielen theosophischen Schriften galt sie als Beweis dafür, daß der Stifter des Christentums hundert Jahre früher, als die Bibel angibt, gelebt habe und nicht eigentlich gekreuzigt, sondern gesteinigt worden sei.)

    Aber was haben die Essener, was hat Qumran nun wirklich mit Jesus zu tun? Ist es nicht sinnlose Abschweifung vom Thema „War Jesus Vegetarier?", sich so lange bei diesem Orden aufzuhalten? Ich glaube doch nicht. Gewiß will eine alte Überlieferung wissen, daß sich Jesus irgendwann zwischen seinem 12. und 30. Lebensjahr — der langen Zeit, über die wir aus der Bibel rein nichts erfahren! — bei den Essenern in der Gegend des Toten Meeres aufgehalten habe. Gewiß ist die überlieferte Stelle seiner Taufe am Jordan nur etwa 10 km von Qumran entfernt, und der Täufer mag noch eher als Jesus selbst einmal Ordensmitglied dort gewesen sein. Aber selbst wenn man an einen engen Kontakt beider mit den Essenern von Qumran glaubt — sind sie in diesen auch fraglos reinen Vegetariern begegnet? Das ist es doch, was uns jetzt und in diesem Zusammenhang interessiert, — und darum kann man sich die wirkliche Ordensgeschichte gar nicht genau genug ansehen!

    Trifft es also generell zu, was die wiederholt genannten alten Schriftsteller von der Fleischenthaltung der Essener berichten? Aus der Luft ist die Behauptung sicher nicht gegriffen. Es ist zwar nicht so, daß die unzähligen Bücher über Qumran nur aufzuschlagen sind, um uns in den bisher übersetzten Dokumenten sofort einen religiösen Vegetarismus am Werk zu zeigen. Fast durchweg ist da kaum etwas Direktes und sicher Deutbares zu finden. (Daß man z. B. auf den von Jesaja verheißenen endzeitlichen Davidsproß und sein Reich der Gewaltlosigkeit wartete, ist noch kein Beweis dafür, daß man in der Gegenwart schon ganz unblutig lebte.) Und doch muß ein Anstoß zur vegetarischen Lebensweise von Qumran ausgegangen sein, der darauf schließen läßt, daß sie dort eine gewisse Geltung hatte. Ich möchte diese vorsichtige Behauptung mit dem Hinweis auf die geschichtliche Wirkung eines der Qumran-Dokumente stützen.

    Als die ersten Schriftenfunde in Qumran gemacht wurden, fiel alsbald ihre geistige Verwandtschaft mit einem Dokument auf, das man seit 1896 kannte. Das war die in Alt-Kairo entdeckte sogenannte „Damaskus-Schrift". Prof. 0. Eißfeldt betonte 1954 in Nr. 11 des Deutschen Pfarrerblattes, man erkenne hier übereinstimmend eine Berührung „mit der neupythagoräischen Bewegung", wie in anderem so auch „in der strengen Beobachtung bestimmter Speise- und Reinheitsbräuche." Wer darum weiß, daß die Neupythagoräer strenge Vegetarier waren, wird da schon aufhorchen. Bald ergab sich. dann, daß die Damaskus-Schrift nicht zufällig „qumranischien" Geist atmete: in Qumran selbst kamen nämlich mehrere fragmentarische Exemplare dieses Werkes zutage! Sein Name rührt daher, daß es den Zufluchtsort der Glaubensgemeinschaft, die sich hier kundtut, sinnbildlich „Damaskus" nennt — nach Amos 5, 27 und wohl auch Sacharja 9, l, zwei alttestamentlichen Bibelstellen. Es dürfte nicht zweifelhaft sein, daß damit Qumran gemeint ist (wo man überhaupt vielfach mit Decknamen arbeitete). Aber wie konnte man ein Qumran-Dokument schon Ende des vorigen Jahrhunderts in Ägypten finden? Nun, es war kein Zufall, daß der Fund in einer alt-karäischen Synagoge gemacht wurde! Schon rund 1000 Jahre lang dürfte die Damaskus-Schrift (und vielleicht noch mehr) den Karäern bekannt gewesen sein. Diese bedeutendste jüdische Sekte der nachbiblischen Zeit entstand zu Beginn des 8. Jahrhunderts und hat sich in Resten bis heute erhalten. „Ihre Speisegesetze gehen weit über die des Judentums hinaus" (Die Rel. i. Gesch. u. Gegwt., 3. A.). Wieder eine Feststellung, die aufhorchen läßt! Der Forschung fielen für das 9. Jahrhundert im Schrifttum dieser Sekte eigenartig neue Wendungen auf, die sich im 10. Jahrhundert fortsetzten und uns heute sogleich, an die Gemeinde von Qumran erinnern. Damit verbanden sich immer wiederkehrende Hinweise auf eine „Höhlensekte" oder „Sekte der Zadokiden", die in die gleiche Richtung deuten mögen. Nachdem wir vollends durch einen zu Anfang des 9. Jahrhunderts verfaßten Brief des syrischen Metropoliten von Seleukia, Timotheus, davon wissen, daß etwa 10 Jahre zuvor hebräische Handschriften in einer Höhle der Gegend um Jericho gefunden worden waren, spricht alles dafür, daß um die Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert bereits „ein ähnlich aufsehenerregender Handschriftenfund wie der von Qumran gemacht wurde". (Allegro, a. a. 0., S. 146.) Die Sache nahm einen erfreulichen Fortgang. „Die Dokumente müssen eifrig abgeschrieben und verbreitet worden sein und auf alle, die mit ihnen in Berührung kamen, eine bemerkenswerte Wirkung ausgeübt haben. Die Karäer scheinen in ihnen vieles gefunden zu haben, was zu ihren eigenen Ideen paßte . . ." Sogar ihre orthodoxen jerusalemischen Gegner, die Rabbaniten, begannen im 10. Jahrhundert, „religiöse Praktiken zu übernehmen, die in talmudischen Kreisen keineswegs Brauch waren. So wurden sie teilweise Vegetarier ..." (ebenda).

