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Lowry, Lois - Der Hüter der Erinnerung




Lowry, Lois - Der Hüter der Erinnerung

Beitragvon marilu » 17.09.2006, 08:42

Originaltitel: The Giver

Inhalt:

Kurzbeschreibung (Amazon)
Jonas lebt in ferner Zukunft, in einer Welt ohne Not, Schmerz und Risiko. Alles ist perfekt organisiert, niemand muss sich über irgendetwas Sorgen machen. Doch als Jonas seinen Beruf zugeteilt bekommt und der Nachfolger des "Hüters der Erinnerung" werden soll, erfährt er von diesem, welch hohen Preis sie alle für dieses scheinbar problemlose Leben zu zahlen haben.


Eine Welt, in der die oberste Doktrin, die GLEICHHEIT ist, leben die Menschen medikamentös betäubt und ihrer tieferen Gefühle beraubt. Auf diese Weise ist ein geregeltes, ruhiges, sicherers Leben gewährleistet. Personen, die wiederholt gegen Regeln verstoßen oder Säuglinge, die nicht stark genug sind, werden freigegeben und gehen nach Anderswo.

Auch Jonas ist Teil dieser Lebensordnung und als 12-jähriger ("Zwölfer") auf dem Sprung zum Erwachsenenleben. Auf der diesjährigen Zeremonie erhalten er und seine gleichaltrigen Kameraden vom Komitee der Ältesten ihren zukünftigen Beruf zugeteilt. Er ist natürlich gespannt und besorgt, was ihm zugedacht wird (es gibt also noch Gefühle, aber nur in sehr schwacher Form).

Bei der Zeremonie wird ihm verkündet, dass er zum Hüter der Erinnerung ernannt wurde, der die folgenden Eigenschaften mitbringen muss: Intelligenz, Unbescholtenheit, Tapferkeit, Weisheit und die Möglichkeit, "über die Dinge hinauszusehen".
Bei Jonas äußert sich diese Eigenschaft in der Fähigkeit,
Farben zu erkennen (sein Vorgänger konnte Musik hören).


Während seiner Ausbildung erfährt er Dinge, die ihn verwirren und weiser machen - was ihn zum Außenseiter seiner Gemeinschaft macht, da niemand sonst solche Erfahrungen hat.

Wie er reagiert, möchte ich hier nicht erzählen, weil es die pannung aus dem Buch nimmt (wenn ihr die Spannung erhalten wollt, lest weder Klappentext, noch Amazon-Rezensionen).

Meine Meinung:

Zur Zeit scheine ich ein glückliches Händchen bei der Auswahl meiner Jugendbücher zu haben. :lach:

Dieser Roman zeigt sehr kindgerecht die Vor- und Nachteile zwischen einer zentral gelenkten Gesellschaftsform und dem Leben, wie wir es kennen. Es überlässt dem Leser die Entscheidung, wie er selbst mit einem solchen Leben und den ungewöhnlichen Enthüllungen, die Jonas erfährt, umgehen würde.

Sehr einfühlsam werden Jonas' Zweifel, Erfahrungen und Erwartungen geschildert. Ich musste einfach ohne Pause weiterlesen und hatte es so binnen 2 Tagen durch. Anderen geht es sicher ähnlich.

Das Buch wird von dtv für Kinder ab 12 empfohlen. Ich denke mir aber, dass die eigentlichen Inhalten erst ab ca. 14 treffend nachvollziehbar sind. Aber sowas ist immer schwer einzuschätzen.

Ich könnte mir vorstellen, dass Jugendliche von der langen Einleitung gelangweilt sein können, denn die Handlung - Jonas Ernennung - findet erst nach ca. einem Drittel statt. Bis dahin wird die Welt, in der er lebt erklärt. Für mich sehr interessant und für das Verständnis wichtig, ist es für ungeübte Leser evtl. abschreckend, so lange warten zu müssen, um zu dem durch den Titel implizierten Inhalt zu gelangen.

