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Verissimo, Luis Fernando - Vogelsteins Verwirrung




Verissimo, Luis Fernando - Vogelsteins Verwirrung

Beitragvon chip » 02.06.2009, 05:34

Schon vor 25 Jahren hat der Übersetzer und Poe-Experte Vogelstein einen ersten schriftlichen Kontakt zu Jorge Luis Borges provoziert, als er bei der Übersetzung eines seiner Werke „chirurgische Eingriffe“ vornahm bzw. dem Buch ein Ende hinzudichtete, sehr zum Missfallen Borges. Trotz penetrantem Bemühen seitens Vogelstein, kam ein ordentlicher Dialog nie zustande.

Der Gott des Zufalls greift Vogelstein nun Jahre später unter die Arme, denn der Kongress zu Edgar Allen Poe findet diesmal in Buenos Aires statt, wo die internationalen Poe-Experten zusammen treffen. Entgegen aller Erwartung sitzt der blinde Borges dort an der Theke. Beide unterhalten sich und werden Zeuge eines Streites zwischen den drei wichtigsten und umstrittensten Koryphäen, die jeder für sich, mit einer neuen These aufwarten und damit ihr Renomee aufwerten wollen. Unglücklicherweise werden diese Streithähne im gleichen Hotel, im gleichen Gang untergebracht und so kommt es, dass in jener Nacht ein Mord geschieht.

„Ich habe einmal eine Erzählung über einen Streik der Götter geschrieben. Einer nach dem anderen beginnen darin die Götter, die das Dasein der Menschen regieren, zu streiken, ohne indes irgendjemandes Leben zu beeinträchtigen. Der Gott der Leidenschaft, der Gott der Begierden, der Gott der Kleinherzigkeit und des Großmuts. Keiner der Streiks hat irgendeine Auswirkung auf das Schicksal des Menschen, von einigen Entbehrungen und Missverständnissen einmal abgesehen. Erst als der Gott der Zufälle sein Wirken einstellt, ändert sich die Geschichte eines jeden.“

Vogelstein schreibt nun diesen Brief an Borges, wurde er doch darum gebeten, alle Einzelheiten der ereignisreichen Woche niederzuschreiben. „Schreib, und du wirst dich erinnern.“
Und er erinnert sich, an die Stunden vor dem Mord, an dem Anblick der Leiche und an die Aufklärungsversuche von Borges, Mr. Cuervo (Rabe) und Vogelstein. Aber …

„… mir fiel ein, dass Poe, der bereits die Detektivgeschichte und die Parodie auf die Detektivgeschichte und die Anti-Detektivgeschichte erfunden hatte, in ihr eine der umstrittensten Regeln des Genres geschaffen hat, nämlich die des unzuverlässigen Erzählers.“

Wer Borges Werk kennt, weiß um die mathematische, linguistische und etymologische Theorie seines Kosmos, über Gott als Autor, die Bibliothek als Universum und das Universum als Spiegelkabinett. Diese Erkenntnisse vermischt Verissimo nun mit den Geschichten um Poe, und wirft noch einige Fakten aus der Weltliteratur hinterher. Die Rezeptur ist so einfach wie genial um aus einem simplen Krimi eine literarische Spurensuche zu kreieren. Ein winziges Beispiel hierzu ergibt sich aus der Bedeutung des „X“ am Tatort:

„In der Mathematik ist es das Symbol für die Unbekannte oder für eine variable Größe“ schlug Cuervo vor.
„Victor Hugo hat geschrieben, das X stehe für gekreuzte Schwerter, für einen Kampf mit ungewissem Ausgang, und deshalb versinnbildliche es für die Philosophen das Schicksal und für die Mathematiker die Unbekannte“ so mein Beitrag.
Cuervo: „Es kann das Kreuz darstellen, oder Christus …“ […]
„Von Sir Thomas Brown gibt es eine Abhandlung über das X, der zufolge es für die Verbindung von zeitlichem und magischem Wissen steht, die Pyramide von oben nach unten und die Pyramide von unten nach oben und zudem die Doppelung des V, des römischen Buchstabens mit der größten mystischen Bedeutung, steht er doch für die fünf Sinne des Menschen und gleichzeitig Form, Buchstabe und Zahl, oder Geometrie, Schrift und Mathematik, die drei Möglichkeiten zur Auslegung der Welt. Doch wir sollten lieber nicht auf diesen dunklen Pfad abschwenken. Denn soeben ist mir in den Sinn gekommen, dass es bei Poe eine Geschichte gibt, in der das X für das O steht. Sie heißt „der ge-x-te Ardickel“…“


Wieder einmal hat es Verissimo geschafft, mich zu überzeugen, indem er Realität und Fiktion vermengt, indem er dem Leser wieder eine Verschwörung aufbindet, indem er wieder mit Anspielungen und Verweisen spielt. Ein Minimum an Vorwissen über Poe, Borges und anderer Weltliteraten wäre ratsam, da einem diese Anspielungen ansonsten entgehen könnten. Die Leser werden aber belohnt mit einem geistreichen, philosophisch motivierten und verspielten Autoren, der in gewisser Weise seine Parodie einer Detektivgeschichte vorlegt. Hoffentlich bleibt Verissimo hierzulande nicht länger ein Insider-Tipp.

"Nur weil wir nicht an diese unsichtbaren Mächte glauben, heißt das ja keineswegs, dass es sie nicht gibt."
:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Gruß,
chip

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