    „Teilweise Vegetarier" — ich glaube, damit ist das Stichwort gefallen, mit dem wir zu den Essenern von Qumran zurückfinden, und hier mindestens ist es im Sinn von „Teilvegetarismus." zu präzisieren. Mögen sie, modern ausgedrückt, 80- oder 90 prozentige Vegetarier gewesen sein, 100 prozentige waren sie offenbar nicht. Das ist der Befund von Qumran, der im Folgenden darzustellen ist. Er stimmt mit der Damaskusschrift überein, die keinen Totalvegetarismus vorschreibt. In ein paar unvollständigen Hinweisen auf die Ernährungsweise finden wir z. B. den Fischverzehr erlaubt, vorausgesetzt, die Fische sind „lebendig zerrissen und ihr Blut vergossen" worden. Blutgenuß erscheint hier — genau nach dem mosaischen Gesetz — als das Einzige, was auch bei „reinen" Tieren immer und überall vermieden werden muß. Vielleicht ist deren Bestand noch etwas eingeengt worden — aber bezüglich der Heuschrecken z. B., von denen die Thora, wie wir sahen, vier Arten als „rein" zuläßt, ist auch die Damaskus-Schrift ohne Bedenken; man darf sie, bei denen kein Blut-Problem auftritt, lebendig ins Feuer oder Wasser geben, also rösten oder sieden. Das wird ausdrücklich festgestellt. Interessant ist, was John M. Allegro in diesem Zusammenhang von Johannes dem Täufer vermutet, der ja — als Priestersohn — dem Esaenerorden vielleicht eine Zeitlang angehörte und damit auf Lebenszeit eidlich auf dessen Speisegesetze festgelegt war (was ihm sogar verbot, von Nicht-Essenern überhaupt Nahrung anzunehmen). „Es wird uns berichtet, daß er ... lediglich von Honig und Heuschrecken lebte. Beide Nahrungsmittel werden in den Ernährungsvorschriften am Schluß des Damaskus-Dokuments erwähnt. Dies wiederum mag darauf hinweisen, daß die Nahrung, die er zu sich nehmen durfte, eng begrenzt war durch die Reinheitsgelübde, die er möglicherweise vor der Gemeinde abgelegt hat." (a. a. 0., S. 143)

    Man könnte natürlich in den Essenern von Qumran nun einfach „technisch verhinderte" Vegetarier vermuten, die unter den besonderen Lebensbedingungen ihres Wüstenortes das Ideal der fleischlosen Lebensweise beim besten Willen nicht ganz erreichen konnten. So wären sie eben dahin gekommen, auch für sich einiges von dem, was das mosaische Gesetz an tierischer Kost erlaubte, in Anspruch zu nehmen. Diese Möglichkeit ist vor allem für die Anfangsjahre in der Wüste nicht von der Hand zu weisen. Die mühsam aufgebaute Oasen-Wirtschaft hat auch später immer einen gewissen Viehbestand mit eingeschlossen. Inwieweit er ernährungsmäßig mitbedingt war, ist schwer zu sagen. Eine eigentliche „Fleischversorgung" hätte das verfügbare Weideland sicher nicht erbracht. Da in Qumran ein Stall für Lasttiere ausgegraben wurde und da Tierhäute im Kloster als Schreibmaterial dienten, mußte man offenbar irgendwie immer mit Tieren leben — und Tiere dem menschlichen Bedarf opfern.