Auf der folgenden Homepage haben Schüler einer 9. Klasse die Ergebnisse ihrer Schullektüre zusammengefasst. Die Seite ist technisch nicht perfekt, aber es ist doch ganz interessant zu lesen, was sie entwickelt haben:
Hüter der Erinnerung

Auszeichnung:

1994 Newbery Medal (einer der prestigeträchtigsten US-amerikanischen Preise für Kinder- und Jugendliteratur)

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Bild
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von Anzeige » 17.09.2006, 08:42

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Beitragvon Cassa Dar » 01.11.2006, 13:51

Oh, marilu, du glaubst gar nicht wie oft ich diese Buch schon auf dem Einkaufszettel hatte. Mein Sohn sollte es Weihnachten bekommen, das liegt Jahre zurück. Irgendwie hat es nie sollen sein.
Und nun habe ich es gerade als Hörbuch entdeckt.
Bestimmt klappt es mit mir und dem Buch mal.
Wer den Tag mit einem Lächeln beginnt, der hat ihn bereits gewonnen.

:studie: Die Rebellin - Trudi Canavan
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Beitragvon tom » 07.12.2008, 18:50

Ich erhielt dieses Buch anderntags von einem amerikanischen Freund mit dem Hinweis, es zu lesen! Die Autorin kannte ich nicht und entdeckte diesen Fred und die ausgezeichnete Vorstellung von Marilu erst später, doch von den ersten Zeilen an war ich recht gefangen von der sich entwickelnden Spannung des Buchs, vom langsam sich vor uns ausbreitendem Bild einer Gesellschaft, die wie andere dystopische Romane (Fahrenheit 481, 1984 etc) von einer kommenden Art des gemeinsamen Lebens erzählt, die auf gewisse ziemlich einschneidende Grundentscheidungen beruht. Hinter einer scheinbaren Harmonie der Beziehungen, die eventuell zunächst träumen lässt, verbirgt sich, zumindest für mein Empfinden, ein wahrer Albtraum. Die Frage, wie hoch der Preis ist, um eine anscheinend problemlose, konfliktfreie Gesellschaft aufzubauen: etwa der Verlust jeder Freiheit, freiwillige Unterwerfung und ein Gleichmachen aller Ding? Da wurde ich doch schnell an Grundfragen vom „Großinquisitor“ erinnert! Die Autorin führt diese Themen ganz behutsam und andeutend ein. Stilmäßig nähert sich Lowry dann etwa an Ishiguros Art, das Grauen hinter scheinbar einfachen und „harmlosen“ Worten zu verbergen. Mir erscheint dann solches Buch „grauenvoller“, horrender als jeder bluttriefender Film!

Wenn man (trotzdem) dann von Jugendliteratur spricht – vielleicht weil eine Hauptperson also ein Junge von zwölf Jahren ist? – ist das eine großartige Herausforderung für ein vielleicht begleitendes Lesen von Jugendlichen ab – nach meiner Einschätzung – 13/14 Jahren. Tatsächlich enthält meine amerikanische Ausgabe im Anhang einen wahren Fragekatalog für mögliche Reflexionen und einen Austausch. Das Buch würde sich ausgezeichnet dafür eignen. Aber sicherlich dürften auch Erwachsene ohne Zögern hier Nahrung finden!

Also ein ausgezeichnetes Buch, dessen « Auflösung » im weitesten Sinne mich nicht ganz zufrieden stellte, doch das ist nicht weiter schlimm!

:stern: :stern: :stern: :stern:
tom
 

Beitragvon wolves » 05.01.2009, 08:15

Gelesen habe ich das Buch in Englisch. So kann es gut sein, dass mir die eine oder andere Anspielung entgangen war, aber ich konnte der Geschichte recht gut folgen.
Bei einer Gesellschaft, die auf den ersten Blick harmonisch und friedlich erscheint, wird das "Grauen" was eigentlich dahinter steckt, Stück für Stück aufgedeckt. Alles was das Leben überhaupt lebenswerter macht wird unter Gleichförmigkeit versteckt, wenn nicht sogar unterdrückt. Der letztendliche Umgang mit dem Menschen selbst, ist mehr als erschreckend.

Das erinnert tatsächlich an den "Großinquisitor" Tom und an seine Grundfragen.
Was das Ende betrifft, so lässt es einiges offen. Was ich sehr mag, denn es lässt mir ein wenig Raum für eigene Überlegungen. Wenn es auch irgendwie einen schalen Geschmack bei mir hinterlässt.

Tom hat geschrieben:Also ein ausgezeichnetes Buch, dessen « Auflösung » im weitesten Sinne mich nicht ganz zufrieden stellte, doch das ist nicht weiter schlimm!
Mich würde es sehr interessieren, wie du das meinst. Vielleicht per Spoiler?
Liebe Grüße
wolves


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Beitragvon tom » 05.01.2009, 09:37

Ich und Spoiler schreiben? Wolves, ich weiß bis heute nicht, wie das geht!

Aber was Du schreibst, hilft mir schon: das "offene" Ende läßt Raum für eine eigene Interpretation, denn dieses Ende könnte man selber verschieden auslegen in Richtung "Rettung" oder eben auch "Tod"... Allerdings finde ich beide angedeuteten Möglichkeiten etwas ausgefallen: ja, sie befriedigen mich nicht. Die eine wäre ja quasi das Herabkommen des Weihnachtsmannes auf dem Schlitten mit dem Jesuskind im Arm (Hintergrundsmusik Jingle Bells!). DAS ist mir dann zu kitschig oder wie auch immer.

(Klar, ich übertreibe ein wenig...)
tom
 

Beitragvon marilu » 05.01.2009, 10:54

tom hat geschrieben:Die eine wäre ja quasi das Herabkommen des Weihnachtsmannes auf dem Schlitten mit dem Jesuskind im Arm (Hintergrundsmusik Jingle Bells!). DAS ist mir dann zu kitschig oder wie auch immer.
(Klar, ich übertreibe ein wenig...)

:lach: Danke für das erste Lachen des Tages! Herrlich...
So habe ich das Ende gar nicht gelesen, aber ich muss gestehen, die Lektüre liegt inzwischen schon einige Zeit zurück. Das Bild, das du in meinem Kopf entstehen lässt, bringt jedoch einige Erinnerungen zurück.

Ich hatte bei dem Ende eher die Assoziation von "Veränderung - Zukunft" als Rettung oder Tod. Der Leser wird genauso ahnungslos hinterlassen wie Jonas (und Gabriel) es sind. Den Schnee habe ich als Symbol für Jonas Vergangenheit aufgefasst (weiß - dicht - alles bedeckend und unterdrückend) und den Abstieg vom Berg als Rückschritt in das Leben seiner Ahnen.

Wenn ich es mir recht überlege, ist das Ende für mich ein genialer Kniff, weil Lowry so den Kontrast zwischen der Vorhersehbarkeit des Schicksals in der Gesellschaft aus der die Jungen kommen einerseits und der Vielfalt an möglichen Wendungen in unserer Welt andererseits ohne viele Worte darstellen kann...

Aber wer weiß, ob ich damit der beabsichtigten Lesart auch nur annähernd entgegen komme. Mir gefallen Enden, die so offen sind, dass man sich selbst ausmalen kann, was weiterhin passieren könnte.
Scharfsinnig bin ich von Montag bis Freitag. Übers Wochenende leiste ich mir den Luxus der Dummheit.
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Beitragvon tom » 05.01.2009, 11:06

marilu hat geschrieben:Wenn ich es mir recht überlege, ist das Ende für mich ein genialer Kniff, weil Lowry so den Kontrast zwischen der Vorhersehbarkeit des Schicksals in der Gesellschaft aus der die Jungen kommen einerseits und der Vielfalt an möglichen Wendungen in unserer Welt andererseits ohne viele Worte darstellen kann...


Das wiederum, Marilu, hast Du ganz genial unterstrichen und hilft mir enorm weiter! Danke!