    Aber selbst wenn man annehmen wollte, daß der Verzieht auf ihr Fleisch zur normalen Klosterregel gehört hätte, müßte nach den Ausgrabungsergebnissen an gewisse Sondermahlzeiten nichtvegetarischer Art gedacht werden. In dem oben zitierten Werk von Hans Bardtke lesen wir: „Man hat an den verschiedensten Stellen der Siedlung, und zwar jeweils an freien Stellen zwischen den Bauanlagen oder um die Bauanlagen herum, Töpfe und Krüge, mit Tierknochen angefüllt, gefunden. Zuweilen waren diese Behältnisse in die Erde eingegraben . . ., zuweilen sind diese so gefüllten Gefäße anscheinend nur abgestellt worden. Gegenwärtig zählt .der Ausgräber etwa 53 derartige Funde (Stand von etwa 1957). Er vermutet aber, daß sich . . . noch wesentlich mehr ausgraben ließen. Die Knochen stammen von verschiedenen Tieren, und zwar von Hammeln, Ziegen, Schafen, Ziegenlämmern, Kälbern, Kühen, Ochsen. Dabei ist wichtig zu beobachten, daß niemals ein vollständiges Skelett eines einzigen Tieres in einem Gefäß aufgefunden worden ist . . . Die Knochen sind gesammelt worden, als das Fleisch nicht mehr an ihnen war; es scheint durch Braten oder Kochen abgelöst zu sein. Kurzum, es handelt sich um Knochen als Überreste einer Mahlzeit. Das läßt darauf schließen, daß die Knochen im Speisesaal als Überrest einer sakralen Mahlzeit gesammelt und in einem Krug bzw. in einem großen Gefäß beigesetzt worden sind . . . Archäologisch läßt sich noch feststellen, daß die Sitte der Knochenbestattung offenbar während des gesamten Bestehens der Siedlung geübt worden ist." (S. 55). John M. Allegro berichtet gleichfalls von der Auffindung dieser Gefäße, „die die ganz sauber abgenagten Knochen von gekochten oder gebratenen Fleischkeulen .enthielten." Er fährt fort: „Es handelte sich eindeutig um Überreste von Mählern, von heiligen Mahlzeiten wahrscheinlich, da besondere Sorgfalt darauf verwandt worden war, die Knochen vor Entweihung zu bewahren ... Es war ganz offensichtlich, daß es sich nicht um die Reste täglicher Mahlzeiten handelte, da sonst die Zahl der vergrabenen Stücke in die Zehntausende hätte gehen müssen." (a. a. 0., S. 101)

    Kultische Gründe waren es also, auf die der schockierende Knochenfund zurückzufuhren ist. Nach dem Lexikonwerk „Die Religion in Geschichte und Gegenwart" (3. Aufl.) dürfte in Qumran, wo die Reinigungsriten der Thora peinlichst eingehalten wurden, auch die kultische Verbrennung der roten Kuh üblich gewesen sein, deren Asche für die Bereitung eines besonderen kultischen Reinigungswassers vorgeschrieben war. Gesetzestreue ging in Qumran über alles. Wir brauchen nur an einige der Sabbatvorschriften zu denken: da war neben vielen anderen Dingen z. B. auch die Geburtshilfe für ein Tier verboten, selbst wenn das Junge in ein Loch oder in eine Zisterne fiel. Der Raum von Vernunft und Menschlichkeit war auch in Qumran manchmal erschreckend eingeengt. „In ihrer ganzen Geschichte", erklärt Bardtke (a. a. 0., S. 204), ist die dortige Gemeinde „rigoristisch gesetzestreu gewesen . . . Das Judentum strengster Observanz begegnet uns in Qumran . . . Der Geist priesterlicher Gesetzlichkeit legt sich auf den Menschen." Man erinnert sich daran, daß Josephus, der Qumran selbst nicht kannte, von den Essenern ganz allgemein schrieb: „Haltung und körperliches Erscheinungsbild gleicht den unter Furcht erzogenen Kindern." (zitiert bei Bardtke a. a. .0., S. 327).

    Doch um auf die Fleischmahlzeiten sakraler Art zurückzukommen: wie sind sie des näheren zu erklären? Sind in Qumran, das eine Gründung von ehemaligen Tempelpriestern war, etwa noch Opfer dargebracht worden? Opferfleisch war es ja, das bei den Jerusalemer Kultmahlen der Priester verzehrt wurde. Aber man hat in Qumran keinen Opferaltar gefunden! „Es ist auch bei einer gesetzlich so strengen Gemeinde undenkbar, daß sie entgegen der Thora außerhalb des Tempels geopfert habe." (Die Rel. i. Gesch. u. Gegwt., 3. A.) Die täglichen Kultmahle wurden darum — und natürlich auch aus Fleischmangel — nicht mehr nach Jerusalemer Art gehalten, und für die seltenen sakralen Fleischmahle behalf man sich mit der Schlachtung von Tieren, ohne aus ihr eine Opferung zu machen. Es berührt traurig, daß der Protest derjenigen alttestamentlichen Propheten, die gegen Tieropfer und Tempelkult überhaupt auftraten, offenbar kein Motiv war, das bei der Gründung des Essener-Ordens mitwirkte. Wie bereits dargestellt, hatte man sich vom Jerusalemer Tempel aus anderen Gründen gelöst — ein Denken, das jenen Propheten entsprach, dürfte höchstens in der späteren Entwicklung des Ordens und außerhalb von Qumran mitbestimmend geworden sein. Der „neue Bund", den nach essenischem Glauben Gott mit den in die Wüste Gezogenen schloß, war grundsätzlich noch nicht tempel- und tieropferfrei gedacht; nur auf Jerusalem bezog es sich, wenn er als „ein Bund, nicht mehr zu gehen in das Heiligtum", galt. Weiter wagte sich die Qumran-Gemeinde nicht. „Auch das wäre ja gegen die Thora. Vielmehr hat sie Opfervorschriften aufgezeichnet für die endzeitliche Vollendung im ,neuen Jerusalem, wo dann wieder legaler Tempeldienst möglich sein wird." (wie vorhin). Wohlgemerkt: das neue Jerusalem wurde noch als künftige Stadt auf dieser Erde und nicht im späteren christlichen Sinn als Sinnbild himmlischer Herrlichkeit verstanden.

    Der früher zitierte Religionswissenschaftler H. J. Schoeps hat also recht gehabt, als er schon 1949 in seinem Buch „Theologie und Geschichte des Judenchristentums" (Kap. 3 C, § l) bezweifelte, ob die Gleichung Essenismus = religiöser Vegetarismus aufgeht. Er schrieb damals: „Ob die Essäer wirklich Vegetarier waren, ist solange nicht aufklärbar, als es nicht sicher feststeht, daß die ,peira enkrateias' (d. h. Enthaltsamkeitsprobe) — Jos. Bellum 2, 8, 7 —, die für den Eintritt in ihren Orden gefordert wurde, sich tatsächlich auf Fleischspeisen bezieht. Es werden hier nur Analogieschlüsse zu ziehen sein. Für die Meldung des Porphyrius (de abstinentia IV, 13) von ihrem totalen Vegetarismus bleibt unsicher, ob hier nicht eine freie Auslegung des Josephus vorliegt. Die Notiz des Hieronymus (Adv. Jov. 11, 14) baut wieder auf Porphyrius." Auch wenn der Novize, der ja von den sakralen Fleischmahlzeiten noch ausgeschlossen war, immer noch mehr Vegetarier sein mußte als das Vollmitglied des Ordens, ist die schöne Vorstellung von einem religiösen Vegetarier-Orden für die Essener nicht mehr voll zu halten. Eher könnte man sagen: die vorhandene Tendenz zum Vegetarismus ist in dieser Gemeinschaft gerade durch ihre Religion an der vollen Durchsetzung verhindert worden. Ob aus den in Qumran noch religiös verhinderten Vegetariern an anderen Orten volle religiöse Vegetarier wurden, ist nicht generell nachzuweisen; man mag hoffen, daß es der Fall war, und darin die Erklärung für die summarische antike Vorstellung vom Vegetarismus „der" Essener suchen. Sich die Sache anders zu erklären, indem man die Essener als reine Vegetarier von den Qumran-Leuten als einer nicht vegetarisch lebenden Sekte grundsätzlich unterscheidet, ist nach den vorliegenden Dokumenten und Befunden unmöglich. So werden wir im Blick auf unsere Themafrage sagen müssen: Wenn Jesus Vegetarier war, dann hat er bei einer etwaigen Begegnung mit Qumran keine volle Bestätigung dieser Lebensweise erfahren; und wenn er es damals noch nicht war, konnte er dort nur in begrenztem Maße zu ihr angeregt werden.

    (Fortsetzung folgt)



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