Ja, in der ach so tollen Welt gab es ja eigentlich keinen Platz mehr für das Ungeplante, Unvorhersehbare. Das Hinabfahren des Schlittens ist dann das Gleiten in eine unvorhersehbare Möglichkeit/Zukunft!
tom
 

Beitragvon wolves » 05.01.2009, 14:59

Oha, ich habe das Ende nicht so positiv gesehen :shock: Später mehr drüber, ich muss los!
Liebe Grüße
wolves


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Beitragvon tom » 05.01.2009, 17:29

wolves hat geschrieben:Oha, ich habe das Ende nicht so positiv gesehen :shock: Später mehr drüber, ich muss los!


Ob das Ende "positiv, glimpflich" ausgeht oder gar tödlich, war jetzt vielleicht nicht gemeint, wolves?! Sondern die Tatsache in sich, dass endlich (nach der Vorhersehbarkeit der "Idealwelt") wieder Raum für das Zweideutige gibt, für die Uneindeutigkeit... (oder Marilu?)
tom
 

Beitragvon wolves » 05.01.2009, 18:23

Oh, so habe ich das erst gar nicht verstanden, aber da gebe ich euch recht. Ihr müsst das entschuldigen, dass ich es erst falsch verstanden habe. Ich habe zur Zeit gruselige Kopfschmerzen und meine Konzentration ist entsprechend :oops:
Liebe Grüße
wolves


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Beitragvon marilu » 05.01.2009, 19:16

tom hat geschrieben:
wolves hat geschrieben:Oha, ich habe das Ende nicht so positiv gesehen :shock: Später mehr drüber, ich muss los!


Ob das Ende "positiv, glimpflich" ausgeht oder gar tödlich, war jetzt vielleicht nicht gemeint, wolves?! Sondern die Tatsache in sich, dass endlich (nach der Vorhersehbarkeit der "Idealwelt") wieder Raum für das Zweideutige gibt, für die Uneindeutigkeit... (oder Marilu?)


Ja, genauso war es gemeint, @tom. Für mich ist alles an diesem Ende offen und der Fantasie der Leser überlassen. Ich habe mir damals halt Gedanken gemacht, was Lois Lowry mit ihren Bildern bezweckt.
Die Frage nach dem Überleben oder Tod hat mich nicht losgelassen und so habe ich ein wenig recherchiert und dabei herausgefunden, dass "The Giver" Auftakt zu einer Trilogie ist. Die Folgebände heißen auf Englisch (und Deutsch):

Gathering Blue (Auf der Suche nach dem Blau)
Messenger (Die Gabe des Boten)

In wie weit es dort aber Bezüge auf Jonas und Gabriel gibt, weiß ich nicht (und will ich zumindest momentan auch nicht wissen). Die Hauptfigur der beiden Bände ist jedenfalls ein gewisses Mädchen Kira. Vielleicht besorge ich mir bei Gelegenheit alle Bände und lese sie. Ich bin jetzt doch schrecklich neugierig...

Was ich bisher nicht geschrieben hatte:
ich habe mich gefreut, dass euch das Buch prinzipiell gefallen hat!

@wolves: Gute Besserung! :bussi:
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Beitragvon tom » 05.01.2009, 21:51

marilu hat geschrieben:ich habe mich gefreut, dass euch das Buch prinzipiell gefallen hat!


Sehr gut gefallen hat...!!!
tom
 

Beitragvon wolves » 06.01.2009, 08:15

tom hat geschrieben:
marilu hat geschrieben:ich habe mich gefreut, dass euch das Buch prinzipiell gefallen hat!


Sehr gut gefallen hat...!!!
Dem schließe ich mich an!!!
Das einzige zu dem ich halt leider nichts sagen kann ist der Schreibstil selbst. Die Geschichte selbst, macht sehr sehr nachdenklich und ich denke immer wieder an das Buch zurück.
marilu hat geschrieben:
@wolves: Gute Besserung! :bussi:
Dankeschön! :D Nachdem ich gestern drei Ibuprofen genommen hatte und die Nacht recht gut war, sind die Kopfschmerzen endlich weg!
Liebe Grüße
wolves


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